Backcasting = Planungsmethode, bei der zunächst das erforderliche Ziel definiert und nachfolgend die zur Erreichung dieses Ergebnisses erforderlichen Schritte festgelegt werden. Z.B. in Dänemark Standard, in der deutschen Politik weitgehend Terra incognita.
BGE = Bedingungsloses Grundeinkommen. Konzept, um künftig angesichts der absehbaren Durchführung von Sachbearbeitung durch Künstliche Intelligenz (KI) und den daraus resultierenden Arbeitsplatzverlusten weiterhin die finanzielle Grundversorgung der Bürger*innen sicherzustellen.
BIP = Bruttoinlandsprodukt = GNP = Gross National Product. Wird derzeit genutzt, um die Wirtschaftsleistung eines Landes etc. darzustellen – ist aber allzu simpel: „Wann immer Geld fließt für einen Kauf oder Verkauf, nimmt es zu“ (Heuser/Pletter 2020, 21) – also auch, wenn die Folgen bspw. einer Ölkatastrophe zu beseitigen sind. Soziale oder Umweltaspekte fließen nicht ein. Bedarf dringend der Ersetzung durch komplexere Messinstrumente; Definition s. Fußnote auf S. 32.
BMU = Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit
Brückentechnologien = Zwischenlösungen, für die i.d.R. ganze Industrien und globale Logistikketten hochgezogen werden (vgl. LNG), für die aber angesichts der Dringlichkeit der CO2e-Reduktion keine Zeit mehr ist. Zwischenlösungen lenken i.d.R. von der Erfordernis einer umfassenden Transformation ab.
Club of Rome = Ein Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen aus aller Welt aus diversen Fachbereichen. Berühmt wurde der Club of Rome 1972 durch die Veröffentlichung des Bestsellers Die Grenzen des Wachstums, welches der Menschheit global erstmals klarmachte, dass es ein unendliches Wachstum in einer begrenzten Welt nicht geben kann und mit Umweltverheerungen einhergehen muss. (s.a. Aspekt Wir haben’s nicht gewusst in Abschnitt Klimawissenschaftsleugner*innen auf Partys bzw. bei Diskussionen, S. 223).
CO₂e – Das „e“ hinter CO₂ steht für „Äquivalente“: Es ist üblich die neben CO2 existierenden weiteren Treibhausgase wie z.B. Methan und Lachgas auf Basis des Grades ihrer klimaschädigen Wirkung in CO₂-Äquivalente (CO₂e) umzurechnen, um auf diese Weise die Gesamtemissionen von Treibhausgasen in einer Zahl darstellen zu können, vgl. Abschnitt Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase, S. 145).
COP = Conference of the Parties; Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen (UN = United Nations): Madrid 2019 = COP 25, Paris 2015 = COP 21, Berlin 1995 = COP 1, geleitet von Angela Merkel als Bundesumweltministerin
EE = Erneuerbare Energien = Stromproduktion aus Windenergie an Land (Onshore) und auf See (Offshore), Photovoltaik (=Solarzellen, PV-Anlagen), Wasserkraft sowie Wärmeproduktion aus Geothermie und Umweltwärme (z.B. Abwärme) und biogenen Brennstoffen und Gasen (mit denen in geringerem Maße auch Strom produziert wird) aus Biogasanlagen, die Biomasse wie z.B. Gülle/Festmist, Material aus der Biotonne und Silagen von Energiepflanzen wie Mais, Getreide oder Gras zu Methan (s.u.) vergären.
Effektivität = Maß für das Verhältnis zwischen erreichtem und zuvor definiertem Ziel. Beschreibt die Wirksamkeit, d.h. den Grad und die Qualität der Zielerreichung. Anders formuliert: Die richtigen Dinge tun. Ein qualitatives Maß.
Effizienz beschreibt die Wirtschaftlichkeit, die Kosten-Nutzen-Relation, d.h. das Verhältnis zwischen Ergebnis und Aufwand. Es geht um den rationellen Umgang mit knappen Ressourcen. Je effizienter z.B. Rohstoffe genutzt werden, desto weniger Ressourcen benötigt man, um das gleiche Ergebnis zu erzielen oder um das Produkt herzustellen. Ein quantitatives Maß. Anders formuliert: Die Dinge richtig tun. Läuft allerdings oft darauf hinaus, dass man insgesamt mehr produziert, weil ja durch den reduzierten Materialaufwand Zeit und Geld zur Verfügung stehen, die für eine höhere Gesamtproduktion eingesetzt werden können.
Unterschied Effektivität/Effizienz: Es mag sein, das eine Firma dank neuer Maschinen, die pro Produkt weniger Ressourcen verbrauchen, effizienter produziert. – Wenn sie aber dadurch mehr Produkte produziert, ist der gewünschte Effekt – das Einsparen von Ressourcen – nicht eingetreten.
Externalisierung = das Auslagern von Kosten. Wenn eine Firma unter Verschmutzung z.B. der Atmosphäre Produkt X zum Preis Y herstellt, dann fehlen im Preis Y die Umwelt- und Entsorgungskosten. Wenn Arbeitskräfte im Globalen Süden ausgebeutet werden, spart man Kosten, die bei ethisch korrekter Herstellung einzurechnen wären. Folge: Das Produkt kann nur deshalb so wenig kosten, weil es umweltschädlich und unethisch ist.
Extraktivismus = gemeint ist der Neo-Extraktivismus, bei dem nicht-nachhaltig, per Raubbau, d.h. i.d.R. unter Missachtung der Rechte oftmals indigener Bevölkerungsteile verbunden mit massiven Umweltschäden meist von internationalen Firmen in Eigenregie oder per Joint-Venture mit der jeweiligen Regierung Rohstoffe ausgebeutet werden. Dies geschieht i.d.R. zudem zukunftsblind und somit nicht Generationen-gerecht.
Finanzialisierung = Machtverschiebung seit den 1980er Jahren zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft, begünstigt durch die zunehmende Deregulierung der Finanzmärkte; konkret prägt die wachsende Durchdringung z.B. des Nahrungsmittel- und Rohstoffgeschäft durch Finanzinvestor*innen sowohl Investitions- und Unternehmensentscheidungen als auch via Spekulationsgeschäfte die Weltmarktpreise.
Flexiganer*in = Person, der sich vegan ernährt, aber unter bestimmten Umständen, z.B. außerhäusig, auch Milchprodukte akzeptiert.
Globaler Süden ist der heute i.d.R. verwendete Begriff, mit dem lange Jahre die sog. ‚Dritte Welt‘ und zwischenzeitlich der sog. ‚Trikont‘ umschrieben wurde.
Gt = Gigatonne: 1 Gt = 1.000 Megatonnen (Mt) = 1.000.000 Kilotonnen bzw. 1 Mio kt = 1.000.000.000 Tonnen bzw. 1 Mrd. t = 1.000.000.000.000 Kilogramm (kg) bzw. 1 Billionen kg
IPBES = Weltbiodiversitätsrat der UN = Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services
IPPC = Weltklimarat der UN = Intergovernmental Panel on Climate Change
Klima ist im Unterschied zum Wetter ein langfristiger Zustand. Klima ist das statistische Mittel des Wetters innerhalb einer Zeitspanne von üblicherweise 30 Jahren einer Region bzw. des Planeten, sodass einzelne Wetterereignisse eine untergeordnete Rolle spielen und sich ein Gesamtbild des durchschnittlich herrschenden Klimas ergibt.
Klimakrise = Krise des Lebens angesichts des menschengemachten Klimawandels, die ohne massives Umschwenken katastrophal endet. Oft wird der Begriff übergreifend für die „umfassende und multiple Zerstörung der Lebensgrundlagen für die menschliche Spezies – Biodiversität, Stickstoffkreislauf, Versauerung der Ozeane, Wasserversorgung“ (Neef 2020, 4) verwendet, obgleich die Klimakrise nur ein Teil dieser ‚globalen anthropogenen Umweltkatastrophe‘ (vgl. S. 677) ist.
Klimawandel = Veränderungen des Klimas; hier gemeint: anthropogener (=menschengemachter) Klimawandel, ein Prozess der durch die Menschheit insbesondere durch vermehrten Eintrag von Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre und Landnutzungsänderungen in Gang gesetzt wird. Das Wort ‚Wandel‘ legt einen linearen Verlauf der Veränderungen nahe, was angesichts immer schnellerer Veränderungen und sog. Kipppunkte nicht zutrifft.
Klimaneutralität = CO2e-Bilanz in Balance = das Erreichen von Netto-Null-Emissionen, d.h. es wird jährlich nur noch so viel CO₂e emittiert, wie durch die Natur, d.h. durch die sog. natürlichen Senken wie z.B. via Wälder, aus der Atmosphäre entfernt wird.
Kohärenz = Wenn bspw. eine Regierung kohärent arbeitet, dann werkelt kein Ministerium und keine Behörde allein vor sich hin, sondern man entwickelt die Politik, die Gesetzesvorhaben und die Maßnahmen koordiniert, schlüssig, ineinandergreifend und widerspruchsfrei.
Kohlendioxid = CO2 = Kohlenstoffdioxid, vgl. S. 145.
Lachgas = N2O (= Distickstoffoxid = Distickstoffmonoxid) = 298 x so klimaschädigend wie CO2, vgl. S. 145.
LNG = liquefied natural gas, fossiles Methan, welches energieintensiv und trinkwassergefährdend meist in den USA gefrackt und nachfolgend energieintensiv tiefgekühlt über den Atlantik verschifft wird, um dann z.B. energieintensive Industrien oder auch Kreuzfahrtschiffe anzutreiben. Wird derzeit mitten im Dekarbonisierungsprozess als sog. Brückentechnologie forciert.
Methan = CH4 = allgemein als ‚Erdgas‘ bekannt, auf die entscheidenden kommenden 20 Jahre gerechnet 84x so klimaschädigend wie CO2, vgl. S. 145.
ÖPNV = Öffentlicher Personennahverkehr unter Einschluss des Regionalverkehrs
Pariser Abkommen = völkerrechtlich bindendes ‚Übereinkommen von Paris‘ legt die Begrenzung des Anstiegs der globalen Durchschnittstemperatur auf ‚deutlich unter 2 °C‘ über dem vorindustriellen Niveau fest – verbunden mit der Zusage zu Anstrengungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C zu begrenzen.
ppm = parts per million = Anteile pro Million – z.B. der Anteil von CO₂-Molekülen an der Atmosphäre
Rebound-Effekt = Effizientere und/oder günstigere Produkte führen oftmals zu Mehrverbrauch von Ressourcen und Energie, d.h. der Gesamteffekt ist negativ, ausführlich siehe S. 257.
Resilienz = Widerstandsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit. Eine resiliente Gesellschaft/Ökonomie ist so aufgebaut, dass Störungen/Probleme leicht aufgefangen werden können. Es gibt einen Plan B, man hat mögliche Zukünfte im Blick und ist auf Eventualitäten vorbereitet. Komplementärbegriff ist die Vulnerabilität, die Verletzlichkeit einer Gesellschaft/Ökonomie.
Shareholder Value = Unternehmensprinzip, demzufolge Gewinnmaximierung zu Gunsten der Dividenden (‚Gewinn-Ausschüttungen‘) der Aktionär*innen ‚über allem‘ stehe. Der ‚Erfinder‘, Jack Welch, bezeichnete dieses wohl 1981 entstandene Prinzip im Jahre 2010 als „die blödeste Idee der Welt“ (zit. in Büschemann 2020).
Senken (natürliche Senken) = natürliche CO₂e-Speicher wie z.B. Wälder, Moore, Humus und Ozeane.
SRU = Sachverständigenrat für Umweltfragen, kurz: Umweltrat, wissenschaftliches Beratungsgremium der deutschen Bundesregierung
Stickoxide = Stickstoffoxide = Sammelbegriff für gasförmige Oxide des Stickstoffs (NOx); Dieselfahrzeuge „verursachen schwere Atemwegserkrankungen wie Asthma [und] belasten unser Herz-Kreislauf-System … Dieselfahrzeuge sind die Hauptquelle für Stickoxide in unseren Städten“ (BUND 2020a).
Suffizienz bedeutet „die Reduktion von Rohstoff- und Energieverbrauch durch Reduktion von Konsum- oder Komfort-ansprüchen“ (Paschotta 2019). Ein ‚Weniger‘ ist im Unterschied zu sämtlichen Reformbemühungen und technischen Lösungen sofort umsetzbar und zeitigt umgehend Ergebnisse.
systemisch = im System liegend, das System (als Ganzes) betreffend. Einem systemischen Problem kann nicht mit Einzelmaßnahmen begegnet werden. Bspw. greift die Antwort, durch das Verkehrsministerium einen neuen Abgastest einzuleiten, bei der Bearbeitung des Dieselskandals zu kurz. Zur Aufarbeitung bzw. zur Verhinderung neuerlicher ähnlich gelagerter Skandale sind Fragen der Gesundheit von Bürger*innen, des Steuer- und Wettbewerbsrechts, der Vorgaben für Vorstände und Behörden, Haftungsfragen, Sammelklagen, der Transparenz, etc. mit einzubeziehen.
terran zu leben bedeutet, geerdet, bodenständig und ohne Flugzeug unterwegs zu sein. Das in Anlehnung an ‚vegan‘ und ‚Terra‘ (lat. ‚die Erde‘) kreierte Kunstwort ermöglicht es verneinungsfrei einen nachhaltigen Lebensstil zu beschreiben – oder darüber zu sprechen; vgl. https://www.terran.eco/
UBA = Umweltbundesamt: Der Bundesregierung zuarbeitende, unabhängige, wissenschaftliche Behörde – nicht zu verwechseln mit dem Umweltministerium: Das UBA ist eine äußerst fundierte und umfassende Quelle rund um Umwelt- und Klimaschutz: https://www.umweltbundesamt.de/
Umwelt = Mitwelt. Manfred Folkers und Niko Paech finden den deutschsprachigen Begriff ‚Umwelt‘ eher unglücklich gewählt und nutzen stattdessen den Begriff ‚Mitwelt‘, der, so Folkers, „die Augenhöhe zwischen der Natur und der Menschheit als Verursacherin ökologischer Probleme wieder her[stellt]“ (2020, 220).
Wachstum = gesteigerter Verbrauch von Energie, Ressourcen und Ausbeutung, heute meist mit einem gesteigerten Ausstoß von CO2e verbunden (vgl. Welzer 2021).
WGBU = Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, wissenschaftliches Beratungsgremium der deutschen Bundesregierung
pdf-Download des Inhaltsverzeichnisses, weitere Handbuch-Downloads siehe hier.
…des Handbuch Klimakrise mit (fast) allen z.B. für (Party-)Diskussionen relevanten Fakten, Zahlen und Argumenten inkl. möglichen politischen, gesellschaftlichen und individuellen Veränderungen und Chancen für diese Welt.
Marc Pendzich, Komponist, promovierter Musikwissenschaftler und Zukunftsaktivist. 2019 bis 2022 Mitglied des Zukunftsrat Hamburg. Hat einen gleichermaßen wissenschaftlichen, kreativen und ganzheitlichen Blick auf die Welt. Vermisste ein Buch, dass die wesentlichen Informationen über die existenzielle Ökokrise samt Klimakatastrophe, Massenaussterben und Klimagerechtigkeit sowie über die erforderliche (gesamt)gesellschaftliche Transformation sowohl für Deutschland als auch weltweit allgemeinverständlich, ganzheitlich und durchgehend mit Quellen belegt zusammenfasst. Schrieb es dann selbst. Zunächst in Form des Webportals handbuch-klimakrise.de. Nun darüber hinaus auch als Buch bzw. E-Book vorliegend. Arbeitet das Thema ‚Klimakrise/Massenaussterben‘ auch für ‚seine‘ Branche in Form der Website musik-und-klimakrise.de auf. Sieht die ‚multiple Krise der Mitwelt‘ als erste und letzte Chance der Menschheit, sich neu zu erfinden.
‚Auf einen Blick‘ (Liste) … als pdf-Dokument (Stand 11/2020) | … als Alles-auf-einer-Seite-Grafik (Stand 04/2023)
‚Climate Change in 10 Words‘-Kurzformel: „It’s real, it’s us, it’s bad; experts agree, there’s hope!“ (Anthony Leiserowitz, zu Deutsch: „Der Klimawandel ist erwiesen und menschengemacht, hat gravierende Risiken, CO2 ist die Ursache, wir können etwas tun!“)
Die Zivilisation und die Lebensgrundlagen der Menschheit sind existenziell gefährdet. „Wir müssen nicht ‚das Klima‘ retten – sondern uns!“ (Eckart von Hirschhausen) – durch die Bewahrung der planetaren Grenzen.
Wir sind nicht die Herrscher der Erde, wir unterliegen den Gesetzen der Natur, wir sind Teil der Erde: Wir sind Erde.
Wir haben – endlich – anzuerkennen, dass die Natur nicht mit sich handeln lässt. Übrigens: Die Natur kennt uns gar nicht. (Harald Lesch)
Wir haben uns künftig als Gast der Oase ‚Erde‘ zu begreifen – denn, was macht man mit Gästen, die sich dauerhaft nicht angemessen benehmen? Man schmeißt sie raus. (vgl. Pierre Rabhi)
Das Leben, wie wir Bewohner*innen der Industrienationen es bisher kannten, ist zu Ende. Nur haben das Viele noch nicht erkannt.
Ein Grundproblem ist, dass die meisten Menschen ihren Luxus als ‚normal‘ ansehen. Aber: ‚Normal‘ kann nur sein, was den Planeten nicht an die Wand fährt.
Die Zeit läuft: Um soziale Härten zu vermeiden bedarf es nicht weniger Klimaschutz, sondern mehr. Sozialverträglichkeit schließt Generationengerechtigkeit ein. Generationengerechtigkeit schlägt Besitzstandswahrung.
Die Menschheit, jede Nation, jeder Mensch hat ein eindeutiges CO2-Budget. Klimaneutralität ist in D nach Rahmstorf bis 2035 erforderlich, gemäß dem Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) bis spätestens 2037.
Pro-Kopf-CO2-Budget in D bis 2050: 2,3t CO2 pro Jahr. Unser durchschnittlicher Pro-Kopf-CO2-Ausstoß pro Jahr: 11,6t. Das bedeutet, dass jede*r von uns ihr/sein Budget schon überschritten hat, ohne geflogen zu sein. Mallorca pro Person Hin/Rück = 0,7t CO2 = ca. 1/3 unseres Budgets. Essen? Heizen? Kleidung? Laptop?
Klimaschutz ist ein Menschenrecht. Letztlich gibt es nur eine robuste und moralisch vertretbare Form der Klimagerechtigkeit: Jede*r Erdenbürger*in hat exakt den gleichen Anspruch auf die Belastung der Atmosphäre. Und das sind eben bis 2050 2,3 t CO2 pro Jahr. (vgl. Rahmstorf/Schellnhuber)
Ohne Veränderungen ist das verbleibende Menschheits-CO2-Budget in 7 Jahren erschöpft = 2.555 Lebenstage = ca. 1.300 politische Arbeitstage (Stand 1/2021).
Derzeit global +1,2 °C u. knapp 50% mehr CO2 (414 ppm statt 280 ppm) in der Atmosphäre als vor der Industrialisierung. Das Pariser Abkommen besagt „deutlich unter 2 Grad; möglichst 1,5 °C“. Der Weltklimarat dringt auf die Einhaltung des 1,5°-Ziels. Wenn die Staaten ihre bisherigen Zusagen einhalten, sind wir auf einem 3-bis-4-Grad-Pfad bis 2100. Schon 1,2° reichen, um global z.B. immense Waldbrände auszulösen. Was ist dann bei +2, +3, +4° los?
Wesentliche Kipppunkte: ‚Ewiges‘ Eis | Permafrost | Regenwälder | Golfstrom | Jetstream | Korallenriffe. Alles ist mit allem verbunden: Kipppunkte lösen Kipppunkte aus.
Allgemein gilt: Klimatolog*innen und Weltklimarat untertreiben tendenziell – wenn sie sich aufgrund neuer Forschung korrigieren müssen, dann immer in die gleiche Richtung: Es ist noch dramatischer als bisher angenommen. Es ist daher erst recht keine Zeit zu verlieren.
Jedes Wettergeschehen – ein Hurrikan genauso wie ein leichter Sommerregen – findet heute unter anderen Umweltbedingungen statt als noch vor 250 Jahren.
Höhere Temperatur = Mehr Energie (Kraft) im Gesamtsystem.
EU-28 ist weltweit drittgrößter CO2-Verursacher pro Jahr | Innerhalb der EU ist Deutschland stärkster CO2-Emittent, weltweit auf Platz 6 | Bei den historisch aufsummierten Gesamtemissionen D = Platz 4 | D = viertstärkste Wirtschaftsnation | Anteil an Weltbevölkerung = 1,1% | Anteil an jährlichen globalen CO2-Emissionen = 2,1%, d.h. das doppelte dessen, was D ‚zusteht‘. D kauft viele Produkte, die anderswo CO2-intensiv produziert werden, das sind etwa 17%, die eigentlich D angerechnet werden müssten. Die entscheidende Frage lautet: Welche Nation sollte sich anstrengen, wenn nicht mal D seine Klimaziele ernst nimmt?
‚Kohlekompromiss‘ und ‚Klimapaket‘ reichen für das 1,5°-Ziel nicht aus. Mojib Latif: „Mit diesen Maßnahmen leisten wir dem Klima viel eher Sterbehilfe.“ – So zu tun, als ob man Klimaschutz betreibe, ist gefährlich, weil dann viele Menschen glauben könnten, die ergriffenen Mini-Maßnahmen reichten aus. Sie reichen nicht. Nicht mal annähernd. Radikal sind nicht die geforderten Veränderungen. Radikal ist, so weiterzumachen wie bisher.
Wir Bürger*innen der Industrienationen leben massiv auf Kosten des Globalen Südens und der künftigen Generationen. Die althergebrachten (neo-)kolonialen Strukturen bestehen nach wie vor. Und auch Sklav*innen gibt es faktisch immer noch. Jede*r von uns hat welche.
Unser gesamtes westliches Leben ist auf Ausbeutung aufgebaut. Täglich arbeiten 218 Mio Kinder auf Plantagen, Untertage u. in Fabriken für Kakao, Palm, Bananen, Kaffee, seltene Erden, Bekleidung sowie auf Müllhalden etc. pp.
Der Globale Süden wird beim Klimaschutz nur mitziehen, wenn er davon profitiert: Nur eine globale Klimagerechtigkeit führt relevant zu Klima- und Umweltschutz.
Wir haben den Überfluss, der uns nie zugestanden hat, loszulassen, um die Chance zu wahren, einen grundlegenden Wohlstand zu erhalten.
Was ich nie besessen habe, kann mir auch nicht weggenommen werden… Das bedeutet übertragen auf die Biodiversitäts- und Klimakrise: Man kann nicht auf etwas verzichten müssen, was einem nie zugestanden hat.
Genügsamkeit ist die positive Seite des Verzichts. LebeLieberLangsam.
Wir haben die Erde von unseren Kindern und Enkel*innen nur geliehen. Es liegt in unserer Hand! Wir Erwachsenen sind gemeinsam die letzten Generationen, die es in der Hand haben, die ganz große Katastrophe zu verhindern.
Krisen verstärken ohnehin bestehende strukturelle Ungleichheiten. Im Katastrophenfall trifft es immer die Armen zuerst. In Deutschland und global.
Wir sind derzeit dabei, uns – klimatisch gesehen – ins Dinosaurierzeitalter zurückzufeuern.
Den Ökos bzw. den Grünen wird nachgesagt, wenn es nach ihnen ginge, lebten wir alle wieder in Baumhäusern. Es ist genau umgekehrt: Die Grünen sind z.Z. die einzige (parlamentarisch relevante) Partei, die (ein bisschen!) daran arbeitet, dass unsere Nachfahren – um im Bild zu bleiben – nicht wieder in Baumhäusern leben müssen.
Das gleiche gilt für die sog ‚Ökodiktatur‘: Nur wenn wir jetzt z.B. über Ordnungsrechte den Überfluss begrenzen, haben wir die Möglichkeit, die Demokratie stabil zu halten: Wenn sich eines Tages Katastrophe an Katastrophe reihen sollte, wird das nicht mehr der Fall sein. Klimaschutz bedeutet Schutz des Rechtsstaats und der Demokratie.
„Klimawandel ist keine Krankheit wie Diabetes, mit der man leben kann; er gleicht eher einem Tumor, den man entfernen muss, bevor er Metastasen bildet“ (=Kipppunkte in Gang setzt). (Jonathan Safran Foer)
Es bedarf einer ‚Kultur des Genug‘. Im Namen der Freiheit brauchen wir: Grenzen. Wir brauchen, wie beim Rauchverbot, bei der Gurtpflicht und dem weltweiten FCKW-Verbot eine Politik, die Verantwortung übernimmt und die uns in der Klimakrise und mitten im sechsten Massenaussterben vor uns selber schützt.
„Fleischessen und Urlaubsflüge haben … nichts mehr mit persönlicher Freiheit zu tun. Wir dürfen nicht die Freiheit haben, die Welt zu ruinieren, Millionen Menschen verhungern zu lassen und 21 Hühner pro Quadratmeter zu halten.“ (Hagen Rether)
Es bedarf einer alle Lebensbereiche umwälzenden sozial-ökologischen Transformation, die das Gemeinwohl und eine Annäherung der Lebensverhältnisse in das Zentrum politischen Handelns stellt. Eine so umfassende Reform benötigt die institutionalisierte Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Bürger*innenteilhabe. Das BIP (Bruttoinlandsprodukt) ist kein geeignetes Messinstrument zur Beurteilung des Zustandes eines Wirtschaftsraumes und z.B. durch eine Gemeinwohlbilanz oder eine Wellbeing Economy zu ersetzen.
Fridays for Future fordert nur ein, was Deutschland in Paris unterschrieben hat. Greta Thunberg & Co sagen nichts weiter als: „Hört auf die Wissenschaftler*innen und den Weltklimarat.“
Die Aggressionen gegen die Greta Thunbergs dieser Welt sind auch deshalb so heftig, weil sie recht haben. Es sind zudem Rückzugsgefechte des Patriarchats.
Die Biodiversitäts- und Klimakrise ist maßgeblich durch eine von männlichen Dynamiken beherrschte Welt entstanden. Wir brauchen Parität – die gleiche Repräsentanz von Frauen und Männern in allen wichtigen Gremien. So entstehen andere Dynamiken, die zu besseren Entscheidungen führen (können).
„Sei du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt.“ (Mahatma Gandhi)
‚Selbstwirksamkeit‘ und ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ können gegen Klimafrust helfen.
„Was kann Ich tun?“ – Sieben Dinge:
Reiseverhalten ändern. | Mobilitätsverhalten ändern. | Stromanbieter wechseln. | Zu einer Ökobank wechseln. | Rindfleisch vom Speiseplan verbannen oder Vegetarier*in/Veganer*in werden. | Saisonal, regional und Bio einkaufen – keine Lebensmittel wegschmeißen, dann bleibt im Portemonnaie genauso viel übrig wie vorher. Bio stärkt die bodenerhaltende Agrarkultur. | Reduzieren. Rebound-Effekte meiden. Keep it simple. Zeitwohlstand statt Konsum. Aber vor allem: Multiplikator werden: Selbstwirksamkeit leben durch politisches Engagement. In Gemeinschaft. Entsprechend der eigenen Stärken, Bedürfnisse und Möglichkeiten.
Die Zeit des ‚Aberns‘ ist vorbei: Entlarve Ersatzdebatten und setze Deine Themen.
Es ist nicht weniger als das Geschäftsmodell der größten Industrie der Welt zu zerstören. „It’s up to five times as much as the entire carbon budget for the earth. If we let them digg it all up, we’re cooked. If it stays in the ground, we have a chance“ (Naomi Klein). Die fossile Industrie zahlt derzeit den Kampf gegen Klimaschutz aus der Portokasse.
Für die Durchsetzung einer politischen Agenda benötigt man nicht unbedingt die aktive Mehrheit der Bevölkerung: Die Aktivierung von 3,5% der Bevölkerung reicht aus, um relevante politische Veränderungen herbeizuführen.
Die 4F meiden: Fliegen, Fleisch, Finanzen und Fummel. Wir rechtfertigen uns alle gegenseitig. Aber: Wenn drei von fünf Freunden nicht mehr begeistert sind, das der gemeinsame Freund zum Shoppen nach New York fliegt, sieht es schon anders aus, daher: Anecken!
Fliegen ist die klimaschädlichste Art sich fortzubewegen. Ein paar wenige Privilegierte fliegen das Klima kaputt. Flugreisen machen in Europa 13,5% der CO2-Emissionen aus.
Kreuzfahrten sind der ökologische Doppelschlag, weil zumeist Zubringerflüge erforderlich sind. Auch ethisch sind Kreuzfahrten extrem problematisch.
Entscheidend für den CO2-Verbrauch ist das Einkommen: Mehr Einkommen fließt allzu oft in schwerere Autos, größere Wohnungen und häufigere Flugreisen. (vgl. Umweltbundesamt)
Im Sinne der Klimagerechtigkeit bedarf es Limits und Obergrenzen: Es darf nicht möglich sein, dass sich Unternehmen und Vermögende aus Klimaschutzmaßnahmen heraus kaufen.
Verhältnisse ändern statt Verhaltensänderung abfordern: Schrittweise Erhöhung von Standards und Normen ist sozial gerechter und leichter umzusetzen als die Erhebung von Steuern – sowohl bei Unternehmen als auch bei Bürger*innen. (vgl. Michael Kopatz)
Übersehen und unterschätzt: der Rebound-Effekt. Das schnellere Auto wird nicht dazu genutzt, früher am Reiseziel zu sein, sondern um weiter weg zu fahren. Ist auf alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche übertragbar. Kostet Unmengen an Ressourcen, Energie und CO2.
Wir brauchen eine umfassende Mobilitätswende: Mehr ÖPNV, mehr Fahrrad, mehr Carsharing, insbesondere in den Städten. Mehr Platz für die Lebenswerte Stadt. Mehr Schiene, weniger Lkw. Es gibt kein Grundrecht auf einen eigenen Pkw – es gibt nur eines auf gesellschaftliche Teilhabe, u.a. durch Mobilität.
Die Energiewende steht in D noch ganz am Anfang: Rund 40% des Stromes wird grün produziert. Aber nur etwa 17% des Gesamtenergiebedarfs stammen derzeit aus Erneuerbaren Energien.
1 Windkraftanlage ermöglicht synthetisches Kerosin für 71/3 vollbesetzte A320-Flüge Hin/Rück HAM-LIS pro Jahr; 2018 sind 122,6 Mio Menschen in D mit einem Flugzeug gestartet: ‚Grünes Fliegen‘ wird nur sehr begrenzt möglich sein, künftiger Massenflugtourismus ist – bis auf weiteres – eine Illusion.
Global gesehen ernähren Kleinbauern die Welt. Wir brauchen eine massive Agrarwende: Humusaufbauende regenerative Agrarkultur kann die Welt ernähren – und CO2 aus der Atmosphäre ziehen. Industrielle Landwirtschaft trägt stark zur Erderwärmung bei und zerstört die Böden – und gefährdet die Ernährungssicherheit.
Im Jahre 2100 werden etwa 11 Mrd. Menschen auf der Erde leben. Das ist eine Menge, aber die gute Nachricht lautet: Mehr werden es nicht. Und die zweite gute Nachricht lautet: Es ist schon jetzt genug Nahrung für 11 Mrd. Menschen da. (Das klappt aber nur, wenn es nicht zur ganz großen Klimakatastrophe kommt.)
„Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum kann andauernd weitergehen in einer endlichen Welt, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“ (Kenneth E. Boulding) – Es gibt viele gute Ideen zu Postwachstumsökonomien. Auch der Kapitalismus wurde nicht am Reißbrett entwickelt.
Wachstum kann definiert werden als „gesteigerter Verbrauch“ (vgl. Harald Welzer).
Durch Künstliche Intelligenz werden schon bald viele Arbeitsplätze wegfallen. Das Bedingungslose Grundeinkommen wird daher kommen – und kann nicht durch die verbliebenen Arbeitsplätze finanziert werden. Besteuert wird, was unerwünscht ist: CO2, der Verbrauch von Ressourcen – und der Nano-Sekundenhandel per Mikrosteuer.
„Es ist billiger, den Planeten jetzt zu schützen, als ihn später zu reparieren.“ (José Barroso) – Der Satz ist eingängig, doch reden wir über eine Existenzbedrohung für die Zivilisation. Und hier wird die Argumentation mit Geld unsinnvoll.
Etwa die Hälfte des Kohlenstoffdioxids, das die Menschheit jemals in die Atmosphäre geblasen hat, wurde in den vergangenen dreißig Jahren ausgestoßen. Es ist erst der global verbreitete wachstumswirtschaftliche Kapitalismus, also eine historisch extrem junge Wirtschaftsform, der die gigantischen Zerstörungswirkungen entfaltet. Die Taktik ‚Mehr vom Gleichen‘ führt ins Aus.
Wenn also unsere Wirtschaft nur ‚brummt‘, wenn Überfluss gelebt wird – und wenn wir diesen Überfluss loszulassen haben, um die Chance auf einen grundlegenden Wohlstand zu erhalten, folgt daraus logisch, dass wir unser Wirtschaftssystem u. unser Geldsystem hin zu einem weniger wachstumsorientierten Modell zu verändern haben.
Die Finanzmärkte bzw. die Börse sind zum Casino verkommen, in dem u.a. auf Lebensmittel gewettet wird. Eine Finanztransaktionssteuer sowie die Wiedereinführung der Regel, dass ein Derivat nur erwerben kann, wer das Grundgeschäft getätigt hat, bremsen den Nano-Sekundenhandel runter auf ein ‚menschliches Maß‘.
Das ‚Shareholder Value‘-Prinzip ist antisozial: Es verlangt auf Kosten von Gesellschaft, Menschen und Umwelt Gewinnmaximierung ‚um jeden Preis‘ zu Gunsten weniger Menschen, namentlich der Aktionärinnen und Aktionäre. – Wirtschaft hat aber „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen“ (GG Art. 14 Abs. 2).
Freihandelsabkommen garantieren ‚Investitionsschutz‘ von Unternehmen. Will ein Staat mehr Klimaschutz, wird er u.U. von einem privaten Schiedsgericht zu hohen Schadensersatz verpflichtet. Das kostet Zeit, die wir nicht haben.
Unser derzeitiges Wirtschaftsmodell fußt auf der Externalisierung von Kosten: Gewinne gehören Wenigen, ökologische Schäden etc. tragen Alle. Eine Internalisierung aller Kosten würde die gesamte Wirtschaft auf den Kopf stellen. Kein Atomkraftwerk wäre jemals gebaut worden. Wir brauchen: Preiswahrheit.
Wesentliche Basis allen künftigen Wirtschaftens kann das bewährte Genossenschaftsmodell sein.
Physik schlägt Politik – daher gilt: Wir haben uns am wissenschaftlich Erforderlichen zu orientieren, nicht am vorgeblich politisch Machbaren. Das kann ein Leitfaden sein, an den wir uns selbst und vor allem die Politik immer und ständig erinnern sollten.
Jede Subvention, die heute in die falsche Richtung investiert wird, richtet 3x Schaden an: Das Geld festigt den Status quo, fehlt zur Gestaltung der Zukunft und richtet einen später zusätzlich zu bezahlenden Umwelt-/Klimaschaden an.
Es gilt das Vorsorgeprinzip, das ‚Backcasting‘ erfordert: Es gilt, vom gewünschten Resultat her zu denken und auf dieser Basis die notwendigen Schritte detailliert zu planen und umzusetzen.
Hitze kann man nicht wirklich ausweichen. Irgendwann muss jede*r mal raus.
Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für die globale Gesundheit des 21. Jahrhunderts: Hitzewellen, Allergien, Tropenkrankheiten in Nordeuropa, Gefährdung von Kindern, Konflikte, Hunger.
Wir haben uns klar zu machen, dass die Nahrungskette bzw. die Biodiversität auf dieser Welt einem engmaschigen Netz gleicht. Jedes Lebewesen – ob Tier, Pilz oder Pflanze –, das ausstirbt oder zahlenmäßig nicht mehr relevant vorhanden ist, repräsentiert eine durchgeschnittene Masche des Netzes. Es wird grobmaschiger, instabiler – und irgendwann reißt es an einigen und immer mehr Stellen; und Lebewesen sterben vermehrt aus, weil ihre Nahrung/Lebensumgebung ausstirbt, was dazu führt, dass andere Pflanzen nicht mehr bestäubt werden oder andere Tiere keine Nahrung mehr finden… Dieses Netz trägt uns, einer Hängematte gleich – und wir sind: schwer.
„Menschen pumpen heute zehnmal schneller Treibhausgase in die Atmosphäre als die Vulkane während des Großen Sterbens“ (J.S. Foer). Heute existieren ¾ weniger Insekten in den Naturschutzgebieten in D als vor 30 Jahren (Krefelder Studie). „70% unserer Nahrung hängt direkt von der Bestäubung durch Bienen und andere Insekten ab“ (Gonstalla).
Wir erhalten durch die Zwillingskrise Klima/Massenaussterben prinzipiell die Chance, die Welt neu zu denken, den überdrehten Finanzialismus-Shareholder-Value-Turbokapitalismus einzudämmen und den Menschen bzw. das Leben – und nicht das (wie es zurzeit ‚funktioniert‘: zerstörerische) Geld – in den Mittelpunkt unseres Daseins zu stellen: Es kann endlich anders weitergehen, weil es anders weitergehen muss, wenn es weitergehen soll.
Es ist die Frage aufzuwerfen: Wie wollen wir eigentlich zusammenleben in einer Welt, die zunehmend unter dem Zeichen des Klimawandels und des sechsten Massenaussterbens steht?
Pendzich, Marc (2022): Handbuch Klimakrise – Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft: Die relevanten Fakten, Zahlen und Argumente zur großen Transformation, als Buch und E-Book bei BoD sowie als Website: https://www.handbuch-klimakrise.de
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Menschen reden derzeit über neuerliche Mondlandungen, Mars-Expeditionen – und investieren viel, viel Geld in selbstfahrende Autos und Flugtaxis. Lauter letztlich überflüssige Luftschlösser… Aber für die gigantischen irdischen Probleme gibt es hingegen kaum ein Bewusstsein.
Dieser Realitätsverlust ist… unmenschlich.
Ja, klar, Menschen brauchen Visionen – die Apollo-Missionen u.ä. haben die Menschheit sicher in vielerlei und auch in technologischer Hinsicht vorangebracht. Angesichts der drohenden Existenzkrise der Menschheit gilt es aus meiner Sicht nunmehr vor allem eine Vision zu entwickeln: Wie es für uns weitergeht.
Dafür benötigen wir alle geistigen, personellen und finanziellen Ressourcen unserer (Welt-)Gesell-schaft.
Es geht gar nicht mehr um die Fragen: > „Was ist ein gutes Leben?“ oder > „Wie wollen wir leben?“
Es geht um unsere: Existenz.
„There are no gray areas when it comes to survival.“
(Greta Thunberg in Davos, 2019)
„Das Gap zwischen dem, was wir tun müssten, und dem, was tatsächlich getan wird, wächst von Minute zu Minute.“
(Greta Thunberg, Luisa Neubauer, Anuna de Wever van der Heyden und Adélaïde Charlier 2020, zwei Jahre nach Greta Thunbergs erstem Streiktag vor dem schwedischen Parlament)1
Jeder Cent von Luftschlössern hat daher m.E. in die Entwicklung von politischen, Lösungen der tiefen Krise unseres Planeten gesteckt zu werden.
Es geht nicht um das gute Leben, sondern um unser Überleben.
Marc Pendzich
PS: Und wer angesichts dieses unendlichen Zahlenwerks findet, dass dieses Handbuch Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft mit Negativität aufgeladen ist, dem sei mitgeteilt, dass es sich bei diesem Buch eigentlich um eine Liebeserklärung handelt2 – an diese ‚wunderbare Oase inmitten unbelebter Sterne‘ (vgl. S. 47 u. 687), an das Leben, an die Menschheit im Allgemeinen sowie an meine unmittelbare Umgebung im Besonderen.
2 Andernfalls hätte ich das Buch/Webportal nie entwickeln können – denn selbstredend ist dieses Zahlenwerk in der Tat belastend. Lieber Leserin – lass Dich davon nicht belasten; belaste lieber diejenigen, die den Zustand des Planeten mit zu verantworten haben.
Fazit Nr. 2: Wir haben die Wahl.
Wir Menschen haben derzeit noch – nach menschlichem Ermessen und auf Basis des Standes der Wissenschaft – die Wahl zwischen
einem eher unangenehm warmen und streckenweise stürmischen Planeten mit der Chance auf einen gemäßigten Wohlstand, wenn wir jetzt individuell Handeln, die Zukunft aktiv mitgestalten und vor allem die Politik vor uns hertreiben und
einem Planeten,
auf dem Menschen schon in wenigen Jahrzehnten das Leben ihrer Großeltern für eine böse Anekdote halten werden,
Zivilisation und Wohlstand historische Begriffe sein werden und
unsere Kinder,
erst recht unsere Enkel*innen und
ganz sicher alle nachfolgenden Generationen
für hunderte, wenn nicht tausenden von Jahren in einer dauerhaften Krisensituation des Mangels und des Kampfes ums Überleben kämpfen und diesen Kampf milliardenfach verlieren werden.
Haben wir wirklich eine Wahl?
Nein.
Lasst uns Anfangen.
Jetzt.
Nicht halbherzig.
Mit voller Kraft.
Sofort.
Heute.
Noch ’n Fazit:
Ich habe bei der Recherche – so detailliert, umfassend und langwierig sie war (und ist) – trotz allem letztlich lediglich an der Oberfläche von unendlich vielen Tabellen und abertausenden Zahlen und Millionen von engbedruckten Seiten von wissenschaftlichen Studien gekratzt – der Klimawandel gilt nicht umsonst als das am besten erforschte Wissenschaftsfeld überhaupt. Forschung ist eine gute Sache – aber diese dient seit vielen Jahren zu einem guten Teil dazu, ein paar Menschen von etwas zu überzeugen, die sich nicht überzeugen lassen wollen: Man kann sich hier im wahrsten Sinne totforschen.
Das ist eine Falle, die von den fossilen Gewinnlern mit ihren systematisch vorgebrachten ‚ewigen Zweifeln‘ gestellt wurde und wird, und in die die Klimawissenschaft und mit ihr gemeinsam die Politik und alle, die aufrichtig gern einen wohltemperierten Planeten behalten möchten, tief hineingetappt sind.
Ja, natürlich kann man z.B. das Insektensterben erforschen, bis sie alle, alle tot sind. Muss man aber nicht.
Es wäre m.E. hilfreich, das grundlegende Forschungsergebnis endlich und in seiner allumfassenden Dramatik als gegeben zu akzeptieren, und den Fokus von Forschung in erster Linie auf die gesellschaftliche sog. große Transformation sowie auf zukunftsfähige technische Ideen zu richten, z.B. auf die Optimierung von Technologien zur Zwischenspeicherung von Energie von erneuerbaren Energien.
Ihr seid dran.
Marc Pendzich.
PS: #Film4Climate – Prince Ea „Three Seconds“ – Länge: 4:18 Minuten. >> 1st Prize Short Film Winner – auf dem Klimagipfel in Marrakesch 2016 >> Prince Ea ist Spoken Word Artist und Rapper >> Die einstellbaren (automatischen) englischen Untertitel helfen sehr!
#Film4Climate – 1st Prize Short Film Winner auf dem Klimagipfel in Marrakesch 2016 Prince Ea (2016): Three Seconds, online unter www.youtube.com/watch?v=sacc_x-XB1Y (Abrufdatum 6.7.2019)
Apropos ‚Bitte mach mir den Teppich nicht nass, während du löschst!‘
Philipp Schröder, Experte für erneuerbare Energien und Ex-Tesla-Chef Deutschland, fasst die Klimapolitik-Situation wie folgt in ein Bild:
„Man versucht ein Feuer zu löschen – das ist die Klimakatastrophe. Und diejenigen, die die Feuerlöscher sind, sind … [die] Politiker … und um sie rum hüpfen Lobbyverbände, die sagen, ‚bitte mach mir den Teppich nicht nass, während du löschst.‘ … Allerdings sind wir alle … in einer Komfortzone, … und möchte[n] [auf dem] Sofa sitzen bleiben und … nicht nass werden – und das ist sehr schwer zu lösen.“ >> Quelle(n) siehe unten.
It’s the planet, stupid! Mach es nicht komplizierter als es ist. Es ist ganz simpel:
Wenn ein Haus brennt, löscht man das Feuer.
Unser Haus brennt. Also löschen wir es – und wenn wir dabei nass werden, werden wir dabei nass:
Das Klimanifest. | Für ein generationen- und klimagerechtes Jetzt-Handeln.
Für dich, für mich, für uns, für alle, für alles.
Ich möchte nass werden!
Für mich selbst.
Für meine Kinder. Für alle unsere Nachkommen, die verdammt noch mal das gleiche Recht haben, in einem funktionierenden Ökosystem zu leben.
Für meine Enkel:innen, denn es wäre schön, wenn es sie eines Tages geben könnte.
Für alle Menschen, die ich liebe. – Ja, und auch für die Menschen, die ich nicht mag.
Für ‚mein‘ Hamburg, für ‚meine‘ Nordfriesischen Inseln und sonstige von mir geliebte Orte.
Für all die Mitmenschen, die nicht zu den Profiteur:innen des (ohnehin zu Ende gehenden) Status quo gehören.
Für Europa, dem ich mich als EU-Bürger:in zugehörig fühle.
Für uns Menschen der frühindustrialisierten Staaten, in der Hoffnung, dass mehr und mehr Mitmenschen ebenfalls das Bedürfnis entwickeln, ‚nass‘ zu werden: Es ist eine pure Illusion, dass die Klimakatastrophe und das sechste Massenaussterben uns Westler:innen weniger treffen könnten. Erst recht in einer globalisierten ‚vollen‘ Welt, in der alles miteinander zusammenhängt.
Für die weiblich gelesenen 51 Prozent der Menschheit, die vom patriachal geprägten ökozidalen Turbokapitalismus unterdrückt werden und von Armut, Klimaverwerfungen und Biodiversitätsverlust besonders massiv betroffen sind.
Für die Menschen der Länder des Globalen Südens, die bis zum heutigen Tag mit dem niemals eingelösten ‚Entwicklungsversprechen‘ von Politiker:innen und Weltbanker:innen sowie von „Top“manager:innen, Aktionär:innen und auch den Konsument:innen der Industriestaaten verarscht und missbraucht werden – und nun darüber hinaus zuerst und am heftigsten ‚den Kopf hinhalten‘ für die von ihnen garantiert nicht verursachte globale ökologische Krise der Mitwelt.
Für alle diejenigen Menschen, die aufgrund unserer westlichen ‚imperialen Lebensweise‘ und den daraus entstehenden sozialen Verwerfungen zu den heute schon 20 Millionen ‚Klimaflüchtenden‘ gehören und die bereits jetzt alles zurücklassen müssen.
Für die Menschenrechte aller Menschen auf Leben, Würde, Freiheit, Gleichheit, Parität der sozialen Geschlechter, Solidarität, Sicherheit, Freizügigkeit, Wahlrecht, Frieden, Asyl, Kleidung, Wohnung, Bildung, ärztliche Versorgung, gesunde Nahrung, einwandfreies Trinkwasser, saubere Luft sowie Generationen- und Klimagerechtigkeit.
Ich bitte dich und euch für uns, für alle:
Lasst uns unser anmaßendes ‚Leben im Überfluss‘ loslassen; lasst uns genügsam sein und uns auf ein ‚menschliches Maß‘ beschränken; lasst uns die naturgesetzlichen Grenzen würdigen; lasst uns kosmopolitisch handeln; lasst uns in Liebe leben und das Leben lieben: Lasst uns gemeinsam diesen „kollektiven Suizidversuch“ beenden.
Lasst uns alle füreinander ‚nass‘ werden:
Für das Wunder ‚Leben‘; für alles Leben auf dieser Erde, ob es nun CO2 generiert oder absorbiert; für unsere Mitgeschöpfe, für alle Lebewesen, die mit unserem absurden Egotrip – der schlicht und einfach ins Nichts führt – nichts zu tun haben und doch fatalerweise uns Menschen bedingungslos ausgeliefert sind – und:
Für diese wunderbare Oase inmitten unbelebter Sterne, also: für diesen zum Kasino herabgewürdigten Planeten; für diese zutiefst geschundene blaue Perle namens Erde, auf der wir jetztbesoffen herumtrampeln, statt bei uns zu sein und uns so zu benehmen, wie es sich für Gäste gehört.
— Stichwort „volle Welt“: Wir haben als Realität anzuerkennen, dass wir nicht länger in einer ‚leeren Welt‘ leben – auf deren Basis immer noch sehr viele Menschen argumentieren –, sondern in einer ‚vollen Welt‘, in der wir an die naturgesetzlichen Grenzen stoßen. >> vgl. Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein. S. 29f. >> vgl. Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2019): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Pantheon. S. 110f.
— Stichwort „Imperiale Lebensweise“, siehe: >> Brand, Ulrich u. Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. oekom.
— Stichwort „menschliches Maß“, siehe: >> Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. oekom. S. 52.
— Stichwort „Klimaflüchtende“, siehe: >> Buse, Uwe (u.a.): „Was der Anstieg der Meere für die Menschheit und ihre Lebensräume bedeutet“. in: Der Spiegel Nr. 49/2018, 1.12.2018, S.12-22. Hier heißt es: „Auf der Weltklimakonferenz 2017 in Bonn … schätzten UNO-Experten, dass bereits heute 20 Millionen Menschen auf der Flucht vor Hitze, Dürren, Stürmen oder Überschwemmungen seien. Laut einer Weltbank-Studie könnten es bis zum Jahr 2050 mehr als 140 Millionen werden“ (22)
Sehr zu empfehlen in diesem Zusammenhang ist die ARTE-Doku >> Aders, Thomas (2018): Klimafluch und Klimaflucht. TV-Doku, 59 min, online unter https://www.youtube.com/watch?v=tSiRvHzU_JY (Abrufdatum 22.12.2018) [nicht mehr verfügbar]
— Stichwort „Menschenrechte aller Menschen“, siehe: >> Amnesty International: „Alle 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, diskriminierungssensibel überarbeitete deutsche Übersetzung der Allgemeinen Erklärung“. in: amnesty.de, online unter https://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte (Abrufdatum 24.6.2021)
Hinweis: Hier handelt es sich um eine vereinfachende Zusammenfassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die angesichts der globalen Umweltkrise die Aspekte Gesundheit, Gendergerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und Klimagerechtigkeit expliziet hervorhebt.
Und noch eine Anmerkung: Angesichts der ermüdenden Diskussionen der letzten Jahre ist möglicherweise ein wenig aus dem Blick geraten, dass das Recht aufAsyl ein Teil der allgemeinen Menschenrechte ist.
— Stichwörter „Oase inmitten unbelebter Sterne“ und „Planet zum Kasino herabgewürdigt“, siehe die beiden folgenden Quellen: >> Laurent, Melanie und Dion, Cyril (2016): Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen. Film-Doku. Darin: Pierre Rabhi im Gespräch. Hier heißt es: „Diese unersättliche Menschheit sieht den Planeten nicht als wunderbare Oase inmitten unbelebter Sterne, in der das Leben herrlich ist: ein wahres Wunder eben.“ >> Rahhi, Pierre (2018): Manifest für Mensch und Erde. Matthes & Seitz Berlin, S. 89. Französische Originalausgabe 2008 unter dem Titel Manifeste pour la terre et l‘humanisme. Hier heißt es: Unser Planet ist „durch Plünderung und die Gesetze des Marktes von einer Oase zum Kasino herabgewürdigt“ worden.
Tiefer einsteigen: >> 4800 Seiten und 450 Minuten Basis-Wissen in alphabetischer Reihenfolge und nach Medium geordnet:
[fett gedruckt: Einige besonders empfehlenswerte Quellen des ‚Handbuch Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft‘]
>> Literaturverzeichnis:
Bonner, Stefan und Weiss, Anne (2017): Planet planlos. Sind wir zu doof die Welt zu retten?München: Knaur. 320 Seiten. (Für Einsteiger)
Das Buch ist im Mai 2019 als überarbeitete Neuausgabe unter dem Titel Generation Weltuntergang: Warum wir schon mitten im Klimawandel stecken, wie schlimm es wird und was wir jetzt tun müssen bei Droemer erschienen.
Brand, Ulrich u. Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. oekom. 224 Seiten.
Brasseur, Guy et al. (Hg.) (2017): Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven. Springer Open. Auch als kostenfreies E-Book verfügbar: https://play.google.com/books/reader?id=KNhCDwAAQBAJ&hl=de&pg=GBS.PA24 (Abrufdatum 19.12.2018) (die nationale Version der IPCC-Berichte) ca. 350 Seiten.
Foer, Jonathan Safran (2019): Wir sind das Klima! Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können. Kiwi. 336 Seiten.
Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. München: Blessing. 240 Seiten.
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer. (Der Originaltitel ist besser gewählt: This Changes Everything: Capitalism vs. Climate.) 704 Seiten.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag. 416 Seiten.
Lesch, Harald u. Kamphausen, Klaus (2016): Die Menschheit schafft sich ab. Die Erde im Griff des Anthropozän. München: Knaur. 516 Seiten.
Lesch, Harald u. Kamphausen, Klaus (2018): Wenn nicht jetzt, wann dann? Handeln für eine Welt, in der wir leben wollen. München: Penguin. 366 Seiten.
Nelles, David u. Serrer, Christian (2018): Kleine Gase – große Wirkung. Der Klimawandel. 132 Seiten. s.a. www.klimawandel-buch.de
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme. Ullstein. 242 Seiten.
Papst Franziskus (2015): Laudatio Si‘ – Die Umwelt-Enzyklika des Papstes. Leipzig: benno. 200 Seiten.
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. München: Beck. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. 144 Seiten.
Weizsäcker, Ernst Ulrich von u. Wijkman, Anders u.a. (2017): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 400 Seiten.
Welzer, Harald (2016): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt a.M.: Fischer. 336 Seiten.
>> Kino-Dokumentationen zur Biodiversitäts- und Klimakrise:
Anote’s Ark. Film-Doku von Matthieu Rytz über den Klimakampf des Ex-Präsidenten von Kiribati, Anote Tong, und das Emigrationsschicksal einer nach Neuseeland emigrierenden kiribatischen Familie, DVD, 2018.
Before The Flood.Film-Doku von UN-Friedensbotschafter Leonardo DiCaprio und Fisher Stevens, DVD, 2016.
Chasing Ice. Film-Doku von Jeff Orlowski über das per ‚Dauerfotografie‘ sichtbar gemachte Verschwinden des Polar-Eises, DVD, 2012.
Immer noch eine unbequeme Wahrheit. Die Zeit läuft. Film-Doku-Update von Al Gore, DVD, 2016.
System Error – wie endet der Kapitalismus?Film-Doku von Florian Opitz, DVD, 2018.
Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen. Film-Doku von Melanie Laurent und Cyril Dion, DVD, 2016.
Und immer wieder schön-schockierend, die Exxon- und Shell-Geheimstudien von 1982 bzw. 1988, in denen alles steht, was heute Realität ist:
Hoß, Dieter (2018): „Schwachsinn ist, wenn Politiker wieder in Gummistiefeln auf dem Deich stehen“. [Gespräch mit dem Klimatologen Hans Joachim Schellnhuber]. in: Stern Online.
… sowie die Website des Bundesumweltamtes, die übrigens auch den Mitarbeiter:innen des Bundestages zur Verfügung steht: https://www.umweltbundesamt.de/
Fassen wir alle Kapitel des Handbuchs unter dem Aspekt ‚Externalisierung und Ausbeutung‘ – das sind zwei Seiten einer vor Dreck strotzenden Münze (!) – einmal zusammen:
Unser Leben basiert vollständig auf der Externalisierung von Kosten, d.h. unser komplettes Leben fußt auf „Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt mit dem Ziel maximaler Gewinnerzielung“ (Jung/Schießl 2020), genauer der Ausbeutung
von Menschen namentlich des Globalen Südens, die trotz lebenslanger harter Arbeit keine Chance haben relevant aus der Armut herauszukommen, die die Arbeit für uns mit z.B. umweltbedingten Krankheiten, sozialen Verwerfungen, Trennung von der Familie, Rechtsunsicherheit, Gewalt, Unterdrückung und u.U. vorzeitigem Tod bezahlen und die darüber hinaus teilweise unsere faktischen Sklaven sind;
von Kindern in Form von täglich 218-millionenfacher Kinderarbeit auf Plantagen, Untertage und in Fabriken für Kakao, Palm, Bananen, Kaffee, seltene Erden, Bekleidung sowie auf Müllhalden etc. pp. – das ist systemisch – und Nachhaltigkeitssiegel sind mehrheitlich Ablassgeschäfte – d.h., insgesamt sind also Menschenrechtsverletzungen mannigfach und Teil des Systems; (Unicef geht 2020 „von weltweit 218 Millionen arbeitenden Kindern zwischen 5 und 17 Jahren aus. Fast die Hälfte sind jünger als zwölf Jahre“ (Johnson 2020, 5).)
der Staaten des Globalen Südens, die über internationale Institutionen und ebensolche Verträge sowie einer fehlgeleiteten ‚Entwicklungshilfe‘ im (neo-)kolonialen System gefangen gehalten werden, sodass von einem Imperialismus der Industrienationen zu sprechen ist;
von Menschen, deren Leben aufgrund der klimatischen Verwerfungen, für die weitgehend jede*r von uns mitverantwortlich ist, von Flucht, Tod, Elend, Hunger, Gewalt und Krieg bestimmt ist und immer mehr davon bestimmt sein wird;
von Ressourcen, die unseren Nachfahren gehören bzw. die im Boden bleiben müssen, damit unsere Nachfahren nicht gegrillt werden;
der Natur, der Biosphäre, der Tier- und Pflanzenwelt, der Nutztiere, der Ozeane, der Atmosphäre – auch durch Vermüllung, Zerstörung, durch Inkaufnahme des Massenaussterbens;
des Bodens, der seine Fruchtbarkeit zusehends verliert und damit seine Fähigkeit uns künftig zu ernähren;
durch Privatisierung/Monetarisierung von Dingen, die Naturrecht bzw. Menschenrecht sind, allen voran: Trinkwasser.
Der Mensch ist begnadet darin, die Augen zuzumachen. Doch auch abseits sämtlicher moralischer Erwägungen gilt: Man kann Kosten nicht dauerhaft externalisieren. Die Rechnung kommt. Definitiv. Und sie wird jeden Tag größer.
Nein, das sind keine, wirklich keine Einzelfälle.
Es ist systemisch – und hat deshalb auch systemisch gelöst zu werden.
Ein systemisches Problem erfordert eine systemische Lösung. Ein systemisches Problem kann nicht mit Einzelmaßnahmen gelöst werden. Nicht statthaft ist die Herausstellung einer Problematik als systemisch, um von individueller Verantwortung abzulenken. Gegenbeispiele zu systemischen Problemen, dass sog. exemplarische Argumentieren, ist wenig hilfreich, weil man immer ein Gegenbeispiel finden wird. Exemplarische Argumentation widerspricht der Empirie. Es handelt sich um einen inadäquaten Ebenenwechsel vom Gesamtbild zum Einzelfall: Exemplarische Argumentation macht bei systemischen Problemen keinen Sinn, weil man erst die Grundfragen, die Grundrichtung zu klären hat und dann nachfolgend das Modell mittels Einzelfragen überprüfen und ggf. Härtefallregeln hinzufügen kann.
Welchen der hier im Handbuch aufgeführten Aspekte wir auch herausgreifen – es läuft immer auf das gleiche Grundproblem hinaus. Am Ende des Nachdenkens gleichwelchem hier im Buch behandelten Hauptaspekt steht das immer gleiche Analyseergebnis: Alle Ausbeutung, alle Problematiken, alle Zerstörungen und Ungerechtigkeiten haben letztlich die gleichen grundlegenden Ursachen. Dürfte man nur genau eine Ursache benennen, also die Weltprobleme auf das Hauptproblem schlechthin herunter brechen, landet man bei der (u.a. Zins-bedingten Wachstums-)Steigerungslogik des HöherSchnellerWeiter, die alles in allem wiederum auf der Art wie unser Geld bzw. das Finanzsystem heutzutage funktioniert basiert.
Wir müssen ran an unser globales Geldsystem.
Es bedarf der Einhaltung der planetaren Grenzen. Jede Mensch hat ein CO2-Budget und einen noch zu bestimmenden ökologischen Fußabdruck, der ihm zusteht. Mehr geht nicht.
Noch einmal: Wir haben das Thema ‚Klimakrise/Massenaussterben/globale anthropogene Umwelt-katastrophe‘ im Sinne des Vorsorgeprinzips rückblickend, per Backcasting1, vom erforderlichen Resultat her zu denken. Alle Lösungsvorschläge und Pläne haben sich am Notwendigen zu orientieren:
‚Wir haben uns am wissenschaftlich Erforderlichen zu orientieren, nicht am vorgeblich politisch Machbaren‘ – Dies kann ein Leitfaden sein, an den wir uns selbst und vor allem die Politik immer und ständig erinnern sollten.
Details: Erläuterungen zu (1) 'Backcasting'
Backcasting = Planungsmethode, bei der zunächst das erforderliche Ziel definiert und nachfolgend die zur Erreichung dieses Ergebnisses erforderlichen Schritte festgelegt werden. Z.B. in Dänemark Standard, in der deutschen Politik weitgehend Terra incognita. vgl. wikipedia.org: „Backcasting is a planning method that starts with defining a desirable future and then works backwards to identify policies and programs that will connect that specified future to the present“ (2020); vgl. Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland, Aspekt Vorsorgeprinzip, S. 78f.
Neben einer Umwälzung der Politik klassischer Politikfelder wie Energie, Mobilität und Landwirtschaft bedarf es in Deutschland eine umfassende sozial-ökologische Transformation (SÖT), die vorschlagsweise entlang folgender Stichpunkte zu skizzieren wäre:
Klimaneutrales Wirtschaften, d.h. komplette Dekarbonisierung bis allerspätestens 2035 (Rahmstorf)/2037 (SRU). Bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert z.B. durch Ressourcen-/CO2-Steuer (Prinzip: Das Unerwünschte wird besteuert – also nicht Arbeit). Gerechte Verteilung der verbleibenden (nicht zu besteuernden) Arbeit. Systemrelevanz von Berufen als Bemessungsgrundlage für Bezahlung. Ein Mindestlohn. Ein Maximallohn. Ein Maximalvermögen. Annäherung der Lebensverhältnisse via progressivem Wohlstandsbegriff. CO2-basierte Reisebeschränkung, damit soziale Gerechtigkeit gewahrt bleibt. Parität. Generationengerechtigkeit. Komplette Steuertransparenz. Steuerliche Unterscheidung zwischen Lebens- und Nahrungsmitteln. Re-Regulierung der Finanzmärkte. Ein Derivat kann nur erwerben, wer das Grundgeschäft getätigt hat. EU-weite Finanztransaktionssteuer. EU-CO2-Grenzsteuer. Kostenwahrheit. Verursacherprinzip. Transparente Lieferketten. Vorsorgeprinzip. Ethikräte statt Lobbyismus. Konsistenz. Suffizienz. Nachhaltigkeit. Resilienz. Politiker*innen agieren maximal transparent. Backcasting als Grundprinzip von Politik. Politik hat evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen auf Basis z.B. des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WGBU) oder des Umweltbundesamtes (UBA). Starke Einbindung der Zivilgesellschaft. Umfangreiche Bürger*innenteilhabe. Dritte Kammer mit gelosten Bürgerparlamentarier*innen. Ausweitung des Genossenschaftsmodells auf weite Teile der Wirtschaft. Kein Shareholder Value. Gemeinwohlbilanz, Wellbeing Economy o.ä. statt BIP. Priorität ÖPNV/Bahn. Autoarme und Lebenswerte Stadt. Keine Patente auf Leben. Keine Privatisierung systemrelevanter/lebenswichtiger Güter/Branchen. Angleichung der Rechtslage im Digitalbereich an die rechtliche Situation des realen, analogen Lebens. Niedrigschwelliger Zugang des Globalen Südens zu Technologie, Know-how, Medikamenten und Verhütungsmitteln. Wissens- und Technologietransfer in den Globalen Süden. Re-Regionalisierung der Agrarkultur. Bodenbewahrende Agrarkultur. Tierische Nahrungsmittel (in den Industrienationen) als Ausnahme von der Regel.
Es bedarf einer ‚Kultur des Genug‘ – sie kommt den von Bregman/Junger geschilderte Bedürfnissen des Menschen viel näher als das HöherSchnellerWeiter. Manfred Folkers:
„Qualitativ enthält eine ‚Kultur des Genug‘ … [ein M]ehr [an] Zusammengehörigkeit, Würde, Wohlwollen, Vertrauen, Toleranz, Stille, Sorgfalt, Präsenz, Natürlichkeit, Leichtigkeit, Integrität, Humor, Großzügigkeit, Dankbarkeit und Achtsamkeit“ (Folkers/Paech 2020, 240-241).
Konkreter ausgedrückt bedarf es z.B. die Bürger*innen Deutschlands betreffend der Rückkehr zu einem Leben in den Maßstäben der 1970er und frühen 1980er Jahre, angereichert mit dem ‚best of both worlds‘, d.h. dem geringeren Leistungsdruck von damals, der offenen Gesellschaft von heute und die nachhaltige Nutzung der Technologien von heute.
Und das ist eine m.E. durchaus vielversprechende Perspektive.
es ist an der Zeit, sich angesichts der nunmehr unübersehbar eskalierenden ökologischen Katastrophen Klima und Massenaussterben grundlegend zu bekennen… zum Leben: zu einem Leben ‚im Einklang mit der Natur‘, d. h. innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen. Dazu habe ich „Wir sind Erde. Das Bekenntnis zum Leben“ verfasst.
Statt also sich mit all den detaillierten, überwältigenden Fakten des Handbuch Klimakrise zu beschäftigen, rege ich an, gleich zum nächsten Schritt überzugehen: Zum Bekenntnis, auf der richtigen Seite, auf der zukunftsfähigen Seite, stehen zu wollen. >> wir-sind-erde.de.
In diesem Sinne höre ich jetzt, im August 2023, auf, das vorliegende Handbuch Klimakrise upzudaten*. Die Fakten, Zahlen und Argumente hinsichtlich Klimakrise und Massenaussterben sind zu überwältigend und zu eindeutig, als dass sie noch dokumentiert werden müssten. Ein Beispiel: Wie viele Windräder im Jahre 2023 exakt neu ans Netz gegangen sind, ist sekundär: Wichtig ist die Botschaft, dass die Anzahl lediglich ein Bruchteil dessen ist, was erforderlich ist.
Wir Menschen müssen grundlegend neu anfangen, wenn wir die existenziellen Lebensgrundlagen erhalten möchten – so einfach ist das. 700 Seiten „Handbuch Klimakrise“, eingedampft auf einen Satz… – es ist tatsächlich so einfach:
Wir Menschen müssen mittels einer gesamtgesellschaftlichen Transformation grundlegend neu anfangen, wenn wir die existenziellen Lebensgrundlagen erhalten möchten.
Wollen Sie neu anfangen? Ich möchte. Ich mag Menschen, ich mag das Leben, ich mag alles Lebendige und finde, dass wir Erwachsenen als Erdsystemverantwortliche tatsächlich Bäume zu pflanzen haben, unter denen wir selbst nicht sitzen werden.
Herzliche Grüße Marc Pendzich
* Wesentliche Grundfakten wie bspw. die globale Durchschnittstemperatur halte ich selbstredend aktuell, siehe auch Changelog/Änderungsprotokoll.
Vorwort
Als Achtjähriger hatte ich meinen persönlichen Öl-Schock. Ich wurde im Rahmen der zweiten Ölpreiskrise 1979 erstmals der großen Weltpolitik gewahr und verstand, dass die Welt komplett durch Öl angetrieben wird und ebendieses Öl endlich ist. Alle Forscher*innen müssten umgehend nach Alternativen suchen, damit das Leben weitergehen kann, erkannte ich mit meiner Kinderlogik die Dramatik dieser Nachricht – wie wahrscheinlich damals viele Kinder meiner Generation. Erfände jemand einen Wasserantrieb o.ä., würde die Erfindung umgehend für immer im gepanzerten ‚Giftschrank‘ der Ölunternehmen verschwinden, erklärten mir meine Eltern wenig hoffnungsvoll. Mich regte das auf – es war meine erste Erfahrung mit der Irrationalität, welche dazu führt, dass Macht über Vernunft siegen kann. Es regt mich auch 40 Jahre später noch auf. Denn weiterhin sind es fossile Energien, die maßgeblich den Antriebsmotor unserer Gesellschaft schmieren. Inzwischen ist nicht mehr die Endlichkeit des Öls das Problem, sondern das Zuviel. Zwar gibt es mittlerweile mühsam erkämpfte Alternativtechnologien, aber: Wir könnten schon so viel weiter sein. Vom Klimawandel hörte ich erstmals etwa 1990, zur Zeit des Abiturs – nie hätte ich seinerzeit damit gerechnet, dass ich selbst betroffen sein könnte. So schlug ich den damals als absurd empfundenen, aber den rückblickend erstaunlich weisen Vorschlag der archaischen Software des Hamburgischen Berufsinformationszentrums (BIZ) aus, Meteorologe zu werden. Aber Öko war und blieb ich – immer schon trieb mich das grundlegende Gefühl an, welches Albert Schweitzer mit dem Schlagwort „Ehrfurcht vor dem Leben“ belegte, persönlich möglichst wenig zur Zerstörung der blauen Perle beitragen zu wollen, sodass ich auch deshalb mein Hobby zu einem meiner beiden Berufe machte: Komponierte Schallwellen schaden dem Planeten nicht, günstigstenfalls helfen sie ihm.
Am Anfang dieses Projektes stand der Wunsch, ein abendfüllendes Tanztheatermusikstück über die Klimakrise zu kreieren – dann jedoch schlug der akribische Geisteswissenschaftler in mir durch: Es folgte eine Art privates Zweitstudium in Form einer sechsjährigen Recherche, die in das hiermit vorliegende ‚Handbuch Klimakrise‘ mündet. Das Musikwerk gibt es bis heute nicht. Dies ist das Werk. Ohne Musik.
Das Handbuch Klimakrise versammelt die relevanten Fakten, Zahlen und Argumente rund um Klimakrise und Massenaussterben bzw. zur großen Transformation, die unweigerlich kommen muss, kommen wird und in vielerlei Hinsicht schon längst begonnen hat.
Dieses Webportal handbuch-klimakrise.de ist ein work in progress-Projekt und liegt mit dem Book on Demand (BoD) nunmehr ab dem 10. November 2020 in erster Edition auch als Print-Ausgabe sowie als E-Book vor. ‚Book on Demand‘ ist das Mittel der Wahl, um Buch, E-Book und Webportal auf dem neuesten Stand zu halten.
Marc Pendzich: Handbuch Klimakrise – Die relevanten Fakten, Zahlen und Argumente zur großen Transformation Book on Demand (BoD), Din A4, 700 Seiten, 68.– EUR sowie als E-Book, 19,99 EUR. Din A4, 700 Seiten, 68.– EUR (Buch, in allen Buchläden per Bestellung erhältlich), 19,99 EUR (E-Book, s. Amazon & Co) | Buch-ISBN 9783751985246 | E-Book-ISBN 9783752679670
Per Webportal handbuch-klimakrise.de liegt der komplette Inhalt für alle Bürger*innen frei verfügbar vor.
I.d.R. wird die Website etwas aktueller ausfallen als die beiden anderen Medien – sie ist zudem teils multimedial angelegt. Das gedruckte Buch bietet den Vorteil haptisch und angenehm für für intensive Lesestunden zu sein. Das E-Book gerät unter den drei Medien zum wohl ausgefeilsten Recherche-Tool für den User.
Die Menge an Informationen unterschiedlichster Qualitätsniveaus zur Klimakrise, zum sechsten Massenaussterben und den weiteren Nachhaltigkeits- und Reformthemen ist schlicht unüberschaubar.
Dieses Handbuch bringt die auf tausenden Websites, Nachrichtenportalen und Büchern verstreuten Informations-Puzzleteile, die man als Nicht-Fachfrau/-mann bei Diskussionen gerne parat hätte, aber allzu oft nur ‚so ungefähr‘ drauf hat, zusammen in eine Veröffentlichung.
Alles hängt mit allem zusammen. Daher muss dieses Projekt letztlich uferlos sein – somit kann ein Anspruch auf Vollständigkeit nicht bestehen. Mit dem Mut zur Lücke und angesichts der drängenden Zeit hat m.E. die Priorität auf der Bereitstellung der so noch nirgends in eine Publikation zusammengetragenen Informationen zu liegen und nicht auf einer letztlich ohnehin unmöglichen Vollständigkeit: Mit diesem Handbuch ist es wie mit Software, die mit jedem Update und jeder Version neue, aktualisierte und erweiterte Features erhält.
Hingegen ist es mein Anspruch als Geisteswissenschaftler, der einst in Musikwissenschaft über rechtliche, ökonomische und pophistorische Aspekte von Musikbearbeitungen bzw. Coverversionen promovierte und sich seit rund sechs Jahren intensiv durch die Klima- und Nachhaltigkeitsliteratur arbeitet, dieses Projekt auf einer detaillierten, tiefgehenden Recherche mit wissenschaftlicher Quellenarbeit fußen zu lassen.
Die Pluralität der Quellen sichert die Ausgewogenheit – das naturwissenschaftliche Fundament, das Pariser Abkommen sowie die Grundannahme ‚Wir sind Erde‘ geben die Richtung vor.
Das Handbuch Klimakrise richtet sich an Leser*innen ohne Spezialkenntnisse. Es ist sowohl Lesebuch als auch eine Handreichung und bietet als solche den schnellen Zugriff auf die relevanten Zahlen, Fakten und Argumente. Tatsächlich schließt es eine große Lücke, weil es das Thema aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet und diese unterschiedlichen Blickwinkel ganzheitlich in einer Veröffentlichung zusammenbringt:
Klimatolog*innen analysieren die naturwissenschaftliche Seite,
Biolog*innen erforschen u.a. das eng mit der Klimakrise verknüpfte sechste Artensterben,
Details: Genderfaire Sprache in diesem Buch | Begriff 'Klimaschutz'
Why? Sprache formt das Denken, „Sprache konstruiert Realität … [und] lässt Bilder in unseren Köpfen entstehen. Wenn Sprache nicht alle mitdenkt[, also keine genderfaire Sprache verwendet wird], dann reproduzieren wir bestehende Ungleichheiten und Machtverhältnisse“ (Jeffries 2020, 35). Gewissermaßen ist Sprache Framing – sie setzt den Rahmen im Gespräch. Und: Wenn ich über einen Vorstandsvorsitzenden spreche, entsteht tendenziell das Bild eines männlichen Vorstands, zumal die Erfahrung dies für die Vergangenheit i.d.R. auch bestätigt. Wenn ich also die weibliche Form oder die inklusive Form in meiner Sprache mit einbeziehe, rüttle ich automatisch an diesen Strukturen und formuliere einen Subtext: ‚Alles könnte anders sein. Es soll künftig anders sein.‘ Weissenburger fügt hinzu, das „Forscher*innen der Freien Universität Berlin festgestellt [haben], dass sich Grundschulkinder bestimmte Berufe eher dann selbst zutrauten, wenn diese gegendert vorgelesen wurden“ (2020, 35).
Das Wort ‚Klimaschutz‘ trifft nicht den Kern der Sache. Wir schützen nicht das Klima um des Klimas willen. „Das Klima braucht unseren Schutz nicht – was wir eigentlich schützen wollen, ist nicht weniger als unsere eigene Lebensgrundlage“ (Wieczorek/ Mathis 2020). Wir schützen das Klima nicht vor uns, wir schützen das Klima um unseretwillen: Durch ‚Klimaschutz‘ schützen wir uns vor den Folgen eines gefährlichen Klimawandels (vgl. Soziologe Nico Stehr in Beyer 2019, 21). In den Worten von Eckhart von Hirschhausen: „Wir müssen nicht ‚das Klima‘ retten – sondern uns!“ (vgl. S. 246). Wieczorek/Mathis führen aus, dass „Sprache … Ausdruck unseres Denkens [ist]. Die Sprechweise vom ‚Klimaschutz‘ verdeutlicht, dass wir das eigentliche Problem noch nicht verinnerlicht haben oder es gar verdrängen. Wir reden so, als ginge es darum, etwas für jemand anderes zu tun – für jemanden, der weit entfernt ist. Dieser jemand ist das Klima. Folglich könnte man auch etwas anderes tun… [Diese] Redeweise [verschleiert] … den tatsächlichen Handlungsgrund und den akuten Handlungsdruck. Der Handlungsgrund ist, dass wir … unseren Lebensraum auf der Erde [zerstören]“ (2020). Statt isoliert vom Klimaschutz könnte man m.E. vom ‚Lebensgrundlagenschutz‘ sprechen – und dieser Begriff schließt auch den Aspekt ‚Massenaussterben‘ mit ein, vereint also die Zwillingskrisen in einem Wort.
Sich als Bürger*in mit der Klimakrise auseinanderzusetzen kann mühevoll sein, aber das Thema ist vom Prinzip her nicht schwierig zu verstehen:
Es ist ein mühsames Thema. Mühsam, weil die Informationen gewöhnlich so weitläufig verstreut sind, dass das ohnehin vielschichtige Thema unnötig komplex gerät.
Kompliziert hingegen ist das Thema nicht, die Grundfakten sind eigentlich vollkommen simpel: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. (Genauer gesagt: Wenige Menschen haben über die Verhältnisse aller Menschen gelebt.1) Die Natur setzt uns die Pistole auf die Brust. Es geht nicht mehr so weiter wie bisher. Aber diese an sich simple Wahrheit auch emotional zuzulassen und darüber nicht passiv zu verzweifeln – das empfinden viele Menschen als schwierig.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Bezug auf Stephan Lessing Neben uns die Sintflut, 2018, 65: „Denn wir leben keineswegs über unsere Verhältnisse. Wir leben über die Verhältnisse anderer.“)
Sollten Ihnen die Ausführungen des Handbuch Klimakrise zuweilen heftig oder ‚krass‘ vorkommen, so möchte ich darauf hinweisen, dass hier vor allem, ja, fast ausschließlich Autor*innen von Mainstream-Qualitätsmedien wie Süddeutsche Zeitung, tageszeitung, Spiegel und Zeit, renommierte Klimaforscher*innen wie beispielsweise Friederike Otto, Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber sowie etablierte Wissenschaftler*innen wie u.a. Maja Göpel, Michael Kopatz und Harald Welzer zitiert werden.
Was die Ausführungen des Handbuches m.E. drastisch erscheinen lässt, liegt in erster Linie an der hohen Konzentration des Materials: Sie halten hier das Kondensat, Destillat, gewissermaßen den Nukleus dessen in der Hand, was in den letzten Jahren über das Themenspektrum Klimakrise/sechstes Massenaussterben seriös veröffentlicht wurde. Und eine solche Zusammenschrift hat eine ganz andere Dimension als die Lektüre eines vereinzelten Zeitungsartikels oder eines Buches zu einem Teilthema. Hinzu kommt, dass die Vielzahl der Quellen und Zitatgeber*innen m.E. eine möglicherweise einschüchternde Wirkung haben könnte, weil eben der Befund so vielstimmig und in diesem Sinne Kompetenz-geballt daherkommt.
Falls Sie diesen ‚Thriller der Realität‘ mal beiseitelegen möchten – tun Sie das. Alternativ könnten Sie sich zu dem Abschnitt Ohnmachtsgefühle & erlernte Hilflosigkeit: Klimakrisen-Depression begeben, dessen Inhalt weniger negativ ausfällt, als der Titel nahelegt, sondern vielmehr Angebote unterbreitet, wie man konstruktiv mit dem in der Tat psychologisch zunächst schwierigen Befund ‚Existenzielle Gefährdung der Lebensgrundlagen der Menschheit‘ umgehen kann.
Liebe Leser*innen, so absurd und grotesk es angesichts der langen Menschheitsgeschichte anmutet: Wir – Sie und ich, genauer: ausgerechnet uns, den derzeitigen etwa drei Erwachsenengenerationen, fällt die historisch einmalige Rolle zu, Entscheider*innen zu sein über das weitere Schicksal der Menschheit bzw. der Biosphäre, wie wir sie kennen. Unser Handeln oder Nicht-Handeln wird den Unterschied machen. „[D]ie Zukunft aller kommenden Generationen ruht auf unseren Schultern“ sagt der Dalai Lama (zit. in Alt 2020, 43). Und: Wir sind, frei nach Barack Obama, die letzten Erwachsenen, die noch die Option haben, die ganz große Katastrophe abzuwenden.
Dabei erwächst in Deutschland den hiesigen Rentner*innen eine besondere Verantwortung, da sie aufgrund der hiesigen Bevölkerungsstruktur eine entscheidende Wähler*innengruppe stellen. Auf ihr politisches Verhalten wird es unmittelbar mit ankommen. Charmant ausgedrückt: Liebe Generation 60+, wir benötigen Ihre Unterstützung, insbesondere als Grannys & Grandpas for Future. Politischer ausgedrückt: Ich nehme Sie, liebe*r ältere*r Leser*in, hier explizit in die Pflicht und fordere Sie auf, zugunsten der Familien Ihrer Kinder und für Ihre Enkel*innen die Zukunft zu wählen und darüber hinaus im Rahmen Ihrer persönlich Möglichkeiten politisch aktiv zu werden: Kreuzfahrt oder Enkel – das kann hier nicht die Frage sein.
Doch egal, welcher Erwachsenengeneration wir angehören und wo wir Industriestaatler*innen auf dem Planet verortet sind: Es ist unser aller Aufgabe und Gebot, von unserem hohen Ross namens ‚Bequemlichkeit/Verdrängung‘ herunterzusteigen und alles und wirklich alles zu unternehmen, um die Zivilisation zu bewahren. Es liegt in unserer Verantwortung, mindestens einen grundlegenden Wohlstand für unsere eigenen Kinder und Enkel*innen sowie für alle Kinder und Kindeskinder dieser Welt – der ganzen Welt – zu bewahren.
Wie sieht es bei Ihnen persönlich aus?
Wie alt werden Sie, Ihre Kinder und Ihre Enkel*innen im Jahre 2050 bzw. 2100 sein?
Wünschen Sie sich, dass Ihre Nachfahren gesund leben können und genau wie Sie Nachfahren haben werden können?
Es heißt des Öfteren, wir hätten kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit (vgl. z.B. Mojib Latif 2019a). Richtig ist, dass die Kernbotschaft eines anthropogenen Klimawandels mittlerweile angekommen ist – und ja, wir müssen sofort ins Handeln kommen. Doch ist Greta Thunberg immer wieder zu recht darüber erstaunt, wie bestürzend wenig Politiker*innen und Bürger*innen über die Klimakrise wissen: „When I talk to people they don’t even have the basic facts… people don’t know that we have actually a carbon budget“ (Thunberg 2019). Das deckt sich exakt mit meiner persönlichen Wahrnehmung:
Wir haben ein Tragweitenverständnisdefizit – vielen Menschen ist der Ernst der Lage, die Dimension, Vielschichtigkeit und Dringlichkeit der Klimakrise und des sechsten Massenaussterbens vollkommen unklar.
Lücken dieser Art füllt das Handbuch Klimakrise.
Transparenz durch Offenlegung
Ich, Marc Pendzich, Autor dieses Buches,
stehe keiner Partei besonders nahe, agiere unabhängig und bin politisch eher links der Mitte zu verorten,
beziehe mein Einkommen ausschließlich aus meinen Tätigkeiten rund um die Musik, d.h. als Musiker, als Autor und als freier Dozent im Fachbereich Systematische Musikwissenschaft. Ich habe weder einen Sponsor, einen Mäzen noch bin ich mit einem in diesem Buch bzw. auf dieser Website relevanten oder verlinkten Nicht-Musik-Unternehmen finanziell oder geschäftlich verbunden.
erhalte im Zusammenhang mit diesem Buch/E-Book/Webportal weder bis dato noch für die Zukunft vereinbart bzw. in Aussicht gestellt irgendwelche Gelder oder andere Zuwendungen. Gleiches gilt für meine Familie. Einzige Ausnahmen bilden das Autorenhonorar, welches mir BoD für das vorliegende Buch bzw. E-Book (sowie für Eine neue Geschichte der Zukunft) zahlt, dessen Höhe jede*r Leser*in via BoD-Website nachvollziehen kann und die Tantiemen von der VG Wort. Ich gehe nicht davon aus, dass das Projekt Handbuch Klimakrise jemals Gewinn abwerfen wird – und das ist ja auch nicht die Motivation.
bin zwischen 2019 und 2022 über mein Musiklabel vadaboéMusic Mitglied des Zukunftsrat Hamburg und dort ehrenamtlich im Leitungsgremium ‚Koordinierungskreis‘ tätig gewesen.
bin Mitglied des Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD) und Autofrei leben!e.V. sowie Fördermitglied des BUND e.V. und der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH).
habe gemäß der Statuten von Autofrei Leben! e.V. keinen eigenen Pkw und nutze Autos nur im dringenden Ausnahmefall.
Viele Menschen finden es offenbar enorm wichtig, Politiker*innen und die Greta Thunbergs dieser Welt nie und niemals Wasser predigen und doch Wein trinken zu sehen. Diesen Menschen möchte ich entgegenhalten, dass Fakten, Daten und Argumente nicht wahrer oder falscher werden, gleich aus welchem Mund sie kommen und wie sich die argumentierende Person persönlich verhält.
Nun, dieses sog. ‚Argumentum ad hominem‘ (vgl. S. 213) ist offensichtlich ein (zumindest westlich geprägten) Menschen regelrecht eingepflanztes Reaktionsmuster, das selbstredend nicht durch das Verfassen des vorherigen Absatzes verschwinden wird. Daher möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass ich lieber langsam lebe und das Webportal LebeLieberLangsam.de betreibe, weder perfekt bin noch sein möchte, jedoch tatsächlich und ausnahmslos nicht fliege, als Städter niemals ein Auto besessen habe, zu Hause komplett vegan lebe1, keine Erdbeeren im November esse, kein Smartphone besitze, persönlich eine jährliche CO₂-Bilanz von 5,09 Tonnen habe (vgl. S. 74, Durchschnitt in Deutschland = 11,17t), Ökostrom beziehe, mein Konto bei einer Ökobank habe und Palm-frei lebe. Das alles fällt mir leicht – mit Askese hat das nichts zu tun: Ich lebe ein einfaches Keep it simple-Leben und genieße meinen auf diese Weise möglichen Zeitwohlstand: Liebe*r Leser*in: Die härteste Währung der Welt ist nicht Geld, sondern Zeit.
Manche Leser*innen mögen mich nun vielleicht angeberisch finden. Wegen des seltsamen ‚Argumentum ad hominem‘ aber möglicherweise auch glaubwürdiger.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Diese Formulierung zielt darauf ab, dass es da draussen manchmal sinnvoll ist, als Flexiganer gesellschaftliche Eloquenz an den Tag zu legen, also nicht in Prinzipienreiterei zu verfallen, die das Leben allzu kompliziert macht.
Flexiganer*in = Person, der sich in erster Linie vegan ernährt, aber unter bestimmten Umständen auch Milchprodukte akzeptiert.
Es ist zwar gut und richtig, seine CO₂-Emissionen in den Griff zu bekommen und vor allem das Fliegen zu unterlassen. Prima also, wenn Sie sich umwelt-/klimabewusst verhalten – aber überfordern Sie sich damit nicht: Wichtiger als Teebeutel korrekt zu kompostieren ist – aufs Ganze gesehen –, daran mitzuwirken, dass die Politik eine andere wird. Das ist der große Hebel. Ohne eine andere Politik werden wir es nicht schaffen.
Ergo: Das Leben wie wir es kannten, ist vorbei. Viele von uns haben es nur noch nicht gemerkt. Lassen Sie uns bzw. lasst uns schon mal los-, voraus- und vorangehen. Das birgt aufgrund des Gefühls der Selbstwirksamkeit auch depressiven Gefühlen angesichts der desolaten Weltlage vor.
Wir – als Einzelperson und als Menschheit – haben die Wahl, wie wir mit der Klimakrise und dem sechsten Massenaussterben umgehen: by design or by disaster.
Marc Pendzich.
Details: Form der Ansprache Sie/Du/Wir/Euch | Inspiration 'by design or by disaster'
Auf den 700 Seiten verändere ich ab und zu die Form der Ansprache und wechsle vom ‚Sie‘ zum ‚Euch‘. Oder ich schreibe ‚wir‘ und dann wieder ‚ich‘. Der Autor dieses Buches würde sich freuen, wenn Sie/Du ihm das nachsehen und es als einen Akt kreativer Freiheit betrachten könnten/könntest: Beispielsweise fühlen sich motivierende Aussagen gesiezt tendenziell gestelzt an, an anderen Stellen bedarf die Ansprache genau dieser Distanz…
Dass wir derzeit noch die Wahl haben, den immensen Herausforderungen ‚by design or by disaster‘ zu begegnen, stellte Niko Paech schon 2012 in seinem Buch Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie (S. 143) überaus treffend heraus: Das Zeitfenster ist seither erheblich geschrumpft.
Quellen des Abschnitts Vorwort
Alt, Franz (2020): Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt. [Der Dalai Lama im Gespräch mit Franz Alt]. Benevento, S. 43.
Beyer, Susanne (2019): „‚Mehr Demokratie wagen‘“. [zit. den Soziologen Nico Stehr]. in: Der Spiegel Nr. 41/5.10.2019, S. 21.
Gottschalk, Katrin (2020): „Ästhetisch einwandfrei“. in: tageszeitung, 14.10.2020, S. 12.
Jeffries, Victoria (2020): „Wie Sprache Realität formt“. [Gesprächsprotokoll aufgezeichnet durch Peter Weissenburger und Simon Sales Prado]. in: tageszeitung, 6./7.6.2020, S. 35.
Lessing, Stephan (2018): Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben. Piper.
Thunberg, Greta (2019) im Interview mit Tagesschau/NDR auf dem Rathausmarkt in Hamburg, 1.3.2019, online unter https://www.youtube.com/watch?v=QDni0yoPBrs (Abrufdatum 18.5.2020), ab Minute 30.
Weissenburger, Peter (2020): „Inklusiv schreiben und sprechen“. in: tageszeitung, 6./7.6.2020, S. 35.
Der Klimawandel ist längst auch zur juristischen Frage geworden: Während bislang Konzerne durch Nutzung der Allmende (=Gemeingut) ‚Umwelt‘ bzw. ‚Atmosphäre‘ als Müllhalde ihre Gewinne maximieren, die Schäden bzw. Kosten aber auf die Allgemeinheit abladen, gibt es auf der anderen Seite bereits jetzt eine Vielzahl von Menschen, deren Leben, Arbeit, Firma, Bauernhof, Ertrag geschmälert, bedroht oder gar unmöglich gemacht wird.
>> vgl. auch die vorigen Abschnitte Klimagerechtigkeit (‚Climate Justice‘) – und der ‚Globale Süden‘, S. 637, u. Konfliktpotenziale der Klimakrise: Zuerst trifft es immer die Armen, S. 625; zur Allmende siehe Fußnote auf S. 637.
In einigen Fällen – wie z.B. beim größten deutschen Stromkonzern, RWE, – ist der Anteil an den jährlichen weltweiten CO₂-Emissionen nicht nur berechenbar, sondern in der Tat global relevant (vgl. S. 658), sodass in solchen Fällen – theoretisch (und hoffentlich bald auch praktisch) – die prozentuale Mittäterschaft bei der Verursachung der Klimakrise gerichtlich mittels eines Urteils festgestellt werden kann.
Gleichzeitig ist globales Umwelt- und Klimarecht weitgehend juristisches Neuland. Auf bestehende Gesetze und Normen kann hier nur bedingt zurückgegriffen werden. Doch vollkommen ‚mittellos‘ sind die Jurist*innen nicht – so gibt es mittlerweile rund
900 Klagen in 24 Ländern.
>> vgl. Ziegs 2019. Der Spiegel spricht von „mehr als 800 Klagen“, die weltweit im Jahre 2017 anhängig waren, s. Bethge 2018, 119; Liste von 884 anhängigen Klagen im Jahr 2017 s. Unep 2017; Überblick s. Greenpeace 2018 u. Children’s Trust 2018. Mit Stand 2017 gab es allein in den USA 654 Fälle (vgl. Unep 2017.). The Guardian berichtet 2019 von mehr als 1.300 Klagen seit 1990 (Laville 2019).
Jeder Mensch auf diesem Planeten hat ein Recht auf Klimaschutz. Das ergibt sich z.B. für Deutschland – auch wenn das Wort ‚Klima‘ nicht vorkommt – m.E. aus dem Grundgesetz
GG Art. 2 „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“
GG Art. 20a „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ (BMJV 2019)
und m.E. allgemein bzw. global aus der sog. Menschenrechtscharta („Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217A (III) der Vereinten Nationen (UN) vom 10.12.1948“), Artikel 3:
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Meisen 2019).
>> siehe zu Grundgesetzverletzung auch Aspekt Einseitige Kündigung des Generationenvertrages, S. 230.
Bei Klagen gegen Staaten bzw. den eigenen Staat geht es vornehmlich darum, dass unterlassene bzw. unzureichende Klimapolitik Grundrechte gefährdet.
So simpel der Sachverhalt, so schwierig dessen ‚Justiziabilität‘: Wer ist befugt zu klagen (‚Aktivlegitimation‘)? Wen verklagen? Und wie kann dem Konzern, der Institution oder dem Staat nachgewiesen werden, dass er Verursacher/Verletzer ist und die Rechte Dritter verletzt? Und wie kann sichergestellt werden, dass ein Gerichtsurteil (z.B. gegen ein weltweit operierendes Unternehmen) auch umgesetzt wird?
Klimaklagen gegen Konzerne
Der Peruaner Saúl Luciano Lliuya verklagt RWE
Es ist eine Art Musterprozess gegen die Klimakrisen-Verursacher: Der peruanische Kleinbauer Saúl Luciano Lliuya verklagt mit Hilfe von Germanwatch und eines deutschen Anwaltteams um die Anwältin Roda Verheyen den Energieversorger RWE, weil RWE als CO₂-Emittent „0,47 Prozent der weltweiten Treibhausgase“ (Zeit 2017) ausstößt und somit rechnerisch Mitverursacher des Gletschertauens oberhalb seines Dorfes, dass sein Haus zu zerstören droht, ist. Das Oberlandesgericht Hamm sieht die Klage als zulässig und schlüssig begründet an – und hat deshalb die Beweisaufnahme eröffnet (vgl. ebd. und Bethge 2018, 119). Derzeit läuft selbige und dauert an, da ein Ortstermin in Huarez in Peru umgesetzt werden soll:
„Es gibt leider kein zwischenstaatliches Rechtshilfeabkommen zwischen Deutschland und Peru. Daher hat das OLG Hamm ein Ersuchen an den Staat Peru gestellt, die streitgegenständlichen Örtlichkeiten in Augenschein nehmen zu dürfen. Dieses wird [– so vor Covid-19 angenommen –] voraussichtlich eine Bearbeitungszeit von circa einem Jahr in Anspruch nehmen“ (Germanwatch 2019).
>> siehe dazu 6-Minuten-Doku-Video „Der Fall Huarez: Saúl gegen RWE“ https://youtu.be/qx_3N7owNMk (Abrufdatum 7.4.2020)
Bei dieser Art von Klimaklagen können nunmehr die Forschungsergebnisse der jungen aber schon etablierten Wissenschaftsdisziplin ‚Attribution Science‘ (‚Zuordnungsforschung‘) – die errechnet, um wie viel wahrscheinlicher es ist, dass ein bestimmtes Klimaereignis unter den derzeitigen klimatischen Voraussetzungen eintritt als in einer vorindustriell geprägten Atmosphäre – die Vorwürfe der Kläger*innen untermauern.
>> siehe dazu auch Aspekt Die stets aufkeimende Diskussion nach jedem Extremwetter…, S. 245.
Derzeit sind hunderte solcher Klagen weltweit anhängig, die klären sollen, inwieweit die Verursacher der Klimakrise zur Verantwortung gezogen werden können. Damit haben wir die interessante Situation, dass Großkonzerne auf klimabedingte politische Entscheidungen, die Einschränkungen ihres Betriebes zur Folge haben, mit Schadensersatzklage bzw. Investitionsschutzklage reagieren – und umgekehrt selbige vor den Kadi gezogen werden, weil sie dem Klima schaden (vgl. Klein 2015, 85ff.).
>> Siehe dazu Abschnitt Freihandelsabkommen gefährden Klima, Klimaschutz und Transformation, S. 407
Problem: Wir haben zu wenig Zeit, um das Klima auf dem zweifellos langwierigen juristischen Weg zu retten. Gleichwohl ist es selbstredend richtig, auch diesen Weg zu begehen, erhöht er doch auf jeden Fall den politischen, gesellschaftlichen bzw. juristischen Druck auf Staaten, Großkonzerne und Finanzmärkte – und schafft die Aufmerksamkeit, die wir so dringend brauchen.
Anleger*innen vs. ExxonMobile
ExxonMobile wurde von den eigenen Anleger*innen verklagt, weil die Entscheider*innen des Konzerns bereits 1982 (vgl. Hahn 2019, siehe Handbuch S. 160) genau wussten, dass ExxonMobiles Geschäftsmodell und Konzernpolitik zerstörerisch ist. Konkret geht es darum, ob den Anleger*innen wichtige Tatsachen für deren wirtschaftlichen Entscheidungen vorenthalten wurden. Nachdem nun Exxon erwiesenermaßen die Öffentlichkeit täuschte (vgl. S. 160f. u. 403), kommt das New Yorker Gericht zu der m.E. erstaunlichen Entscheidung, dass „für den Aktienkurs relevante Informationen … nicht vorenthalten worden“ (Spiegel 2019a) seien. „Richter Ostrager sprach den Konzern jedoch nicht von einer Verantwortung als Verursacher von Treibhausgasen frei. Bei dem Fall sei es aber um das Wertpapiergesetz gegangen“ (ebd.).
Im gleichen Artikel wird dann darauf hingewiesen, dass Kalifornien ExxonMobile aufgrund der Klimaschäden verklagt hat: „Mehrere Städte wollen zudem die Kosten für ihre Küstenschutzmaßnahmen auf ExxonMobil und andere Ölfirmen abwälzen. Die Begründung: Die Konzerne sollen für den steigenden Meeresspiegel verantwortlich sein“ (ebd.)
Gewissermaßen geht es hier um das typisch US-amerikanische ‚Nachsorgeprinzip‘: „Beim Nachsorgeprinzip sind die Hürden, um ein Produkt auf den Markt zu bringen, sehr niedrig und es darf solange verkauft werden, bis wissenschaftlich bewiesen ist, dass es schädlich ist. Hohe Schadensersatzsummen für Betroffene sind dabei üblich“ (Ziegler/Stürzenhofecker).
Hier trifft jedoch dieses Nachsorgeprinzip auf die planetaren Grenzen und sprengt diese. Womit eine Nachsorge unmöglich ist.
Gleichwohl eine Nachsorge vollumfänglich unmöglich ist, ist dennoch nicht einzusehen, dass Unternehmen wie ExxonMobile weiterhin als Geldmaschinen (vgl. Taylor/Ambrose 2020) auf Kosten der globalen Menschheit agieren. Während der großen Transformation gehört m.E. jeder Dollar, der mit fossilen Brennstoffen bis zur Beendigung der großen Abhängigkeit generiert wird, in die nachhaltige Umgestaltung des Energiesektors gesteckt.
>> vgl. auch Abschnitt Forschungs-Historie Klimawandel, S. 158f.
Klimaklagen gegen Staaten (und Staats-ähnliche Institutionen wie z.B. die Europäische Union)
>> Quelle Zitat und Video: n.n. (2019b): „Was ist eine Klimaklage? – Anwältin Roda Verheyen erklärt“. in: Greenpeace Deutschland, 19.1.2019, online unter www.youtube.com/watch?v=ecKBlfInhL0 (Abrufdatum 4.7.2019)
Die auf dem Rechtsgebiet ‚Klimaklagen‘ Pionierarbeit leistende Anwältin Roda Verheyen erklärt, was eine Klimaklage ist:
„Wir sind aus der Zeit hinaus, in der Klimaschutz eine diplomatische oder politische Ermessensentscheidung ist. Es geht hier um Menschenrechtsschutz und den muss man aus meiner Sicht auch einklagen können.“
Roda Verheyen ist Mitbegründerin des 2002 ins Leben gerufenen Netzwerkes Climate Justice Program (CJK) – einer NGO bestehend aus Anwält*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, die eine Art juristisches Handwerkszeug für Anwält*innen in der ganzen Welt entwickelt haben, das es ermöglicht, Klimaklagen im Sinne der ‚Climate Justice‘ vor Gericht zu bringen.
Der ‚People’s Climate Case‘
Zehn (zumeist) in Europa lebende Familien verklagen die EU
„Mit der Klimaklage ‚People’s Climate Case‘ haben zehn Familien aus Portugal, Deutschland, Frankreich, Italien, Rumänien, Kenia und Fidschi sowie der samische Jugendverband der Sáminuorra, ein Gerichtsverfahren angesichts des Klimawandels und seiner bedrohlichen Folgen angestrengt. Ihr Zuhause, ihre Lebensgrundlagen, ihre traditionelle Familienarbeit und ihre Kultur sind vom Klimawandel betroffen. Deshalb verklagen diese Menschen die EU-Institutionen: um ihre Grundrechte zu schützen und um den gefährlichen Klimawandel zu verhindern“ (Gohr 2019).
Die ‚Greenpeace-Klimaklage‘ bzw. die Greenpeace-Verfassungsbeschwerde
Drei deutsche Biobauern-Familien verklagen die deutsche Regierung vor dem Berliner Verwaltungsgericht. (Vollzugsklage eingereicht im Oktober 2018; im Juni 2019 ist nach verlängerter Frist die Erwiderung der Bundesregierung eingegangen.)
Deutschland verfehlt deutlich das Klimaschutzziel des Aktionsplanes Klimaschutz 2020, demzufolge die CO₂-Emissionen um 40% gegenüber 1990 zurückzufahren waren (vgl. Günther et al. 2018, 9)1. Dieses Scheitern war Gegenstand der sog. Greenpeace-Klimaklage, in der Greenpeace den Standpunkt vertrat, dass der Aktionsplan Klimaschutz 2020 verbindlichist und daher nicht einfach – wie geschehen – in den Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2018 quasi per Nebensatz vom Tisch gefegt werden kann.
Details: Erläuterungen zu (1)
Davon hatte man bis Covid-19 definitiv auszugehen – und m.E. kann dieser Faktor auch nicht in die Rechnung eingehen.
>> s.a. Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland, S. 76.
Konkret klagte Greenpeace gemeinsam mit drei Familien, die allesamt in der Bio-/Öko-Landwirtschaft tätig sind auf der Insel Pellworm (Bio), im Alten Land (an der Elbe bei Hamburg, Bio-Obst) und in Brandenburg (Öko) – sowie mit 213 Bürger*innen und Bürger als Antragsteller*innen auf Beiladung zur Klage (die aus 4.500 Interessierten ausgewählt wurden) (vgl. Greenpeace 2019b).
Verklagt wird hier die „die Bundesregierung als Teil der Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland… Verwaltungsgerichte sind dazu da, die Handlungen oder auch das Unterlassen von Verwaltungsorganen zu überprüfen. Das Ungewöhnliche an dem Fall ist, dass wir auf die Einhaltung einer Norm klagen, die nicht als Gesetz verabschiedet ist… Im Kern hängt der Erfolg der Klage davon ab, ob das Gericht uns folgt, dass es sich bei dem Klimaschutzziel 2020 um einen justiziablen Rechtsakt handelt“ (Weiland 2018).
Transparenz durch Offenlegung: Der Autor des Handbuch Klimakrise hat im Januar 2019 einen 23-seitigen Antrag auf Beiladung zur Greenpeace-Klimaklage gestellt. Begründung: Nicht nur (Öko-)Bäuerinnen bzw. (Öko-)Bauern oder Menschen in besonderen geologisch vulnerablen (verletzlichen) Gegenden sind bereits gegenwärtig und in absehbarer Zukunft persönlich, unmittelbar und evtl. sogar existenziell von den Folgen der Klimakrise betroffen, sondern auch ich als im Jahrgang 1971 geborener Bürger der Stadt Hamburg. Und wenn ein Durchschnittsbürger wie ich in dieser eindeutigen Weise betroffen ist, dann ist quasi jede*r Bürger*in Deutschlands in gleichartiger Weise betroffen. Diese Betroffenheit wird nachfolgend ausführlich erörtert und zeichnet auf Basis des den fünften Sachstandsbericht des IPCC ergänzenden, auf Deutschland heruntergebrochenen Berichts Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven von Brasseur, Guy et al. (Hg.) (2017) ein fundiertes Bild, welche klimatisch bedingten Folgen uns in Deutschland gemäß derzeitigem Forschungsstand im Jahre 2050 und 2100 erwachsen.
Update 1.11.2019: Obige Klage wurde nunmehr am 31.10.2019 vor dem Verwaltungsgericht Berlin verhandelt und abschlägig beschieden; man sehe die Klagenden nicht in ihren Grundrechten gefährdet – und der Kabinettsbeschluss zum Aktionsplan Klimaschutz 2020 sei nicht bindend, sondern eine politische Absichtserklärung. Doch die Richter wiesen darüber hinaus „explizit darauf hin, dass der Staat geeignete ‚Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte‘ treffen müsse. Damit bauten sie eine Brücke zwischen Grundrechten und Klimawandel, deren Tragfähigkeit Kläger künftig austesten können…“ (Bauchmüller 2019). Die Berufung wurde zugelassen (vgl. Spiegel 2019b). Roda Verheyen zieht daher das Fazit, dass „erstmals ein deutsches Gericht festgestellt [habe], dass Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern durch die Erderhitzung verletzt sein könnten“ (Greenpeace 2020a, 9).
Update 24.3.2020 „Klimaklage wird zu Verfassungsbeschwerde“ (vgl. Germanwatch 2020):
Die Kläger*innen und Greenpeace sind nicht in Berufung gegangen (vgl. Greenpeace 2020) und wählen stattdessen den Weg einer neuen Klage – diesmal klagen die sieben Kinder der o.g. Familien, der Langeooger Lueke Recktenwald, Mitkläger der EU-Klimaklage „People’s Climate Case“ sowie Luisa Neubauer von Fridays For Future als altersbedingt besonders Betroffene der Klimakrise – vor dem Verfassungsgericht in Form einer Verfassungsbeschwerde. „Sie sind der Ansicht, dass die Bundesregierung mit dem am 15. November 2019 verabschiedeten Klimaschutzgesetz weiterhin nicht genug gegen die Klimakrise tut, also ihrem im Grundgesetz verankerten Schutzauftrag nicht nachkommt“ (Greenpeace 2020b).
Hierzu ist in der Zusammenfassung der durch die Verbandskläger Greenpeace und Germanwatch unterstützten Verfassungsbeschwerde zu lesen:
„Die Beschwerdeführer machen geltend, dass einzelne Regelungen des Bundesklimaschutzgesetzes, insbesondere das mit konkreten Emissionsmengen pro Sektor unterlegte Reduktionsziel bis 2030 (55% gegenüber 1990) und die Möglichkeit, sogar selbst diese (unzureichenden) Reduktionen im Ausland erfüllen zu können, sowie das tatsächliche gesetzgeberische Unterlassen (Maßnahmen, die ein ausreichendes Schutzniveau erreichen) mit der herausragenden Schutzfunktion, die insbesondere das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) gegenüber zivilisatorischen Risiken lebensbedrohender Artend zahlenmäßig nicht abschätzbaren Umfangs gewährleistet, nicht vereinbar und deshalb verfassungswidrig ist. Auch die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG ist tangiert weil der Generation der Beschwerdeführer jegliche Handlungsoptionen genommen werden, um sich zu schützen“ (Greenpeace 2020c).
>> vgl. Aspekt Jeder Mensch auf diesem Planeten hat ein Recht auf Klimaschutz, S. 657.
Weitere klimabezogene Verfassungsbeschwerden in Deutschland
Die Deutsche Umwelthilfe reichte zeitgleich zwei weitere Verfassungsbeschwerden ein. Beide haben das gleiche Ziel, wurden jedoch im Namen zweier verschiedener Kläger*innen-Gruppen eingereicht (vgl. DUH 2020a):
Die erste Klage reicht die DUH gemeinsam mit zehn Kindern und Jugendlichen aus Deutschland ein und macht geltend, dass das im Herbst 2019 verabschiedete Bundes-Klimaschutzgesetz nicht als Schutzmaßnahme für künftige Generationen geeignet bzw. ausreichend ist (vgl. DUH 2020b).
Die zweite Klage stammt von fünfzehn Betroffenen aus Bangladesh und Nepal, die sich ebenfalls gegen „das andauernde Unterlassen des Bundesgesetzgebers und der Bundesregierung, geeignete und prognostisch genügende Maßnahmen zur Einhaltung des verbleibenden nationalen und nach Bevölkerungsanteilen bemessenen CO2-Budgets (3,465 Gigatonnen CO2 ab dem Jahr 2020) zu ergreifen“ (DUH 2020c) richtet.
Womit nunmehr also insgesamt vier Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe liegen, denn die bereits 2018 eingereichte Verfassungsbeschwerde vom BUND und vom Solarenergie-Förderverein Deutschland (SFV) ist ebenfalls noch anhängig. Im August 2019 forderte das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung, den Bundestag und den Bundesrat auf bis November 2019 – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik im Zusammenhang mit einer Klage für mehr – Stellung zu nehmen (vgl. BUND 2020).
Greenpeace-Klage in Österreich
Im August 2019 haben auch in Österreich Betroffene der Klimakrise gemeinsam mit Greenpeace eine Klimaklage beim Verfassungsgericht eingereicht. Im Fokus stehen offensichtlich klimaschädliche Gesetze (vgl. OE24 2019).
Die Urgenda-Klage in den Niederlanden
900 Niederländer verklagen ihren Staat auf ihre Grundrechte
Im April 2015 gingen ca. 900 Niederländer mit Hilfe der Umweltschutzgruppe Urgenda vor Gericht, um die niederländische Regierung auf Basis der Fürsorgepflicht zu relevantem Klimaschutz zu verpflichten – und setzten sich sowohl in der ersten Instanz, vor dem Berufungsgericht als auch endgültig, im Dezember 2019, vor dem Obersten Gerichtshof durch (vgl. Hecking 2019).
„Der Klimawandel stelle eine konkrete Bedrohung dar, sagte die Vorsitzende Richterin Marie Anne Tan-de Sonnaville. ‚Der Staat ist verpflichtet, dagegen Schutz zu bieten.‘ Das Gericht skizzierte die hohen Risiken für die Niederlande wie Überflutungen, Krankheiten, Dürre, Waldbrände, Mangel an Trinkwasser und Schäden des Ökosystems“ (FAZ 2018).
Nunmehr haben die Niederlande bis 2020 die CO₂-Emissionen um 25% gegenüber dem Wert von 1990 zu senken. Zudem wurde im Mai 2019 ein Klimagesetz verabschiedet, dass vom GroenLinks-Chef Jesse Klaver als „das ehrgeizigste Klimagesetz der Welt“ (WWU 2019) bezeichnet wird. Wobei festzuhalten ist, dass die Niederlande weniger die Musterschülerin der EU als vielmehr eines der Schlusslichter ist, dass nunmehr aufholen möchte(n muss) (vgl. Schweighöfer 2019).
Die wichtige Botschaft lautet hier: Ja, man kann seinen Staat auf juristischem Weg zu mehr Klimaschutz zwingen.
Interessant auch, dass das Oberste Gericht sich bei seiner Entscheidung auf die von mehr als 40 Staaten unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention stützt (vgl. Hecking 2019).
Auch das im November 2019 in den Niederlanden beschlossene Tempolimit steht im Zusammenhang mit der Urgenda-Klage.
>> vgl. Aspekt Tempolimit S. 315 in Abschnitt Verkehr & Mobilität: Eine Klima-notwendige Mobilitätswende und Aspekt staatliches Ausstiegsprogramm aus der Schweinehaltung, S. 552
Weitere Beispiele für Klimaklagen gegen Staaten
In Massachusetts hat die Organisation Our Children’s Trust 2016 erfolgreich die Regierung des Bundesstaats verklagt, sodass die Umweltbehörde mehr für den Klimaschutz zu unternehmen hat. Gleiches wurde im Staat Washington und auch in Oregon erreicht (vgl. Klimareporter 2016).
In der Schweiz hängt derzeit eine Verfassungsbeschwerde der KlimaSeniorinnen vor dem Bundesgericht in Lausanne an, nachdem zuvor das Schweizer Bundesverwaltungsgericht die Klage abschlägig beschieden hatte (vgl. KlimaSeniorinnen 2020). Sie machen für sich geltend, dass „alles, was uns lieb ist, auf dem Spiel steht“ (ebd.), dass ältere Personen in besonders starkem Maße von Hitzewellen etc. betroffen seien und es zudem Hinweise gebe, denen zufolge Frauen von der Klimakrise stärker betroffen seien als Männer (vgl. ebd., s.a. in diesem Buch den Aspekt Frauen sind von der Biodiversitäts-/Klimakrise stärker betroffen als Männer, S. 423).
In Pakistan hat sich bereits 2015 ein Bauer namens Asghar Leghari gegen die Regierung von Pakistan durchgesetzt, „claiming it was violating his human rights by failing to tackle the impacts of climate change“ (Laville 2019). Pakistan hat bereits seit 2012 ein „Klimawandelgesetz“ (Klimareporter 2015). „Das Hohe Gericht in Lahore ordnete Mitte September [2015] die Schaffung eines ‚Klimabeirates‘ an, um den Staat Pakistan dazu zu bringen, seine Verpflichtungen auf diesem Gebiet einzuhalten“ (Bouissou 2015). Der Richter wurde sehr konkret und „stattete … die Kommission mit Befugnissen und ernannte 21 Mitglieder“ (Greenpeace 2018). Greenpeace hält dazu fest, dass der Fall „sehr interessant [sei], weil ein Urteil zur verstärkten Klimaschutzpolitik in einem Land gefällt wurde, das nicht als Verursacher, sondern bisher als Opfer des Klimawandels gilt“ (ebd.). Derzeit läuft eine weitere Klage in Pakistan, bei der der siebenjährige Rabab Ali vor dem obersten Gerichtshof Pakistans gegen „Genehmigung[en] zur Eröffnung von Kohlfördergebieten“ (ebd.) steht.
Elf flämische Prominente haben unter dem Namen ‚Klimaatzaak‘ (‚L’Affaire Climat‘/‚Climate Case Belgium‘) in Belgien gleich vier belgische Regierungen verklagt, d.h. die Regierung des Königreiches sowie die Regionalregierungen von Wallonien, Flandern und Brüssel (vgl. VRT 2014). Der Fall wurde drei Jahre lang durch Zuständigkeitsstreitigkeiten sowie der Diskussion darum, in welcher Sprache der Prozess stattfinden sollte, verzögert (vgl. Greenpeace 2018). „In the meantime, the number of named plaintiffs in the case has grown via an online petition mechanism from 11 to over 35,000“ (Our Children’s Trust 2018).
Naomi Klein schildert den juristischen Kampf der First Nations insbesondere in den USA und Kanada, die sich durchaus mit Erfolg gegen die Ausbeutung der Ressourcen ihrer Territorien und der von ihnen aufgrund historischer Rechte beanspruchten Gebiete zur Wehr setzen: „Viele Nicht-Ureinwohner erkennen allmählich, dass indigene Rechte, wenn sie aggressive durch juristische Klagen, Protestkundgebungen und Massenbewegungen unterstützt werden, die ihre Einhaltung fordern – heute [in den USA und in Kanada] die wirksamste Barriere darstellen könnten, die uns alle vor dem Klimachaos schützt“ (2015, 456).
Derweil könnten Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, mangelnde Infrastruktur und zahllose Versprechungen der fossilen Industrie, hier ‚Abhilfe‘ zu schaffen und so von Fall zu Fall auch das Gegenteil bewirken (vgl. ebd., 469): Die ‚Abhilfe besteht dann aus ‚Almosen‘ aus der Portokasse der fossilen Unternehmen: „Hier: Wir bauen Euch ‘ne neue Schule und spenden ein neues Klettergerüst für den Spielplatz – und ihr chillt mal ein bisschen…“
Menschenrechtsbeschwerde beim UN-Kinderrechtsausschuss gegen fünf Staaten
Bei der New Yorker Klimakonferenz im September 2019 wurde bekannt, dass 16 Kinder und Jugendliche – darunter auch Greta Thunberg – aus 12 Ländern mit Unterstützung der Umweltorganisation Earth Justice eine Beschwerde bei der UN, genauer beim UN-Kinderrechtsausschuss, gegen fünf Länder der G20 eingereicht haben. Konkret richtet sich die Beschwerde gegen Argentinien, Brasilien, Deutschland, Frankreich und die Türkei:
„Alle fünf Staaten [generieren hohe CO2-Emissionen und] haben das Pariser Klimaabkommen [sowie das dritte Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, welches Individualbeschwerden ermöglicht] unterzeichnet. Doch ihre Maßnahmen um die globale Erhitzung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, bleiben weit unter den Empfehlungen der Wissenschaftler, so die Beschwerde. Damit verletzen die Industrie- und Schwellenländer die UN-Kinderrechtskonvention – insbesondere das Recht auf Leben (Artikel 6) und das Recht auf Gesundheit (Artikel 24)“ (Jeppesen 2019).
Rudi Tarneden, der Sprecher von Unicef Deutschland, merkt dazu an, dass dies ist ein einmaliger Vorgang sei, bei dem „man auch völkerrechtlich Neuland, denn es ist eine [Art] Sammelklage, die sich gleichzeitig gegen mehrere Staaten richtet“ (ebd.).
Ziel ist, dass „[d]er UN-Kinderrechtsausschuss … feststellen [soll], dass Argentinien, Brasilien, Deutschland, Frankreich und die Türkei für die Klimakrise mitverantwortlich sind. Wenn der UN-Ausschuss bestätigt, dass die fünf Länder tatsächlich eine Mitschuld tragen, verletzen sie zentrale Punkte der Kinderrechtskonvention. Und damit Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich die Länder verpflichtet haben“ (Kainz 2019).
Inzwischen wurde die Beschwerde von der UN anerkannt. Somit haben die angeklagten Länder nun Stellung zu nehmen.
„Die Staaten haben jetzt zwei Monate Zeit, zu erklären, warum die Beschwerde nicht zulässig sei. Anschließend sechs Monate, um zu beweisen, dass sie nicht gegen das Völkerrecht verstoßen haben, indem sie den Klimawandel mit verursachen und zu ihm beigetragen haben“ (ebd.).
Kommt das Verfahren zu einem Abschluss, ergeht eine rechtlich nicht bindende Empfehlung, die jedoch durchaus globale Signalwirkung haben könnte (vgl. Jeppesen 2019).
>> siehe auch Aspekt Klagen gegen Umweltschutzmaßnahmen: Kern diverser Freihandelsabkommen ist der sog. ‚Investitionsschutz‘ von Privatunternehmen, den sie vor Schiedsgerichten einklagen können. Daher gibt es auch umgekehrt zu den hier geschilderten Fallbeispielen diverse Klagen, die darauf hinauslaufen, Klimaschutz auszubremsen und/oder hohe Entschädigungssummen für die vermeintlich vorzeitige Schließung von fossilen Unternehmen zu generieren. Siehe dazu Abschnitt Freihandelsabkommen gefährden Klima, Klimaschutz und Transformation, S. 407
Vanuatu bereitet die Beantragung eines Rechtsgutachtens vom Internationalen Gerichtshof vor
Vanuatu ist laut der Universität der Vereinten Nationen das am meisten unter ‚Naturkatastrophen‘ leidende Land (vgl. Esswein/Zernack 2020a). Vanuatus Regierung arbeitet daher daran, die Klimafrage, die für den Inselstaat eine Überlebensfrage ist, in Den Haag vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen:
„Der kleine Inselstaat will vor der größten Rechtsinstanz der Welt zum ersten Mal die größten Umweltverschmutzer unter den Staaten zur Rechenschaft ziehen. Sollte der Vorstoß Erfolg haben, könnte das eine neue globale Klagewelle auslösen. Es wäre ein historischer Präzedenzfall, den Vanuatu da früher oder später schaffen könnte“ (Esswein/Zernack 2020b).
„Ein Rechtsgutachten ist eine Art Grundsatzentscheidung. Anders als ein Gesetz kann sie nicht mit Zwang durchgesetzt werden, hat aber symbolische Kraft. Ein Rechtsgutachten ist nicht mehr nur ein juristischer, sondern ein politischer Akt, sagt Hermann Ott von Client Earth. Der Internationale Gerichtshof hat bislang 28 solcher Gutachten erstellt – aber noch kein einziges zum Klimawandel“ (ebd.).
Die Hürden sind außerordentlich hoch – so wäre die Zustimmung der Mehrheit der 193 Mitgliedstaaten erforderlich, von denen sich ‚die üblichen Verdächtigen‘ aber stets dagegen wehren, für Klimaschäden in anderen Staaten aufzukommen. Des Weiteren wäre nachfolgend die individuelle Betroffenheit der Bewohner*innen von Vanuatu nachzuweisen (vgl. ebd.).
Vanuatu verklagt somit Länder, mit denen es Handel treibt – was durchaus riskant ist.
„Ein Risiko, das der Außenminister akzeptiert:
‚Wenn wir Erfolg haben, dann könnte jedes einzelne Gericht in jedem Land, jeder Gerichtshof das als Vorlage nehmen. Es könnte die Basis für Übereinkommen zwischen Staaten, für multilaterale Entscheidungen, sogar für Handelsabkommen nach nationalem Recht werden. Das hätte weitreichende Folgen‘“ (Esswein/Zernack 2020a).
Hans-Otto Pörtner, leitender Klimaforscher am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und ranghöchster deutsche Vertreter im Weltklimarat IPCC kommt unabhängig von obigem Anliegen Vanuatus zu folgendem Schluss:
„Vielleicht sollte dies Hauptanliegen eines Internationalen Gerichtshofs werden: Wer den Klimawandel vorantreibt, verstößt gegen Menschenrechte. Wir haben hier ein Problem globaler Dimension. Da kann man durchaus sagen, dass die, die eine Lösung weiter verzögern, kriminell handeln. Das sind Dimensionen, wo Juristen mal ranmüssten“ (2019).
Update Juli 2020:
In ihrem offenen Brief an die EU und die globalen Staats- und Regierungschef*innen fordern Thunberg/Neubauer et al.: „EU member states must advocate to make ecocide an international crime at the International Criminal Court“ (2020); fordern also, dass Ökozid zum Straftatbestand des Völkerrechts wird und ähnlich wie Kriegsverbrechen in Den Haag vor Gericht gebracht werden kann.
Update September 2020:
Am 3.9. haben sechs 8- bis 21-jährige Jugendliche aus Portugal Klage beim Europäischen Gerichtshof (EGMR) in Straßburg eingereicht und verklagen 33 Staaten, darunter EU-27 sowie Großbritannien, Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und die Ukraine (vgl. ZDF 2020). „Begründung: Die Länder würden nicht genug für den Klimaschutz tun – und damit die Menschenrechte der jungen Kläger:innen verletzen“ (Schwarz 2020, 9).
Die Jüngste der Kläger*innen wäre im Jahr 2100 88 Jahre alt:
„Für Portugal werden zu diesem Zeitpunkt Hitzewellen mit Temperaturen von über 40 Grad erwartet, die länger als einen Monat anhalten könnten“ (ZDF 2020).
Quellen des Abschnitts Klimaschäden vor Gericht: Gerichtsprozesse als Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise
Bouissou, Julien (2015): „Klimajustiz in Pakistan: Gericht verdonnert Regierung zum Klimaschutz“. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.10.2015 [Übersetzung eines Artikels aus Le Monde], online unter
DUH (2020a): „Warum werden von der DUH zwei Klagen unterstützt? Was unterscheidet die beiden Klagen?“. in: Deutsche Umwelthilfe, online unter https://www.duh.de/klimaklage/#collapse-75082 (Abrufdatum 6.4.2020)
Greenpeace (2019a)„Was ist eine Klimaklage? – Anwältin Roda Verheyen erklärt“. in: Greenpeace Deutschland, 19.1.2019, online unter www.youtube.com/watch?v=ecKBlfInhL0/ (Abrufdatum 4.7.2019)
Klein, Naomi (2015): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt a.M.: S. Fischer. (Der Originaltitel ist besser gewählt: This Changes Everything: Capitalism vs. Climate.
Weiland, Michael (2018): „Regierung zur Rechenschaft. Wer trägt die Schuld an den Folgen der Erderhitzung? Rechtsanwältin Roda Verheyen erklärt, warum Greenpeace und Betroffene gegen die Bundesregierung klagen“. in: Greenpeace, online unter https://www.greenpeace.de/themen/klimawandel/regierung-zur-rechenschaft/ (Abrufdatum 10.7.2019)
„Unser Lebensstandard basiert auf dem globalen Reichtum, der nicht gerecht verteilt ist.“ (taz: Hamed Abbaspur in König 2017)
Die Atmosphäre gehört uns allen. Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber: Der Klimawandel, 2018, S. 108. Foto: unsplash/Ritam Baishya | handbuch-klimakrise.de
Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber:
„[L]etztlich gibt es doch nur eine robuste und moralisch vertretbare Antwort: Jede Erdenbürgerin und jeder Erdenbürger hat exakt den gleichen Anspruch auf die Belastung der Atmosphäre, die zu den wenigen ‚globalen Allmenden‘ zählt.“ (2018, 108)
>> vgl. Abschnitt Intro, S. 39f.
Erläuterung 'Allmende'
Die Tragik der Allmende (‚Tragedy of the Commons‘, so benannt von dem US-amerikanischen Ökologen Garrett Hardin, 1968) besteht darin, dass das Allgemeingut – wie z.B. die Dorfwiese – wenn die Nutzung der Allmende (wie meist der Fall) nicht verbindlich reguliert ist, Menschen dazu tendieren, sie zu ihrem persönlichen Vorteil zu übernutzen. Im Falle der Dorfwiese würden also z.B. Bauern ihre Tiere bevorzugt auf die Dorfwiese treiben, um ihre eigenen Weiden zu schonen. Die Allmende schlechthin ist unsere Umwelt, vgl. auch die Hinterlassenschaften von Grillpartys in öffentlichen Parks – und unsere Atmosphäre. Doch sind Allmenden auch positiv gestaltbar – es bedarf dazu genauer Regeln bzw. entsprechender sozialer Kontrolle, um die Übernutzung auszuschließen. Die 2009 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnete Wissenschaftlerin Elinor Ostrom sammelte „mehr als 5.000 Beispiele funktionierender Commons. Viele davon existierten schon seit Jahrhunderten, wie bei den Fischern von Alanya in der Türkei, die bereits seit Menschengedenken ihre Fischereirechte auslosten, und den Bauern des Schweizer Dorfes Törbel, die Verabredungen über die Nutzung des knappen Brennholzes trafen“ (Bregman 2020, 343).
In einem Leserbrief in der Zeit schrieb Corinna Kreidler 2019:
„Im globalen Maßstab gehören alle Deutschen, auch junge und arme, zur feudalen Klasse, die sich ihren Lebensstandard auf dem Rücken des globalen Südens leistet. ‚Warum sollte einer reicher Deutscher mehr Rechte haben, das Klima in Gefahr zu bringen, als ein armer Kenianer?‘“
Soziale Gerechtigkeit…
„lässt sich im Kontext der anthropogenen Erderwärmung in zwei ethische Grundüberzeugungen zusammenfassen:
Jeder Mensch ist nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch vor der Natur gleich.
Wer den Klimaschaden anrichtet, soll auch dafür geradestehen (‚Polluter Pays Principle‘)“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 107).
Die Klimakrise ist weit mehr als ein ‚Umweltproblem‘. Hier geht es um Menschen, um Menschenleben – und hier wiederum um das Leben von den ärmeren Menschen, um die Menschen des Globalen Südens, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben und am meisten von dieser Katastrophe betroffen sind und künftig am meisten darunter leiden werden.
Rahmstorf und Schellnhuber bringen es exakt auf den Punkt:
Die „Nutzung der Atmosphäre als Müllkippe den kommenden Generationen in den besonders klimasensiblen Entwicklungsländern auf[zu]bürden… empfänden [v]iele nichtstaatliche Umweltgruppen … als amoralische Krönung der historischen Ausbeutung der ‚Dritten Welt‘ durch die Industrieländer.“ (2018, 90)
Übersetzen wir diese Aussage mal für die Gegenwart in Zahlen:
Aktueller Stand der ‚Climate Justice‘:
3,5 Milliarden Menschen = die ärmere Hälfte der Menschheit = 10% der globalen Emissionen
700 Millionen Menschen = die reichsten 10% der Menschheit = 49% der globalen Emissionen
Zurzeit ist es so, dass „[d]ie ärmere Hälfte der Menschheit … nur für 10% der globalen [Treibhausgas-]Emissionen verantwortlich [ist], während die reichsten 10% die Hälfte aller Emissionen produzieren“ (Kontext: Goeßmann 2019).
Globale Verteilung der Vermögen | Globale Verteilung des CO2-Fußabdrucks
Oxfam 2020: „Carbon Emissions Of The Richest 1 Percent More Than Double The Emissions Of The Poorest Half of Humanity.“
Und:
„[D]ie am wenigsten Verantwortlichen [bekommen] zugleich die Auswirkungen der Klimakrise am härtesten zu spüren“ (ebd.).
Die FAZ präzisiert das schon im Jahr 2006:
„Die ärmste Milliarde dieser Erde trägt keine Verantwortung für Kohlendioxydausstöße, ist aber in erster Linie davon lebensbedroht“ (Paoli 2006).
Weitere Zahlen aus der Studie von Oxfam:
„The average footprint of someone in the richest 1% could be 175 times that of someone in the poorest 10%“.
„The average emissions of someone in the poorest 10% of the world population is 60 times less than that of someone in the richest 10%.“
„Women bear the heaviest burden in a warming world, generally more heavily dependent on climate-sensitive livelihoods and with least to fall back on in harsh times“ (Oxfam 2015).
>> vgl. Aspekt Frauen sind von der Biodiversitäts-/Klimakrise stärker betroffen als Männer, S. 423f.
Und eine neue Oxfam-Studie von 2020 sagt über die Jahre 1990 bis 2015:
„Die reichsten zehn Prozent (630 Millionen) seien in dieser Zeit für über die Hälfte (52 Prozent) des CO2-Ausstoßes verantwortlich gewesen.
Das reichste Prozent (63 Millionen) allein habe 15 Prozent verbraucht,
während die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung nur für sieben Prozent verantwortlich gewesen sei.“ (zit. nach Spiegel 2020b)
Die globale Ungerechtigkeit wird auch anhand der finanziellen Besitztümer der Weltbevölkerung deutlich:
„Das reichste eine Prozent der Welt, und noch abscheulicher, die reichsten
acht Menschen der Welt haben jetzt so viel Reichtum wie die gesamte ärmste Hälfte der Weltbevölkerung,
wie Oxfam während des Weltwirtschaftsforums 2017 berichtete“ (Weizsäcker et al. 2017, 23-24).
Vermutlich eine Folge abweichender Definitionen von ‚Privatvermögen‘ und ‚Reichtum‘ – auf jeden Fall kommt Dieckmann zu einer anderen Zahl:
22,1 Mio Menschen besitzen die Hälfte des globalen Privatvermögens. (vgl. Dieckmann 2019)
Das bedeutet also folglich:
22,1 Millionen Dollar-Millionäre besitzen etwa 103 Billionen US-Dollar.
7,6 Milliarden Nicht-Millionäre besitzen etwa 103 Billionen US-Dollar (vgl. ebd.).
2020 wird Oxfam mit den folgenden Zahlen zitiert:
„2.153 Milliardäre [besitzen derzeit] … genauso viel Geld …, wie die 60 ärmsten Prozent der Weltbevölkerung zusammen genommen, also insgesamt 4,9 Milliarden Menschen“ (Spiegel 2020a).
Daraus folgert Maxton:
„Dies ist kein Kampf zwischen 99 Prozent und 1 Prozent der Menschheit. Es ist ein Kampf zwischen 99,995 Prozent und 0,005 Prozent der Menschheit“ (Maxton 2020, 76).
Michael E. Mann – dem wir die Hockeyschlägerkurve (vgl. S. 157) verdanken – formuliert es so:
„The great tragedy of the climate crisis is that seven and a half billion people must pay the price – in the form of a degraded planet – so that a couple of dozen polluting interests can continue to make record profits“ (zit. in Taylor/Watts 2019).
Wir sollten dabei nicht vergessen, dass dahinter dann eine ebenfalls begrenzte Anzahl von profitierenden Aktionär*innen und Pensionsfonds-Profiteur*innen steht.
Und Reichtum ist maßgeblich gegendert:
„Männer [besitzen] 50 Prozent mehr Vermögen als Frauen“ (Zeit 2020) – und zwar trotz vererbter Vermögen.
„[D]ie 22 reichsten Männer Afrikas [verfügen] über ein größeres Vermögen als alle afrikanischen Frauen zusammen“ (Spiegel 2020a).
Beim Weltwirtschaftsforum 2020 in Davos „sind 119 Milliardäre anwesend[, die] nur 0,5% Steuern auf ihre Vermögen zahlen“ (Vielhaus 2020).
Wir werden globale Ungerechtigkeit niemals ganz besiegen können. Aber ein derart abstruser Auswuchs sollte doch abzustellen sein?
>> Anmerkung: Auch in Deutschland klafft eine immer größere Lücke zwischen arm und reich:
„[D]as reichste Prozent… besitzt bereits rund 35 Prozent der individuellen Nettovermögen. Die reichsten zehn Prozent kommen gemeinsam auf 67,3 Prozent der Vermögen… Die untere Hälfte der Bundesbürger besitzt nur rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens… [Mit einem] Gesamtvermögen von 22.800 Euro … [gehört man] statistisch schon zur reicheren Hälfte der Bevölkerung… Etwa 1,5 Prozent der Deutschen besitzt mehr als eine Million Euro. Wenig überraschend handelt es sich dabei meist um Männer, die schon älter sind. Sie sind zudem besser gebildet als der Durchschnitt und oft selbstständig… Nur 30 Prozent sind Frauen“ (Hermann 2020, 3).
Angesichts der in jeder Hinsicht mangelnden Climate Justice stellen Neubauer/Repenning für Deutschland, aber nicht nur für Deutschland, fest:
„Wer von Reduktionszielen spricht, darf von Umverteilung nicht schweigen.“ (2019, 202)
„[G]erecht wäre es, wenn … [der massive Umbau unserer Infrastrukturen] insbesondere auch diejenigen zahlen, die vom nicht-nachhaltigen Status quo besonders profitieren… Vermögenssteuern oder klimabezogene Vermögensabgaben sind zwei Antworten, die bis jetzt kaum diskutiert werden“ (ebd., 203-204).
„Warum wir uns die Reichen nicht mehr leisten können“ lautet der Titel eines Buches von Andrew Sayer (2017).
Ernsthaft: Warum sollte es auf einem Planeten hochgradig vermögende Menschen geben, wenn gerade diese – aufs Ganze gesehen – einen besonders hohen CO2e-Anteil am derzeitigen fossilen Kapitalismus haben – und ihr Vermögen dazu eingesetzt werden könnte, die Welt endlich ‚auf das richtige Gleis‘ zu setzen? Sie alle haben von den bestehenden fossilen Verhältnissen massiv profitiert und haben nun zurückzugeben, zurückzustecken und ihren Anteil zu leisten.
Der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) zur mangelhaften ‚Climate Justice‘:
„Ich frage mich, wie ‚Fridays for Future‘ in Afrika aussähe. Das Durchschnittsalter der Menschen dort liegt bei zwanzig Jahren, sie sind unfassbar arm, suchen Arbeit, wollen diesen Teufelskreis durchbrechen. Wir müssen die Situation dieser Menschen mitdenken, wenn wir über Klimaschutz diskutieren. Es genügt nicht, weniger zu fliegen oder mit dem Rad ins Büro zu fahren, so wichtig das auch ist… Wir müssen die beiden großen Herausforderungen unserer Zeit miteinander verbinden: Beseitigung von Armut und erfolgreiche Klimarettung“ (zit. in Haberl 2019).
Den Faden aus dem Abschnitt Intro (S. 39) wieder aufgreifend:
Anders ausgedrückt:
„Solange wir den Klimawandel und die Ungleichheit nicht gleichzeitig angehen, kann man weder das eine noch das andere lösen. Wir müssen also verstehen, wir diese beiden verknüpft sind“ (Goeßmann 2019).
Es gilt: Nur eine globale Klimagerechtigkeit führt relevant zu Klima- und Umweltschutz – aus einem ganz einfachen Grund:
„Die Armen neigen dazu, für ihr Überleben und ihre Bedürfnisse die Ressourcen zu übernutzen, oft sogar zu zerstören. Die Reichen dagegen übernutzen die verfügbaren Ressourcen erst recht und dies oft aus reiner Gier. Demgegenüber werden soziale Gerechtigkeit und die Überwindung der Armut zu einem Schlüssel für den Umweltschutz“ (Weizsäcker et al. 2017, 208).
Positiv gewendet:
Die Verknüpfung der Aspekte ‚Biodiversitäts-/Klimakrise‘ und ‚Beseitigung der globalen Ungleichheit‘ birgt – in jeder Hinsicht – eine große Chance für die Menschheit.
Es geht auch nicht anders, denn der Globale Süden wird beim Klimaschutz nur mitmachen, wenn er davon profitiert, in dem er z.B. vergünstigt und u.U. patentrechtefrei bzw. lizenzfrei Zugang zu Technologien u.a. betreffend erneuerbare Energien erhält.
…mehr
Naomi Klein pointiert, dass wir „keine hundert Jahre mehr [haben], damit China und Indien ihre Dickens-Phasen hinter sich bringen können“ (2015, 36); siehe auch Abschnitt Intro, S. 40.
Denn so wie es bisher lief mit dem post- bzw. neokolonialen Imperialismus, ist es schlicht äußerst zynisch vom Kapitalismus als dem ‚bestmöglichen System‘ zu sprechen.1
Das ist eine zutiefst westliche Sichtweise, die man wohl nur einnehmen kann, wenn man gerade auf dem Sofa die Füße hochlegt, weil man ach so hart gearbeitet hat (vgl. S. 230f.) – oder der 45. Präsident der USA ist. Die Realität ‚da draußen‘ ist eine andere.
Details: Erläuterungen zu (1)
Bestmögliches System? Nils Klawitter schrieb im Frühjahr 2020 unter der Überschrift „Ausbeutung als Geschäftsmodell“ im Spiegel einen Kommentar zu den Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken. Ja, richtig, das ist Ausbeutung – aber das Thema ‚Ausbeutung als geschäftsmodell‘ ist viel größer dimensioniert, Ich denke, Klawitter bringt es unbewusst auf den Punkt: Das Geschäftsmodell des unregulierten Neoliberalismus/Turbokapitalismus ist Ausbeutung – Sweatshops, Dauerpraktikant*innen, Ressourcenübernutzung, Niedriglohnsektor, Neokolonialismus, Kreuzfahrtschifffahrt, Allmende ‚Atmosphäre‘, eingeflogene Rumän*innen als Erntehelfer*innen, Systemrelevante Pfleger*innen in Altersarmut etc. pp. – die Liste lässt sich endlos fortsetzen.
Selbstverständlich geht es anders als bisher. Die angebliche Unausweichlichkeit von Politik und Geldwirtschaft – There Is No Alternative (TINA) – ist die vielleicht nachhaltigste Lüge von denjenigen, die alles so lassen wollen wie es derzeit ist.
Es geht immer auch anders. Alles könnte anders sein.
„Je energischer jemand behauptet, dass irgendetwas alternativlos sei, umso genauer sollten Sie es hinterfragen“ (Göpel 2020, 187).
TAALOA – There are always lots of alternatives!
in Anlehnung an die angeblich so oft alternativlose Politik der Regierung Merkel und an TINA – „There ist no Alternative“.
(TINA ist ein Schein-Argument von Margret Thatcher, um den Neo-Liberalismus durchzudrücken: Operation gelungen, Patient derzeit dem Koma nahe.)
Jürgen Habermaß hielt dem schon zu Thatcher-Zeiten entgegen: „Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.“ (1985, 161)
Was Ressourcenausbeutung, CO₂-Emissionen, Wachstumscredo und Lebensstil der Industrienationen zu Ende gedacht bedeutet:
Wir wachsen uns arm. (vgl. Alt 2019, 9)
„Die „imperiale Lebensweise [ist] derzeit im Begriff…, sich zu Tode zu siegen.“
(Brand/Wissen 2017, 14)
Climate Justice, Neokolonialismus und unsere imperiale Lebensweise
Womit hier wieder das Thema ‚Wachstum‘ auf der Agenda steht:
Wachstum kann nur erzeugt werden, wenn andere „auf ihren proportionalen Anteil verzichten“ (müssen). (Brand/Wissen 2017, 14)
>> s.a. Aspekt Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang, S. 391ff.
Und weiter:
„Die imperiale Lebensweise beruht auf Exklusivität, sie kann sich nur so lange erhalten, wie sie über ein Außen verfügt, auf das sie ihre Kosten verlagern kann“ (ebd., 15).
Tragisch, dass das schon Karl Marx vor rund 170 Jahren erkannte: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeosie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen“ (1847/48).
Mit ‚Außen‘ ist sowohl die Atmosphäre als auch die immer weitere räumliche Verbreitung der Wachstumswirtschaft auf immer neue Länder (Südostasien, aber auch in die Staaten des Ostblocks nach dem Mauerfall) gemeint. Nachdem auch dieses Raum-greifen an seinen Grenzen gerät, man also kaum mehr „in den Raum expandieren kann, um den Treibstoff für den Antrieb der Zivilisationsmaschine von außen zu holen[, verbleibt a]ls einzige Ressource zur Erzeugung globalen Mehrwert nur noch die Zukunft“ (Welzer 2016, 53) – man expandiert unter Missachtung der – globalen! – Generationengerechtigkeit in die Zeit.
Und in diesem Sinne, d.h. aufgrund der Kostenexternalisierung (Kostenauslagerung) – und in Kombination mit Shareholder Value (d.h. der Verpflichtung von Börsennotierten Unternehmen, den Gewinn zugunsten der Aktienbesitzer*innen zu maximieren) – kann es unter den heutigen Gegebenheiten generell (so gut wie) keine wirklich nachhaltigen Produkte geben.
Warum?
Gegenfrage: Warum verlagert man denn Produktionen z.B. nach Südostasien?
Antwort: Weil es dort aufgrund mangelnder Gesetzgebung, niedrigeren Umweltstandards, Korruption und niedrigen Löhnen billiger und somit lukrativer ist, zu produzieren. Die Sache ist systemisch – d.h. im System so angelegt. Daher ist eine grüne bzw. nachhaltige Wirtschaft/Produktion ohne tiefgreifende Änderungen im Betriebssystem der globalen Wirtschaft und Politik grundlegend nicht möglich.
Kathrin Hartmann spricht daher vollkommen zu Recht von der Grünen Lüge.
>> vgl. Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. Blessing. | s.a. Boote, Werner u. Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Die Ökolügen der Konzerne und wie wir uns dagegen wehren können. Film-Doku.
Ulrich Brand und Markus Wissen gehen in diesem Punkt noch einen Schritt weiter:
„Ausgeblendet wird, dass Ökosysteme nicht deshalb zerstört werden, weil ihnen kein Preisschild anhaftet, das die Kosten ihres Verlusts quantifizieren würde [was aber nicht gegen eine CO₂-Steuer spricht!]. Der Grund liegt vielmehr darin, dass die Rechte der Menschen (häufig Kleinbauern und indigene Gemeinschaften), die in den entsprechenden Territorien leben, systematisch missachtet werden“ (2017, 150).
Hierauf ist ein genauerer Blick zu richten:
Was Sie schon immer nicht über Ihr Smartphone wissen wollten:
Ein Beispiel: Der ‚globale Impact‘ eines Smartphones
… in Form einer emotionalen aber inhaltlich sachlichen Reportage.
Welcome to hell!
Dein neues Smartphone. Du findest es auf der hell designten Seite des Webshops Deiner Wahl… oder im angesagten Lifestyleladen in der Fußgängerzone: Der Produktberater hat zufällig das gleiche Gerät zu Hause – these things happen! –, und auch er ist der Meinung, dass es „ein super Gerät vom Preis-Leistungsverhältnis her ist“. Und dann ist es: Deins. Die sanft leuchtende, randlose Oberfläche mit dem glänzenden Retina-Display ist glatt poliert, es schimmert leicht – und noch keine Fingerabdrücke stören dieses Bild. Wunderbar. Es wird Dir beistehen, in guten und schlechten Zeiten. Bis das der nächste Handyvertrag Euch scheidet: Ihr werdet eine wunderbare einjährige Beziehung führen (vgl. Manhart 2016).
Details zu ‚1 Jahr und ex und hopp‘
Thema ‚1 Jahr und ex und hopp‘: Smartphonenutzung-Durchschnitt = 2,7 Jahre (vgl. Manhart et al. 2016). Fakt ist, dass mindestens ein großer Smartphoneanbieter Deutschlands eine jährliche ‚Handytauschoption‘ bereithält. Update 10/2018: Eine andere Firma garantiert neuerdings, dass es innerhalb von 24 Stunden ein kaputtes Handy durch das gleiche Modell ersetzt.
Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, und meistens ist sie das auch… Aber verlassen wir heute mal die Oberfläche, öffnen das Smartphone fachgerecht und legen seine filigranen Bauteile frei – und graben mal dort, wo niemand so recht hinschaut.
Und wir müssen tief graben, denn unser kleiner ‚sehr leistungsfähiger transportabler Kleincomputer zur elektronisch gestützten Kommunikation und Unterhaltung‘ beginnt sein Dasein mit guter Chance tief unter der Erde in der Demokratischen Republik Congo in Zentralafrika.
Hier lagern 2/3 der globalen Lagerstädten von Kobalt – die seltene Erde, die für die Herstellung der Smartphone-typischen (und in E-Autos stets verbauten) Lithium-Ionen-Akkus unverzichtbar benötigt wird (vgl. Belkaïd 2020, 17). Daneben gibt es hier sehr viel Kassiterit, ein Erz mit einem hohen Zinngehalt, bestehend aus Kupfer, Gold und der ‚seltenen Erde‘ Coltan. Letzteres entspricht Tantal und steckt in jedem Smartphone zum Speichern von Energie, d.h. es wird als Kondensator verwendet (vgl. Jeska 2012 u. Umwelthelden 2016).
Ob mit bloßen Händen oder mit Meißel und Hammer – auf jeden Fall unter erbärmlichsten Arbeitsbedingungen „für umgerechnet zwei bis drei Dollar am Tag“ – niemand macht sich dort die Illusion reich werden zu können, es geht um das pure Überleben – arbeiten im Congo geschätzte „100.000 Menschen … in den Minen …, davon – so Unicef – sind 40.000 Kinder“ (Rittmann 2016 u. AI 2016a).
…mehr
Precht erwähnt in Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft „die Kinder, die [während der Industrialisierung] in den Kohleschächten Englands ihre Kindheit und oft ihr Leben verloren“ (17), was mich ein weiteres Mal darauf bringt, wie beschämend wenig sich doch eigentlich geändert hat seit den frühen Tagen der Industrialisierung. Nur dass eben der Ort des Elends, der Kinderarbeit und der Umweltverschmutzung nicht mehr im Londoner Großraum liegt, sondern ausgelagert wurde in den Globalen Süden, sodass diejenige/derjenige, der es in seinem Shopping-Delirium nicht wissen will, ein wenig ‚besser‘ als früher die Augen verschließen kann vor dieser Schande. Siehe auch S. 650.
Akram Belkaïd spricht von 200.000 Creuseurs – Minenschürfer*innen in i.d.R. illegalen ‚Kleinbetrieben‘ (2020, 17).
Und auch wer nicht irgendwann verschüttet wird, riskiert Lungenschäden und Dermatitis… die Zeit formuliert es so:
„Hunderte werden in den Minen des Kongos jedes Jahr lebendig begraben oder ersticken in den Abgasen dieselbetriebener Wasserpumpen“ (Obert 2011).
Belkaïd schreibt in Le Monde diplomatique:
„Unfälle sind in diesen ‚Todesstollen‘, wie die Einheimischen sie nennen, an der Tagesordnung“ (2020, 17).
>> s.a. Amnesty International-Video „This is what we die for: Child labour in the DRC cobalt mines“, online unter https://www.youtube.com/watch?v=7x4ASxHIrEA (Abrufdatum 27.1.2020)
„Am 15. Dezember 2019 teilten die International Rights Advocates (IRA) mit, dass sie bei einem Washingtoner Gericht gegen mehrere transnationale Unternehmen eine Sammelklage wegen der Mitschuld am Tod von 14 Kindern in den congolesischen Kobaltminen einreichen. Apple, der Google-Mutterkonzern Alphabet, Dell, Microsoft und Tesla werden sich vor Gericht verantworten müssen. Die IRA prangern an, dass der ‚Tech-Boom‘ dazu geführt habe, dass ‚in der DR Kongo Kinder für ein oder zwei Dollar Tageslohn das Kobalt aus der Erde holen, dass die reichsten Konzerne der Welt für die Herstellung ihrer teuren Gadgets brauchen‘“ (Belkaïd 2020, 17).
2,5 min – Die Welt Nachrichtensender: Kongo: Kinderarbeit und Kobaltminen
Weder Apple noch Samsung sind nach Auskunft von Amnesty International in der Lage zu garantieren, dass das Cobalt etc. ohne Kinderarbeit gefördert wurde (vgl. Spiegel 2016, vgl. AI 2016a, vgl. Belkaïd 2020, 17). Selbst wenn das gelänge: Auch die übrigen Zustände sind schlicht verheerend, so spricht Obert von „an Sklaverei grenzenden Arbeitsbedingungen“ (2011). … Hand in Hand geht mit alledem der ganze Abwärtsspiralen-Wust von Korruption, Wegelagerei, Schutzgelderpressung, Prostitution, Mord, zerstörter Sozialgefüge, Hunger – darüber hinaus gleichermaßen extreme, systematische und massenhafte sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder (vgl. Koebl 2018, 81) – und damit immer noch nicht genug: „Mit dem Ertrag ihrer Plackerei finanzieren bewaffnete Gruppen [in Congo] einen [Bürger-]Krieg, der seit [22] Jahren wütet, mit Millionen von Toten“ (Obert 2011).
Natürlich gibt hier es keine einfachen Lösungen. Aber eines ist sicher: Diese Art von Hölle entsteht zu einem guten Teil durch Geld: Niemand hätte einen Grund in eine solche Mine zu steigen, wenn sich kein Abnehmer für das Erz finden würde.
Weltfirmen wie Apple oder Samsung scheuen sich selbstredend, in einem Atemzug mit solchen Zuständen genannt zu werden, aber irgendwie gelangt das Zeug eben doch in die Smartphones – via Umwege: So gehen „rund 90 Prozent der Produktion … heute nach Asien“ (Obert 2011).
Übrigens: Der Krieg bzw. das Chaos halten generell die Rohstoffpreise niedrig (vgl. Obert 2011), was Firmen und Aktionärinnen/Aktionäre sicher nicht gänzlich unangenehm finden. Und am Ende sieht dem eingeschmolzenen Erz (Kobalt, Coltan/Tantal) keiner mehr seine Herkunft an. Fakt ist: Das Zeug kommt mehrheitlich aus dem Congo und es ist wesentlich plausibler anzunehmen, dass in Deinem Smartphone genau dieses Erz steckt als dass genau dieses Erz nicht drinsteckt.
Also, nach Darstellung von Amnesty International (AI 2016b) verkaufen die Minenarbeiter oder bereits deren Zwischenhändler das Kobalt auf Märkten in den Städten an Geschäftsmänner oftmals chinesischer Herkunft. Diese wiederum verkaufen das Erz an die chinesische Firma CDM, die es einschmilzt. Deren Mutterfirma Huayou Cobalt Co., Ltd. exportiert es nach China und Südkorea und verkauft es dort an Batteriekomponentenfirmen, die ihre erneut zu transportierenden Vorprodukte an die Endfertiger verkaufen. Dann wird der fertigproduzierte Akku zur Smartphone-Produktionsfirma transportiert.
Details zu 'China investiert massiv in Afrika'
China investiert massiv in Afrika – und dort besonders stark in die Infrastruktur. Die Doku ‚Anderswo. Allein in Afrika‘ (2018) von Anselm Pahnke, der hier dokumentiert, wie er in 414 Tagen Afrika einmal von der Südspitze bis zum Mittelmeer allein mit dem Fahrrad durchquert, zeigt dies – über weite Strecken fährt Pahnke auf m.E. überraschend neuen und dabei guten bis perfekten Asphaltstraßen, deren Bau zu einem guten Teil finanziell irgendwie mit China verknüpft sein dürfte. Gleichwohl es selbstredend extrem hilfreich ist, in Afrika zu investieren und es nicht bei traditionell-wirkungsloser Entwicklungshilfe zu belassen, droht hier die Schuldenfalle. So sind „Chinas Auslandsforderungen um rund 50 Prozent höher, als es die [ohnehin hoch ausfallenden] offiziellen Statistiken ausweisen“ (Grill et al. 2019, 55). Dschibuti (70%), Republik Congo (fast 30%) und Kenia (>15%) sind zu hohen Prozent ihrer Wirtschaftsleistung bei China verschuldet, was nach Grill et al. ein Vielfaches ist in Relation zu Schulden bei westlichen Industrienationen (vgl. ebd.) – und ist auch hohen Zinsforderungen Chinas geschuldet (vgl. ebd.). Und: „Um sich vor Zahlungsausfällen zu schützen, räumen Kreditverträge der Volksrepublik umfangreiche Rechte ein, zum Beispiel den Zugriff auf Nahrungsmittel, Rohstoffe“ (ebd. 54). Gewinne werden des Öfteren durch China gleich wieder an die chinesischen Vertragsfirmen des jeweiligen afrikanischen Landes zurückgeleitet, „die Airports, Häfen oder Staudämme bauen; so entsteht ein geschlossener Finanzkreislauf, in den kein ausländischen Konto mit einbezogen ist“ (ebd.).
Wir haben jetzt mit Kobalt und Coltan/Tantal gerade mal zwei der sog. Konfliktrohstoffe näher betrachtet. Ein Smartphone besteht aber aus „sechzig Rohstoffe[n] aus bis zu hundert Minen …, darunter die Konfliktmaterialien Gold, Tantal, Wolfram und Zinn, die bewaffnete Konflikte in Afghanistan und Zimbabwe finanzieren“ (Hartmann 2018, 79). Diese Stoffe werden allesamt abgebaut bzw. mit teils extrem hohen Energiebedarf (Braunkohle!) aus den Gesteinen herausgelöst und schließlich – zunächst jeder Rohstoff einzeln, dann die Vorprodukte, schließlich die Einzelteile – jeweils teils global transportiert. „Kobalt … macht 3-4 Prozent des Gewichts eines Handys aus“ (IZFM 2014). „Ein ca. 80 Gramm schweres Handy hat einen ökologischen Rucksack von 75,3 Kilogramm. Er übersteigt damit das Eigengewicht des Gerätes um fast das Tausendfache“ (IZFM 2014).
Unter den benötigten Materialien befinden sich zudem – wie erwähnt – auch Kupfer und Gold, bei dessen Abbau Böden und/oder Gewässer verseucht werden – oder auch Zinn, für den Regenwälder zerstört werden (vgl. Umwelthelden 2016). „Smartphones… bestehen [außerdem zu einem guten Teil] aus Siliziumwafern, deren Herstellung große Mengen an [oftmals Braunkohleverstromter] Energie und [Trink-]Wasser verbraucht. [Und:] Seit 2007 wurden rund 968 TWh [Terawattstunden] für die Herstellung von Smartphones aufgewandt. Das entspricht nahezu dem Energieverbrauch Indiens für ein ganzes Jahr: Dieser lag 2014 bei 973 TWh“ (Jardim 2017).
So, nun lagern die Bauteile Deines neuen Smartphones in einer Fabrik irgendwo in Südostasien. Damit reißen die unangenehmen Meldungen aber keineswegs ab:
So schlich sich – wie Matthias Fiedler (2017) für den Spiegel herausarbeitete – ein US-amerikanischer Student chinesischer Herkunft namens Dejian Zeng im Auftrag der chinesischen NGO (Non Governmental Organization) Labour Watch in eine Apple-Smartphonefabrik in Shanghai ein. Nach einem 30-sekündigen Vorstellungsgespräch wurde er zu ‚einem von 70.000‘ und schraubte mit einer ‚Frequenz‘ von 23 Sekunden – täglich, 6 Tage die Woche, offiziell 60 Stunden pro Woche, nach eigener Aussage in Wirklichkeit aber unfreiwillig 72 Stunden pro Woche –, also pro Tag 1.800 winzige immer gleiche Schrauben zur Befestigung des Lautsprechers an 1.800 iPhones. „Dafür erhielt er abzüglich der Kosten für Unterkunft und Verpflegung umgerechnet 455 Euro … [pro Monat – die Überstunden wurden schlecht vergütet – doch] der [monatliche] Mindestlohn in Shanghai liegt lediglich bei 2.190 Yuan, 291 Euro“ (Fiedler 2017). Alle zwei Stunden zehn Minuten Pause, Fehler werden in den Pausen nachgearbeitet, er erlebte auch mal neun Arbeitsstunden ohne Essen etc. pp. (vgl. Fiedler 2017)… „Sechs Wochen hielt Zeng durch“ (ebd.) …Soll ich fortfahren?
… vielleicht mit diesem Zitat aus dem Greenpeace-Video „10 Jahre Smartphone“:
„Über 200 Fabrikarbeiter in Südkorea führen ihre lebensbedrohlichen Erkrankungen, einschließlich Krebs, darauf zurück, dass sie bei ihrer Arbeit in den Halbleiterfabriken gefährlichen Chemikalien ausgesetzt sind“ (Jardim 2017).
… und dann sind da noch „dreizehn Beschäftigte des Foxconn-Konzerns, der im Auftrag von Apple produziert“, die sich direkt in der Fabrik „im ersten Halbjahr 2010“ das Leben nahmen, „meist, indem sie sich von oberen Stockwerken der Fabrikgebäude in den Tod stürzten.“ „Die Leute waren verzweifelt, auch wegen der Drangsal ihrer Arbeit: miese Löhne, sechzig Stunden Arbeit pro Woche – oder mehr, Einsamkeit im Firmenwohnheim, keine Aussichten, das zu ändern“ (alle Zitate aus: Koch 2011).
60 Stunden sind die Regelwochenarbeitszeit – und dann bekommt man von „Louis Woo, [der] ein enger Vertrauter des Vorstandschefs von Foxconn [ist]“ (Koch 2011), so einen Satz zu lesen:
„Es ist richtig, dass das chinesische Arbeitsgesetz nur 36 Überstunden pro Monat erlaubt. Wir übernehmen eine Führungsrolle, um dieses Ziel umzusetzen“ (ebd.).
Ein bestehendes Gesetz als Ziel? Hä?
Seither soll einiges passiert sein, die Löhne erhöht, Netze gespannt (!) … was auch immer. An der grundlegenden Problematik, dass nämlich die Arbeitsbedingungen ‚Sweatshop‘-Charakter haben, ändert das ü-ber-haupt nichts. Nur weil von ‚extrem schlimm‘ auf ‚sehr schlimm‘ zurückgefahren wurde, gibt es garantiert keinen Grund Beifall zu klatschen.
Das Stichwort ‚Kinderarbeit‘ taucht auch im Zusammenhang mit der Schlussfertigung von Smartphones auf, so wollte 2014 „der Smartphone-Weltmarktführer Samsung … neuen Vorwürfen zu Kinderarbeit bei einem Zulieferer in China nachgehen“ (taz 2014). Und im November 2017 hören wir davon, dass „in China [Berufsschulen] regelmäßig [3.000 minderjährige] Schüler in die Werke des Apple-Zulieferers Foxconn [schicken]. Dort arbeiten sie für das neue iPhone X länger als erlaubt. Wer sich weigert, riskiert offenbar seinen Abschluss“ (Spiegel 2017).
Ok, ich mach‘ hier einen cut.
Nun sind also alle Schrauben feinsäuberlich verschraubt, alles ist zusammengefügt, alle Produktteile in einen edlen Karton verpackt, mit Prüfsiegel, Zertifikat, Garantieerklärung etc. pp. Nun macht sich Dein Smartphone, wie schon zuvor seine Innereien/Einzelteile, auf die Weltreise und wird an Bord irgendeines Containerschiffs nach Europa, nach Japan oder in die USA verschifft. Lassen wir mal die trostlosen Arbeitsbedingungen auf den Schiffen beiseite: Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass selbstredend auch dieser Transport erneut zum beeindruckenden CO2-Fußabdruck Deines noch nicht mal ausgepackten Smartphones beiträgt.
Der Container wird entladen und landet samt deines Smartphones auf einem Lkw. Nun wird er u.U. tausende Kilometer über Autobahnen zum Großhändler gebracht. Von dort geht es zum Einzelhändler, Du fährst eventuell mit dem SUV vor, um es zu kaufen.
Oder: Es landet bei Amazon o.ä., kommt per Lkw ins Hochlager, wird aus dem Hochlager genommen, zusätzlich verpackt und per DHL, Hermes o.ä. verschickt, sodass es erst ins Postlager und von dort aus per Lastwagen zu Dir transportiert wird, vielleicht bist Du sogar anwesend, sonst fallen für eine weitere Lieferung möglicherweise weitere CO2– und Stickoxid-belastende Wege an.
Diese überlangen Handels- und Produktionsketten inkl. der Vielzahl der Zwischenhändlern und den globalen Transportwegen, die auch dazu führen, dass es sogar unbekannt bleibt, woher konkret ein Konfliktstoff stammt, unterminieren jegliche Eigenverantwortung der Managerinnen und Konsumentinnen. Ich denke, dass das nicht ungewollt ist.
Endlich, endlich ist der Moment gekommen: Nun seid Ihr, Du und Dein very much loved-Smartphone ein smartes ‚Lebensabschnittspaar‘ für ein Jahr, ich hoffe, das Teil fällt weder runter noch wird es geklaut, denn sonst geht – symbolisch gesprochen – der ganze Zirkus im Congo möglicherweise schon wenige Wochen nach Kauf noch mal los, damit Du wieder und erneut ein edles Smartphone in den Händen halten kannst.
—
365 Tage später.
… Viele Deiner Freunde haben Dich seither ungefähr vier Mal gesehen, vielleicht haben sie noch nicht mal mitbekommen, dass Du vor einem Jahr ein neues Gerät erstanden hast… Du warst vielleicht drei Mal im Kino, 20 Mal beim Sport, warst einmal krank, vier Mal besoffen, zwei Mal im Kurzurlaub… noch einmal Blinzeln… und:
Das Jahr ist um.
Dein Mobilfunkanbieter mit seiner tollen ‚Handytauschoption‘ bzw. sein Konkurrent bieten Dir einen frischen Vertrag mit neuen Geiz-ist-so-verdammt-geil-Konditionen mit einem nigelnagelneuen Smartphone als Dreingabe an. ‚Time to Say Goodbye‘ also für Euch zwei Hübschen: Zeit für die Trennung von Tisch, Bett und Gesäßtasche.
…mehr
Schon in den 1950er Jahren nannten Designer diese geplanter Obsolenz durch neu auf den Markt gebrachte Modelle „dynamisches Veralten“: „‚Wir gestalten ein Auto‘, bekennt einer [dieser Designer] freimütig, ‚damit ein Mann mit seinem 1957 Ford unglücklich wird, noch bevor das Jahr 1958 vorbei ist‘“ (Albig 2020, 64).
Für viele Smartphones ist nun der Zeitpunkt gekommen, in irgendwelchen Schubladen zu verschwinden und vor sich hinzugammeln. Mittlerweile werden die im Unterschied zu herkömmlichen Handys ungleich teureren Smartphones durchaus öfter secondhand verkauft – womit sich der weitere Gang der Dinge mal längere, mal kürzere Zeit verzögert –, manche werden verschenkt oder – das kommt vor! – mustergültig recycelt1. Die meisten Handys aber lagern ein paar Jahre in der Schublade und landen dann direkt auf dem Schrott.2
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Aus Lithium-Ionen-Akkus kann „gerade etwas mehr als die Hälfte des Materials zurückgewonnen werden. Vor allem das wertvolle Metall Lithium geht vollständig verloren… Sie bestehen nur zu weniger als zwei Prozent aus Lithium… [Der Fachmann Bernd Friedrich dazu:] ‚Aus Lithium-Ionen-Batterien … wollen wir fünf verschiedene Metalle herausholen. Je geringer deren Anteile sind, desto aufwendiger wird es, sie zu trennen‘“ (Schlak 2019). Ein anderer Aspekt: „124 Millionen funktionierende Althandys liegen [mit Stand 2018] ungenutzt in deutschen Haushalten… Darin sind enthalten: 2,9 Tonnen Gold (Wert: 126 Mio Euro); 30,6 Tonnen Silber (Wert: 16 Mio Euro); 1.116 Tonnen Kupfer (Wert: 4,6 Mio Euro)“ (Fedrich 2020, 66-67).
2 „Wenn es um den neuesten Flachbildschirm-Fernseher oder das schicke Smartphone geht, verlässt viele Deutsche der Natursinn: Kein EU-Land produziert mehr Elektroschrott“ (Zeit 2014): 2010 = 777.000 Tonnen (ebd.), die vom Recycling-System erfasst sind. Die UN schätzen das Gewicht des gesamten jährlichen deutschen Elektroschrotts auf 2 Mio t (vgl. Kopatz 2019, 130). Es soll weltweit 8 Mrd. aktive Mobiltelefone geben – aber nur 3,5 Mrd. derzeit genutzte Zahnbürsten (vgl. Fedrich 2020, 110-111).
Und wo landet der Schrott? To keep a long story short: Oft im Globalen Süden, sehr oft in Afrika. Auf irgendwelchen gigantischen Müllhalden[4], die ganze Landstriche in Ödnis verwandeln und selbige auf Jahrhunderte verseuchen – und auf denen sich die Ärmsten der Armen tummeln und dort nach Elektronikteilen suchen, deren Kunststoffummantelungen sie dann vor Ort anzünden – und Du weißt bestimmt ja aus eigener Erfahrung, wie es riecht, wenn man Gummi, Plastik etc. anzündet … das ist zutiefst gesundheitsschädlich, was da in Augen und Lunge gerät, und auch der Kontakt mit den diversen Metallen, darunter Cobalt, macht: krank.
Apropos 'Müllhalden'
Technikschrott, Wohlstands- und Plastikmüll landet regelmäßig en masse im Globalen Süden: „Etwa eine Million Tonnen, ein Sechstel des gesamten Kunststoffabfalls, verkaufen Firmen wie Alba jährlich ins Ausland. Offiziell werden solche Überbleibsel des deutschen Verpackungswahnsinns nicht als Abfall deklariert, sondern als ‚Rohstoff für die Kunststoffindustrie‘“ (Asendorpf et al. 2018). >> s.a. Aspekt Untertagedeponien in Deutschland, in denen Müll als Bauschutt deklariert eingelagert wird Fußnote S.146.
cc 4.0 by sa: Muntaka Chasant – Young men are pictured burning electrical wires to recover copper at Agbogbloshie, Accra, Ghana on September 2, 2019.
Auf diesen schier endlosen Müllhalden suchen Menschen also nach ‚Wertstoffen‘, und auch hier sind es allzu oft – ein weiteres verstörendes Mal in diesem Abschnitt, quasi jeder Teil des Produktlebenszyklus‘ ist betroffen – Kinder und Jugendliche, die im Elektroschrott möglicherweise auf eines Deiner weggeworfenen Smartphones stoßen und mit dessen Rohstoffen ein paar Cent verdienen, die sie jedoch dazu bringen, auf der Müllhalde zu verbleiben, von der sie langsam aber sicher vergiftet werden.
„Viele Jugendliche leiden unter Kopfschmerzen, Juckreiz, Schwindel und fleckiger Haut. Die Langzeitfolgen sind noch schlimmer, die Dämpfe lassen das Gehirn der Jugendlichen schrumpfen, schädigen Nerven und Nieren – und verursachen Krebs“ (Bojanowski 2011).
Der Kreis hat sich geschlossen. Dein Smartphone ist mehr oder weniger dort angelangt, von wo einige wichtige Stoffe der Bauteile herkamen: Der Grundstoff des Akkus ist nach einer – möglicherweise – nur rund eineinhalbjährigen Reise mehr oder weniger wieder an seinen Ursprungsort (Afrika) zurückgekehrt und macht zum zweiten Mal dort Menschen krank und in jeder Hinsicht das Land bzw. den Kontinent kaputt.
—
Smartphones sind nicht smart.
Das ist kein Argument gar keines zu besitzen. Aber jedes Jahr? Jedes zweite Jahr? Und: Es gibt Alternativen – die niemand in meinem gesamten Umkreis nutzt – z.B. das Shiftphone oder das Fairphone.
Die wahren Ökos unter meinen Freund*innen benutzen lieber i.d.R. noch ältere ‚Krücken‘ als ich.
Soweit ich weiß und sehe, stellen Shift&Fair technisch und funktional absolut ernst zu nehmende Alternativen dar – und auch die Preise fallen generell nicht aus dem Rahmen.
Ich für meinen Teil finde, dass ein Smartphone nichts ist, was man sich aus ‚Spaß an der Freud‘, aus Angabe, aus Status-Gründen oder auch ‚einfach nur, weil man es sich leisten kann‘ oder weil man es sich angeblich ‚verdient‘ hat, ständig und immer wieder, so wie ein Modeaccessoire, kaufen sollte.
Apropos Mode. Es ist doch so in Mode, ‚Respekt‘ zu fordern. Na, prima: Ich fordere Respekt für die Menschen, die für uns ErsteWeltler*innen den Kopf hinhalten bei der Smartphoneproduktion – und das bedeutet, dass das un-smarte Teil verdammt nochmal gehegt und gepflegt und behalten wird, bis es irgendwann aus Altersschwäche auseinanderbröckelt.
… Und das Nächste muss ja nicht unbedingt ein Neues sein…
—
Unsere (Ur-)Großeltern – so geboren vor 1955 – würden auf jeden Fall jeden einzelnen von Euch, der ein funktionierendes Gerät wegwirft oder ‚einfach so‘ ersetzt, für bekloppt erklären… sie wären: entsetzt. Sind nun Deine Großeltern ‚von gestern‘? Was werden Deine Kinder/Enkel*innen über Deine (Ur-) Großeltern denken? Und was werden sie über Dich denken?
Der eigentliche Preis für ein Smartphone bildet sich nicht im Ladenpreis ab. Nicht mal annähernd.
Mir persönlich erscheint dieser zu zahlende Preis zu hoch zu sein.
Wann immer ich mit Menschen, die sich m.E. wenig Kopf um die Produktionsbedingungen ihrer Konsumgüter machen und überhaupt wenig Ahnung von den ungeheuren Zuständen des Globalen Südens haben, spreche, kommt es zum ‚Bonmot von den Arbeitsplätzen in der Dritten Welt‘: „Naja, aber wenn ich das 4-Euro-T-Shirt nicht kaufe, verliert die Näherin in Bangladesch ihren Arbeitsplatz“. So die immer gleiche Leier, anwendbar auf jedes prekäre Produkt der Welt.
Es ist doch eher so:
Jeder Kauf eines 4-Euro-T-Shirts bestätigt und stabilisiert den absolut unhaltbaren Status quo, zu dem es nie hätte kommen dürfen.
Daher gibt m.E. kaum ein unangebrachteres, falscheres Argument als das Argument von den ‚Arbeitsplätzen in der sog. Dritten Welt‘, mit denen ErsteWeltler*innen gerne ihren unreflektierten Konsum rechtfertigen.
Es geht hier um ein strukturelles Problem: Globale Firmen suchen sich die billigste Form der Produktion, nutzen also die aktuellen Welt-Gegebenheiten und die Armut der Welt aus – und wenn die politischen/finanziellen Bedingungen in diesem Land nicht mehr angenehm sind, verlagert man diese ‚Arbeitsplätze‘ (ich mag sie so nicht nennen) in ein anderes Land – futsch sind sie, das geht schneller als einmal Zwinkern – und was hinterlässt man? Blühende Landschaften? Nein, man hinterlässt ein Land in einem sozial desaströsen Zustand; desaströs sicher auch, was die Umwelthinterlassenschaften der Produktion angeht.
Anders ausgedrückt – der Deal lautet: „Ihr gebt Eure gewachsenen sozialen und kulturellen Strukturen auf, wir geben Euch ‚Arbeit‘ und vermeintlich westlichen Glanz, beuten Euer Land und Eure Leute aus, vergiften riesige Areale und Flüsse, ihr schaut nicht so genau hin, wir stützen Eure Oligarchie – und wenn uns das hier zu teuer, aufmüpfig oder dreckig wird, verschwinden wir wieder.“
Das ist er, der Dreisatz von Abhängigkeit, Ausbeutung und Umweltzerstörung.
Übrigens: Deine Regierung weiß das alles ganz genau. Und tut nichts. Du könntest sie daran erinnern.
Noch einmal das Intro mit dem Aspekt Nicht-Veränderung wäre Ihnen recht?, S.30, aufgreifend…
Die BWL-Professorin Evi Hartmann geht hier noch einen Schritt weiter. Sie stellt uns ErsteWeltler*innen – jeder/jedem von uns – die Frage: „Wie viele Sklaven halten Sie?“
Im Interview erläutert Hartmann den Titel ihres Buches mit den Worten:
„Wie soll ich das sonst nennen, wenn jemand für 50 Cent am Tag, 14 Stunden lang bei einer Bullenhitze von 60 Grad, ein günstiges T-Shirt für mich näht? Wir alle halten Sklaven – ich eingeschlossen. Nachdem 2013 die Textilfabrik in Sabhar in Bangladesch einstürzte, bin ich die Frage nicht mehr losgeworden, wie etwas so Schreckliches passieren kann – und bei mir und in meinem Umfeld ändert sich nichts. Wir kaufen weiter ein wie bisher. Das hat mich erschreckt“ (Utopia 2016).
Nun, kurz innehalten – ‚machen wir uns ehrlich‘: Ich glaube nicht, dass Eva Hartmanns Ansicht diskutabel ist. Die Frau hat einfach recht. Und wir sollten alle so fair sein, uns das einzugestehen.
Das alles bedeutet letztlich eines: Wir sind seit den prekären Arbeitsbedingungen des Frühkapitalismus‘ nicht wirklich vorangekommen. Im 18./19. Jahrhundert war es so, dass die alten sozialen Gefüge Europas durch die industrielle Revolution bedingte Umwälzung der Arbeitswelt. Die vom Land in die Städte ziehenden, aus ihren sozialen Kontexten herausgelösten Menschen waren ‚leichte Beute‘ für die prekären städtischen Fabrik-Jobs kaputtgingen.
Diese Art von Arbeitsplätzen, diese billige Arbeit gibt es auch im 21. Jahrhundert immer noch – nur dass diese Jobs eben nicht mehr in London oder Westeuropa zu finden sind, sondern vorrangig im Globalen Süden. Und auch hier wurden zunächst die alten sozialen Strukturen zerstört – zum Beispiel durch billige Exportwaren, die die Preise und damit die heimischen Märkte kaputt machten –, sodass die westlichen Firmen mit ihren outgesourcten Sweatshop-Jobs ein leichtes Spiel haben. Und dort veranlassen sie dann all das, was sie in Europa etc. längst nicht mehr dürfen, weder hinsichtlich der Arbeitsbedingungen noch hinsichtlich der Umwelt. Das ist Absicht, das hat System – und wir Profiteure der Industrienationen schauen zu bzw. weg.
>> Auf https://slaveryfootprint.org/ erfährst Du mehr über ‚moderne Sklaverei‘ – und kannst zudem berechnen, wie viele Menschen Du letztlich als Sklaven hältst. (Klingt harsch, oder? Die vorgenannte Wissenschaftlerin Evi Hartmann hat es gemacht und ist auf 60 gekommen, vgl. Utopia 2016); vgl. Fußnote auf S. 644.
Auf ganz andere Weise krass:
Gute Nachrichten für Alle die vor lauter Wohlstand nicht mehr wissen, wohin mit ihrer Langeweile und mit ihrem Geld: Jetzt gibt es einen wunderbaren ‚Thron fürs Handy‘ – konkret meine ich den
„Handy-Sitzsack mit Ankerdesign mint – 100% Bio-Baumwolle“.
Für das Smartphone nur das Beste!Da freut sich aber der jugendliche kongolesische Minenschürfer, dass es seinen im Todesstollen geschürften Rohstoffen gut geht.
Wenn ich all die vorgenannten Fakten und Zusammenhänge in meine Überlegungen mit einbeziehe, verschlägt es mir die Sprache, wie unglaublich anmaßend es ist, Smartphones über die ‚geplante Obsolenz‘ hinausgehend zunehmend auch noch so zu bauen, dass der Akku nicht entfernt werden kann und die Geräte vielfach nicht mal mehr reparierbar sind.
Über die Arroganz, die es bedeutet, ein funktionierendes Smartphone nach einem Jahr zu verschrotten, brauche ich mich wohl nicht mehr weiter zu äußern.
Der Umweltaktivist und ‚Entschleuniger‘ Douglas Tompkins erklärte in Florian Opitz‘ äußerst sehenswerten Film bzw. lesenswertem Buch ‚Speed – auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ (2012) im Zusammenhang mit Hightechgeräten wie z.B. Smartphones, dass wir für diese Geräte eben den gesamten globalen industriellen Komplex benötigen, der die Welt zerstört (vgl. S. 206), und weiter:
„Hier. Der Computer. Eine Massenvernichtungswaffe. Er zerstört die Umwelt in gigantischem Ausmaß. Er beschleunigt die Wirtschaft. Die ist allein in den letzten 25 Jahren um fünfhundert Prozent gewachsen. Ein unglaubliches Wachstum. Und mit welchen Konsequenzen? Immer weniger Fische im Meer. Die Erde ist ausgelaugt. Der Wald verschwindet, Wasser ist knapp und verseucht. Das Klima hat sich verändert. Diese fünf Sachen hätten wir nie hinbekommen, zumindest nicht so schnell und in diesem Ausmaß, wenn wir dieses Ding nicht hätten“ (Opitz 2012, S. 220-221).
Beim ersten Sehen der Film-Doku fand ich, dass Tompkins witzig pointierend ein wenig übertreibt.
Das finde ich jetzt: nicht mehr.
Und wie gesagt: Ein Smartphone ist ein kleiner Computer – und wer Zweifel hat, bedenke: das Teil kann mehr als die meisten vollwertigen PCs vor zehn, fünfzehn Jahren.
2,5 min – Willkommen in der Kobaltmine #browserballett #elektroauto #kobaltmine
Und das bedeutet auch, dass quasi alles, was in diesem Text beschrieben wurde auch für Laptops und Tablets gilt – nur dass diese beiden Gerätetypen hoffentlich seltener bereits nach einem Jahr weggekickt werden.
Und es gilt auch für die Akkuspeicher von E-Autos, vgl. Abschnitt Autoindustrie und die E-Mobilität, S. 326f.
Nein, Dein Smartphone ist nicht smart. Es ist nach meiner Wahrnehmung und auf den Punkt gebracht vielmehr das Symbol einer globalen desaströsen Entwicklung mit der fatalen Ausbeutung der Menschen des Globalen Südens und ihrer Umwelt durch die von uns so verehrten, kaum Steuern zahlenden transnationalen Erfolgsunternehmen.
Ich finde, man sollte sich zweimal überlegen, ob man vor lauter Bewunderung für ein neues Shareholder-Value-Ekelkapitalismus-Edelprodukt nachts vor einen ‚Flagstore‘ übernachtet, um am nächsten Morgen bei Ladenöffnung eine*r der ersten zu sein, die/der sich Blut und Leid an die Hände schmiert. Sorry, am Ende dieses Abschnitts gerate jetzt auch ich an meinen Grenzen, daher haue ich gleich noch einen raus:
Mein Schlussgedanke:
Früher haben Sklaven Handlangerdienste erledigt. Heute gibt es Sklavenarbeit, um Geräte herzustellen, die Handlangerdienste erledigen. Krass? Ja. Überspitzt? Ja. Falsch? Nein.
>> Diese Geräte werden zutreffend auch als ‚Energiesklaven‘ bezeichnet.
—
Die in diesem Abschnitt beschriebenen Arbeitsbedingungen treffen letztlich auf sämtliche Sweatshops der Welt zu – ein wenig angepasst an die Branche hier, ein wenig angepasst an das Land dort – aber insgesamt läuft das so wie hier beschrieben.
Dazu einige Updates aus der Zeit nach der Niederschrift dieses Abschnitts:
Update 12.6.2019 mit einem Zitat aus der Zeit:
„Alle Menschen, die ein Mobilfunktelefon benutzen, … wissen, dass dafür Kinder misshandelt und ausgebeutet werden. … Unicef meldet, dass 40.000 Kinder in den Minen im Süden des Kongo arbeiten. … Laut Amnesty International wird die Hälfte des Kobalts auf dem Weltmarkt von Kindern im Kongo abgebaut. Dieser Rohstoff landet in deutschen Autos von BMW und Daimler, in Handys von Apple, Sony, Samsung und Microsoft. Gibt es irgendeinen Deutschen, der angesichts dieser Tatsache auf sein Telefon verzichten würde? Natürlich nicht“ (Kiyak 2019).
Update 1.10.2019:
Klaus Töpfer, der ehemalige Umweltminister (CDU) erwähnt über eine Mülldeponie in Nairobi:
„[W]enige Tage zuvor [wurden] Männer ermordet …, die versucht hatten, eine Art Genossenschaft für die Vermarktung dieser Fundstücke aufzubauen, um die Preise gegenüber den monopolistischen Zwischenhändlern erhöhen zu können. Damals habe ich intensiv gespürt, in was für einem Teufelskreis diese Menschen gefangen sind“ (Haberl 2019).
Update 22.11.2019:
Die Geschichten rund um die Arbeitsbedingungen im Globalen Süden inkl. China gleichen sich, es ist fast schon langweilig, darüber zu schreiben – ohje, ich werde zynisch… – Nein, liebe*r Ottonormalverbraucher*in, es sind keine Einzelfälle, es hat System und ist systemisch – denn nur durch genau diese Arbeitsbedingungen können wir unsere Smartphones etc. so billig ‚holen‘:
So berichtet die Zeit über eine neue Undercover-Studie in chinesischen Spielzeugfabriken, die für
„Disney, Mattel, Lego und Hasbro fertigen… 126 Überstunden pro Monat… Sozialversicherungsbeiträge nicht gezahlt … Arbeiterinnen und Arbeiter … müssten ihre Kinder bei Verwandten auf dem Land zurücklassen … teilweise würden bis zu 15 Arbeiter zum Schlafen in ein Zimmer gepfercht … vorgeschriebene Sicherheitstrainings fehlen … Arbeiterinnen werden laut des Reports häufig beschimpft, sexuell belästigt… [D]ie Initiative [kommt] zu dem Ergebnis, dass sich an den Arbeitsbedingungen [seit dem ersten Bericht von 2001] ‚erschreckenderweise wenig geändert‘ habe“ (Geil 2019).
Der Spiegel ergänzt in dem 2018er Artikel „In der Spielzeughölle“ über das gleiche Thema:
„Erst wurde ihr Personalausweis abgenommen, dann unterschrieb sie einen Arbeitsvertrag, in dem zwar das Datum fehlte, sie aber ‚freiwillig‘ Überstunden akzeptierte, um ihren Lohn aufzubessern … Inklusive der Wochenendearbeit kommen Lovable-Arbeiter auf bis zu 104 Überstunden pro Monat. Bei Wah Tung sind es sogar bis zu 175 Stunden Mehrarbeit, obwohl das chinesische Arbeitsrecht höchstens 36 Überstunden im Monat erlaubt … Drei von vier Spielsachen, die ein Kind irgendwo in der Welt bekommt, stammen mittlerweile aus China …“ (Klawitter 2018, 72-73).
>> vgl. auch Arbeitsbedingungen auf Kreuzfahrtschiffen, Aspekt Kreuzfahrten und Ethik: Für eine Handvoll Dollar., S. 292ff.
Selbst in der Fahrradbranche geht es rau zu; die meisten nach Deutschland importierten Fahrradrahmen stammen gemäß einem Zeit-Artikel (2019) von Zacharias Zacharakis aus Kambodscha1:
„‚Das Schlimmste ist der ständige Druck durch die Produktionsvorgaben‘, sagt [Sok, ein Schweißer in der Fabrik von A&J]… 50 [Fahrrad-]Rahmen in der Stunde müsse sein Team produzieren, was bei schwierigen Konstruktionen einfach nicht zu schaffen sei. ‚Wenn wir dann nur 30 Rahmen fertig haben, schulden wir der Fabrik noch 20‘, sagt er. Das müsse sein Team nachholen, indem es noch weniger Pausen mache. Oft sei das aber unmöglich. ‚Wir hängen ständig hinterher und haben nicht einmal Zeit, auf die Toilette zu gehen. Das ist Arbeit bis zur totalen Erschöpfung‘, sagt Sok. A&J gewähre am Mittag nur eine 50-minütige Pause.“
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Ganz interessant: „Als eines von 49 Ländern der Welt, die als besonders arm gelten, darf Kambodscha seit 2001 alle Waren – ausgenommen sind nur Waffen – zollfrei in die EU einführen“ (Zacharakis 2019).
>> Nach Niederschrift dieses Beitrags ist die Kino-Doku Welcome to Sodom – Dein Smartphone ist schon hier herausgekommen. Hier geht es um die ‚Sodom‘ genannte Elektroschrott-Halde in Ghana, auf der rund 6.000 Menschen ‚leben‘, siehe: Weigensamer, Florian u. Krönes, Christian (2018): Welcome to Sodom – Dein Smartphone ist schon hier. Film-Doku.
Quellen des Abschnitts Klimagerechtigkeit ('Climate Justice') - und der 'globale Süden'
AI (2016a): „‚This is what we die for‘. Human rights abuses in the Democratic Republic of the Congo power the global trade in Cobalt“. in: Amnesty International, online unter https://www.amnesty.org/en/documents/afr62/3183/2016/en/ (Abrufdatum 8.3.2018)
König, Lisa (2017): „Heute in Hamburg: Elektroautos sind schwach nachhaltig’“. in: tageszeitung 2./3. Oktober 2017, S. 24.
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Kreidler, Corinna (2019). [Leserbrief von Corinna Kreidler, abgedruckt] in: Die Zeit, Nr. 43/2019, 17.10.2019, S. 20 in Bezug auf den Artikel: Bernd Ulrich „Grün ist schön, macht aber viel Arbeit“ aus der Zeit Nr. 41.
Marx, Karl u. Engels, Friedrich (1847/48): „Manifest der Kommunistischen Partei“. in: dies., Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 4, Berlin (Ost) 1959, S. 459-493, hier S. 465f.
Maxton, Graeme (2020): Globaler Klimanotstand. Warum unser demokratisches System an seine Grenzen stößt. Komplett-Media.
Neubauer, Luisa u. Repenning, Philip (2019): Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft. Tropen.
Obert, Michael (2011): „Rohstoffe. Die dunkle Seite der digitalen Welt“. in: Die Zeit, 5.1.2011, online unter http://www.zeit.de/2011/02/Kongo-Rohstoffe (Abrufdatum 8.3.2018)
Opitz, Florian (2012): Speed – auf der Suche nach der verlorenen Zeit. DVD-Doku, gleichnamiges Buch. Goldmann.
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. München: Beck. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage.
Vielhaus, Chris (2020): „Die Männer schulden den Frauen etwas: 10 Billionen Euro“. in: Perspective Daily, 24.1.2020, online unter https://perspective-daily.de/article/1108/wjorPhRB (Abrufdatum 24.1.2020) [paywall]
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2017): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 23-24.
Welzer, Harald (2016): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer.
„Wir sind die Fluchtursache, nicht die Afrikaner, die zu uns kommen.“ (Franz Alt)1
Konfliktpotenziale der Klimakrise: Armut, Klimakriege, ‚Natur‘-Katastrophen, Flucht
Zuerst trifft es immer die Armen.
… und da reicht schon eine Missernte.
In Deutschland würde in einem solchen Fall die Regierung die entsprechenden Erzeugnisse von außen dazukaufen, also importieren. (Das was importiert wird, fehlt evtl. an andere Stelle!)
Im gleichen Fall würde sich in sog. Failed States (Staaten mit einer unzureichenden oder gar keiner Grundordnung) die Missernte u.U. umgehend zu einer Hungerkatastrophe ausweiten.
Und derartige Versorgungsengpässe können sich zu einem sog. Klimakrieg ausweiten.
Auch „[d]er Krieg in Syrien hat für viele seine Ursache in der Dürreperiode1 [, die laut Rahmstorf ‚wahrscheinlich eine Folge der globalen Erwärmung war‘], die dem Kriegsausbruch vorausging. Sie führte dazu, dass viele Menschen vom Land in die Städte gehen mussten. Statt das mit Hilfeleistungen vor Ort zu verhindern, reagierte das Assad-Regime mit Kürzungen der Unterstützungsleistungen, was die Rebellionsbereitschaft – wir befinden uns in der Zeit der um sich greifenden ‚Arabellion‘ – heftig schürte“ (Welzer 2018, Rahmstorf 2015).
Welzer führt weiter aus, dass der ‚Arabellion‚ „drastisch gestiegene Lebensmittelpreise vorausgegangen [waren], und die hatten wiederum mit Umweltereignissen zu tun“ (ebd.).
Die Tatsache, dass klimakrisenbedingte Katastrophen vorrangig die Ärmeren trifft, trifft selbstredend auch in Industrieländern zu: Der Hurrikan Katrina (2015) traf in New Orleans vor allem die ärmere Bevölkerungsteile, die in den niedriggelegeneren Stadtteilen lebte – und bis heute lassen die Wiederaufbaumaßnahmen zu wünschen übrig (vgl. Welzer 2018).
>> vgl. auch die Situation in Jakarta, wo die ärmeren Menschen teils ‚illegal‘ direkt an der Küste wohnen, während die Wohlhabenden in den höher gelegen Regionen leben (vgl. Aders 2018a).2
In der Sahelzone wirkt die Klimakrise wie ein Brandbeschleuniger auf ohnehin bestehende Konflikte in einer ohnehin unwirtlichen Umgebung: Der Spiegel zitiert den nigerianischen Tschadsee-Fischer Nassiru Husseini:
„‚Boko Haram3 und der Klimawandel… marschieren Seite an Seite, sie machen sich gegenseitig stärker. Viele Leute treten ihnen bei, weil sie Hunger haben, weil sie arm sind…‘. Die Beweggründe derer, die der Gruppe beitreten… seien immer die gleichen: ‚Armut, Klima, Wut, Geld‘“ (zit. in Schaap 2020, 86).
Es fragt sich, wie reibungslos die Katastrophenhilfe im Falle einer Klimakrise-beförderten ‚Natur‘-Katastrophe abläuft – und welche Bevölkerungsgruppen bzw. Stadtteile die Hilfe zuerst erreicht.
In New York City jedenfalls hat das bei den heftigen Wassereinbrüchen in ganze Stadtviertel in Zuge des Hurricane „Sandy“ (2012) für die ärmere Bevölkerung bzw. die ärmeren Stadtviertel so gar nicht geklappt – hier ist u.a. die medizinische Versorgung weitgehend zusammengebrochen (vgl. Klein/Lewis 2015, ab ca. Min 20).
Allgemein wird in den USA immer wieder ‚Umweltrassismus‘ beklagt – so wurden/werden „Sondermülldeponien vor allem in Gegenden gebaut…, in denen die ärmere Bevölkerung und Schwarze, Indigene und Latino lebten… Die Gefahr, in den USA an den Folgen von Luftverschmutzung zu sterben, … [ist] für Schwarze drei Mal höher… [Auch] die Flint-Wasserkrise, [bei der bleiverseuchtes Wasser den Bürger*innen in die Trinkwasserleitungen gepumpt wurde,] traf eine überwiegend schwarze Gemeinden in den USA“ (Dziedzic 2019).4
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 „Der Nordosten Syriens gehörte zu den landwirtschaftlich ertragreichsten Regionen des Nahen Ostens. Von 2006 bis 2010 herrschte dort jedoch eine der verheerendsten Dürren seit Beginn der Wetteraufzeichnungen… In den letzten 20 Jahren waren die Winter sehr viel trockener als in den 80 Jahren davor“ (Fröhlich 2019).
2 Interessanterweise trifft das auch auf die Situation in Hamburg zu, vgl. Blankenese/Nienstedten >> Veddel/Wilhelmsburg.
3 „Boko Haram ist eine islamistische terroristische Gruppierung im Norden Nigerias, die auch in den Anrainerstaaten Tschad, Niger und Kamerun aktiv ist“ (wikipedia 2020).
4 Im Frühjahr 2020 lag das Risiko für Covid-19-infizierte Afroamerikaner*innen in den USA zu sterben gemäß der demokratischen afroamerikanischen Bürgermeisterin von Chicago, Lorie Lightfoot, sieben Mal höher „als für jede andere Bevölkerungsgruppe“ (Havertz 2020).
Klimaflüchtende
Schon ein verändertes Niederschlagsregime kann grundsätzlich ausreichen, um höchste Not auszulösen:
2017 mussten „allein 900.000 Afrikaner ihren Grund und Boden aufgeben“ (Welzer 2018).1
… womit diese Menschen heimatlos werden und ins nächste Dorf gehen, von dort in die nächste Stadt, von dort in die Hauptstadt oder in eine Stadt im Grenzgebiet des Nachbarlandes in den Slum gehen – das passiert überall in Afrika an den Rändern der Sahelzone – und einige wenige der vielen machen sich dann auf den Weg nach Europa, von denen es manche bis über das Mittelmeer schaffen (vgl. Aders 2018a).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die Bemerkung des Ältesten der im Tschad gelegenen Tschadsee-Insel Dabourom, Chief Abdoulayi, demzufolge nicht zu wenig Regen das eigentliche Problem ist, sondern: „Wir wissen nicht mehr, wann wir pflanzen sollen. Der Regen [bzw. das Wetter] ist unberechenbar“ (Schaap 2020, 84).
Der Mitautor des Atlas der Umweltmigration, François Gemenne auf der Klimakonferenz in Bonn 2017 über den Globalen Süden:
„‚Das ist die Region der Welt, die am stärksten leidet, es ist eine extrem verletzliche Zone’… Die Auswirkungen seien besonders gravierend, denn ‚dort ist der größte Teil der Weltbevölkerung konzentriert‘“ (Aders 2018b).
Allgemein gilt:
Nicht nur global, sondern „[a]uch innerhalb eines Landes sind Menschen unterschiedlich stark von der Klimakrise betroffen. Das gilt auch für ihre Fluchtmöglichkeiten. Während ärmere Anwohner*innen seltener und über kürzere Distanz migrieren, verlassen Wohlhabendere die Region häufiger und ziehen weiter weg“ (Schöningh 2020, 3).
>> Im Umkehrschluss glauben viele Vermögende (insbesondere der Industriestaaten), der Biodiversitäts- und Klimakrise weitgehend entkommen zu können. Es mag sein, dass sie sich da ein Weilchen länger als Andere raus lavieren können – aber das Ende der Zivilisation würde sie letztlich genauso treffen. Ihr Geld wird nichts mehr wert sein, ihr Besitz nicht mehr durch einen Rechtsstaat geschützt.
Die Klimaforscherin Friederike Otto hebt indes hervor, dass laut einer im Mai 2017 veröffentlichten Studie der Uni Hamburg und Greenpeace der Klimawandel bislang i.d.R. nicht die alleinige maßgebliche Fluchtursache ist:
„Lösten Wetterextreme Naturkatastrophen aus, flohen die Menschen nur dann, wenn auch andere politische und soziale Faktoren mit hineinspielten“ (Otto 2019, 150).
Sicher ist ein sich veränderndes Klima nicht notwendig und stets die alleinige Fluchtursache, aber die grundlegende Feststellung ist, dass die Biodiversitäts- und Klimakrise ohnehin bestehende Konflikte, Probleme und strukturelle Ungleichheiten weiter verschärft.
Tatsächlich werden schon jetzt vielen Menschen die Lebensgrundlagen fundamental entzogen:
So ist bspw. in bestimmten Regionen im Polarkreis das althergebracht-traditionelle Leben nicht mehr möglich. So berichtet die Film-Doku ThuleTuvalu (2015) über einen der nördlichsten überhaupt bewohnten Orte namens Thule bzw. Qaanaaq – so der grönländische Name:
„Die Phasen, in denen die Jäger von Qaanaaq auf dem Eis jagen können, werden immer kürzer: Vor 15 Jahren [d.h. um das Jahr 2000] gab es noch während neun Monaten stabiles Eis, 2012 waren es nur noch knapp sechs Monate“ (Gunten 2015).
Über die Nordpolarregion nördlich von Spitzbergen und betreffend die russische Halbinsel Jamal hält Fred Langer in einem Multimedia-Dossier, „Der neue Ozean“ getitelt, für Geo fest:
„Das Eis, auf dem sich die Robben aufgehalten haben und auf welchen die Jäger sie erbeuten konnten, ist weithin verschwunden. Oder es ist zu dünn für die Hundeschlitten, aber noch zu dick für die Boote…. Und ein neues, gefürchtetes Phänomen bricht mit den steigenden Temperaturen über die Arktis herein: Regen. Der Regen gefriert am Boden und bildet einen Eispanzer, der die ohnehin spärliche Vegetation für die Rentiere unerreichbar macht. Es hab schon Jahre, in denen verhungerten sie zu Zehntausenden“ (2019).
Der SZ-Journalist Alex Rühle berichtet:
„[A]n der Westküste Alaskas… zieht gerade das Dorf Newtok um, weil dort … der Permafrost einbricht wie morscher Dielenboden, die Küstenlinie verschiebt sich, die Häuser bekommen Risse, jedes Jahr fällt mehr ins Meer. 187 Inuit-Dörfern droht das gleiche Schicksal… Kabeljau und Schellfisch verlagern ihren Schwerpunkt Jahr für Jahr 160 Kilometer weiter nördlich“ (2020).
Und bzgl. der Koralleninseln wie z.B. Kribati ist festzuhalten:
The central pacific island of Tarawa in Kiribati. | CC 3.0 by: Government of Kiribati
Lange bevor Koralleninseln physisch ‚untergehen‘, sind sie längst unbewohnbar.
Eine Koralleninsel ist i.d.R. unbewohnbar ab dem Moment, in dem die Brunnen, die gleichfalls Trinkwasser beinhaltenden Binnenseen und/oder die wenigen Ackerflächen unwiderruflich versalzen sind, sei es durch Überschwemmungen, sei es durch Unterspülung.
Die klimabedingte Emigration von Südseebewohner*innen hat längst begonnen.
Z.B. nach Neuseeland oder auch auf das von Kiribati (gesprochen: kir-ah-bahss) erworbene Land auf den Fidschi-Inseln (vgl. Kino-Dokus ThuleTuvalu und Anote’s Ark: Gunten 2015 u. Rytz 2018 u. CBS 2017a).
Exkurs absurd: Was haben das russische Zarenreich und Kiribati gemeinsam?
Nichts. Sollte man meinen.
Zynisch könnte man sagen: Das eine Reich ist vor 100 Jahren untergegangen, Kiribati (gesprochen: kir-ah-bahss) wird ihm im wahrsten Sinne des Wortes in 30 bis 50 Jahren folgen (vgl. Weltbank 2016). Schon jetzt versalzen die Süßwasserbrunnen und Felder – und noch in diesem Jahrhundert werden die Inseln von der Landkarte verschwunden sein (vgl. Rytz 2018).
Doch tatsächlich wollte im Jahre 2017 der „Vorsitzende der russischen Monarchistenpartei [Anton Bakow] … auf drei der Inseln [des Atolls Kiribati – Malden, Starbuck und Millennium = 64 Quadratkilometer] die Regentschaft der Romanows wiederbeleben – pünktlich zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution. ‚Mein Ziel ist es, [mittels eines entfernten Verwandten von Zar Alexander II.] den Status der Romanow-Dynastie wiederherzustellen, der 1917 verloren gegangen ist‘, sagt der 51-Jährige“ (Welt 2017).
Wie kommt man auf solche Ideen?
Nun, ‚Klimakrise‘ bedeutet weit mehr als einen Temperaturanstieg. Er bedeutet soziale Verwerfungen, Wüstenbildung, Land unter, Kopf in den Sand, der 45. US-Präsident als Bollwerk gegen notwendige Konsumismus-Veränderungen, Klimaflüchtende, Völkerwanderungen, Armut, Abhängigkeiten, Perspektivlosigkeiten, Zukunftsängste, Kriege z.B. um Wasser etc. pp.
Und natürlich wird es immer Nutznießer geben, denen die Not der Anderen nicht unwillkommen ist. Die Regierung von Kiribati hätte einem solchen Vorschlag wie dem obigen mutmaßlich keine drei Minuten zugehört, steckte sie nicht wortwörtlich in einem Überlebenskampf für ihre Bevölkerung, ihr Land, ihre Kultur und ihre Identität.
Anote Tong, ehemaliger Präsident von Kribati, 2012: „In Kiribati sprechen wir nicht über Wirtschaftswachstum oder über Lebensniveau. Bei uns geht es ums Überleben.“ (zit. in Klimaretter 2012)
Doch ‚Ertrinkende‘ müssen bekanntlich nach jedem Strohhalm greifen. Wenn nun also jemand einem klitzekleinen und bedrohten Staat 120 Mio US-Dollar für drei kleine unbewohnte Inseln bietet (von der eine der Inseln eher ungastlich ist, nachdem sie in den 1950ern durch die Kolonialmacht Großbritannien mit drei Wasserstoffbomben eingedeckt wurde (vgl. wikipedia 2018)) und darüber hinaus 230 Mio US-Dollar an Investments in Aussicht stellt, dann hört man eben länger als drei Minuten zu (Zahlen vgl. Welt 2017).
Zumal niemand in Kiribati so recht weiß, wie es weitergehen soll. Hatte der emsige, weltweit für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit eintretende, 2016 abgetretene Präsident Anote Tong noch zwecks künftiger Umsiedelungen Land auf den Fidschi-Inseln gekauft, träumt der amtierende Präsident Taneti Mamau von einem neuen Dubai mit aufgeschütteten Inseln mit Ressorts für 5-Sterne-Touristen (vgl. CBS 2017b).
Nun, die Auferstehung des Zarenreiches wird nicht in Kiribati stattfinden – der Vorschlag wurde letztlich abgelehnt (Radio NZ 2017) – man will offensichtlich etwas ähnliches, nur ohne Zar, mit anderen Partnern durchziehen.
Wohin nun also mit der Monarchie? Zuverlässige Quellen besagen, das im südlichen Teil der Erde bald ein ganzer Kontinent freischmelzen wird. Die Temperaturen dürften durchaus denen Sibiriens ähneln… Ideal.
>> Empfehlung: Rytz, Matthieu (2018): Anote’s Ark. (deutscher schlechtgewählter Verleihtitel: Weltuntergang – Wie Kiribati im Meer versinkt), siehe http://www.anotesark.com/ (Abrufdatum 5.10.2018) >> Es ist nicht das einzige merkwürdige Kaufangebot in letzter Zeit: Der ehemalige US-Präsident wollte 2019 gern Dänemark einen Scheck ausstellen, um Grönland zu erwerben, wohl um an die dortigen, reichhaltig vorhandenen Bodenschätze mit Uran und seltenen Erden zu kommen (vgl. Wolff 2021, 9 u. Luther 2019).
Zurück zum Befund, dass die klimabedingte Emigration von Südseebewohner*innen längst begonnen hat:
Und selbst wenn Klima zurzeit noch nicht die Hauptursache von forced migration ist, sind mehr Flüchtende auf der Welt unterwegs denn je – und das hängt zumindest auch mit Umwelt- und Klimafragen zusammen:
„Ende 2018 lag die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht waren, bei 70,8 Millionen. Im Vergleich dazu waren es Ende 2016 65,6 Millionen Menschen. … 84 Prozent der Flüchtlinge leben nach wie vor in Entwicklungsländern“ (UNHCR 2019).
Wichtig ist, hervorzuheben, dass wir Menschen in Europa von den meisten Flüchtenden derzeit schlicht nichts mitbekommen.
Ein prägnantes Beispiel für unsere Unkenntnis bietet dafür das Schicksal der Nomadenvölker im Himalaya, das der Dokumentarfilm Der zerbrochene Mond aus dem Jahr 2010 (!) beleuchtet.
Hier wird hervorgehoben, dass
Haut- und Augenkrankheiten unter den Bedingungen der Erderwärmung inkl. verändertem Sonnen- und (Nicht-)Niederschlagsregime zunehmen,
die unwirtlichen Lebensbedingungen durch forcierte Trockenheit nunmehr lebensfeindlich sind (u.a. weil die Tiere kein Weideland mehr vorfinden) und demzufolge
schon 2010 (!) mehr als 80% der Nomaden ihr traditionelles Leben hinter sich gelassen haben, in die Städte gegangen sind und dort als Flüchtende i.d.R. ein Schattendasein am Straßenrand führen (Rangel/Negrão 2010).
„3 Milliarden Menschen, rund 40% der Weltbevölkerung hängen von den [oft als ‚Wasserturm Asiens‘ bezeichneten] Gletschern und Flüssen des Himalajas als Nahrungslieferant ab… 1,9 Milliarden Menschen, die im Flusseinzugsgebiet des Himalajagebirges leben, profitieren von seinen Ressourcen wie Wasser“ (Gonstalla 2019, 69, vgl. Mihatsch 2017 u. Eichhorn 2019, 12).
Der Ganges hat seine Quellen: im Himalaya
Der Indus – der größte Fluss des indischen Subkontinents – hat seine Quellen: im Himalaya
Der Dalai Lama:
„Das Hochland von Tibet ist nunmal das größte Wasserreservoir der Welt. Dort entspringen die zehngrößten Flüsse Asien, darunter Ganges, Brahmaputra, Indus, Suthej, Irrawaddy, Salween, Gelber Fluss, Yangtse und Mekong. An deren Ufern lebt ein Fünftel der Weltbevölkerung. Ohne Wasser gibt es kein Leben“ (zit. in Alt 2020, 45).
Maxton erwähnt, dass
„[i]n Indien … 2019 über 600 Millionen Menschen unter der anhaltenden Dürre [litten], mehreren Städten ging das Wasser aus. In den frühen 2020er-Jahren werden über 20 indische Städte kein Grundwasser mehr haben, unter anderem Chennai und die Hauptstadt Neu-Dehli. Im Jahr 2030 werden 40 Prozent der indischen Bevölkerung komplett ohne Wasserversorgung sein“ (2020, 38).
Diese Zahlen kommen zustande, obwohl der Himalaya zu dieser Zeit noch Gletscherwasser liefert. Hier bahnt sich eine menschengemachte Tragödie an.
Auch von sog. Binnenflüchtenden erfahren wir i.d.R. nur, wenn sich in der betreffenden Region sich die Situation zur medial wahrgenommenen Katastrophe auswächst:
Das Internal Displacement Monitoring Centre (iDMC) summiert mit Stand 31.12.2019 die Zahl der Binnenflüchtenden auf 50,8 Mio Menschen, davon flohen 5,1 Mio aufgrund von Naturkatastrophen:
„There were 50.8 million internally displaced people across the world at the end of 2019, 45.7 million as a result of conflict and violence, and 5.1 million as a result of disasters [in 95 countries]. The latter is the first ever global estimate for disasters.“ (iDMC 2020)
Apropos Binnenflüchtende: Benjamin Schraven vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik hält fest:
„Eine Formel ‚Je mehr Klimawandel, desto mehr Migration‘ lässt sich … nicht so einfach aufstellen, weil für viele Menschen in den Entwicklungsländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas nicht Migration die schlimmste Folge der Erderwärmung ist, sondern das Gegenteil davon: Immobilität. [Die am meisten Betroffenen sind die Ärmsten der Armen: Vielen fehlen] die notwendigen Ressourcen …, um überhaupt irgendwohin migrieren zu können. Aber auch der Klimawandel kann ihnen diese Ressourcen rauben … [Man spricht von] gefangenen Bevölkerungsgruppen… Etwas überspitzt und zynisch ausgedrückt: Wer vor Klimafolgen fliehen muss, kommt meist nicht weit“ (Schraven 2020).
Der deutsche Klimaschutzbericht 2018 prognostiziert, dass die Bedeutung des Faktors ‚Klimakrise‘ als maßgebliche Fluchtursache künftig weiter und deutlich zunehmen wird:
„Die mit dem Klimawandel einhergehenden Veränderungen bedrohen mit Extremwetterereignissen wie Dürren, Überschwemmungen, Stürmen und Hitzewellen heute schon ganze Regionen und werden künftig voraussichtlich eine der bedeutendsten Fluchtursachen sein“ (BMU 2018).
ca. 2 min – Apropos „Wenn das Wasser kommt“ – Trailer zu ‚Klima-Monologe‘, 2021 – Konzept: Authentische (lange) Interviews verdichtet zu kurzen aber dann umso intensiveren, von Schauspieler*innen vorgetragenen Monologen. Wow!
Relevant und wichtig ist des Weiteren, dass „[s]chon heute [… in den Küstenregionen] laut dem [IPCC-Sonder-]Bericht 680 Millionen Menschen [leben]; bis 2050 dürfte es mehr als eine Milliarde sein. Hinzu kommen 65 Millionen Menschen, die in kleinen, ärmeren Inselstaaten leben“ (Weiß 2019).
„Ein Anstieg um nur einen Meter hat gravierende Konsequenzen für große Teile von Bangladesh, das chinesische Perlflussdelta, Jakarta, New York, Miami, London, die Niederlande, Shanghai und viele andere Gebiete“ (Maxton 2018, 36).
Schon 2002 (!) wurde von der UN herausgestellt, dass der Klimawandel für viele Menschen bereits Anfang des 21. Jahrhunderts eine tödliche Klimakatastrophe darstellt:
„In der bislang umfassendsten Studie hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2002 die Folgen des Klimawandels untersucht, Sie kommt zu dem Ergebnis, dass schon heute [Stand 2002!] jährlich mindestens 150.000 Menschen an den Folgen der globalen Erwärmung sterben. Die meisten Opfer sind in Entwicklungsländern zu beklagen und sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Durchfall, Malaria und anderen Infektionen oder an Nahrungsmangel“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 77).
Klimaforscherin Otto zitiert den Report ‚Heavy Weather‘ für den mit Hilfe der Zuordnungswissenschaft errechnet wurde, wie viele Tote einer Katastrophe statistisch gesehen auf Grund des diese Katastrophe mit bedingenden Klimawandels zuzuschreiben sind: „Durch Hitzewellen in Indien und Pakistan im Jahr 2015 seien zum Beispiel fast 4.000 Menschen ums Leben gekommen – mindestens 2.800 ließen sich dem Klimawandel zuschreiben“ (2019, 162-163).
(Otto gibt weiterhin zu bedenken, dass bei Vorbekanntheit solcher Fakten und Risiken „sich ein Staat haftbar …[macht], wenn er sich nicht hinreichend an den Klimawandel und sein Boten, die Extremwetterereignisse, anpasst – also die Schäden und Verluste billigend in Kauf nimmt“ (2019, 163)).
Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber ergänzen hier, dass Malaria sich künftig mutmaßlich auf afrikanische Hochlandregionen ausbreiten wird, wo Menschen leben, die gegen den Erreger mangels Kontakt keine Immunität besitzen (vgl. ebd.).
Laut Spiegel prognostiziert „[d]ie Weltgesundheitsorganisation [WHO] … bereits ab 2030 weltweit jedes Jahre 250.000 zusätzliche Todesfälle infolge des Klimawandels, also Gründe führt sie zunehmend Unterernährung, Malaria, Durchfallerkrankungen und Hitzestress an“ (Thelen 2019, 95).
Also quasi demnächst.
Graeme Maxton ist einer der Club of Rome-Ökonomen, die davon ausgehen, dass „[d]ie Weltbevölkerung … nie die 10 oder 11 Milliarden erreichen, die von den Vereinten Nationen einst prognostiziert wurden“ (2020, 47-48): „Die Menschheit wird sich auch bald nicht mehr wegen der 1,2 Milliarden Geburten sorgen müssen, die für die nächsten 10 Jahre erwartet werden, sondern stattdessen um die viele Toten. Wasserknappheit, Überschwemmungen, Brände und Hungersnöte werden in den kommenden Jahren immer mehr Menschen leben fordern“ (ebd., 48).
Wie anders sollte man diesen Befund, der auf Tatenlosigkeit beruht, nennen als einen „schleichenden Genozid“, so wie die FAZ es schon 2006 tat? (vgl. Paoli)
Eine Studie der ETH Zürich hält im Juli 2019 unter Annahme „einer eher konservativen Entwicklung der CO₂-Emissionen“ die für 2050 fest:
„‚22 Prozent (der Großstädte) werden sich zu klimatischen Bedingungen hin verschieben, die derzeit in keiner großen Stadt auf dem Planeten herrschen.‘ Zu dieser Gruppe gehören gigantische Städte wie Peking, Jakarta, Seoul, Rangun und Kuala Lumpur. Was passiert, wenn diese Städte unbewohnbar werden, durch Hitzewellen und Flutkatastrophen?“ (Stöcker 2019).
In der Süddeutschen Zeitung ist im Juni 2023 eine interaktive Grafik erschienen, die zeigt, bei welcher globalen Durchschnittstemperatur welche Weltgegenden unbewohnbar werden, hier ist z. B. zu sehen, dass [b]ei +1,5 Grad […] die Erde zu heiß [wird] für rund 419 Mio. Menschen.“
Der/Dem aufmerksamen Leser*in wird nicht entgangen sein, dass sich die hier genannten Prognosen und Zahlen mal mehr, mal weniger widersprechen. Das wird auch nicht besser unter Hinzunahme der Daten aus der Film-Doku Klimafluch und Klimaflucht (2018). Hier wird in den Schlussminuten der Doku Wissenschaftler*innen explizit die Frage gestellt, „[w]ie viele Menschen … bis 2050 zu Klimaflüchtlingen geworden sein“ werden. Die Antworten fallen – sagen wir – bunt aus:
Dina Ionesco, International Organization für Migration:
„Man kann ehrlicherweise nicht sagen, wie viele Menschen zur Migration gezwungen sein werden.“
Walter Kälin, Platform on Disaster Displacement PDD:
„Wir haben bewusst keine Schätzung, weil, was wir vorschlagen, ist, dass wir jetzt alles, was wir tun können, investieren müssen, damit eben Menschen ihr Land nicht verlassen müssen.“
Robert Oakes, UN University:
„Wir wissen, dass jedes Jahr rund 20 Millionen Menschen vertrieben werden. Das gilt für die letzten Jahrzehnte. Dazu kommt der Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Entstehung von mehr schutzlosen Menschen. Wir können davon ausgehen, dass diese Zahlen ansteigen werden.“
Nina Birkelund, Norwegian Refugee Council:
„Jedes Jahr fliehen 25 Millionen. Wenn man das hochrechnet kommt man auf, konservativ gerechnet 500 Millionen.“
Im Vorspann wird sie abweichend davon wie folgt zitiert:
„Heute sprechen wir von einigen Millionen Flüchtlingen. In Zukunft sprechen wir von Milliarden.“ (Hier meint sie mutmaßlich nicht nur Klimaflüchtende.)
Birkelund rechnet der Autor des Filmes Klimafluch und Klimaflucht, Thomas Aders, zum „Mittelfeld“ – „Und dann gibt es die Pessimisten, zu denen François Gemenne gehört“ (Aders 2018b):
François Gemenne, Universität Liègeund Sciences Prosowie Mitautor des Atlas der Umweltmigration:
„Wenn ich schätzen soll. Meiner Meinung nach werden wir leicht bei einem Fünftel oder einem Viertel der Weltbevölkerung liegen, die Migranten sein werden. Das bedeutet ungefähr zwei bis drei Milliarden Menschen.“
Die Weltbank geht derweil von 140 Mio Klimaflüchtenden bis 2050 aus (vgl. Tagesspiegel 2018).
Aus einem Entwurf des 2019er-Sonderberichts ‚Ozeane‘ des IPCC geht hervor, dass der
„IPCC … bei einer Erderwärmung von höchstens zwei Grad Celsius mit 280 Millionen Flüchtlingen [allein] wegen steigender Meeresspiegel [rechnet]. Selbst wenn die Reduzierung der Erderwärmung auf unter zwei Grad gelingt, gehen die Experten [für das Jahr 2100] noch von 250 Millionen Klimaflüchtlingen aus“ (AFP 2019).
Details: Staatenlos inmitten der Klimakrise
„Staatenlos, das Wort könnte in Zeiten des Klimawandels ganz neue Bedeutung gewinnen“ (Bauchmüller 2018). Staatenlos werden nun nach und nach absehbar viele Klimaflüchtende, allen voran etwa die Bewohner der Koralleninseln wie u.a. von Kiribati, Tuvalu und den Malediven. Vor diesen Hintergründen schlägt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) einen Klimapass vor: „Der Klimapass sollte zunächst der Bevölkerung kleiner Inselstaaten, deren Staatsgebiet aufgrund des Klimawandels unbewohnbar zu werden droht, Zugang und staatsbürgergleiche Rechte in sicheren Staaten gewähren“ (WGBU 2018). Es geht hier auch um die Rechtsansprüche von Menschen, die durch die Klimakrise geschädigt werden. Und: „Staaten mit erheblicher Verantwortung für den Klimawandel sollten sich als Aufnahmeländer für Personen mit Klimapass zur Verfügung stellen“ (ebd.). Vorbild ist der ‚Nansen-Pass‘, der vom vormaligen Nordpolareisreisenden und späterem Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, Fritjof Nansen, der dafür mit den Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, entwickelt wurde. Der ‚Nansen Pass‘ sicherte einst hunderttausenden in den Wirren des ersten Weltkrieges staatenlos gewordenen Menschen das Recht auf Einreise und Aufenthalt in über 50 Staaten.
Und eine im Mai 2020 in PNAS erschienene Studie namens Future of the human climate niche verdeutlicht, das künftig Milliarden von Menschen außerhalb derjenigen Klimabedingungen leben werden, unter denen die Menschheit prosperierte, d.h. sie mutmaßlich vor jährlichen Temperaturen fliehen, wie sie heute quasi nirgends herrschen:
„Over the coming 50 y[ears], 1 to 3 billion [zu deutsch: Milliarden] people are projected to be left outside the climate conditions that have served humanity well over the past 6,000 y[ears]. Absent climate mitigation or migration, a substantial part of humanity will be exposed to mean annual temperatures warmer than nearly anywhere today“ (Chi Xu et al. 2020).
Nun, keine dieser Aussagen und Schätzungen ist beruhigend. Und die immer wieder gern aufgeworfene Frage, inwieweit es sich bei Flüchtenden um lupenreine Klimaflüchtende handelt oder handeln wird – ist letztlich ohnehin unerheblich, entscheidend wird schlicht die Anzahl von Menschen sein, die aufgrund von diversen, meist Umwelt-bezogenen Gründen ‚ihre Scholle‘ verlassen werden, weil sie esmüssen. Alleine dieser Aspekt mit der mutmaßlich hohen Zahl an künftigen Flüchtenden rechtfertigt m.E. für sich genommen eine massive Hilfe-zur-Selbsthilfe-Entwicklungspolitik ab heute: Aus ethischen Gründen – und wer es weniger edel möchte: Aus purer Egozentrik bzw. eurozentristischen Interessen.
Quellen des Abschnitts Konfliktpotenziale der Klimakrise: Armut, Klimakriege, ‚Natur‘-Katastrophen, Flucht
Alt, Franz (2020): Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt: Schützt unsere Umwelt. [Der Dalai Lama im Gespräch mit Franz Alt]. Benevento.
Bauchmüller, Michael (2018): „Hilfe für Klima-Flüchtlinge. Forscher fordern Industriestaaten auf, heimatlose Menschen aufzunehmen“. in: Süddeutsche Zeitung, 1.9.2018, online unter https://www.sueddeutsche.de/politik/klima-fluechtlinge-1.4112756 (Abrufdatum 1.9.2018)
Eichhorn, Christoph von (2019): „Das große Tauen: Wenn die Gletscher Tibets weiter schrumpfen, drohen stromabwärts Dürren und Ernteausfälle“. in: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 12-15.
Folkers, Manfred und Paech, Niko (2020): All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. oekom.
Klein, Naomi und Lewis, Avi (2015): This Changes Everything. Film-Doku inspiriert durch Naomi Kleins Buch This Changes Everything: Capitalism vs. Climate, deutscher Titel: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima.
Rabhi, Pierre (2015): Glückliche Genügsamkeit. [Französische Originalausgabe Vers la sobriété heureuse stammt von 2010]. Matthes & Seitz Berlin. S. 124-125.
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. München: Beck. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage.
Rangel, André und Negrão, Marcos (2010): Der zerbrochene Mond. [The broken Moon]. Doku-Film.
Weber, Andreas (2020): „Ökosysteme sind Liebesprozesse“. [Auszug aus: Zurück zur beseelten Natur – Plädoyer für einen Perspektivwechsel]. in: Bergwaldprojekt Journal, Frühjahr 2020, S. 22-23.
Ein oft bemühtes, aber dennoch vollkommen falsches Man-kann-ohnehin-nichts-machen-Argument ist das von der angeblichen Bevölkerungsexplosion. Diese fällt aus.
Gute Nachricht: Weltbevölkerungsentwicklung
„Wir Menschen traten als Spezies vor ungefähr 200.000 Jahren auf den Plan. In geologischer Zeit gerechnet, ist das nicht mehr als ein Wimpernschlag. Noch vor 10.000 Jahren lebte eine Million Menschen auf der Erde. Um 1800, vor gerade mal [rund] 200 Jahren, war es eine Milliarde“ (Emmott 2020, 17).
Daten zur Weltbevölkerungsentwicklung, in Generationen gedacht:
2100 UN-Prognose ca. 11 Mrd. – „Die UN geht davon aus, dass sich die Weltbevölkerung im Jahr 2100 zwischen 10 und 12 Milliarden einpendeln wird“ (Rosling 2018, 106).
Eine aktuelle UN-Studie vom Juni 2019 prognostiziert „10,9 Milliarden Menschen im Jahr 2100“ (Stöcker 2019).
Das sind natürlich eine Menge Menschen, aber der entscheidende Punkt ist, dass die Kurve eben NICHT exponentiell nach oben zeigt, sondern sich mehr und mehr abflacht.
Details: Erläuterungen zu (1)
Der Psychoanalytiker Dietmar Schmeiser ergänzt im Zusammenhang mit dem latenten Wissen, dass unser Leben nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher: „Hinzu kommen Milliarden Nutztiere, die Nahrung brauchen und ebenfalls die Natur verschmutzen“ (2020).
Der Background:
Hans Rosling, Arzt und Experte für internationale Gesundheit, hebt hervor, bis etwa ins Jahr 2000 immer mehr junge Erwachsene (langsam aber sicher) immer weniger Kinder bekommen haben. Zuvor war es nach Rosling so, dass immer größere Eltern-Generationen jeweils viele Kinder zur Welt brachten. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren es weltweit im Schnitt fünf Kinder pro Frau – aber: Nach 1965 sank diese Zahl allmählich und überaus deutlich auf knapp 2,5 Kinder. Parallel dazu wurde die gesundheitliche Versorgung extrem verbessert, die Überlebensrate von Kindern stieg stark an – und die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben nahm stark ab (vgl. 2018, 107).
Rosling führt aus:
„Die überwiegende Mehrheit der Milliarden Menschen, die ihre extreme Armut hinter sich lassen konnten, entschied sich dafür, weniger Kinder zu haben. Sie benötigten nicht mehr die Großfamilie und die Arbeitskraft zahlreicher Kinder, um die familiäre Landwirtschaft betreiben zu können. Und man brauchte auch keine kinderreiche Familie mehr, um sich gegen die Kindersterblichkeit abzusichern. Männer wie Frauen bekamen Zugang zu Bildung und begannen, besser ausgebildete und besser ernährte Kinder haben zu wollen, und weniger davon zu haben war die offensichtliche Lösung“ (Rosling 2018, 107-108).
Stabiles Niveau der Weltbevölkerung = 2,1 Kinder pro Frau (Stotz 2019)
Von Rosling stark vereinfacht (und hier nochmals simplifiziert) ausgedrückt, leben seit etwa dem Jahr 2000 stets zwei Milliarden Kinder im Alter von 0 bis 15 Jahren auf der Erde. Die UN prognostiziert, dass dies auch im Jahr 2100 so sein wird. Ergebnis: Die Zahl der Kinder steigt nicht mehr an. Und das bedeutet etwas – vom Mechanismus her – sehr Einfaches:
Nachdem einige Generationen lang mit jeder Generation mehr Menschen auf der Erde leben, weil eben jeweils erstmals eine 2-Milliarden-Generation die nächste Alterskohorte erreicht, nivelliert sich dies, wenn die erste 2-Milliarden-Generation aus dem Jahre 2000 die nunmehr älteste Kohorte darstellt, auf 10 Milliarden – d.h. fünf 15-Jahres-Generationen à zwei Milliarden Menschen.
Eigene Darstellung, beruhend auf Gedankengebäude, Daten und Grafik von Rosling 2018, 109
Noch einmal anders ausgedrückt:
Fünf 15-Jahres-Generationen lang wird diese Zahl ‚Zwei Mrd. Menschen‘ durch die (zuvor nur eine Mrd. Menschen umfassenden) Altersklassen weitergereicht, sodass hiermit nach fünf Generationen – etwa im Jahre 2060 – ein Plateau erreicht wird.
Hinzu kommt:
Die UN rechnet damit, „dass die Lebenserwartung sich bis zum Jahr 2100 etwa um elf Jahre verlängert haben dürfte, wodurch bis etwa 2075 eine [weitere] Milliarde ältere Menschen hinzukommen…“ (Rosling 2018, 110) – sodass die Weltbevölkerung bei etwa 11 Milliarden Menschen plus/minus eine Milliarde eingepegelt ist.
Hans Rosling:
„Es wird erwartet, dass der dramatische Rückgang an Geburten pro Frau sich fortsetzen wird, solange mehr Menschen aus der extremen Armut herausfinden und mehr Frauen Zugang zu Bildung, sexueller Aufklärung und Verhütungsmitteln bekommen. Drastische Maßnahmen sind nicht nötig…. [D]ie globale jährliche Anzahl an Geburten [hat] bereits aufgehört, weiter anzusteigen, was bedeutet, dass die Phase des schnellen Bevölkerungswachstums bald vorbei sein wird. Wir erreichen gerade ‚peak child‘, die maximale Kinderzahl“ (Rosling 2018, 108-109).
Manchmal wird – gerade auch in der Medienberichterstattung – eine Bevölkerungsexplosion das Wort geredet, mit der Begründung, Menschen würden die Verwendung von Verhütungsmitteln z.B. aus religiösen Gründen ablehnen. Rosling bezeichnet derartige Medienberichterstattungen zu besonders kinderreichen Gegenden bzw. zu der Verweigerung von Verhütungsmitteln aus religiösen Gründen als: Ausnahmen (vgl. ebd., 112f.).
>> Hier geht es i.d.R. um nicht durchschnittliche Alltagsgeschichten, sondern um das Haschen nach sensationellen Stories, die als ‚exemplarische Argumentation‘ nicht wirklich hilfreich sind, vgl. S. 680.
In diesem Sinne verweist der Demograf Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, darauf, dass der
„Iran… den schnellsten Fertilitätsrückgang weltweit erlebt – von 6,5 auf 1,8 Kinder innerhalb einer Generation. Kluge Politik ist unabhängig von der Religionszugehörigkeit“ (Schmundt 2019a, 113).
Im gleichen Zusammenhang weist Rosling darauf hin, dass das Überleben von Kindern durch bessere medizinische Versorgung zu weniger geborenen Kindern führt:
„Sobald die Eltern… sehen, dass die Kinder überleben, sobald die Kinder nicht mehr als Arbeitskräfte benötigt werden und sobald Frauen eine gewisse Bildung haben und über Verhütungsmittel Bescheid wissen und Zugang zu diesen haben, werden Männer und Frauen [wie bislang überall auf der Welt] Kultur- und Religions-übergreifend danach streben, weniger, aber dafür gut ausgebildete Kinder zu haben“ (Rosling 2018, 115).
Es könnte laut dem Club of Rome sogar noch besser laufen für die Menschheit:
„Eine … Studie von KC und Lutz [aus dem Jahre 2014] schätzt, dass eine bessere Bildung zu einer Milliarde weniger Menschen im Jahr 2050 führen kann, als dies derzeit erwartet wird“ (Weizsäcker et al. 2017, 70-71).
Im Mai 2019 zitiert der Spiegel ein zu einem ähnlichen Ergebnis gelangendes Buch von Darell Bricker und John Ibbitson namens „Empty Planet“ sowie noch eine weitere Studie, deren „Autorenliste … sich [liest] wie ein Who’s who der Demografenbranche“ (Schmundt 2019b, 103).
Beide Forscherteams – KC und Lutz sowie Bricker/Ibbitson – kritisieren die UNO-Zahlen als deutlich zu hoch und klagen,
dass die UNO dem Faktor ‚Bildung‘ eine zu geringe Berücksichtigung schenke und zudem
übersehe, dass „[g]egen Mitte des Jahrhunderts… der [Bevölkerungs-]Schwund [analog zu den Industrienationen]… auch riesige Schwellenländer wie Chile, Indonesien oder Brasilien [erfasst]“ (ebd.).
Einer der Autoren der erstgenannten Studie, Demograf Lutz, geht von dem Weltbevölkerungsmaximum von neun Milliarden Menschen aus und erklärt:
„Das Gehirn ist das wichtigste Reproduktionsorgan… Schon wenig Bildung macht einen Unterschied. Wenn Frauen verstehen, dass Kinderkriegen nicht gottgegeben ist, sondern eine bewusste Entscheidung sein kann, ihre Entscheidung, bekommen sie automatisch weniger Kinder. Je besser sie die sozialen und ökonomischen Kosten verstehen, die ein Kind mit sich bringt, desto strategischer planen sie. Teenager-Schwangerschaften werden weniger, Frauen beginnen zu verhüten, und da sie ihrem Nachwichs die besten Chancen ermöglichen wollen, fördern sie lieber wenige Kinder viel als viele Kinder wenig“ (Berbner 2019, 17).
Ein weiterer, auf die Geburtenrate wirkender Faktor ist die Urbanisierung.
Bezogen auf die Landflucht im Zeichen der Industrialisierung Europas aber auch auf die heutige Entwicklung hält Bastian Berbner in der Zeit fest:
„Auf dem Land waren Kinder hilfreich gewesen. Zwei Hände mehr zum Säen und Ernten. In der Stadt lebten viele Arbeiter in winzigen Wohnungen… Beim Geldverdienen konnten Kinder kaum helfen, essen mussten sie aber trotzdem“ (ebd., 16).
Die Urbanisierung schreitet fort:
„Keine Region der Welt wird sich laut Prognosen der Vereinten Nationen schneller urbanisieren als Afrika“ (ebd., 16).
Rosling, Hans (2014): „Will saving poor children lead to overpopulation?“ in: Gapminder Foundation, 20.1.2014, online unter https://youtu.be/BkSO9pOVpRM (Abrufdatum 15.11.2019)
Zurück zu Hans Rosling, der wie oben ausgeführt zeigt, dass das Überleben von Kindern durch bessere medizinische Versorgung zu weniger geborenen Kindern führt. Im Ergebnis reduziert die medizinisch ermöglichte Überlebensrate von Kindern sogar das globale Bevölkerungswachstum:
„Die einzige Methode, die sich bei der Reduzierung des Bevölkerungswachstums bewährt hat, besteht darin, extreme Armut zu beseitigen und den Menschen ein besseres Leben, einschließlich Zugang zu Bildung und Verhütungsmitteln, zu ermöglichen. Überall auf der Welt haben Eltern dann für sich selbst beschlossen, weniger Kinder zu bekommen. Aber dieser Wandel trat nie ein, wenn es nicht gelang, die Kindersterblichkeit zu senken“ (Rosling 2018, 115).
Nun, diese einfache und m.E. naheliegende Methode hätte auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts funktioniert. Mit etwas mehr Weitsicht, relativ wenig Geld und durch Vermeidung einer (neo-)kolonialistische Politik hätte man die Kurve der Weltbevölkerungszunahme deutlich flacher halten können, was natürlich viele weitere Weltprobleme – darunter die hier analysierte Zwillingskrise – positiv beeinflusst hätte. Ein weiterer Grund, weshalb man dem 20. Jahrhundert nicht nachtrauern sollte.
In diesem Sinne stellt auch Reiner Klingholz fest:
Wer die Kindersterblichkeit senkt, „[w]er in Gesundheit, Bildung und Jobs investiert, wer darüber hinaus die Familienplanung unterstützt und sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzt, kann gar nicht verhindern das der Wohlstand wächst und die Geburtenziffer sinkt“ (Schmundt 2019, 112).
„Staatlicher Zwang [wie bei der Ein-Kind-Politik Chinas] ist weder erstrebenswert noch nötig.
Thailand hat den gleichen Geburtenrückgang wie China erlebt – ohne Zwangsmaßnahmen. In Thailand haben sich drei Instrumente bewährt…: Gesundheitsversorgung, Bildung und Jobs“ (ebd.).
>> Anmerkung: Zu Zeiten der Ein-Kind-Politik hat die Chinesin Yanghua Wu vier Kinder bekommen, weil sie sie wollte. Weil sie sich seinerzeit der Zwangsabtreibung entzieht, „plündern [die Beamten]… das Haus …[,] zertrampeln die wenigen Besitztümer der Familie“ und belegen die Familie mit exorbitanten Geldstrafen und absurden Zahlungsfristen (24h), siehe: Jin, Justin (2018): „Eine Frau, vier Kinder. Ein Traum“. in: Geo Perspektive 2018, S. 22ff.
So gelingt gemäß Reiner Klingholz der sog. ‚demografische Übergang‘:
„Der demografische Übergang ist die einzige Theorie, welche die sozio-ökonomische Entwicklung sämtlicher Länder weltweit erklärt – von Deutschland bis Dschibuti. Grob vereinfacht beschreibt das Modell die Entwicklung von einer bäuerlich geprägten Gesellschaft mit vielen Kindern und hoher Sterblichkeit zu einer Gesellschaft mit geringen Kinderzahlen, hoher Bildung, Wohlstand und hoher Lebenserwartung“ (Schmundt 2019, 113).
„In Südkorea kommen all die Effekte, die zu einem Rückgang der Bevölkerung führen, wie unter einem Brennglas zusammen. Bildungshunger. Aufstiegslust. Urbanisierung. Teure Wohnungen. Wohlstandsegoismus. Südkorea ist die extreme Ausprägung eines Effekts, der sich inzwischen fast überall auf der Welt zeigt.“
Interessanterweise funktioniert es i.d.R. nicht, die über o.g. Werte geprägte Bevölkerung angesichts der drohenden Überalterung und Unterbevölkerung dazu zu bringen, wieder mehr Kinder zu bekommen.
>> vgl. Beispiele bei Berbner wie u.a. der „‚National Night’…, in der Paare [in Singapur] Sex haben sollen“
„‚Jetzt müsste sich das Land strategisch verkleinern‘, sagt … [der Demograf Lee Sang Lim]. ‚Aber das haben wir nicht gelernt…. Südkorea ist der Testballon für andere. Leider sieht es im Moment so aus, als werde er platzen.‘“ Und: „Diese Gesellschaft wird zerstört werden“ (Berbner 2019, 17).
„In einige Regionen wird es … noch [Bevölkerungs-]Wachstum geben, während die meisten Gesellschaften schon mit der Alterung kämpfen. Spätestens dann dürfte der Wettbewerb um Einwanderer einsetzen. Um die letzten jungen Leute. Sie werden aus Afrika kommen… – zumindest für einige Jahrzehnte. Bis auch Afrika schrumpft“ (ebd.).
Diese in den voranstehenden Absätzen aufgestellte Bevölkerungsentwicklungs-Rechnung funktioniert selbstredend nur, wenn künftig allen Menschen neben o.g. Rahmenbedingungen weiterhin (noch mehr) moderne Verhütungsmittel zur Verfügung stehen:
Dies wird bedauerlicherweise derzeit von den USA sabotiert, die noch 2015 viertgrößter Geldgeber (75 Mio US-$) für UNFPA, dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, dessen Aufgabe es ist, „sicherzustellen, dass jede Schwangerschaft erwünscht ist, jede Geburt sicher und das Potenzial jedes Kindes erfüllt wird“ (NZZ 2017), waren und 2017 unter dem 45. US-Präsident die Gelder komplett strichen (vgl. auch Welt 2017).
Wie dramatisch diese Kürzung ist, verdeutlicht dieses Statement:
„Meeting the unmet need for modern contraception of women aged 15-19 would reduce unintended pregnancies among this age-group by 6.0 million annually. That would mean averting 2.1 million unplanned births, 3.2 million abortions and 5.600 maternal deaths“ (Darooch et al. 2016).
1:45 min – SheDecides: The Manifesto (July, 2017), online unter https://youtu.be/Z_gf1FV2Pwo (Abrufdatum 26.11.2021)
Als Reaktion auf diese Anordnung des damaligen US-Präsidenten, entstand die internationale Bewegung SheDecides, die über Spenden versucht, „die vielen guten Angebote zu retten, deren Existenz nun bedroht ist“ (Breen 2021, 113). Das auf der Website shedecides.com publizierte Manifest, dass Sie gerne unterzeichnen können, fasst sehr gut zusammen, was m.E. eigentlich vollkommen selbstverständlich ist.
Bevölkerungsentwicklung und Biodiversitäts-/Klimakrise
Die vorgenannten Ausführungen zum Thema ‚Geburtenrate‘ bzw. ‚Weltbevölkerungsentwicklung‘ erweiternd ist herauszustellen, dass die Geburtenrate im Südsudan oder sonst wo im Globalen Süden nicht das Grundproblem unserer Welt ist.
Franziska Bulban fasst das treffend wie folgt zusammen:
„[D]ie Tatsache, dass die Menschheit über ihre Verhältnisse lebt, kann man nicht Menschen in Südsudan unterschieben.1
Wenn wir alle wie sie lebten, kämen wir mit unseren Ressourcen aus … – hätten aber auch oftmals keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, Elektrizität oder Bildung.
Wenn hingegen alle auf der Welt ungefähr so lebten wie Menschen in Deutschland, wäre es um die Welt schlechter bestellt. Mit meinem Verbrauch (mittelgroße Wohnung in Hamburg, Fahrrad, eine große Urlaubsreise pro Jahr und etwa vier paar Schuhe) bräuchte es beispielsweise schon drei Erden… [vgl. Aspekt Earth Overshoot Day, S. 450f.]
Wenn es also darum geht, die Zahl an Menschen zu reduzieren, um den Planeten zu retten, dann hätten weniger Menschen in Industrienationen den größten Einfluss auf die Rettung der Welt“ (Bulban 2019).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Stefan Lessenich weist daher überaus treffend darauf hin, dass wir Industrienationler*innen keineswegs über unsere Verhältnisse leben: „Wir leben über die Verhältnisse der anderen“ (2018, Buchrücken).
Im Gleichklang damit konstatiert auch Bastian Berbner:
„Sollte die Welt daran scheitern, den Klimawandel zu stoppen, dann wird das nicht an den zusätzlichen Menschen im Niger liegen, sondern daran, dass die Industrieländer es nicht schaffen, rechtzeitig ihre Emissionen zu senken“ (2019, 16).
Franz Alt wählt ein anderes Beispiel:
„Allein im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen werden mehr Autos gefahren als in allen 56 afrikanischen Ländern zusammen. Das Problem sind wir, nicht die Afrikaner oder die Inder“ (2020b).
Drastischer formuliert es Graeme Maxton:
„Ein Kind, das heute in Europa oder Nordamerika geboren wird, belastet die Umwelt um ein Dreißigfaches mehr als ein Kind, das in einem armen Land zur Welt kommt“ (2018, 67).
Womit der Autor dieses Handbuches nicht dem Antinatilismus das Wort reden möchte, sondern nur klarstellt, dass das entsprechende Vorurteil ‚Bevölkerungsexplosion im Globalen Süden aus religiösen Gründen‘ eben nur das ist, was es ist: Ein Ablenkungsmanöver, eine billige Ausrede.
„Unser größtes Problem ist die nicht übergroße Anzahl an Menschen, sondern unser Mangel an Menschlichkeit.“ (Franz Alt 2020a)
Eine zweite gute Nachricht: Ernährung der Weltbevölkerung
Auch die prognostizierten 11 Milliarden Menschen können dauerhaft (und zwar selbstredend besser und zuverlässiger als die Menschheit derzeit) ernährt werden, indem der Fokus auf pflanzliche Ernährung gelegt wird. Das ergibt sich ganz simpel aus der Tatsache, dass zurzeit extrem große Ackerflächen für Massentierhaltung und die entsprechende Tiernahrung genutzt werden – etwa 80% (vgl. S. 621).
>> vgl. Aspekt Planetary Health Diet, S. 188
Umgekehrt funktioniert eine ‚Fleisch für alle‘-Taktik definitiv nicht:
„Weltweit steigt die Nachfrage nach Agrarprodukten. Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft spricht von 60 Prozent bis 2050. Damit einher gehe eine Ausweitung der Agrarflächen – abhängig von den zunehmenden Erträgen pro Hektar – um bis zu 100 Millionen Hektar. Diese Entwicklung muss aber nicht so kommen. Wenn in Industrieländern weniger Fleisch gegessen wird und Agrarprodukte nicht weiter als Treibstoff verwendet werden, könnte das den Druck auf die Flächen entscheidend verringern“ (Chemnitz 2020, 15).
Die 2016er Studie Human appropriation of land for food: The role of diet, die in den IPCC-Sonderbericht Climate Change and Land aufgenommen wurde, stellt heraus, dass
nur die Hälfte der aktuellen Felder benötigt würden, wenn alle Menschen sich so ernähren würden wie die Bürger*innen Indiens – und
nahezu die dreifache Menge an Feldern, wenn die Menschheit die Essgewohnheiten der US-Amerikaner*innen übernehmen würden (vgl. Alexander et al. 2016 u. Mast 2019).
So wird es auch in der 2015er Film-Doku Cowspiracy dargestellt. Auf der Facts-Webpage zum Film finden sich folgende Zahlen:
„1.5 acres can produce 37,000 pounds of plant-based food.“
„1.5 acres can produce 375 pounds of beef.“ und:
„15x more protein on any given area of land with plants, rather than cows“ (Kip/Kuhn 2015).
Monokulturen für Tierfutter machen „inzwischen fast 40 Prozent der globalen Ackerfläche [aus]… Nur zwei Drittel der globalen Pflanzenernte wird als Lebensmittel genutzt; knapp ein Viertel wird zu Tierfutter und knapp ein Zehntel zu Agrotreibstoff“ (Scheub/Schwarzer 2017, 56).
„[T]äglich werden pro Kopf etwa 4.600 Kalorien produziert, doppelt so viel wie nötig“ (ebd., 57).
Auch die Zeit konstatiert:
„Schon heute wird genug Nahrung für elf Milliarden Menschen produziert.“ (Berbner 2019, 16)
Wir sind aber ‚nur‘ acht Milliarden Menschen (vgl. S. 613), haben genug Nahrungsmittel für elf Milliarden und bekommen es trotzdem nicht hin, alle Menschen satt zu bekommen. Rund 800 Millionen Menschen gelten als chronisch unterernährt, d.h. hungern1.
Wie deprimierend ist das denn?
> 800 Mio Menschen = mehr als 1/10 der Menschheit. > Jeder zehnte Mensch hat nicht genug zu essen. > 10% der Menschen hungern. > 10 von 100 Menschen sind dauerhaft hungrig.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 vgl. Gonstalla 2019, 96. Lesch/Kamphausen nennen die Zahl 815 Mio hungernde Menschen 2016, vgl. 2018, 303. Über 2019 schätzt die FAO: „Insgesamt litten 2019 fast 9 Prozent der Menschen, rund 690 Millionen, dauerhaft Hunger, insgesamt rund 2 Milliarden zumindest zeitweise. Für 1 weitere Milliarde Menschen ist gesundes Essen unbezahlbar, sie kommen gerade so über die Runden. Übrigens leben laut FAO auch in Deutschland 600.000 Menschen, die ernste Schwierigkeiten haben, sich genug Nahrung zu leisten“ (Arzt 2020, 8). „[D]er ökonomische Einbruch durch Covid-19 treibe global 83 bis 132 Millionen Menschen zusätzlich in die Unterernährung“ (ebd.).
Es ist folglich definitiv ein Verteilungsproblem und betrifft die Art der tierischen Ernährung. Und ein Problem des Willens derjenigen, die zu viel haben bzw. ein systemisches Problem des neoliberalen Kapitalismus‘. Aber: Ein Mengen-Problem ist es nicht.
„Allein die 300 Millionen Tonnen Nahrungsmittel, die jährlich in den Industrienationen weggeworfen und vernichtet werden, würden ausreichen alle hungernden Menschen mit ausreichend Nahrung zu versorgen“ (Lesch/Kamphausen 2018, 304).
Was anhand obiger Zahlen ebenfalls nochmals deutlich wird, ist:
Und so viele Menschen zu ernähren, geht – anders als Agrarlobbyisten es predigen, weil es ihr Job ist – hervorragend ohne westlich-industrielle Landwirtschaft und Gentechnik.
Das wird täglich dadurch bewiesen, dass wir jetzt schon genug Lebensmittel für 11 Mrd. Menschen haben, obwohl 80% der Äcker in irgendeiner Form für Massentierhaltung statt für die sachgerechte Ernährung aller Menschen genutzt werden.
Des Weiteren leisten wir es uns in Deutschland, 30 bis 40 Prozent aller Lebensmittel im Müll landen zu lassen:
„In Deutschland sind es pro Jahr knapp sieben Millionen Tonnen. Landwirte, Handel, Gastronomie und Haushalte vernichten damit zusammen jährlich größtenteils noch genießbare Speisen im Wert von bis zu 21,6 Milliarden Euro… Weltweit kostet der Nahrungsmittelmüll jährlich rund 400 Milliarden Dollar“ (Kopatz 2016, 110).
>> All diese weggeschmissenen Lebensmittel kosten Ressourcen und verursachen Treibhausgase.
Und es muss auch so sein, dass es ohne industrielle Landwirtschaft geht, denn industrielle Landwirtschaft laugt die Böden aus, wie der Co-Präsident des Club of Rome (bis 2018) Ernst Ulrich von Weizsäcker explizit herausstellt:
„Die intensive Bewirtschaftung durch Monokulturen laugt die Böden aus, sodass sie nur noch in geringem Umfang CO₂ aufnehmen können. Dabei sind gesunde Böden einer der größten Absorbierer von CO₂, das wiederum ihre Fruchtbarkeit stärkt“ (zit. in Ruppel 2017).
>> siehe ausführlich Abschnitt Bodenbewahrende Agrarkultur vs. konventionelle industrielle Landwirtschaft, S. 567, Aspekt Nur regenerative Agrarkultur ernährt den Planeten, S. 569f.
Daneben verunreinigt der Einsatz von Kunstdünger bzw. Fäkalien das Trinkwasser mit Nitrat.
>> vgl. Abschnitt Nitratbelastung des Trinkwassers, S. 591f.
Industrielle Landwirtschaft bedeutet nicht weniger als das, dass wir an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen.
>> Der Biologe und Philosoph Andreas Weber weist bzgl. des „am eigenen Ast sägen“-Bildes darauf hin, dass wir eben nicht nur jenen Ast absägen, auf dem wir sitzen. Im Sinne des Postulats dieses Handbuches „Wir sind Erde“ (S. 46 u. 699) schreibt er: „Wir sägen des Ast ab, der wir sind“ (2020, 22).
Zu dem Aspekt ‚industrielle Landwirtschaft löst das Problem nicht‘ meint der Agrarökologe Nick Green:
„Im Moment ernähren Kleinbauern mit Familienbetrieben die Welt.
Äußerst produktive Kleinstbetriebe liefern weltweit den Hauptanteil der Nahrung. Von industriellen Betrieben kommt nur ein Bruchteil. Was die Produktion angeht, sind industrielle Betriebe total ineffizient. Sie sind gut darin, Geld zu machen. Und schlechten darin, Nahrung anzubauen. Wenn die Leute selbst das Land besitzen, produzieren sie viel mehr.“
„Es stimmt nicht, dass nur industrielle Landwirtschaft die Welt ernähren kann. … Es ist ein Märchen, das uns die Chemieindustrie, die Hersteller landwirtschaftlicher Geräte und die Banken erzählen müssen, damit sie selbst überleben. Aber es ist nicht wahr. Es ist gelogen.“
(Laurent/Dion 2016, ab Minute 19:36)
‚Goliath‘ erzeugt etwa 30% der globalen Lebensmittel. David ca. 70%. (vgl. Scheub/Schwarzer 2017, 14)
„Die Mehrheit der ‚Davids‘ ist übrigens weiblich“ (Scheub/Schwarzer 2017, 16) –
Mit anderen Worten: Die Förderung einer bodenbewahrenden Agrarkultur bedeutet auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu Parität, Freiheit und Selbstbestimmung von Frauen.
>> s.a. Abschnitt Klima, Ökofeminismus und Parität, S. 423, Aspekt Frauen sind von der Klimakrise stärker betroffen als Männer, S. 423.
Ohne Fisch wird’s düster.
Vor dem Hintergrund, dass die Böden degradieren stellt der zweite Vorsitzende des Weltagrarberichts (IAASTD), Hans Herren:
„Ob Bio die Welt ernähren kann, ist nicht die Frage. Bio muss die Welt ernähren“ (Lesch/Kamphausen 2018, 308).
Hilfreich wäre es indes, die Ozeane am Leben zu lassen – möglichst mit Fischen darin:
„Das Meer ist noch immer die größte Nahrungsquelle der Welt, auf die mehr als eine Milliarde Menschen direkt angewiesen sind.“ (Jarchau et al. 2019)
Ohne Fisch wird’s düster.
Fazit und Schlussgedanke zum Abschnitt 11 Milliarden Menschen
Die Bevölkerungsentwicklung pendelt sich also – so es zu keiner großen Klimakatastrophe kommt – bei 11 Milliarden Menschen ein. Das ist eine gute Nachricht – und eine wichtige Nachricht, weil sie ein ‚Allgemeinnichtwissen‘ korrigiert. Noch eine bessere Nachricht ist, dass wir – sofern es zu keinem katastrophalen Klimawandel kommt und wir die bodenbewahrende Agrarkultur fördern, diese Menschen auch ernähren können.
Diese beiden an sich guten Nachrichten sollten aber nicht dahin wegtäuschen, dass 11 Milliarden Menschen auf dem Planeten „ohne aktive Emissionsreduktion … zu einer Treibhausgaskonzentration von 1370 ppm führen (RCP 8.5) [würde]“ (Gonstalla 2019, 31), – was unweigerlich und deutlich vor 2100 zur Katastrophe führen würde.
Details: Erläuterungen zu IPCC-Szenarien wie z.B. RCP 8.5
Der IPCC zeichnet in seinen Berichten Szenarien, wie es im Falle einer deutlichen CO2-Reduktion, wie es bei einem ‚Weiter so‘ und wie es bei einer noch größeren Emittierung von CO2 auf dem Planeten aussehen würde. Seit dem fünften IPCC-Bericht verwendet man die sog. repräsentativen Konzentrationspfade (RCPs). Die Zahl hinter RCP steht für die Energie, die im Treibhaus ‚Erde‘ überschüssig verbleibt (vgl. Fußnote auf S. 53). Im Falle des pessimistischen RCP 8.5 würden also gegenüber einer ausgeglichenen Energiebilanz 8,5 W/m2 für eine starke Aufheizung des Planeten sorgen, siehe dazu eine Szenario-Beschreibung des Deutschen Klimarechenzentrums https://www.dkrz.de/kommunikation/klimasimulationen/de-cmip5-ipcc-ar5/ergebnisse/meereis/rcp8.5 (Abrufdatum 17.8.2020).
>> vgl. Abschnitt Eckdaten: °C, CO₂ & Co, Aspekt CO₂-Gehalt der Atmosphäre, S. 49f..
Direkt daran anknüpfend ist festzuhalten, dass man davon ausgeht, „dass ein Temperaturanstieg von nur vier Grad die Ernteerträge um ganze 60 Prozent reduzieren könnte“ (Wallace-Wells 2019, 262).
Würden die beiden letztgenannten Punkte Realität, wird es keine 11 Milliarden Menschen auf dem Planeten geben (können).
In diesem Fall schätzt Maxton, dass „[d]ie Weltbevölkerung … nie die 10 oder 11 Milliarden erreichen [wird], die von den Vereinten Nationen einst prognostiziert wurden“;
Rahmstorf weist ähnlich wie Maxton darauf hin, dass viele Kolleg*innen davon ausgehen, dass „wir niemals auf vier Grad Erwärmung kommen würden, weil uns vorher die Wirtschaft zusammenbricht und die Welt in Konflikten versinken würde“;
Schellnhuber nennt die Zahl „Eine Milliarde Überlebende“;
Welzer vermutet: „Eine Milliarde Menschen vielleicht. Eher weniger“ – und
Kevin Anderson spricht von einer Weltbevölkerung von nur 500 Millionen.
>> Zahlen stammen aus Abschnitt Klimakrisen-Folgen zu Lebzeiten der derzeitigen Entscheider*innengeneration – in Deutschland, S. 114, Abschnitt Sind wir nicht (fast) alle mehr oder weniger kleine oder gar große Klimawissenschaftsleugner*innen?, S. 216 sowie Abschnitt Konfliktpotenziale der Klimakrise: Armut, Klimakriege, ‚Natur‘-Katastrophen, Flucht, S. 632.
Rosling, Hans (2014): „Will saving poor children lead to overpopulation?“. in: Gapminder Foundation, 20.1.2014, online unter https://youtu.be/BkSO9pOVpRM/ (Abrufdatum 15.11.2019)
Rosling, Hans (2018): Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ullstein.
Schmundt, Hilmar (2019a): „‚Wir sind spät dran‘. Globalisierung: Der Demograf Reiner Klingholz erklärt, wie Afrika aus der Überbevölkerungsfalle entkommen kann – und welche Länder auf diesem Weg bereits erfolgreich sind“. in: Der Spiegel, Nr. 24/8.6.2019, S. 113.
Schmundt, Hilmar (2019b): „Leerer Planet“. in: Der Spiegel, Nr. 21/18.5.2019, S. 103.
Wallace-Wells, David (2019): Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung. Ludwig.
Weber, Andreas (2020): „Ökosysteme sind Liebesprozesse“. [Auszug aus: Zurück zur beseelten Natur – Plädoyer für einen Perspektivwechsel]. in: Bergwaldprojekt Journal, Frühjahr 2020, S. 22-23.
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2017): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
>> Der Abschnitt Agrarkultur/Landwirtschaft ist der bodenbewahrenden Agrarkultur gewidmet inkl. der Aspekte Gülle, Stickstoffe, sauberes Trinkwasser, globale Landwirtschaft. >> Die weiteren Aspekte der Massentierhaltung finden sich im Abschnitt Fleisch, Fisch & Ernährung.
„[J]eder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.“ Karl Marx
Bodenbewahrende Agrarkultur vs. konventionelle industrielle Landwirtschaft
Die konventionelle industrielle Landwirtschaft hat weltweit einen Anteil von etwa 25-30% an den CO2e-Emissionen (vgl. Gonstalla 2019, 54), maßgeblich über (die in CO2e umgerechneten) Methan- und Lachgasemissionen.
Und:
„Ein Drittel aller Agrarflächen ist von Bodendegration betroffen, das heißt ihre Ökosystemfunktionen sind eingeschränkt, bis hin zum vollständigen Verlust“ (ebd.).
„Als wichtigsten Faktor des Artensterbens benennt der [2019er] Bericht [des Weltbiodiversitätsrats (IPBES)] die Auswirkungen durch die Landwirtschaft… [Einer der Leitautoren des Berichts, Josef Settele, hebt hervor:] Auch wenn die Landwirtschaft als Hauptverursacher beschrieben sei, sollten sich Bauern nicht als Buhmann fühlen. ‚Sie werden durch die Subventionen behindert oder gar bestraft‘, wenn sie umweltfreundlich wirtschafteten. Das gelte es zu ändern“ (Schwägerl 2019).
Dieser Ansicht schließe ich mich hiermit und im Lichte der folgenden Ausführungen unbedingt an.
Konventionelle industrielle Landwirtschaft
Grundzug der industriellen Landwirtschaft ist, mit
schweren Maschinen, die der Bodenstruktur schaden,
tiefem Pflügen,
synthetischem, auf der Basis von Erdgas (Methan) hergestelltem Stickstoffdünger (Kunstdünger),
Pestiziden, d.h. sog. Pflanzenschutzmitteln, unterteilt in
Herbizide à la Glyphosat (= Roundup) gegen ‚Beikräuter‘
Insektizide gegen schädliche Insekten
Fungizide gegen Pilze
gentechnisch veränderten Pflanzen (in fast allen Regionen der Welt)
auf großflächigen Monokulturen unter erheblichen Kapitaleinsatz standardisierte Lebensmittel per Massenproduktion herzustellen.
„Weltweit ist die Menge der eingesetzten Pestizide seit 1950 um das Fünfzigfache gestiegen“ (Wenz 2020, 18).
>> Die Folgen sind eklatant, siehe Abschnitt Massenaussterben | Biodiversitätsverlust Aspekt Insekten- und Bienensterben, S. 673f.
An dieser Stelle sei hier hinsichtlich des Insekten- und Bienensterbens nur kurz darauf verwiesen, dass das Insektensterben sogar an Kuhfladen abzulesen ist, die mittlerweile gern mal als ‚Betonfladen‘ tituliert werden, weil sie sich vielerorts aufgrund des Fehlens von Dungkäfern nicht mehr zersetzen (vgl. Sparmann 2020, 17).
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Alexandra-Maria Klein merkt darüber hinaus an, dass „[o]hne die auf sie spezialisierten Käfer … der Boden mit Dungplatten übersät [wäre]. Dieses ökologische Problem gab es schon einmal: Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts Rinder in Australien eingeführt wurden, fehlten die Dungkäfer dort. Erst als auch sie importiert wurden, war das Problem behoben“ (2020, 45).
„Als eine der Ursachen gelten Insektizidrückstände im Kraftfutter, die mit dem Kot von Nutztieren ausgeschieden werden – um dann ihre tödliche Wirkung bei den nützlichen Käfern zu entfalten“ (ebd., 17).
Man kann sich leicht vorstellen, dass eine „Weidehaltung [ohne Insekten] … nur schwer möglich [wäre]. Insektenlarven beugen gemeinsam mit Regenwürmern und Mikroorganismen der Erosion vor, indem sie die Böden stabilisieren“ (Klein 2020, 45).
Europa ist der letzte gentechnikfreie Kontinent (vgl. Asendorpf 2017), sodass außerhalb Europas noch der Einsatz von genveränderten Pflanzen, zu denen es ‚passende‘ chemische Produkte gibt, die alles Leben außer der gentechnisch veränderten Pflanzen abtöten, hinzukommt und der eine m.E. erschreckende Normalität besitzt
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So sehr sich europäische Verbraucher*innen an dem Gedanken stören gentechnisch manipulierte Pflanzen essen, so emotional unempfindlich sind sie gleichzeitig gegenüber der Tatsache, dass sie Milch trinken oder Fleisch essen von Nutztieren, deren Ernährung vorwiegend oder ganz aus Gen-Soja besteht.
1:32 h – Film-Doku ‚Roundup – der Prozess‘. [Eine Doku mit einem symbolischen Tribunal gegen Monsanto inkl. diverser Fakten zum Thema ‚Glyphosat‘/‚Roundup‘]. ARTE 2017, s. https://youtu.be/PRsP_Plj5R4 (Abrufdatum 28.11.2023)
>> Empfehlung: Film-Doku ‚Roundup – der Prozess‘. [Eine Doku mit einem symbolischen Tribunal gegen Monsanto inkl. diverser Fakten zum Thema ‚Glyphosat‘/‚Roundup‘]. ARTE 2017, s. https://youtu.be/PRsP_Plj5R4 (Abrufdatum 28.11.2023)
Während Glyphosat auf einem gentechnikfreien Feld ausschließlich vor der Wachstumsphase der Nutzpflanzen zum Einsatz kommt, geschieht dies bei dem gegen Glyphosat resistenten Genpflanzen etc. darüber hinaus auch während der Wachstumszeit. Hier wird also i.d.R. noch mehr und zu einem hinsichtlich möglicher Rückstände in Nahrungsmitteln (noch) kritischerem Zeitpunkt ‚gespritzt‘ – zum Nachteil von Mensch, Tieren inkl. Insekten und allem ‚Ackerleben‘.
Das geplante Freihandelsabkommen EU-Mercosur (vgl. S. 414) zwischen Schlüsselländern Südamerikas und der EU soll u.a. die Sojamärkte für Europas industrielle Massentierhaltung sichern.
„[K]aum bekannt [jedoch] ist, dass das Abkommen auch eine weitreichende Liberalisierung des Handels mit Chemikalien umfasst. Die größten Pestizidkonzerne der Welt – die deutschen Unternehmen Bayer und BASF sowie Syngenta aus der Schweiz – wird das freuen. Die Insektenwelt der Mercosur-Länder nicht“ (Santos 2020, 21).
Hiermit ist nun grob die typische Vorgehensweise der industriell-konventionellen Landwirtschaft umrissen.
Weitverbreitet ist die Sichtweise, dass allein dieser konventionelle, agrarindustrielle Ansatz die (globale) Nahrungssicherheit gewähre und somit alternativlos sei.
Details
Dieses Argument wird auch verbunden mit der Behauptung, Bio sei stets weniger ertragreich als Konventionell. Nun, das wird in vielen Fällen auf dem Papier so sein, weil konventionell ja auch die Faktoren ‚Ausbeutung‘ und ‚Externalisierung‘ beinhaltet, doch gibt es – auch davon unbenommen – diverse Zahlen und Studien, die das die These so nicht haltbar erscheinen lassen. „Ein Langzeitversuch von [der in Bereich Bio-Agrikultur forschenden NGO] Rodale ergab, dass gerade in Trockenzeiten Öko-Ernten höher ausfallen, bei Biomais waren sie fast ein Drittel höher als bei konventionellem“ (Scheub/Schwarzer 2017, 63). Eine Metastudie der Uni Michigan errechnete, dass Ernteerträge in den gemäßigten Klimazonen lediglich 92%, in den tropischen hingegen über 180% in Relation zu den konventionellen Erträgen betrugen (vgl. ebd., 82). Besonders ertragreich scheinen Permakulturen (vgl. ‚Nahrungswald‘) zu sein, was sowohl Scheub/Schwarzer als auch die Film-Doku Tomorrow anhand des Beispiels Bec Hellouin in Frankreich hervorheben, deren Produktivität „das Zehnfache einer traktorbetriebenen Biofarm [beträgt]“ (Scheub/Schwarzer 2017, 101, vgl. Laurent/Dion 2016, s.a. https://www.fermedubec.com/english/ (Abrufdatum 7.7.2020).
Tatsächlich ist es umgekehrt:
Die Alternative ist gar keine Alternative, sondern der einzige dauerhaft gangbare Weg.
Warum?
Weil die industrielle Landwirtschaft mittelfristig die Ackerböden zerstört und damit ihre – und damit auch unsere – Existenzgrundlage.
Ohne Humus kein Homo Sapiens. Wir sind der Homo Humus. Und nebenbei ist es nicht ganz unbedeutend und garantiert kein Zufall, dass unser Planet genau so heißt wie der Boden auf dem wir stehen: Erde ist in jeder Hinsicht unsere Lebensgrundlage.
>> Der Begriff ‚Homo Humus‘ entstammt einer Artikelüberschrift von Ingo Arend in Der Freitag, 2001.
Die industrielle Landwirtschaft befördert zudem massiv die Klimakrise und das Artensterben.
Unter anderem durch die…
3 min – DUH: „Vom wertvollen Nährstoff zum Umweltproblem – warum weniger Stickstoff die Lösung vieler Probleme ist“, online unter https://youtu.be/hMLA7Yhq_rY (Abrufdatum 3.12.2021)
Stickstoffdüngung in der industriellen Landwirtschaft
Stickstoffdünger ist das, was man gemeinhin als Kunstdünger bezeichnet.
Der Name trifft zu, denn Kunstdünger ist wie z.B. auch Kunststoff ein Produkt der Petrochemie: Er entsteht u.a. mit dem Haber-Bosch-Verfahren in sehr energieintensiven mit hohen Temperaturen (bis zu 500 °C) einhergehenden Produktionsprozessen, meist auf der Basis von Erdgas (Methan) sowie mit – je nach Produktionsvariante – schwerem Heizöl und zusätzlichem Strombedarf (vgl. Bundestag 2018, 4-5).
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„Mit größter Energie widmet er [Fritz Haber] sich [1914] dem Aufbau der Ammoniakproduktion der BASF, mit der Deutschland große Mengen Sprengstoff und Kunstdünger herstellen und den Krieg über Jahre durchhalten konnte. Für das dabei eingesetzte Haber-Bosch-Verfahren wird er 1919 den Nobelpreis für Chemie erhalten – eine bis heute umstrittene Entscheidung“ (Sietz 2014), auch weil Haber maßgeblich den Einsatz von Chlorgas im Ersten Weltkrieg ermöglicht, gefördert und vor Ort begleitet hat (vgl. ebd.).
Bei der Ammoniak-Synthese, die Teil des Produktionsprozesses ist, werden „[p]ro Tonne produziertem NH3 [Ammoniak] … zwei Tonnen klimaschädliches Kohlenstoffdioxid CO2 freigesetzt. (Bundestag 2018, 4).
„Mit einem Anteil von einem bis drei Prozent am weltweiten Energiebedarf ist die Ammoniaksynthese einer der größten industriellen Energieverbraucher“ (Bundestag 2018, 4).
„Insgesamt entfallen global gut 2% der Treibhausgase auf die Produktion von mineralischen Stickstoffdüngern und deren Anwendung [auf dem Feld –] sowie 3,8 % auf organische N-Quellen[, d.h. organische Stickstoff-Quellen wie z.B. Gülle]“ (BLW 2013).
„Kunstdünger bleibt nur kurz[e Zeit] im Boden. 40 Prozent wird als Nitrat ausgewaschen, insgesamt rund 55 Prozent als Lachgas und Stickstoff oder als Ammoniak [– Stichwort: Feinstaubbildung –] in die Atmosphäre abgegeben“ (Scherber 2020, 26)
Das bedeutet auch, dass ein relevanter Teil des global geförderten Erdgases [=Methan] für die Düngemittelproduktion verwendet wird.
„Die eingesetzten fossilen Brennstoffe (Erdgas, Erdöl, Kohle) dienen der Bereitstellung des Wasserstoffs für das Haber-Bosch-Verfahren“ (Bundestag 2018, 4). Dieser Wasserstoff kann und muss künftig durch erneuerbare Energien wie Wasserelektrolyse hergestellt werden – und das ist nur dann möglich, wenn z.B. in Deutschland ausreichend Windenergie- und Solaranlagen (etc.) aufgebaut werden.
Die Düngung mit Stickstoff ermöglichte tatsächlich dort „zwei Halme wachsen zu lassen, wo bisher nur einer wuchs“ – so legt Heinrich Spoerl die Worte Friedrich ‚des Großen‘ in den Mund Hans Pfeiffers in der ‚Feuerzangenbowle‘ – allerdings ist dafür ein Preis zu zahlen, der dauerhaft sehr hoch ausfällt:
Apropos 'Feuerzangenbowle'
In der Feuerzangenbowle (nur in der Film-Produktion) weist Heinz Rühmann/Hans Pfeiffer verkleidet als Professor Crey in der letzten Unterrichtstunde übrigens auf den ‚großen Chemiker‘ hin, der die moderne Agrikulturchemie erfand, der es fertigbrachte zwei Halme wachsen zu lassen, wo bisher nur einer wächst: „Wir können ihn gewissermaßen den Vater des Kunstdüngers nennen“ (Spoerl 1944). Gemeint ist Justus von Liebig (1803-1873), der die Grundlagen für das spätere Haber-Bosch-Verfahren legte.
„Die negativen ökologischen Folgen der mineralischen Düngung haben inzwischen ein bedrohliches Ausmaß erreicht. Das betrifft vor allem die Düngung mit Stickstoff. Die Folgen sind Humusabbau, Verlust von Biodiversität, Bodenversauerung und Lachgas-Emissionen, mit negativen Auswirkungen auf die zukünftige Nahrungsproduktion. Die zunehmende Bodenversauerung verringert die Phosphat-Aufnahme, erhöht die Konzentration toxischer Ionen im Boden und hemmt das Pflanzenwachstum; verstärkter Humusabbau im Boden verringert sein Nährstoff-Speichervermögen, und Treibhausgase aus überschüssigem Stickstoff belasten das Klima. So zerstört synthetischer Stickstoff zentrale Produktionsgrundlagen der Landwirtschaft und gefährdet zukünftige Ernährungssicherung“ (WWF/Böll 2013, 7).
„Auf synthetischen Stickstoff sollte deshalb [künftig] vollkommen verzichtet werden, andere Nährstoffe müssen in den Kontext einer umfassenden Bodenfruchtbarkeitsstrategie integriert werden. Zentral sind dafür Techniken, die die Erhaltung und den Aufbau von Bodenhumus gewährleisten. Von wesentlicher Bedeutung sind hierbei Kompostierungsverfahren, tierische Dünger, Agroforstwirtschaft, Gründüngung und Intensivbrache“ (ebd.).
Und, noch einmal auf den Punkt gebracht:
„[D]ie heutige Stickstoffdüngung gefährdet die Ernährungssicherung von morgen“ (ebd.).
Und nur weil ein Verfahren ab dem frühen 20. Jahrhundert zunächst augenscheinlich gut funktionierte für Ackerböden der gemäßigten Klimazonen, bedeutet das noch lange nicht, dass der umfangreiche Einsatz von Kunstdünger dauerhaft und global eine gute Idee ist:
„Kunstdünger [hat] auf übernutzten Böden im subsaharischen Afrika kaum Wachstumswirkung“ (Scheub/Schwarzer 2017, 137).
„Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass in vielen kleinbäuerlichen Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas die durch Mineraldünger erzielbaren Mehrträge gering sind. Der Grund dafür ist die weit verbreitet geringe Fruchtbarkeit von Böden, die jahrzehntelang übernutzt, ausgelaugt, versauert oder der Erosion preisgegeben wurden. Das Vermögen degradierter Böden, gedüngte Nährstoffe pflanzenverfügbar zu machen und auch sonst günstige Wachstumsbedingungen zu ermöglichen, ist häufig auf ein Minimum reduziert“ (WWF/Böll 2013, 29).
…sodass das ernüchternde Fazit wie folgt lautet bzw. zu lauten hat:
„Berücksichtigt man Kollateralschäden der industriellen Landwirtschaft wie verstärkte Bodenerosion, das Artensterben oder Wasserverschmutzung, dann ist sie der bäuerlichen Landwirtschaft keineswegs überlegen. Das zumindest ist das Ergebnis des Weltagrarberichts, den 400 Wissenschaftler 2008 für die Weltbank und die Uno erstellt haben. Die Zukunft der Landwirtschaft müsse eher kleinteilig, vielfältig und regional sein“ (Klawitter 2019, 81).
Wenn die Sache so klar ist, warum läuft es dann komplett andersherum?
Landwirtschaft, Energiesektor, Großindustrie, Dieselskandal, Naturschutz – es ist immer das gleiche: Wo zu viel Geld im Spiel ist, sorgen mächtige Lobbys dafür, dass die Logik des Geldes und nicht die der Natur bzw. der Nachhaltigkeit zum Tragen kommt. Man sollte nie übersehen, das sich im derzeitigen System eine nicht-nachhaltige Natur- und Ressourcenausbeutung lohnt bzw. belohnt wird (vgl. Aspekt ‚Roboterbienen S. 455).
Und: Ein CEO eines börsennotierten Unternehmens kann nur dann tun, was für die Shareholder des Unternehmens maximalen Profit abwirft. Es sei denn, Gesetze und Regulierungen sorgen dafür, dass das Unternehmen samt Konkurrenz entsprechende Auflagen erhält (vgl. Michael Kopatz auf dem Ersten Hamburger Klimagipfel sowie Kopatz 2016).
„So schätzen die IPCC-Autoren [des Sonderberichtes Klimaschutz und Landsysteme], dass etwa ein Viertel der eisfreien Landfläche von Bodendegeneration betroffen ist, rund eine halbe Milliarde Menschen lebt in Regionen, in denen die Wüstenbildung voranschreitet. Beides ist vor allem eine Folge nicht-nachhaltiger Nutzung; durch konventionelles [tiefes] Pflügen geht… hundert- bis tausendmal mehr Boden verloren, als neu gebildet wird. Aber auch der Klimawandel beschleunigt… Erosion und Wüstenbildung“ (Weiß 2019, 12).
Und:
„Je kürzer [durch Kunstdünger degradierte] Ackerflächen nutzbar sind, desto höher ist der Druck, beispielsweise durch Rodung neue fruchtbare Flächen zu erschließen“ (Berkel 2019).
Es geht also darum, sich als Menschheit nicht mit jedem Jahr, in dem ein Boden agrarindustriell genutzt wird, quasi mit der Sense der Petrochemie den Boden unter den Füßen wegzuschlagen.
Kommen wir also zu der Alternative, die keine ist, sondern unabdingbar – kommen wir zur: bodenbewahrenden Agrarkultur:
Diese ‚Alternative‘, deren Nutzung in ihrer Pluralität der Anbauformen existenziell ist, hat viele Bezeichnungen.
Scheub und Schwarzer (vgl. 2017, 16-18) heben hervor, dass der Begriff ‚Landwirtschaft‘ eben auf ländliche Räume abhebt, während das Wort ‚Agrar‘ neutraler auch städtische Regionen mit einbezieht. In Abgrenzung vom industriellen Prinzip und der Betonung der Förderung des lebendigen, des bewahrenden, des Humus-aufbauenden und des regenerativen sowie des im globalen Maßstab tendenziell kleinbäuerlichen Ansatzes liegt es des Weiteres nahe, dem Begriff ‚Kultur‘ gegenüber ‚Wirtschaft‘ den Vorzug zu geben. Daher wird im Folgenden der Begriff ‚bodenbewahrende Agrarkultur‘ verwendet.
„Kleinbauern kühlen die Erde.“ (Naomi Klein 2015, 189)
Bodenbewahrende Agrarkultur: Humus und Kompost statt Stickstoff
„[I]n most places on Earth, ‚we stand only six inches form desolation, for that ist he thickness of the topsoil layer upon which the entire life depends‘“ (Chiras 2006, 171).
„In einer Handvoll gesunder Erde gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf dem Planeten, in einer Handvoll agroindustriell behandeltem Boden hingegen nur noch einen Bruchteil davon“ (Scheub/Schwarzer 2017, 11).
Neben Regenwürmern, Ameisen, Spinnen, Schnecken, Käfern, Larven, Ohrenkneifern und diversem Kleingetier wie Asseln, Tausendfüßler, Insekten/Kerbtieren inkl. Spinnen ist hier von diversen Mikroorganismen die Rede, darunter Bakterien; symbiotische Mykorrhizia-Pilze, die riesige, den Boden stabilisierende Fädennetze bilden; Algen; Geißeltierchen; Wurzelfüßler/Amöben/ Wechseltierchen; Wimperntierchen; Rädertierchen; Fadenwürmer; Milben; Springschwänze; Borstenwürmer/Ringelwürmer, … etc. (vgl. Scheub/Schwarzer 2017, 125-130) – sie alle bilden eine humusanreichernde Lebensgemeinschaft zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit, welche die Ernteerträge befeuert (vgl. ebd., 131).
Von diesen Tieren und Mikroorganismen macht der Agrarindustrie täglich einen großen Teil platt. Es ist irritierend, so viele verschiedene Lebewesen von vorneherein als Feinde der Ernte zu sehen – denn wir haben davon auszugehen, dass die Evolution keine Fehler macht.
Die allgemeine Annahme, „der Boden sei ein Gefäß, dem ständig Nährstoffe entzogen werden, welche man wieder nachfüllen muss… [ist falsch und] blendet komplett aus, dass Mikroorganismen und Pflanzen über ihre Wurzeln Nährstoffe freisetzen können. Durch diese biogenen Prozesse stehen in der Regel sogar mehr Nährstoffe zur Verfügung als über Düngemittel. Gründüngung und Zwischenfrüchte sind hier deutlich leistungsfähiger als eine klassische organische Düngung“ (Scheub/Schwarzer 2017, 142).
Gesunde, d.h. fruchtbare Erde ist Humus. „Als Humus wird die Gesamtheit der abgestorbenen und zersetzten organischen Substanz eines Bodens bezeichnet“ (Scheub et al. 2013, 18). Diese gesunde Erde, Humus, enthält alles, was unsere Nahrung-liefernden Pflanzen zu einem kräftigen Wachstum benötigen. Und mehr: Hauptbestandteil von Humus ist Kohlenstoff (vgl. Scheub/Schwarzer 2017, 12).
In dem die Menschheit die erodierten, degenerierten, kohlenstoffarmen Böden regeneriert, zieht sie massiv Kohlenstoff aus der Erdatmosphäre und sichert gleichzeitig die auf diese Weise rekarbonisierten Böden für künftige Generationen als Grundlage der Ernährung der Menschheit.
Ute Scheub und Stefan Schwarzer zitieren den US-Agrarwissenschaftler Timothy LaSalle mit den Worten:
„Planetarisches Bio-Engineering sei billig und überall anwendbar – sein Name: Photosynthese. Pflanzen holen Kohlendioxid aus der Luft sowie Wasser und Nährstoffe aus dem Boden, mittels Sonnenenergie produzieren sie daraus lange Kohlenhydratketten: Zucker, Stärke, Zellulose. Einen Teil des Kohlenstoffs verbrachten sie über ihre Wurzeln unter die Erde… Sterben die Pflanzen, gelangt im Rahmen des globalen Kohlenstoffkreislaufs ein Anteil wieder als CO2 in die Atmosphäre, ein anderer verbleibt im Boden und wird unter günstigen Bedingungen zu stabilem Humus“ (2017, 13).
Im weltweiten Maßstab gibt es nicht die eine ideale bodenbewahrende Agraranbaumethode – statt dem unangepassten Gießkannenprinzip der Agrochemie bzw. der industriellen Landwirtschaft gilt es, die jeweils optimale klima- und wetterangepasste Anbaumethode aus einem ganzen Konglomerat bewährter alter und neuer Methoden herauszufinden.
Dazu gehören „Permakultur, Waldgärten, Biointensivkulturen, pfluglose Bodenbearbeitung [‚No-till‘ genannt]1, Untersaaten, Mischkulturen, Agroforstsysteme, Holistisches [=ganzheitliches] Weidemanagement, Wassersammelsysteme bis zu Wüstenbegrünung“ (Scheub/Schwarzer 2017, 14) – „[i]mmer [geht es] um Kreislaufwirtschaft, das Arbeiten mit der Natur und nicht gegen sie“ (ebd., 18).
Weitere Aspekte sind kleine Felder mit unterschiedlicher Nutzung, Blühstreifen2, Hecken – sowohl als Rückzugsräume als auch als Windschutz gegen Erosion, Feldraine3, Zwischensaaten/Gründüngung/Intensivbrache z.B. mit Leguminosenanbau4 per stickstoffbindender Lupine, Soja, Ackerbohne, Erbse, Luzerne und Klee, wechselnde Fruchtfolgen, der gezielte Einsatz von Nützlingen, die mechanische (statt chemische) Entfernung von ‚Beikräutern‘, Verwendung von Sorten, die den Bodenverhältnissen entsprechen und zum Klima passen (vgl. Decken 2020, 24-25 u. Wenz 2020, 40).
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 „Nackte Böden, tiefes Pflügen, unangepasste Bodenbewirtschaftung – alle das fördert den Abbau organischer Substanz, Kohlenstoff oxidiert zu CO2“ (Scheub/Schwarzer 2017, 38). An anderer Stelle heben Scheub und Schwarzer hervor, das tiefes Pflügen „den Boden komplett durcheinander [bringt]: Sauerstoffunabhängige Bodenlebewesen geraten in Schichten, wo sie nicht mehr atmen können und ersticken, Sauerstoffunabhängige werden nach oben in die Luft befördert, wo sie ebenfalls absterben. Und liegt der Acker ohne schützende Gründecke da, werden seine Freunde Wasser und Wind zu seinen Feinden, die ihn zerstören“ (2017, 42). Humus-arme Böden sind porenarm und können daher weniger Wasser speichern (vgl. ebd., 48). Zur Wasserhaltefähigkeit tragen auch die Mikroorganismen eines lebendigen Bodens bei (vgl. ebd. 60.), es gilt die Formel „pro Prozentpunkt Humus und Quadratmeter 16 Liter“ (ebd., 150).
2 Blühstreifen sind ein gutes Beispiel dafür, dass ‚gut gemeint‘ nicht unbedingt hilfreich ist und Eingriffe in die Natur eben wohlüberlegt zu sein haben. „Seit dem Volksbegehren [in Bayern] gebe es für die Wildbienen [auch in Städten] gezielte Maßnahmen, wie Flächen mit heimischen Blütenpflanzen. Problem aber sei, dass bei den meisten Blühflächen die ausgesäten Pflanzen häufig nicht die geeigneten sind. ‚Das sieht zwar nett aus, ist aber nur Kosmetik und bringt den Wildbienen gar nichts‘, kritisiert [Wolfgang] Willner [vom Bund Naturschutz (BN)]. Gerade auch, da die Flächen im Herbst umgeackert werden und dadurch die Brut im Boden zerstört wird (Regelein 2020).
3 Diesen Begriff kennt die/der gemeine Städter*in heute wohl nur noch aus Gedichten, die in der Schule durchgenommen werden: Er beschreibt einen Randstreifen oder Grenzstreifen zwischen zwei Äckern.
4 „Leguminosen … sind in der Lage, Stickstoff aus der Luft in Eiweiß zu verwandeln. Doch in Deutschland werden … [sie] kaum noch angebaut“ (Asendorpf 2018b, 2). „Leguminosen [sind] nicht auf Stickstoff im Boden angewiesen. Im Gegenteil: In ihren Wurzelknöllchen siedeln Bakterien, die den Stickstoff direkt aus der Luft aufnehmen und an die Pflanze weitergeben“ (ebd., 6).
Regenerative Agrarkultur unter Extrembedingungen
Burkina Faso, Niger und Mali: Die Rückkehr der Bäume und Agrarkultur
Über die Arbeit von Yacouba Sawadogo wurde schon im Abschnitt Bäume pflanzen/globale Aufforstung (vgl. S. 470f.) berichtet, der in Burkina Faso in der Sahelzone mit Hilfe der von ihm weiterentwickelten Kompost-basierten Zai-Technik aus einer wüstenartigen Region tatsächlich ‚blühende Landschaften‘ machte, sodass durch die Rückkehr von Bäumen und Büschen das lokale Klima und die Böden wieder relevante Agrarkultur zulassen.
2018 erhielt neben Yacouba Sawadogo auch Tony Rinaudo den Right Livelihood Award – den sog. alternativen Nobelpreis.
„Als Tony Rinaudo Anfang der [19]80er-Jahre erstmals in den Süden Nigers kam, entdeckte er, dass von Bäumen entblößte Ackerflächen dort biologisch keineswegs tot waren. Vielmehr hatten im Untergrund zahllose Baumwurzeln, Stümpfe und Samen überlebt. Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alte Waldreste, die regelmäßig zur Regenzeit neue Triebe entwickeln. Diese Triebe wurden bis dahin allerdings genauso regelmäßig von Ziegen abgefressen oder beim Abbrennen der Felder vernichtet“ (Kruchem 2018).
Niemand in der Bevölkerung hatte Anlass, daran etwas zu ändern, zumal die Annahme weitverbreitet war, dass „Bäume ihre Böden unfruchtbar machten; dass sie Schlangen und Vögel, die die Saaten fressen, anlockten“ (ebd.). Doch nach einer Hungersnot, viel Überzeugungsarbeit und
„[n]ach einer Gesetzesänderung, wonachBäume ihnen gehören, haben Bauern in Niger seit 1985 ungefähr fünf Millionen Hektar mit Bäumen und Büschen wiederbegrünt. Mit der Vegetation kehrte der Regen zurück, kleine Wasserkreisläufe regenerierten sich“ (Scheub/Schwarzer 2017, 183-184).
„Heute stehen im Süden Nigers 280 Millionen Bäume – 40 mal mehr wie vor 30 Jahren“ (Kruchem 2018) – und das ist eine wichtige Voraussetzung für alles weitere, Rinaudo wird an gleicher Stelle zitiert mit dem Hinweis, „Nahrungsmittelproduktion in der Sahelzone funktioniere nur mithilfe von Bäumen“.
Wie wichtig gesetzliche und soziale Rahmenbedingungen sind verdeutlicht eine ähnlich verlaufene Entwicklung in Mali:
„In Mali wurde 450.000 Hektar regeneriert, nachdem 1994 das Waldgesetz demokratisiert worden war“ (Scheub/Schwarzer 2017, 183-184).
1:50 min: Der Waldmacher [=Tony Rinaudo] | Offizieller Trailer | Kinostart 7. April 2022
Am 7. April 2022 kommt der Film „Der Waldmacher“ des Oskar-Preisträgers Volker Schlöndorff in die Kinos. Der 83-jährige selbst bezeichnet seine Doku – seine erste Doku überhaupt – als Doku-Essay. Der Film portraitiert Tony Rinaudo sowie das Leben der Menschen, deren Leben im weitesten Sinne mit dem Lebenswerk des „Waldmachers“ verknüpft ist. Ein Film, der das Leben in der Sahelzone in seiner Komplexität darstellt – und zeigt, was auf dem ‚geschundenen‘ Kontinent möglich ist. Prädikat wertvoll. Prädikat wertvoll.
Ägypten: Die Sekem-Farm: Humus schlägt Wüste
Die Sekem-Farm am östlichen Rand von Kairo beeindruckt auf seine Weise ebenfalls sehr stark:
Hier hat Ibrahim Abouleish (1937-2017), der in Österreich und Deutschland Chemie und Medizin studierte, schließlich promovierte sowie mit den Prinzipien der Demeter-Agrarkultur vertraut wurde (vgl. Scheub/Schwarzer 2017, 184) seit 1976 gemeinsam mit einem inzwischen mehr als 2.000 Menschen großem Team (vgl. Pachernegg/Wagner 2019) ein umfangreiches Sozialunternehmen mit Kindergarten, Schule, Theater, Stiftung, einer eigenen Demeter-Produktlinie, Forschungsinstitut und einer gemeinnützigen Universität aufgebaut. Kaum würde dieser Umstand in diesem Kapitel Erwähnung finden, wenn das Ganze nicht im wahrsten Sinne des Wortes auf Sand gebaut wäre: Mittlerweile „sind fast 700 Hektar Wüstensand mit Kompost und Demeter-Präparaten [zu Humus und damit] fruchtbar gemacht worden; hinzu kommen 1.700 Hektar, die von 800 Vertrags-Ökobauern bewirtschaftet werden“ (Scheub/Schwarzer 2017, 184; wikipedia nennt hier die Zahl 200 Kleinbauern, vgl. 2020a).
>> Sekem = altägyptische Hieroglyphe für ‚sonnenhafte Lebenskraft‘ oder auch ‚Lebenskraft der Sonne‘
Machen wir uns das klar:
Wüstensand + Demeter-Kompost + Wasser + jede Menge Arbeit = Humus
>> Sehr empfehlenswerte Film-Doku: Pachernegg, Ramon u. Wagner, Jasmine (2019): Sekem – Das Wunder in der Wüste.
Helmy Abouleish, der Sohn des Gründers, beschreibt den Kompost in der hier erwähnten Doku als auf Demeter-Prinzipien basierendem
„Gemisch aus Dünger, Kuh-Dünger und Pflanzenmaterial, welches in unserem Fall dann mit bestimmten Mikroorganismen angereichert wird“ (Pachernegg/Wagner 2019, Min 5ff.), –
und berichtet dann über den Prozess der Wiederbegrünung folgendes:
Dieses mit bestimmten Mikroorganismen angereicherte „Gemisch aus Dünger, Kuh-Dünger und Pflanzenmaterial … [verwandelt] sich innerhalb von 60 bis 90 Tagen in ein neues Material namens Kompost …[,] welcher dann, wenn er dem Wüstensand beigefügt wird, über die Jahre einen lebendigen Boden erzeugt. Man sieht es an der Farbe. Der weiß-gelbliche Wüstensand wird zu Erde und allmählich brauner und brauner, bis sie ganz schwarz ist. Aber das dauert mehrere Jahre und es ist immer ein Prozess, in dem man mehr und mehr lebende Organismen in der Erde erzeugt. Diese lebenden Organismen helfen letztendlich der Pflanze beim Wachsen und helfen uns dabei, Themen wie Wasserknappheit zu bewältigen und sie helfen der Pflanze dabei, das Salz aufzunehmen, das immer an der Oberfläche des Wüstenbodens besteht, wenn man ihn künstlich bewässert. Das Wunder braucht sechs, sieben, acht Jahre, bis wirklich sichtbar ist“ (ebd.), aber teilweise dauert es nur 18 Monate, bis wir soweit sind Pflanzen anbauen zu können (vgl. ebd.).
Abouleish konstatiert:
„Sekem hat ein neues Biotop kreiert, indem es Wüstensand mittels Kompost und biodynamischen Methoden zu fruchtbaren und lebendigen Böden machte“ (zit. in Scheub/Schwarzer 2017, 184).
Wenn man sich per Google Earth, alte und neue Fotos und auch über Film-Dokus die Landschaft der Sekem-Farm, die Bäume, das Grün, die Blüten und vor allem den, jawohl, saftigen Boden anschaut, erscheint dies tatsächlich wie ein kleines Wunder.
Keine Pestizide.
Keine angeblich alternativlose industrielle Landwirtschaft.
Nur und ausschließlich auf Basis von biodynamischem Demeter-Kompost erschaffen.
Chapeau.
Wenn das geht, erscheint vieles möglich. Und die ewigen Behauptungen, was angeblich alles nicht geht, entpuppen sich als: billige Ausreden.
Kaum verwunderlich, dass im Jahre 2003 auch Ibrahim Abouleish – genau wie Yacouba Sawadogo und Tony Rinaudo – den Right Livelihood Award, d.h. den alternativen Nobelpreis erhalten hat.
>> Die Liste der Preisträger*innen liest sich wie ein Who’s Who der die Menschheit wirklich voranbringenden Menschen: Neben den genannten Menschen erhielt in jüngerer Zeit Greta Thunberg (2019), Davi Kopenawa (2019, Brasilien, Schutz von Ureinwohner*innen), Guo Jianmei (2019, China, Frauenrechte), Aminatou Haidar (2019, Westsahara, gewaltloser Widerstand), Thelma Aldana (2018, Guatemala, Korruption), Iván Velásquez Gómez (2018, Guatemala, Korruption), Yetnebersh Nigussie (2017, Äthiopien, Inklusion), Khadija Ismayilova (2017, Aserbaidschan, Korruption), Robert Bilott (2017, USA, Aufdeckung chemischer Umweltverschmutzung) (vgl. wikipedia (2020b)
Wenn man das Wort ‚Wüste‘ vernimmt, könnte man auf den Gedanken kommen, es gäbe dort (in Sekem) gar kein Wasser. Doch wird es in Sekem, damals, als man anfing, am Rande von Kairo in der Umgebung des Nils, unweit des Mittelmeers, kein unmögliches Unterfangen gewesen sein, an Wasser zu kommen – aber Wasserknappheit herrschte definitiv (vgl. Pachernegg/Wagner 2019, Min 5ff.).
Aus Sekem lässt sich neben vielem Anderen lernen, dass man sich tatsächlich erfolgreich Stück für Stück in die Wüste vorarbeiten kann, um den Boden nach und nach wieder urbar zu machen.
Und nebenbei wird in einem ehemals toten Wüstenboden – Klimaschutz pur – viel Kohlenstoff gebunden. Somit bedeutet der Erfolg des Sekem-Projektes innerhalb dieses Handbuches, dass nicht reich an positiven Befunden ist, eine wirklich gute Nachricht.
China: Das desertifizierte Löss-Plateau ergrünt
Im Nordosten Chinas liegt die Wiege der chinesischen Zivilisation, das Lössplateau. Seinen Namen verdankt das Frankreich-große, etwa 1.000x700km umfassende Hochland dem gelbbraunen Löss, einem verfestigten Flugstaub, der als sehr nährstoffreich bekannt ist, sodass es nicht verwundert, dass hier bereits seit etwa 25.000 Jahren Menschen leben und eine der frühesten Agrarkulturen begründeten (vgl. Liu 2009, ca. Min 5).
Es schloss sich die Übernutzung der Biosphäre an: Der Entwaldung der Täler zugunsten Land- und Holzwirtschaft folgte die Entwaldung der Berghänge; der Rückgang der Ernten durch übernutzte Böden führte als Ersatz zu wiederum immer umfangreicherer (Zaun-loser) Haltung von Ziegen und Schafen, die wieder die Pflanzen und Triebe derart stark abfraßen, dass die einst geschlossene (versteppte) Bodendecke mehr und mehr aufriss und schließlich zu 90% (vgl. Liu, Min 18) zerstört wurde: „[D]ie Erde blieb kahl und fast humuslos zurück“ (Scheub/Schwarzer 2017, 185).
Als Liu 1995 mit seiner Arbeit an der hier vornehmlich als Quelle dienenden Film-Doku begann, fand man einen dersertifizierten, ‚Platz‘, genauer den „most eroded place on earth“ (ebd., Min 7), vor. Ohne Pflanzendecke war der Boden dem Regen schutzlos ausgeliefert – und floss (Humus und Löss mitnehmen) sofort und quasi ohne einzusickern in die Flüsse und von dort in den Gelben Fluss. Jürgen Vögele von der Weltbank schildert das Geschehene äußerst plastisch:
„Originally, you had a complete vegetation cover with a fully intact hydrocycle. All the rainfall that fell down, stayed where it was initiall,y it slowly infiltrated into the ground, was absorbed by the whole system, went into the groundwater and eventually drained toin the yellow river, over a long period of time, hundreds of days, between the rainfall and the time in the yellow river. As the vegetation cover was removed gradually, the run-off increased dramatically, every century, every decade, to the point when now when it rains, 95 percent of the water immediatly is lost to the environment where it is coming down. Immediatly it runs off in the valley, takes a lot of the top soil with it and elapses in the yellow river. So we have the situation where literally 95 percent of the water is gone, and this is the reason why this area is so dry, why the rainfall has been decreased, why the vegetation cover can’t hardly be sustained right now, because everything is so dried up“ (Min 12f.).
Die Folge waren bis nach Peking reichende Sandstürme, extreme Sedimentablagerungen an den Ufern des Gelben Flusses, massive, regelmäßige Überschwemmungen während der Regenzeit, gefolgt von ausbleibendem Regen und Dürre in der übrigen Zeit eines Jahres (vgl. Min 15). Hunger, Armut, Obdachlosigkeit, Leid und Tod folgten.
In den 1990er Jahren startete ein Team aus chinesischen und ausländischen Forschern das ‚Loess Plateau Watershed Rehabilitation Project‘:
„Over 3 years, Chinese planners from the Ministry of Water Resources and international planners from the World Bank worked together with experts in hydrology, soil dynamics, forestry, agriculture and economics, [and interviewed the local people], to design [involving the farmers and their needs] a workable project plan. The team divided their work into 2 areas: economic and social well being of the people, and ecologic health of the environment“ (EEMP 2013).
Die Expert*innen und Berater*innen zogen durch die Dörfer und vereinbarten nach vielen Gesprächen schließlich vertraglich, einvernehmlich und transparent mit den Bauern, unzählige Bäume zu pflanzen, einige Landstriche nicht landwirtschaftlich zu nutzen, die Schafe und Ziege einzuhegen, das Regenwasser bremsende kleine Dämme an die Hänge und vor allem Terrassen gegen die Erosion zu bauen, wobei letztere die Bauern selbst besitzen und nach Fertigstellung selbst bewirtschaften sollten: „The people‘s participation became the center part of the project“ (Min. 25).
„One of the most common arguments against change ist hat poor people are so focused on survial they can’t think about sustainablity or enivironmental conservation. In order to help the local people to make the trsition the Loess Plateau Watershed Rehabilitation Project hired them to implement new practises… The project made their work central tot he restore the ecological balance. In short: The people became the solution“ (Min. 26).
Innerhalb von zehn Jahren konnte man die ‚Früchte der Arbeit‘ sehen. In der Film-Doku wird im Vorher-/Nachher-Schnitt im Abstand von 10 Jahren das gleiche Tal zwei Mal gezeigt (Min 34), einmal in Gelb, einmal in Grün: „It’s hard to recognize this place now“, freut sich ein alter Bauer, der die meiste Zeit seines Lebens vor allem gelben Löss vor Augen hatte (Min 42). Heute gibt es dort eine kontinuierliche Bodendecke, einen immer besser funktionierenden Wasserkreislauf, stabilisierte verwurzelte Böden, eine wesentlich höhere Biodiversität inkl. der Rückkehr zahlreicher Blütenpflanzen und Insekten – und in der Bevölkerung einen funktionierende Ökonomie sowie einen sehr viel höheren Bildungs- und Lebensstandard.
Film-Doku Liu, John D. (2009): „Lessons of the Loess Plateau“. in: YouTube.com, 20.6.2011, online unter https://www.youtube.com/watch?v=HjNDiBCb-mE (Abrufdatum 10.7.2020) – Die Doku „Lessons of the Loess Plateau“ kommt im Gegensatz zu vielen anderen Doku-Filmen nicht hochglanzverpackt daher, aber ich rege an, geben sie ihr Zeit, es lohnt sich.
>> siehe Film-Doku Liu, John D. (2009): „Lessons of the Loess Plateau“. in: YouTube.com, 20.6.2011, online unter https://www.youtube.com/watch?v=HjNDiBCb-mE (Abrufdatum 10.7.2020) – Die Doku „Lessons of the Loess Plateau“ kommt im Gegensatz zu vielen anderen Doku-Filmen nicht hochglanzverpackt daher, aber ich rege an, geben sie ihr Zeit, es lohnt sich.
Burkina Faso, Niger, Mali, Sekem in Ägypten und das Lösshochland in China sind herausragende Beispiele, aber stehen keineswegs allein. Ihnen gemeinsam ist, dass sie zeigen, dass es tatsächlich möglich ist, stark beschädigte Ökosysteme zu regenerieren, den Kreislauf von Regen, Verdunstung und Pflanzenwachstum wieder in Gang zu bringen und sogar aus totem Wüstensand puren, äußerst fruchtbaren Humus zu machen – und auf diese Weise auch den Kohlestoffkreislauf zu befeuern in dem Sinne, dass Kohlenstoff dort landet, wo er vornehmlich hingehört: in die Erde.
Und das dient den Menschen vor Ort. Und allen anderen auch.
Um all dies in Gang zu setzen, wurde teilweise Intuition, ganzheitliche Agrarkultur-Erfahrung (Sekem) und – insbesondere im Lössplateau – wissenschaftliche Expertise benötigt. Nur eines kam eigentlich gar nicht relevant zum Tragen: Die Prinzipien der europäisch geprägten konventionell-industriellen Landwirtschaft.
In Relation zu den vorgenannten Extrembeispielen erscheint die humusaufbauende Regeneration degradierter Böden der konventionell-industriellen Landwirtschaft eine vergleichsweise leichte Aufgabe zu sein, wenngleich eine äußerst große und umfangreiche Aufgabe, weil es hier um die weltweite Regeneration der allermeisten agrarkulturell genutzten Böden geht.
Es ist eines der wichtigsten Klimaschutzprojekte überhaupt – und dient ebenso der Vermeidung eines weiter fortschreitenden sechsten Massenaussterbens.
Auch der Prozess der Regeneration solcher Landflächen, damit sie künftig als Klimaschutzinstrument dienen können, kostet Ressourcen und Energie – Ressourcen und Energie, die wir nicht für andere Dinge übrig haben.
Historischer Humusaufbau in den Tropen: Terra Preta
Böden in tropischen Gegenden und im Regenwald sind typischerweise rot: Ferrasol (in etwa: Eisen-Aluminium-Boden).
„Solche Böden sind durch die seit Jahrmillionen anhaltende große Hitze und Feuchtigkeit stark verwittert und versauert… Die Konzentrationen an Aluminium werden so hoch, dass sie auf landwirtschaftliche Nutzpflanzen toxisch wirken. Das gesamte Potenzial dieser Böden liegt daher in einer vergleichsweise geringen Humusschicht. Sie gibt Nährstoffe frei und hält sie [die Humusschicht] in einem engen Zusammenwirken mit den Pflanzen des Waldes im [geschlossenen] System… Wird der Wald gerodet, wird der Humus in kürzester Zeit [ausgewaschen und] abgebaut“ (Scheub et al. 2013, vgl. Ullum 2016, 5).
Mit anderen Worten: Eine Landwirtschaft (und damit Sesshaftigkeit) im traditionell-europäischen Sinne hatte und hat in tropische Gegenden per se erst einmal keine guten Startbedingungen – und Landbau ist auf den besonders schnell degradierenden Böden nur über einen eher kurzen Zeitraum und nur mittels extremen Stickstoffeinsatz möglich. Ersatz für erodierte Böden wird i.d.R. geschaffen, in dem weiter und mehr Regenwald gerodet wird.
Vor diesem Hintergrund „galt es in der Anthropologie als ausgemachte Sache, dass sich in den Regenwäldern am Amazonas [historisch gesehen] unmöglich eine höher entwickelte Zivilisation [mit großen einwohnerstarken Städten] entwickeln konnte“ (Scheub et al. 2013, 40). Daher irritierten die in den 1960er Jahren entdeckten große vorkolumbianische Zivilisationen (vgl. ebd., 41). Doch fand man schließlich „Terra Preta do Indio[,] … Schwarzerde[,] … Oberböden[,]… über 2.000 Jahre alt und immer noch fruchtbar[,] oft einen halben Meter dick, manchmal sogar zwei Meter und mehr“ (ebd., 41-42). Diese Terra Preta do Indio ist anthropogen, d.h. von Menschen hergestellt (vgl. ebd., 55), basiert auf der „Wiederverwendung aller täglich anfallenden Rest- und Abfallstoffe“ (ebd., 44) inkl. „Tonscherben, Knochen, Spuren von menschlichen Fäkalien, Asche und Fischgräten“ (ebd., 42 u. vgl. Ullum 2016, 5) und ist eine Form von Holzkohle bzw. Pflanzenkohle (vgl. ebd., 44). Das Wissen um das Herstellungsverfahren der Terra Preta do Indio ging spätestens im Zuge der Kolonisierung verloren (vgl. ebd., 45).
Anmerkungen
Auch in im asiatischen Raum, konkret in China, Japan, Indien und Korea soll es laut Scheub et al. (2013, 62) sowie gemäß Grefe (2011) systematischen Humusaufbau mittels Pflanzenkohle gegeben haben.
Interessanterweise gibt es „Berichte über das Nachwachsen von teilweise abgegrabenen Terra-Preta-Böden… Möglicherweise [– und das ist bislang nur eine Hypothese –] ist dafür der Schimmelpilz Aspergillus niger verantwortlich, der den Kohlenstoff aus abgestorbenen Holz produzieren kann“ (Scheub et al. 2013, 50-51).
Über die Art und Weise, wie die Menschen der südamerikanischen Hochkulturen Terra Preta do Indio konkret herstellten, gibt es lediglich Hypothesen (vgl. ebd., 45f.): Naheliegend ist, das große Tongefäße mit Deckel, deren Scherben bei den Feldern gefunden wurden (vgl. ebd., 47 u. Grefe 2011) für die notwendige Fermentierung unter Luftabschluss verwendet wurden.
Terra Preta ist also eine Pflanzenkohle vermischt mit vornehmlich organischen Siedlungsabfällen von Menschen inkl. Exkrementen.
Das generelle Verfahren für die Produktion von Pflanzenkohle entspricht quasi dem der Holzkohleherstellung z.B. fürs Grillen und ist prinzipiell im industriellen Maßstab (vgl. Grefe 2011) einsetzbar: Die Pyrolyse – die kontrollierte Erhitzung unter Luftausschluss –, auch ‚thermische Karbonisierung‘ genannt.
Mit Terra Preta gelang es Menschen schon vor Jahrtausenden, Humusaufbau zu betreiben und für Ackerbau zuvor ungeeignete Böden fruchtbar zu machen – und auf dieser Basis Bevölkerungen ganzer Städte zu versorgen und Hochkulturen zu schaffen. Das ist staunenswert, ja, sensationell, zeigt ein weiteres Mal, was alles ohne Petrochemie möglich ist und schließt an die beeindruckenden Methoden und Maßnahmen von Yacouba Sawadogo (vgl. S. 470), Tony Rinaudo und Ibrahim Abouleish an.
Terra Preta als Verfahren, der Atmosphäre Kohlenstoff zu entziehen
Über diesen Humus-bildenden und damit potenziell regenerativen Ansatz hinaus gilt Terra Preta in der Jetztzeit auch deshalb Manchem quasi als ‚Wundererde‘, weil sie in einem hohen Maße die Fähigkeit besitzt, Kohlenstoff ‚unter die Erde zu bringen‘ und damit der Atmosphäre zu entziehen.
Ute Scheub und ihre Mitautoren Haiko Pieplow und Hans-Peter Schmidt gehen in ihrem 2013 erschienen Buch davon aus, dass Terra Preta einen wichtigen Beitrag zur Abwendung einer Klimakatastrophe leisten könnte (vgl. Scheub et al. 2013, 68).
>> Was definitiv nicht passieren darf, aber ökonomisch auf Grund des derzeitigen Wirtschaftsmodells verführerisch daherkommt: Die Verkoksung von intakten Waldflächen (vgl. Grefe 2011).
Folgen wir der Argumentation:
Ohne weiteren Eingriff gibt generell jede Pflanze mit ihrem Ableben beim Prozess der Verrottung ihr CO2 (zu einem guten Teil) wieder frei.
„Wenn man pflanzliche Reststoffe mittels Pyrolyse verkohlt, verwandeln sich 25 bis 50 Prozent des darin enthaltenen Kohlenstoffs nicht in das Treibhausgas CO2, sondern in stabile, schwer abbaubare, porenreiche Pflanzenkohle“ (ebd., 66).
„Die Pflanzenkohle … besteht bis zu 95 Prozent aus reinem Kohlenstoff, der mikrobiell kaum abbaubar ist und so jahrhundertelang [und in Teilen auch wesentlich länger] dem Kohlenstoffkreislauf entzogen werden kann“ (ebd., vgl. Zimmerman/Gao 2013, 32).
Bei der Pyrolyse „entsteht aus Biomasse Pflanzenkohle; die Energie liefert dafür das dabei frei werdende energiereiche Synthesegas. Aus diesem kann man [vor allem bei industrieller Anwendung] gleichzeitig Strom, Wärme, Kälte oder Treibstoff herstellen“ (Scheub et al. 2013, 66).
„Moderne Pyrolyseanlagen können Pflanzenabfälle so gut verkohlen, dass der Luft mit jedem Kilogramm in der erzeugten Pflanzenkohle rund 3,6 Kilogramm Kohlendioxid entzogen werden. Weitere Treibhausgase werden bei der Terra-Preta-Technik durch die Fermentierung der organischen Abfälle eingespart. Durch die Milchsäurefermentierung von biologischen Abfällen wird Fäulnis verhindert. Ohne Fäulnis … [gibt es] keine Freisetzung weiterer Treibhausgase wie Methan und Lachgas“ (ebd., 67).
Hiermit ist ein Verfahren, dass tatsächlich und für sich genommen betrachtet grundsätzlich funktioniert – womit die Frage aufzuwerfen ist, weshalb auch Anfang der 2020er Jahre inmitten der zunehmenden Bedrohung durch die Klimakrise Terra Preta in erster Linie ein Liebhaberprojekt von Kleingärtner*innen ist, die entweder per Erdgrube oder metallenem trichterförmigen ‚Kon-Tiki‘-Pyrolyse-Ofen für ihren Eigenbedarf produzieren.
Auf den Punkt gebracht:
Terra Preta besitzt in erster Linie zwei wichtige Eigenschaften: Terra Preta kann
als ‚komponierte‘ Komposterde die Erträge der bodenbewahrenden Agrarkultur steigern sowie
massiv Kohlenstoff im Boden binden und ist damit eine ‚Kohlenstoffsenke‘.
Der BUND hat 2015 eine Einschätzung der Umweltrelevanz von Terra Preta/Pyrokohle herausgebracht und zielt dabei vorrangig auf die Frage ab, inwieweit diese beiden vorgenannten Eigenschaften nicht auch anderen humusbildenden Verfahren eigen sind. Anders ausgedrückt: Besitzt Terra Preta gegenüber anderen Verfahren einen so großen Mehrwert, dass die Fokussierung auf Terra Preta zu Ungunsten anderer, etablierterer Verfahren Sinn macht?
Bedauerlicherweise lesen sich diese m.E. gutbegründeten, umfangreich quellenbelegten und profund erarbeiteten Seiten recht ernüchternd:
Thema ‚Terra Preta zur Ertragssteigerung‘:
Ertragssteigerungen durch ‚aufgeladene‘ Pflanzenkohle1 werden beobachtet, sind aber bislang wissenschaftlich nur unzureichend dokumentiert (vgl. 2015, 5 u. Ullum 2016). Terra Preta besitzt hinsichtlich der Dimension der Ernte- bzw. Produktionssteigerungsrate zwar Potenzial, hat aber in Relation zu anderen Kompostierungsmethoden nicht den Charakter eines ‚Wunders‘: Ähnlich hohe Steigerungsraten können offensichtlich durchaus auch bei der Zugabe anderer – und erheblich einfacher herzustellender – Komposte verzeichnet werden (vgl. ebd., 5 u. 13).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Die Pflanzenkohle wird mit Nährstoffen ‚aufgeladen‘, d.h. mit Gülle vermischt, in die ‚Stallunterlage‘ gebracht oder mitkompostiert: „Würde unbeladene PK in den Boden eingebracht, würde diese zunächst die Nährstoffe aus dem Boden binden, und die Pflanzen werden unterversorgt“ (Fachverband Pflanzenkohle 2020d).
Thema ‚Terra Preta als Kohlenstoffsenke‘:
Das industrielle Herstellungsverfahren ist wesentlich aufwändiger als obige Beschreibung nahelegt und hochgradig kompliziert, so es (und nur das macht Sinn) umweltschonend und energiearm sein soll:
„Die Pyrolysetechnik ist grundsätzlich mit erheblichen Emissionsrisiken verbunden, da sich giftige Gase und Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) bilden können, bei Anwesenheit von Chlor aber auch Dioxine. Nur bei sauberster und kontrollierter Prozessführung kann dieser Technik überhaupt zugestimmt werden“ (2015, 5 u. vgl. Ullum 2016, 11).
Privatanlagen werden i.d.R. nicht die für einen ‚sauberen‘ Prozess notwendige Temperatur erreichen (vgl. 2015, 6), womit hier insgesamt schon überdeutlich anklingt, dass das Verfahren für eine globale Nutzung zur Reduktion von CO2 nicht taugt.
Die für umwelteffizientes Verfahren notwendigen hohen Temperaturen werden ohne weitere (die Ökobilanz schmälernde) Energiezugabe nur erreicht, wenn Hartholz mindestens Teil des Ausgangsmaterials ist1, sodass im Einklang mit der deutschen Düngemittelverordnung (DüMV) derzeit nur Pflanzen- bzw. Holzkohle z.B. aus Stark- und Kernholz zugelassen ist (vgl. Solokow 2019).
Ohnehin scheint es (die Temperaturfrage und DüMV mal beiseitelassend) viel zu wenig Ausgangsmaterial zu geben, um z.B. in Deutschland durch eine umfangreiche Terra Preta-Produktion CO2-Budget-relevant Kohlenstoff in den Boden einzutragen (vgl. Solokow 2019).
Der BUND schließt viele von Befürwort*innen vorschlagende Ausgangsmaterialien2 aus und argumentiert, dass diese bei einer Betrachtung des Gesamtsystems ‚Natur‘ auf andere Weise vorteilhafter verwertet/genutzt werden können. So werden „Getreidestroh und andere Ernterückstände (Kartoffelkraut und Rübenblätter) … wie andere als Grundlage für den Humusaufbau gebraucht…, Waldrest- und Schwachholz sollten aus dem gleichen Grund im Wald verbleiben, Grünschnitt aus Kompensationsflächen sollte nur bei gewollter Verhagerung entfernt werden… Selbst bei Nutzung all dieser [vom BUND als möglich erachteten] Ressourcen ließ sich tatsächlich nur 1 bis ca. 3% der [für den Klimabeitrag] benötigten Biokohle herstellen“ (2015, 8).
Der BUND sieht im Bereich organischer Abfallstoffe wie „Klärschlamm und Abfälle aus Gewerbe und Industrie“ (ebd.) des Weiteren die „große Gefahr kriminellen Missbrauchs, wie er jetzt schon im Abfallbereich nicht selten ist“ (ebd., 6), sodass das Bundesbodenschutzgesetz (BBodSchG) und die Düngemittelverordnung (DüMV) hier mit gutem Grund zurzeit nur „den Einsatz von Holzkohle … im Kultursubstrat zur Pflanzenanzucht oder als Träger für Düngemittel“ (ebd., 7). Und das Ausgangsmaterial dieser Holzkohle ist reguliert und hat derzeit zugunsten des Bodenschutzes – wie die Wortwahl schon zeigt – aus Holz zu bestehen. Würde Pflanzenkohle lukrativ und stark nachgefragt, bestünde die Gefahr, dass ungeeignetes, anders umweltgerechter zu verwendendes sowie extra angebautes Ausgangsmaterial (‚Anbaubiomasse‘) zum Einsatz käme (vgl. ebd., 5). Der regulative Aufwänd würde entsprechend hoch ausfallen.
Und:
„Ginge es nur um den Klimaeffekt der Pyrolysekohle, so ließen sich holzige Abfälle stattdessen besser in effizienten KWK-[Kraftwärmekopplungs]Anlagen zum Ersatz von fossilen Brennstoffen verstromen“ (ebd., 13).
Das Fazit des BUND lautet deshalb, dass es durchaus weiterhin Forschungsbedarf gebe, [a]ber zum jetzigen Zeitpunkt … eine breite Anwendung nicht empfehlenswert [ist:] Die möglichen positiven Effekte als Kohlenstoffsenke können die genannten Risiken nicht kompensieren“ (ebd., 14-15).
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Auch bei niedrigeren Temperaturen kann man Terra Preta herstellen, wie es eben auch den historischen Produzent*innen gelang – aber das geschah in einer leeren Welt und es war seinerzeit auch nicht das Ziel, das Verfahren umweltgewinnend als CO2-Senke einzusetzen. In unserer ‚vollen‘ Welt hingegen haben wir aufzupassen, dass wir uns nicht durch die Hintertür einer zunächst vielversprechenden ‚Neu’erfindung andere neue Probleme schaffen.
2 Zur Verwertung werden pflanzliche Abfälle vorgeschlagen wie bspw. Laub, Hecken- und Grünschnitt, Getreidespreu „sowie anderer [eher trockene, nährstoffarme] Rest-Biomassen z.B. aus der Lebensmittelindustrie“ (Fachverband Pflanzenkohle 2020a). Seit Januar 2020 ist Pflanzenkohle im EU-Bioanbau zugelassen (vgl. Fachverband Pflanzenkohle 2020b).
Somit ergibt sich m.E. das Gesamtbild, dass die Herstellung von Terra Preta zwar eine sehr hoch zu bewertende historische Leistung ist und isoliert für sich genommen und theoretisch betrachtet eine Kohlenstoffsenke sein kann, aber alles in allem insbesondere an den Realitäten ‚zu wenig Ausgangsmaterial‘, ‚zu komplexer Produktionsprozess‘, ‚zu hoher Regulierungs- und Kontrollaufwand‘ nicht wirklich sinnvoll ist.
Hier spielen ein weiteres Mal auch mögliche Rebound-Effekte (vgl. S. 257), hinein. Für jeden Produktionsprozess bedarf es erheblicher, zu bauender Infrastruktur. All das Ausgangsmaterial hat modellhaft ausgedrückt beschafft, transportiert, gelagert, auf Schadstoffe geprüft, aufbereitet, zwischengelagert, ein weiteres Mal transportiert und erneut gelagert zu werden. Einfach erscheinende Lösungen, die auch mal suggerieren, eine Verhaltensänderung des Menschen in der Biodiversitäts- und Klimakrise sei gar nicht notwendig, scheitern oftmals an diesem simplen Punkt, nämlich, dass der Gesamtenergiebedarf der ‚einfachen Lösung‘ übersehen wird. Letztlich führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass nur ein absolutes ‚Weniger‘ in allen Lebensbereichen wirklich weiterhilft
…mehr
Im Juli 2020 berichtet der Spiegel über eine Studie zu einem weiteren Verfahren, mit dem möglicherweise Kohlendioxid durch Einbringung von Stoffen in die Felder aus der Atmosphäre gezogen werden könnte: Enhanced Rock Weathering (ERW), also die ‚Beschleunigte Gesteinsverwitterung‘. Hier möchte man sich zunutze machen, was ohnehin Gebirgen relevant mit Basaltgestein geschieht: Es verwittert CO2-bindend zu Karbonaten. Der ohnehin beim Bergbau abgetragene und als in der Zement- und Stahlproduktion übrigbleibende Basalt soll demnach zerkleinert als Steinstaub in großem Maßstab auf Felder aufgebracht werden und zugleich einen nährstoffsteigernden Effekt haben. Bei nachfolgender Einspülung ins Meer wirke es der Versauerung entgegen. Die Studie spricht von 2 Mrd. t CO2; eine Studie des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) sprachen schon vor zwei Jahren von 5 Mrd. t CO2 (vgl. Götze 2020). Wie bei Terra Preta klingt das erst mal vielversprechend. Bis man sich klar macht, wie viel Energie und Kontrollen notwendig sind, bis das Zeug auf den Feldern gelandet ist. Dann sind wir wieder beim: Rebound.
Der BUND gibt ergänzend zu bedenken, dass die Einbringung von Terra Preta nur bei ökologischer, humusaufbauender Agrarkultur angezeigt ist, weil eben nur sie diesen humusaufbauenden Prozess stützt und bei konventionell-industrieller Stickstoffdüngung keinen Sinn macht (vgl. ebd., 10) – was bedeutet, dass in Deutschland derzeit überhaupt nur 6% der Feldflächen in Frage kämen (vgl. ebd.).
Und dieser Aspekt bzw. dieser Gedanke führt uns zurück zu dem allgemeineren Thema ‚Humusaufbauende Agrarkultur‘, welche eben ja auch unabhängig von Terra Preta erheblich zur Kohlenstoffbindung im Boden beiträgt – und eben auf 94% der Felder noch gar nicht als Kohlenstoffsenke genutzt wird. Hier liegt ein unglaublich hoher Mehrwert, der einen speziellen, aufwändigen Produktionsprozess wie bei Terra Preta gar nicht benötigt:
Humusaufbau als große CO2-Senke
„Ein Humusaufbau von nur einem Prozentpunkt auf diesen [bisher global als Acker- und Weideland genutzten, zurzeit etwa durchschnittlich 2% Humus enthaltenen] Flächen könnte 500 Gigatonnen CO2 oder 135 Gigatonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre holen, was einer Reduzierung von 64 ppm (parts per million) entspräche. Das brächte den heutigen CO2-Gehalt in der Atmosphäre auf weitgehend ungefährliche 336 ppm. Steigen die Emissionen allerdings weiter auf 550 ppm an und sollen dann auf das vorindustrielle Niveau von 280 ppm zurückgebracht werden, müsste der Humusanteil in den globalen Böden im Extremfall auf gut vier Prozent gesteigert werden – höchst anspruchsvoll, aber auch nicht völlig unmöglich“ (Scheub/Schwarzer 2017, 63, vgl. ebd., 65).
Generell ist das so unmöglich nicht:
Wichtig dazu ist zu wissen, dass die globalen Böden ohnehin und derzeit etwa 2 bis 3 Mal so viel Kohlenstoff enthalten wie die gesamte Atmosphäre (vgl. 4p1000, 2015a).
Und:
Scheub/Schwarzer weisen darauf hin, dass ein Geologe im Südosten Australiens Mitte des 19. Jahrhunderts Böden auf ihren Kohlenstoffgehalt hin untersuchte:
„Die zehn produktivsten Böden wiesen Niveaus an organischer Substanz zwischen 11% und 37,75% auf. Die zehn am wenigsten produktiven Böden bewegten sich zwischen 2,2% und 5%. Heutzutage gilt jeder landwirtschaftlicher Boden mit einem Anteil von 5% als extrem reich“ (2017, 65).
Womit überaus deutlich angedeutet ist, wo die Menschheit heute steht in Sachen Bodendegration – und was eigentlich möglich wäre.
Scheub/Schwarzer bieten hier also – ähnlich wie die Verfechter*innen einer umfassenden globalen Aufforstung – eine umfassende Lösung an, wie der Atmosphäre mittelfristig riesige Mengen CO2 entzogen und gleichzeitig die erodierten Böden dieser Welt zugunsten der Ernährungssicherheit der Menschheit regeneriert werden könnten. Bei allem hier verlautbarten Optimismus wird es niemals die eine Lösung sein, die die Klimaherausforderung meistert. Was hier jedoch definitiv abzulesen ist, dass Humus-Aufbau eine scharfe Waffe ist, die wir Menschen nutzen können, um einen wichtigen großen Schritt nach vorn zu kommen.
Wichtig ist dabei herauszustellen, dass uns ein solches Vorgehen lediglich Zeit verschafft, um unsere ölgetränkte Fossilwirtschaft umzustellen, denn der Humusboden nimmt ja nicht künftig noch mehr und noch mehr CO2 auf. Wir können vereinfacht ausgedrückt einmal eine relevante Menge CO2 in die Böden bringen und den so gesättigten Boden weiterhin pflegen. Aber eine Klimaneutralität ist allemal trotzdem – und zwar sehr schnell – erforderlich.
Die ‚4 per 1000‘-Initiative rechnet derweil auf dem Boden der eher konservativen Angaben des IPCC vor, dass ein jährlicher Humusaufbau von 4 Promille, d.h. 0,4%, ausreichen würde, um bei Umsetzung entsprechender Maßnahmen – die neben Bodenregeneration durch die Nutzung von Kompost z.B. auch Wiederaufforstung und Bäumepflanzen beinhalten –, umgehend alle jährlich hinzukommenden CO2-Emissionen wieder aus der Atmosphäre zu ziehen (vgl. 4p1000, 2015 u. 2018).
Details
Der IPCC geht laut Scheub/Schwarzer von einen globalen jährlichen Kohlenstoff-Speicherpotenzial von 0,8-1,2 Gt aus, FAO von 3 Gt, Rattan Kal von der Uni Ohio von 2,5-5 Gt (vgl. 2017, 69).
Wenn also der „zertifizierte Ökoanteil der Landwirtschaft [in Europa] bei 5,7 Prozent [liegt]“ (Scheub/Schwarzer 2017, 113), in Deutschland bei 6,5 (vgl. ebd.), dann bedeutet das, dass allein durch die Umstellung von konventionell auf Kompost riesige Mengen an CO2 in den Boden gebracht werden könnten:
Scheub/Schwarzer weisen darauf hin, dass man „[m]it Leguminosen … etwa 2 Tonnen CO2 pro Hektar und Jahr speichern, mit organischem Dünger etwa 3,5 Tonnen, mit Kompost 8,2“ (2017, 113).
Es folgt:
„Weltweit könnten durch klimaschonende Verfahren im Ackerbau und bei der Tierhaltung laut IPCC langfristig 2,3 bis 9,6 Milliarden Tonnen Treibhausgase pro Jahr gespart werden“ (Berkel 2019).
Davon sind wir weit entfernt.
Absurd ist, dass mit Terra Preta, Steinstaub etc. immer wieder neue Methoden vorgeschlagen werden. Es liegt viel näher, einfach durch eine umfassende Agrarwende den Stickstoff aus der Rechnung zu nehmen.
Nicht nur würden diese Emissionen verschwinden, sondern gleichzeitig würden die regenerativen Methoden aktiv Kohlenstoff in die Erde bringen. Und diese Form der Kohlenstoffbindung im Grunde ist genommen nichts anderes als natürliche negative Emissionen – etwas was in diesen Zeiten sehr erstrebenswert ist.
Es gibt weitere Argumente, auf regenerative/bodenbewahrende Agrarkultur zu setzen und das System ‚konventionelle Landwirtschaft‘ auf den Kopf zu stellen:
Konventionelle Landwirtschaft & Artenvielfalt
„Schädlinge profitieren von großen Monokulturen und davon, dass die immer gleichen Pflanzen auf dem Acker stehen. Eine Diversifizierung mit vielen Kulturarten, langen Fruchtfolgen und kleinen Feldern hilft, die Vielfalt der Insekten zu erhalten und damit ein für die Landwirtschaft günstigeres Gleichgewicht zwischen Schädlingen und Nützlingen sicherzustellen“ (Tscharntke 2020, 13).
Umgekehrt bedeutet das:
„Die Vielfalt an Insekten in Agrarlandschaften ist immer dann besonders hoch, wenn viele kleine Felder mit unterschiedlicher Nutzung aneinandergrenzen“ (Scherber 2020, 27).
„Eine in Deutschland erstellte Metastudie aus vielen Einzeluntersuchungen weist nach, dass auf ökologisch bewirtschafteten Flächen 23 Prozent mehr blütenbesuchende Insektenarten vorkommen als auf konventionellen Flächen. Es gibt im Mittel 30 Prozent mehr Wildbienen- und 18 Prozent mehr Tagfalterarten. Nicht nur die Vielfalt der Insekten ist beim ökologischen Landbau besser, auch ihre Anzahl erhöht sich: Im Durchschnitt sind 26 Prozent mehr Blütenbesucher auf den Bioflächen vorhanden, und die Anzahl der Tagfalter ist sogar um fast 60 Prozent erhöht. Ein häufig genutzter Indikator für Biodiversität und Insekten sind Feldvögel. Auf Ökoflächen finden sich 35 Prozent mehr Arten, die dort zudem um 24 Prozent häufiger vorkommen“ (Wenz 2020, 40).
Barbara Unmüßig von der Heinrich-Böll-Stiftung, Olaf Brandt vom Nabu und Barbara Bauer von Le monde diplomatique fassen zusammen:
„Insektenschutz zahlen wir nicht an der Ladenkasse. Die Bäuerinnen und Bauern bekommen ihn nicht entlohnt. Genau das muss aber passieren – am besten in dem die EU die fast 60 Milliarden Euro jährlich, mit denen sie die europäische Landwirtschaft unterstützt, zielgerichtet für eine Insekten- und klimafreundliche Landwirtschaft einsetzt“ (Unmüßig et al. 2020, 7).
Status quo der EU-Förderprinzipien für die industrielle Landwirtschaft
Zurzeit läuft die Landwirtschaftsförderung der EU nach dem Flächenprinzip: „Wer viel Fläche hat, bekommt viel Geld. Sie[, die EU,] formuliert weder konkrete Ziele für den Arten- und Klimaschutz, noch verpflichtet sie die Mitgliedsstaaten, einen bestimmten Anteil der Agrarförderung für ökologische Ziele einzusetzen“ (Bender 2020, 37).
Die finanziellen Mittel der der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) betragen fast 60 Milliarden pro Jahr. „Das Geld wird pro Hektar Fläche vergeben. Die größten Betriebe bekommen das meiste, während Programm für den Erhalt kleiner Bauernhöfe völlig unterfinanziert sind“ (Unmüßig et al. 2019, 6): „Im Jahr 2016 erhielten… rund 1 Prozent aller Betriebe rund 20 Prozent der Direktzahlungen“ (Schmid/Häger 2019, 20).
„70 Prozent der EU-Gelder werden pro Hektar ohne weitreichende Auflagen ausgegeben. Wer viel Land bewirtschaftet, bekommt viel Geld“ (Agrar-Atlas 2019, 8).
„Auf der anderen Seite machen kleine Höfe mit weniger als zehn Hektar und einer zumeist vielfältigen Produktion rund 80 Prozent aller Agrarbetriebe in der EU aus. Doch sie nehmen nur zehn Prozent der verfügbaren Landes in Anspruch“ (Becheva/Rioufol 2019, 18).
„In der EU haben zwischen 2003 und 2013 ein Drittel aller Bauernhöfe aufgegeben. Heute bewirtschaften 3,1 Prozent aller Betriebe mehr als die Hälfte des Agrarlandes“ (Agrar-Atlas 2019, 9).
„[I]m Jahr 2013 [wurden] mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen in der Europäischen Union von nur 3,1 Prozent der Betriebe genutzt, während, drei Viertel von ihnen mit nur 11 Prozent der Fläche auskommen musste… In vielen EU-Staaten werden [die entscheidenden] Direktzahlungen … nur an Betriebe mit mindestens einem Hektar Anbaufläche ausgezahlt. Das macht Millionen Betriebe, die kleiner sind, praktisch ‚unsichtbar‘. Ohne Beihilfen oder andere Unterstützung bleibt ihnen nur die Wahl, den Betrieb zu verkaufen oder aufzugeben. Auf diese Weise ist beispielsweise in Bulgarien die Produktion von Gemüse und Fleisch, die auf kleiner Fläche erfolgreiche funktionierte, zurückgegangen und machte Getreidemonokulturen Platz“ (Bîrhala 2019, 24-25).
Eine neue im Sommer 2020 veröffentlichte Studie zeigt ein weiteres Mal, wie wenig die bisherige EU-Agrarpolitik geeignet ist, die bisherige Landwirtschrift zukunftsfähig zu machen:
„Von den 54 Milliarden Euro Subventionen, die jedes Jahr an die Landwirte überwiesen wurden, waren demnach nur vier Prozent ausdrücklich für klima- und umweltfreundliche Produktionsmethoden vorgesehen“ (Finke/Liebrich 2020).
Auf dem Papier gibt es in der EU durchaus Regelungen, die den Einsatz von Pestiziden und Bodenerosion reduzieren sollen. So verlangt die EU seit 2015 zur Vermeidung von großflächigen Monokulturen, „dass Betriebe mit einer Ackerfläche von mehr als zehn Hektar mindestens zwei, ab 30 Hektar mindestens drei Fruchtarten anbauen müssen… [Soweit ein Schritt in die richtige Richtung, doch hält d]as deutsche Umweltbundesamt … diese Vorschrift für wirkungslos. Denn die EU hat ein Schlupfloch eingebaut: Auf 75 Prozent der Flächen eines Betriebs gilt diese Regel nicht. Dort werden Monokulturen geduldet“ (Neumeister 2019, 30).
Gerne beruft man sich dann darauf, dass man als Einzelstaat nicht gegen die Vorgaben aus Brüssel handeln könne. Nun, Dänemark kann. Wie sooft ist das Land Vorbild, in diesem Fall mit einer Pestizidsteuer:
„Sie hat dazu beigetragen, dass sich der Pestizideinsatz zwischen 2013 und 2015 halbiert hat, und sie führte zu Einnahmen von 70 Millionen Euro jährlich, mit denen dänische Bauern und Bäuerinnen für geringere Erträge entschädigt wurden“ (Chemnitz 2020, 38).
Update Juli 2020:
Die GAP wird alle sieben Jahre neugefasst: Derzeit wird für den Zeitraum ab 2021 verhandelt. Deutschland hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne und könnte daher die Federführung übernehmen, um in der Schlussverhandlungsphase eine nachhaltigere Landwirtschaft zu befördern:
„Rund 387 Milliarden Euro wollen die EU-Staaten bis 2027 bereitstellen, um die Landwirtschaft zu fördern. Das ist ein Drittel des gesamten EU-Haushalts. Das Geld könnte auch dafür genutzt werden, den Klimawandel zu bekämpfen. Für keine andere Branche steht ein derart mächtiges [Klima-]Steuerungsinstrument zur Verfügung“ (Schaible 2020).
Tilman von Samson, FFF, kommentiert die Verhandlungen zum GAP wie folgt:
„Man muss sich klarmachen, dass die GAP eine Klimaentscheidung ist – wahrscheinlich eine der größten des Jahrzehnts“ (zit. ebd.).
Nach Ansicht von 3.600 Wissenschaftler*innen geht der grundlegende, die Verhandlungen massiv beeinflussende
„Vorschlag der Europäischen Kommission für den Zeitraum nach 2020 … nur unzureichend auf Umweltprobleme und auf Herausforderungen der Nachhaltigkeit ein … und führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem ‚Business-as-usual-Szenario‘“ (Nabu 2020, 2).
Fazit Bodenbewahrende Agrarkultur vs. konventionelle industrielle Landwirtschaft
Gegen Bio wird gern eingewendet, die Produktion sei teuer. Sie ist fraglos arbeitsintensiver – ergo: Sie schafft mehr Arbeitsplätze. Bio ist auch deshalb weniger billig, weil keine (bzw. entscheidend weniger) Kosten externalisiert werden. Die Preise sind folglich: realistisch. Würde Bio zum Standard, würde die Massenproduktion kostenreduzierend wirken. Auch würde der Kostenaufwand der Zertifizierung entfallen.
Eine globale bodenbewahrende Agrarkultur mit einer Tierwohl-orientierten und in diesem Sinne begrenzten Tierhaltung besitzt folgende vorteilhafte Eigenschaften:
Keine statt sehr hohe Lachgasemissionen | Wesentlich weniger Methan-Emissionen | CO2-bindender Humus-Aufbau mit relevanten, zeitverschaffenden globalen CO2-Emissions-Reduktionen | Bewahrung/Verbesserung der Trinkwasserqualität | Zukunftssicherung von lebendigen Böden zugunsten globaler Ernährungssicherheit | Regenerierung von Böden, die komplett erodiert waren – auch in wüstenähnlichen Gegenden; wirkt der Desertifikation entgegen, daher massiver Beitrag zu Klimagerechtigkeit | In diesem Sinne auch Konflikt-vermeidend und somit friedensstiftend | Mehr Tierwohl (auch imBoden!) | Weniger/keine Pestizide, kein Glyphosat, d.h. gesündere Produkte | Starker Beitrag zur Reduzierung des begonnenen sechsten Massenaussterbens
insbesondere hinsichtlich Insekten und Vögel | keine Handbestäubung, keine Roboterbienen1 | kleinere Höfe, mehr Selbstbestimmung, weniger Kapital- und Konzernlogik, weniger Abhängigkeit von dem Geschäftsgebaren von Großunternehmen, teilweise regionalere Lieferketten | keine Hybridpflanzen2, daher keine Abhängigkeit von Saatgutunternehmen | keine Gen-Technik | Weniger Landgrabbing, weniger Vertriebene | Regenwalderhaltung | Global viel mehr Arbeitsplätze
Diese Liste ist zweifellos ebenso lang wie beeindruckend – was also steht einer hinsichtlich Mensch, Tier, Umwelt, Klima so vielfältig vorteilhaften und m.E. keine Nachteile mit sich bringenden bodenbewahrenden Agrarkultur im Wege?
Das Geld, wie es derzeit ‚funktioniert‘ | Der Finanzialismus, Shareholder Value, Aktionär*innen, Pensionsfonds, Agrarkultur entzieht sich ein stückweit der Quantifizierung und dem kurzfristigen Geschäft | Agrarchemie-/Landmaschinen/Saatgut-Großkonzerne bzw. Großkonzernlogik | Großgrundbesitzer*innen | Lobbyist*innen als Handlanger*innen | Korruption –
in einem Satz:
Das viele Geld der Wenigen.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Aspekt ‚Roboterbienen‘ vgl. Abschnitt Klimakrise als Chance, S. 455; Handbestäubung: In China, konkret in Hanyuan, einer hoch gelegenen Bergregion Sichuans und dort auf einige Dörfer eingegrenzt, wurden vornehmlich in den 1980er und 1990er Jahren Blüten mit der Hand bestäubt, „weil übermäßiger Pestizideinsatz den Bestand der Bestäuberinsekten stark reduziert hatte. Außerdem hatten viele Obstbauern selbststerile Apfelbäume, nicht aber die erforderlichen Apfelsorten für eine Kreuzbestäubung gepflanzt. 25 bis 30 Prozent solcher Kreuzbestäuber werden in einer Plantage gebraucht, in den betroffenen Dörfern gab es aber weniger als 10 Prozent… Inzwischen sei die Handbestäubung in Hanyuan aufgrund stark gestiegener Löhne unrentabel und weitgehend eingestellt worden… Die Zahl der Bienenvölker ist in China in den vergangenen 50 Jahren kontinuierlich von 3,7 auf über 9 Millionen angestiegen“ (Asendorpf 2018; vgl. Film-Doku ‚More Than Honey‘, in der dieser Vorfall offensichtlich nicht zutreffend ungleich dramatischer geschildert wird).
2 Hybridpflanzen sind ‚Einwegpflanzen‘, gehen aus Hybridsaatgut hervor, welches durch Kreuzung zweier genetisch deutlich unterschiedlicher Inzuchtlinien, die über mehrere Generationen auf bestimmte Eigenschaften zielend gezüchtet werden, entstanden ist und sozusagen dann ‚best of both worlds‘ beinhaltet. Die so entstandenen Pflanzen bzw. Feldfrüchte gelten als größer und widerstandsfähiger (‚Heterosis-Effekt‘). Hybridsorten sind oftmals nicht saatfest. Selbst wenn sie nicht steril sind, weist die Folgegeneration nicht mehr stabil die optimalen Eigenschaften der Hybridgeneration auf. Daher hat das Saatgut Jahr für Jahr neu erworben zu werden – was Abhängigkeiten schafft und gerade auf globaler Ebene äußerst problematisch sein kann. Der Übergang zwischen ‚Züchtung‘ und ‚Gentechnik‘ ist bei Hybridsorten heute als fließend zu bezeichnen, vgl. die in der EU als nicht gentechnisch verändert geltenden sog. CMS-Hybride, d.h. Hybride mit cytoplasmatischer männlicher Sterilität (vgl. Pflanzen.Forschung.Ethik 2017, Pflanzenforschung 2020, Ländle o.J., Gartenrevue o.J., Heistinger o.J., transgen 2013). Bei „Mais und Roggen … haben sich Hybridsorten weitgehend durchgesetzt. Bei Zuckerrübe, Raps oder Sonnenblumen sind sie weit verbreitet, ebenso wie [bei] Tomaten, Brokkoli oder Rosenkohl. In Deutschland wird der Anteil der Hybridsorten bei den gängigen Gemüsesorten auf etwa 70 Prozent geschätzt“ (Pflanzen. Forschung. Ethik 2017). Die Agrarwissenschaftlerin Andrea Heistinger ergänzt: „In den letzten Jahrzehnten ist der Anteil von Hybridsorten rasant gestiegen. Zum Beispiel liegen bei Tomate, Paprika oder Chinakohl die Anteile mittlerweile bei rund 80 Prozent Hybridsorten. Mit dem Aufkommen der Hybride wurden viele samenfeste Sorten vom Markt genommen… [Kein Wunder:] Etwa 95 Prozent des EU-[Saatgut-]Marktes liegen in den Händen von nur fünf Unternehmen“ (o.J.). | Kurz sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass „Pink Lady … der Name eines Apfels [ist], der zur globalen Marke wurde. Während Sorten wie Braeburn oder Boskop von jedermann angebaut werden dürfen, kontrollieren die Inhaber der Pink-Lady [-Sorten-und-Marken]-Rechte die gesamte Wertschöpfungskette“ (Fulterer 2020, 27). „Wer sie anbaut, unterwirft sich totaler Kontrolle“ (ebd.). Da für diesen ‚Premiumapfel‘ höhere Marktpreise üblich sind, erwirtschaften die anbauenden Betriebe mehr, zahlen allerdings auch hohe Preise für die Bäume sowie auf Grundlage der Erntemenge rund 5% Lizenzgebühr (vgl. ebd.).
Quellen des Abschnitts Bodenbewahrende Agrarkultur vs. konventionelle industrielle Landwirtschaft
Asendorpf, Dirk (2018c): „Wenn das Summen verstummt: Würden wir ohne Bienen verhungern? Müssen wir die Pflanzen bald von Hand bestäuben? Oder – können Drohnen die Aufgabe der Insekten übernehmen?“. in: NZZFolio [Neue Zürcher Zeitung]., 8/2018, online unter https://folio.nzz.ch/2018/august/wenn-das-summen-verstummt (Abrufdatum 7.7.2020)
Becheva, Stanka u. Rioufol, Véronique (2019): „Höfesterben: Wachsen oder Weichen“. in: Agrar-Atlas 2019, 18-19.
Bender, Silvia (2020): „Politik: Vollmundige Versprechen und unzulängliche Taten“. in: Insektenatlas, Januar 2020, S. 36-37.
Fachverband Pflanzenkohle (2020d): „Ist Pflanzenkohle ein Missing Link für das 1,5°C-Ziel?“. [Autoren: Daniel Kray u. Hans-Peter Schmidt]. in: fachverbandpflanzenkohle.org, 30.5.2020, online unter https://fachverbandpflanzenkohle.org/missing_link/ (Abrufdatum 9.7.2020)
Fulterer, Ruth (2020): „Diese Äpfel werden überwacht. Pink Lady heißt die erste Sorte, die weltweit zu einem Markenprodukt gemacht wurde. Wer sie anbaut unterwirft sich totaler Kontrolle“. in: Die Zeit, Nr. 34/13.8.2020, S. 27.
Gonstalla, Esther (2019): Das Klimabuch. Alles was man wissen muss, in 50 Grafiken. oekom.
Grefe, Christiane (2011): „‚Wundererde‘ im Test: ‚Terra Preta‘, ein fruchtbarer Humus der Indios, wird als vielseitiger Retter zerstörter Böden gepriesen“. in: Die Zeit, 1.12.2011, online unter https://www.zeit.de/2011/49/Terra-Preta/komplettansicht (Abrufdatum 8.7.2020)
Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. München: Blessing.
Klawitter, Nils (2019): „‚Der macht alles platt‘. Eigentum: In Zeiten von Niedrigzinsen wird Ackerland immer lukrativer: Investoren kaufen ganze Landstriche auf – einheimische Bauern können kaum noch mithalten“. in: Der Spiegel, 42/12.10.2019, S. 81.
Klein, Alexandra-Maria (2020): „Welt ohne Insekten: Wenn die Technik helfen soll“. in: Insektenatlas, Januar 2020, S. 44-45.
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer. (Der Originaltitel ist besser gewählt: This Changes Everything: Capitalism vs. Climate.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Kruchem, Thomas (2018): „Wiederaufforstung in Afrika: Der ‚Waldmacher‘ Tony Rinaudo“. in: SWR2, 24.9.2018, online unter https://www.swr.de/swr2/wissen/waldmacher-tony-rinaudo-wiederaufforstung-in-afrika-100.html (Abrufdatum 10.7.2020)
Marx, Karl u. Engels, Friedrich: Werke. [Das Kapital Band 1]. Berlin 1962, Band 23, S. 526-531, online unter http://www.zeno.org/nid/2000921822X (Abrufdatum 22.6.2020)
Sietz, Henning (2014): „Fritz Haber und Clara Immerwahr: Gas sei eine humane Waffe, behauptet der Chemiker, und entwickelt Verfahren, um es an der Front einzusetzen. Seine Frau protestiert vergeblich dagegen“. in: Die Zeit, 13.2.2014, online unter https://www.zeit.de/2014/08/erster-weltkrieg-chemiwaffen-giftgas-haber/komplettansicht (Abrufdatum 8.7.2020)
Tscharntke, Teja (2020): „Landwirtschaft: Mit Vielfalt zur Ernte“. in: Insektenatlas, Januar 2020, S. 12-13.
Ullum, Kathrin (016): Untersuchungen zur Wirkung von Biokohlekomposten in Topf- und Feldversuchen mit ausgewählten Pflanzen aus unterschiedlichen Klimazonen. [masch.-schr. Diss.], online unter https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/2500 (Abrufdatum 10.7.2020)
Unmüßig, Barbara et al. (2019): „Vorwort“. in: Agrar-Atlas 2019, S. 6-7.
Decken, Henrike von der (2020): „Nütz- und Schädlinge: Fressen und gefressen werden“. in: Insektenatlas, Januar 2020, S. 24-25.
Weiß, Marlene (2019): „Wälder zu Wüsten“. in: Süddeutsche Zeitung, 30.7.2019, S. 12.
Wenz, Katrin (2020): „Pestizide: Zwischen Kahlschlag und letzter Hilfe“. in: Insektenatlas, Januar 2020, S. 18-19.
Zu viele Tiere auf zu wenig Raum >> Trinkwasserschädigung durch Nitrat
Nitratbelastung des Trinkwassers
Stephan Schumüller, Chef des Wasserverbands Garbsen-Neustadt:
„Nitrat im Wasser … [können] Sie … weder sehen noch schmecken“ (Jüttner 2019, 34).
Stickstoff als Dünger: Aus Stickstoffüberschüssen (=Überdüngung) wird Nitrat.
Gülle und Kunstdünger sorgen durch den hier enthaltenen Stickstoff für besseres Pflanzenwachstum und reichere Ernten.
Alles, was die so gedüngten Pflanzen nicht aufnehmen, geht ins Trinkwasser bzw. geht via Auswaschung/Regenwasser in Gewässer, Bäche und Flüsse.
Alle mit Stickstoff versorgten Pflanzen wachsen ‚besser‘ – also auch
die zwangsweise gedüngten Bäume, die durch unnatürlich verstärktes Wachstum anfälliger werden und
die Algen in Gewässern. (Es entstehen großflächige Algenblüten, deren Zersetzung dem Gewässer Sauerstoff entzieht, der dann anderen Lebewesen des Meeres nicht mehr zur Verfügung steht. Der Prozess nennt sich Eutrophisierung – es entstehen aufgrund des Sauerstoffmangels Totzonen in Ozeanen (s.a. Abschnitt Massenaussterben | Biodiversitätsverlust, S. 669ff., vgl. Jüttner 2019, 34 u. UBA 2010).
Auch für den Menschen ist Nitrat unmittelbar schädlich:
„Menschen sollten möglichst wenig Nitrat aufnehmen, weil es im Körper in Nitrit und Nitrosamine umgewandelt werden kann, Stoffe, die als krebserregend gelten“ (Jüttner 2019, 34).
Nitratentfernungsanlagen sind sehr teuer1, sowohl einzeln als auch hochgerechnet auf den potenziellen Bedarf an solchen Anlagen in Deutschland – wesentlich sinnvoller und zudem günstiger ist es, das Problem an der Wurzel zu packen und noch punktgenauer und letztlich eben deutlich weniger mit Gülle und Kunstdünger zu düngen (vgl. ebd., 35).
Details: Nitratentfernungsanlagen
In Frankreich investieren die Wasserwerke mit Stand 2011 jährlich 1,5 Mrd. Euro, „um die Grenzwerte für Pestizide und Nitrat einhalten zu können“ (Löwenstein 2015), was die Verbraucher*innen über den Wasserpreis bezahlen, „obwohl die Landwirtschaft den Schaden verursacht hat“ (ebd.). Die Reinigung des gesamten Grundwasserreservoirs Frankreichs würde 50 Mrd. Euro kosten. „Das entspricht der Bruttowertschöpfung der französischen Landwirtschaft eines ganzen Jahres. …Die Schäden, die zum Beispiel mit der Muschelzucht verursacht werden oder durch den Verlust an Tier- und Pflanzenarten, kommen oben drauf. Außerdem erleidet der Tourismus Einbußen durch die Algenplage, es gibt gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Pestizide in der Luft und in der Nahrung“ (ebd.).
Es ist explizit herauszustellen, dass das Nitrat-Problem ausschließlich durch
konventionell-industrielle Landwirtschaft inkl. Massentierhaltung bzw.
die Agrarpolitik und der Art der Ausgestaltung von Subventionen z.B. von EU und Deutschland
verursacht wird.
Eine Nuance entschärft werden diese Aussagen durch folgenden Hinweis:
„Allerdings nehmen Menschen schätzungsweise [derzeit] nur ein Viertel der täglichen Nitratmenge aus Trinkwasser auf. Größere Mengen stecken in Gemüse und Salat“ (ebd., 36).
Ein Viertel ist ein Viertel – und diese Aussage ändert nichts daran, dass wir das Grundnahrungsmittel ‚Trinkwasser‘ möglichst sauber von Nitrat und Pestiziden zu halten haben.
Das sieht auch die EU-Kommission so, die alles andere als zufrieden mit dem Zustand des Trinkwassers in Deutschland bzw. der hiesigen Düngepraxis ist. In der Folge hatte die EU-Kommission Deutschland am Europäischen Gerichtshof verklagt. Das Urteil erging 2018. Somit lagen hohe Strafzahlungen in der Höhe von täglich 850.000 Euro an die EU in der Luft. Diese wurden nun durch die Neuregelung des Düngerechts, welches etwas strengere Dünge-Auflagen vorsieht ohne das grundlegende Problem anzugehen, abgewendet (vgl. Spiegel 2020).
Das Schlusswort gehört hier Michael Kopatz:
„Viele Wasserwerke sind inzwischen dazu übergegangen, gutes mit schlechtem Wasser zu vermischen, um Grenzwerte einzuhalten. … Gegenwärtig fördern die Wasserwerke teilweise schon 150 Jahre altes, unbelastetes Wasser, um das Nitratproblem in den Griff zu bekommen“ (2016, 84).
Quellen des Abschnitts Zu viele Tiere auf zu wenig Raum >> Trinkwasserschädigung durch Nitrat
Jüttner, Julia (2019): „Die Wasserschlacht“. in: Der Spiegel, Nr. 41/5.10.2019.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
„Wir sind Soja-Junkies – und haben es gar nicht gemerkt.“ (Asendorpf 2018)
Landwirtschaft global: Der destruktive Kreislauf rund um die Fleischindustrie
Globaler Kreislauf Station 1: Tierfutter-Produktion in (Süd-)Amerika.
Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen auf der internationalen Agrar-Konferenz Hunger auf Veränderung 2016:
„Wir nehmen allein in Südamerika als Bundesrepublik Deutschland eine Ackerfläche von der Größe von Mecklenburg-Vorpommern in Anspruch, um die Tierfabrik (mit jährlichen 800 Mio Schlachttieren) in Deutschland am Laufen zu halten“ (Hofreiter 2016).
Bei diesem Tierfutter handelt es sich i.d.R. um Soja. Genauer: Um Gen-Pflanzen, deren Saatgut patentiert ist, also jährlich neu gekauft werden muss – und zwar vom gleichen Unternehmen, dass auch das ‚passende‘ Unkrautvernichtungsmittel bereithält: Die Pflanzen sind resistent gegen Glyphosat, das z.B. unter dem Markennamen ‚Roundup‘ von Bayer/Monsanto hergestellt wird.
Soja „bringt es … [in Brasilien] auf zwei Ernten pro Jahr, im kälteren Europa höchstens auf eine“ (Asendorpf 2018).
„Heute liegt der Anteil transgener Soja in allen Hauptanbaugebieten über 90 Prozent“ (ebd.).
Mit anderen Worten: Die heilige Kuh namens ‚keine Gen-veränderten Lebensmittel‘ ist zwar nach wie vor einen Aufreger wert – aber was die angeblich Gentechnik-freien Kühe gegessen haben, interessiert dann doch keine Sau.
Für den immer größer werdenden Bedarf an Tierfutter wird in Südamerika weiterhin und umfassend Regenwald gerodet (vgl. Aspekt Fleisch & Treibhausgase, S. 549f.).
Ein Fleischstück ist ein Stück Regenwald.
Umweltschützer*innen werden nicht selten umgebracht. Mindestens 212 wurde allein im Jahre 2019 getötet (vgl. SZ 2020). „Die meisten Morde an Umweltaktivisten wurden dem Bericht zufolge in Kolumbien (64), den Philippinen (43) und Brasilien (24) verübt … Besonders häufig hatten sich die getöteten Aktivisten gegen umweltschädlichen Bergbau (50), Landwirtschaft (34) und Forstwirtschaft (24) eingesetzt“ (SZ 2020).
Indigene und ‚kleine‘ Bauern werden von ihren seit Generationen bestellten Feldern vertrieben und um ihre Existenz gebracht, arbeiten des Öfteren nun auf ihren ehemaligen Feldern für einen Hungerlohn – und tatsächlich, viele hungern (vgl. Doku ‚We Feed The World‘ von Erwin Wagenhofer, 2005 – und
der brasilianische Bundesstaat „Mato Grosso“ muss sich eigentlich einen neuen Namen suchen, denn „Großer Wald“ trifft nicht mehr zu, mehr noch, „[h]eute ist der Bundesstaat fast gänzlich entwaldet“ (Franzen/Aders 2020, 9).
Fläche Sonja-Anbau in Brasilien: 1990 = 11 Mio Hektar | 2018 36 Mio Hektar (vgl. Santos 2020, 20)
USA, Argentinien und Brasilien = 80% der globalen Sojaproduktion (vgl. ebd.)
>> Alles hängt mit allem zusammen: „[F]ür neues Weideland oder Futtermittelanbau Wald [wird] gerodet oder Grünland zu Ackerland umgebrochen … So schwinden die Lebensräume der Insekten“ (Santos 2020, 20).
Interessanterweise werden zumindest Rinder in Deutschland seit einigen Jahren zu einem großen Teil nicht mehr mit Soja, sondern mit billigem Rapskuchen gefüttert. Das ist der eiweißhaltige Rest, der von Raps bleibt, wenn man ihn für den Biodiesel ausgepresst hat. Eine merkwürdige Entwicklung, zu der die ‚Beimischungspflicht von Pflanzenöl bei Dieselkraftstoff‘ geführt hat. Diesen Rapskuchen zu verfüttern ist nicht nur billig, sondern erhöht den Wert des Rindfleisch- und Milchproduktes, weil man es als in jeder Hinsicht Gentechnik-frei verkaufen kann (vgl. Asendorpf 2018).
Station 2: Jungtier-Import
Z.B. kommen Ferkel aus Dänemark und den Niederlanden, die die Zucht optimiert haben (vgl. Asendorpf 2018).
Das Futter kommt über den Atlantik, die Jungtiere aus Nachbarländern – es folgt:
Station 3: Die Tiermast erfolgt in Deutschland
Die Gülle fällt hier an. Gülle ist organischer Dünger, der Stickstoff enthält.
Stickstoff in der Landwirtschaft
„Pflanzen brauchen Stickstoff, um Eiweiß zu bilden. In der Luft ist Stickstoff zwar reichlich vorhanden, doch die meisten Pflanzen können diesen Luftstickstoff nicht direkt aufnehmen. Sie benötigen ihn in gebundener Form im Boden. Auf natürliche Weise werden diese Stickstoffverbindungen dort von Bakterien erzeugt. Eine intensive [konventionelle/industrielle] Landwirtschaft ist jedoch nur mit zusätzlichem Stickstoff aus Mineraldünger möglich. Der wiederum wird aus Erdgas gewonnen – aus sehr viel Erdgas. Fast fünf Prozent der globalen Erdgas-Produktion werden dafür verbraucht. Über 100 Millionen Tonnen Stickstoffdünger landen jährlich auf den Äckern der Welt“ (Asendorpf 2018, s.a. vertiefend Aspekt Stickstoffdüngung in der industriellen Landwirtschaft, S. 569f.).
Pflanzen (ver-)brauchen Stickstoff – mit der Ernte der Pflanzen entfernt man auch den aufgenommenen Stickstoff.
„Insgesamt jedoch liegt der Stickstoff-Eintrag jedes Jahr deutlich über dem Austrag, der Überschuss beträgt im Schnitt rund 100 Kilo pro Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche“ (Asendorpf 2018).
Und dieser Stickstoff bleibt nicht einfach ‚geduldig‘ bis zur nächsten Bepflanzung unverändert im Boden:
Stickstoff
gast aus als Lachgas,
versickert,
wird ausgewaschen und
landet auf die eine oder andere Weise als Nitrat im Wasser.
Laut einer im November 2019 veröffentlichten Studie gelangt durch die genannte Überdüngung deutlich mehr Lachgas in die Atmosphäre als bisher angenommen.
„Demnach entwich zuletzt etwa 2,3 Prozent des eingesetzten Stickstoffs aus Dünger als Lachgas in die Atmosphäre. Der Weltklimarat IPCC rechnet in seinen Berichten mit einem Wert von 1,4 Prozent…. Die Studie erhöhe die Bedeutung der Lachgas-Emissionen aus der Landwirtschaft für den Klimaschutz, erklärt Fortunat Joos, Klimaexperte an der Universität Bern, der nicht an der Studie beteiligt war. ‚Die Ergebnisse legen nahe, dass die Lachgas-Emissionen aus Dünger in den nationalen Klimaberichten an die Uno rund 70 Prozent zu niedrig angesetzt sind‘“ (Merlot 2019).
Möglicherweise wird auch schlicht übersehen, dass „in jedem Kilogramm Soja[importfutter] … fast 30-mal mehr Stickstoff als in heimischem Mais [steckt]“ (Kopatz 2016, 83).
Das Fazit kann daher eigentlich nur lauten:
„Wir brauchen eine an die Fläche gebundene Tierhaltung, also nur noch so viele Tiere, wie eine Fläche vertragen kann“ (DUH 2019).
Zustand des Trinkwassers in Deutschland bzgl. Nitrat:
„Besonders gravierend ist die Situation … in Niedersachsen, dem Zentrum der deutschen Fleischindustrie. Gut zehn Millionen Schweine, 2,7 Millionen Rinder und über hundert Millionen Hähnchen, Hühner und Puten werden dort gehalten“ (Asendorpf 2018).
„Rund die Hälfte aller Grundwasser-Messstellen in Niedersachsen melden bereits Grenzwertüberschreitungen. Und die Böden sind immer weniger in der Lage, das Nitrat auf dem Weg bis ins Trinkwasser wieder abzubauen“ (ebd.).
„In Niedersachsen mit seiner Massentierhaltung sind nur noch 40 Prozent aller Grundwasserbrunnen ohne Nitratfilter nutzbar“ (Scheub/Schwarzer 2017, 37).
„36 Prozent der Grundwasserkörper unter allen Landnutzungen sind [in Deutschland] in einem schlechten chemischen Zustand. In Deutschland verfehlen knapp 74 Prozent dieser betroffenen Grundwasserkörper die Ziele wegen zu hoher Nitratkonzentrationen“ (BMU 2019).
„Hauptverursacher der hohen Nitratwerte ist die Landwirtschaft: durch Gülle und Gärreste aus Biogasanlagen, die auf Felder aufgebracht werden, und durch das Streuen von Kunstdünger“ (Jüttner 2019, 34).
Die Düngeverordnung sieht vor, dass – je nach Beschaffenheit des Bodens – lediglich eine jeweils definierte Menge Gülle (z.B. als Dünger) in den Boden gelassen werden darf – mit der Folge, dass es in den Worten von Renate Künast zu „Gülletourismus“ kommt, soll heißen, ein verkehrsintensiver Handel mit Gülle hat eingesetzt (vgl. Grefe/Theile 2019, 31). „[A]llein in den beiden Landkreisen Cloppenburg und Vechta [in der Region Oldenburg, die ‚Gülle-Gürtel‘ genannt wird, fielen mit Stand 2013] jährlich 7,4 Millionen Tonnen der Brühe an. Auf die Äcker darf aber [mit Stand 2013] nicht mal die Hälfte ausgebracht werden. Der Rest müsste in weniger belastete Regionen geschafft werden. Dazu braucht man wiederum 120.000 Tankwagenfuhren“ (Amann et al. 2013, 67).
Ich zweifle, dass es in diesen beiden Landkreisen jährlich 120.000 Tankwagenfuhren gibt. Und wenn es so wäre: Auch das wäre für sich genommen Wahnsinn.
Egon Harms, Leiter der Qualitätsüberwachung beim Oldenburgisch-Ostfriesischen Wasserverband:
„Es gibt ein großes Gülleproblem im oberflächennahen Grundwasser, das ist der Bereich bis etwa zehn Meter unter Geländeoberkante. Dort haben wir hohe Nitratbelastungen1. Die Trinkwassergewinnung, die findet in größeren Tiefen statt – zwischen 50 und 100 Meter unter Gelände. Und dort ist die Nitratbelastung noch so gering, dass wir einwandfreies Trinkwasser auch liefern können … [Was] wir nicht wissen: Macht der Untergrund das noch in zehn Jahren, in 50 Jahren oder in 500 Jahren? Wenn wir jetzt feststellen, dass in einigen Förderbrunnen das Nitrat bereits ankommt, dann sehen wir natürlich dort, dass diese Systemleistung, Nitrat abzubauen, sich allmählich da auch erschöpft hat schon. Das sind natürlich Alarmzeichen, die wir sehr ernst nehmen“ (zit. in Asendorpf 2018, vgl. Amann et al. 2013, 67).
Details: Erläuterungen zu (1)
Das sagte Egon Harms auch schon fünf Jahre früher im Spiegel – und bezog sich dort auf die „vergangenen sieben, acht Jahre[, in denen] … die Nitratwerte im oberflächennahe Grundwasser … besorgniserregend gewachsen [sind] (Amann et al. 2013, 67). Macht zusammen ‚zwölf, dreizehn Jahre‘.
Und Egon Harms legt den Finger tief in die Wunde:
„Wenn wir überlegen, dass wir in Deutschland als Informationsgesellschaft mittlerweile zu teuer sind, um Schiffe zu produzieren, um Fernseher zu produzieren, wieso können wir dann noch Schweinehälften für den Weltmarkt produzieren und das zu weltmarktkonformen Preisen?
Ich glaube, das liegt im Moment daran, dass wir in der Umweltgesetzgebung nicht das tun, was wir tun müssen, beim Tierwohl haben wir sehr hohen Nachholbedarf und auch die Arbeitsverhältnisse der Menschen in diesen Fleischfabriken ist ja völlig indiskutabel.
Das heißt, in drei Rechtsbereichen verstoßen wir eklatant gegen gesetzliche Normen und Spielregeln, die von der Bevölkerung auch zunehmend eingefordert werden“ (zit. in Asendorpf 2018).
Station 4: Tiertransport
Dazu möchte ich nur kurz die Albert-Schweitzer-Stiftung zitieren:
„Rinder dürfen bis zu 29 Stunden am Stück transportiert werden“ (2014).
Wo um Himmels Willen sollen diese Tiere hingekarrt werden?
‚billige‘ Arbeitskräfte (vornehmlich) aus Osteuropa1
>> s.a. Abschnitte Fleisch & Ethik, S. 555 sowie Fleisch & Tierhaltung, S. 556f.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Hier sorgt ein labyrinthisches Geflecht von Subunternehmen dafür, dass die konkreten Arbeitsbedingungen inkl. Arbeitsschutz intransparent bleiben und kaum nachvollziehbar ist, ob tatsächlich Mindestlöhne gezahlt werden. Das ging früher durchaus anders: „[B]is in die [19]90er Jahren hinein gab es ganz normale Arbeitsverhältnisse. Nach und nach wurden diese dann ausgegliedert, dadurch sind die ganzen Subunternehmen entstanden. Das war eine Strategie der Fleischkonzerne. In der Nahrungsmittelindustrie ist das heute die Branche mit den schlechtesten Arbeitsbedingungen. Ich will den Konzernen aber nicht die alleinige Schuld geben, die Politik interessiert sich auch zu wenig dafür. Die Öffentlichkeit und die Verbraucher haben über die Jahre fast immer weggeschaut und sich keine Gedanken gemacht, welchen Preis ihr Billigfleisch im Supermarkt wirklich hat. Jetzt wird deutlich: Ausbeutung und Elend sind [neben mangelndem Tierwohl] der wirkliche Preis für billiges Supermarktfleisch“, sagt Mohamed Boudih, der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) von Nordrhein-Westfalen 2020 in der SZ. Robert Habeck fordert im Frühjahr 2020 eine Generalunternehmerhaftung, sodass unabhängig von den konkreten Vertragsverhältnissen der Schlachthofbetreiber die Verantwortung trägt und der Betriebsrat für alle im Unternehmen arbeitenden Menschen zuständig ist (vgl. Maurin 2020, 8). M.E. reicht im Sinne von Transparenz und Verantwortung die Beschränkung auf ein einfaches Subunternehmertum im Sinne traditioneller Zeitarbeit vollkommen aus, um die erforderliche Flexibilität herzustellen, d.h. die Vergabe von Sub-Subaufträgen etc. ist gesetzlich zu unterbinden. Die Bundesregierung hat im Juli 2020 im Zusammenhang mit Covid-19-Ausbrüchen in Schlachthöfen ein Gesetzesentwurf zum Verbot von Werkverträgen für Schlacht-Unternehmen mit mehr als 49 Beschäftigten auf den Weg gebracht (vgl. taz 2020). Mitte Juli hat Tönnies – die Firma, in der diese vielen Covid-19-Fälle aufgetreten – 15 neu eingetragene GmbHs ins Handelsregister eintragen lassen (vgl. Preker 2020).
Station 6: Großhandel >> Einzelhandel/Restaurant >> Teller >> Magen
Produziert wird aber nicht nur für die fleischliebenden Deutschen, sondern auch und zunehmend für den Export:
Station 7: Export, d.h. globaler Transport z.B. nach China und Afrika
„Bei Geflügel und Schweinen hat sich die Exportmenge in den vergangenen zehn Jahren glatt verdoppelt“ (Asendorpf 2018).
Schweinehälften werden also – unter Einhaltung einer energieintensiven Kühlkette – um den halben Globus containert, was hinsichtlich der Umwelt selbstredend wenig sinnvoll ist.
Pfoten, Schwänze und Köpfe gehen nach Asien. „Die Gebärmutter [vom Schwein] exportiert … [Clemens Tönnies] nach China, die Luftröhren nach Thailand, die Spareribs in die USA und nach Kanada, die Schwarten in 18 verschiedenen Varianten in den Rest der Welt“ (Amann et al. 2013, 71). Der Rest „geht in die sogenannte stoffliche Verwertung… Lachszüchter beispielsweise verfüttern das Blutplasma der Schweine an ihre Fische, damit deren Fleisch sich schön rosig färbt“ (ebd., s.a. Aquakultur und Lachs, S. 565).
Station 8: ‚Wochenmarkt‘ in Afrika
Auch abseits des CO2-lastigen Transports hat dieses industriell-billige Export-Fleisch den extremen Nachteil, dass es (wie auch im Bereich von Export-Gemüse) heimische Märkte (und damit auch die (Markt-)Kultur insbesondere in Afrika kaputtmacht: Die dortigen Kleinbauern können auf den Märkten nicht gegen die EU-Produkte konkurrieren.
„Das Filet finanziert meist das gesamte Huhn. Der Rest – vor allem Flügel, Hälse, Füße, Knochen, Innereien – ist für viele Erzeuger Abfall, der teuer entsorgt werden müsste. Doch die Fleischindustrie hat einen Weg gefunden, diese Kosten einzusparen: Was in Europa keiner essen will, wird als Gefrierfleisch nach Afrika verschifft und dort zu Niedrigstpreisen auf den Märkten verkauft. In Togo – 5.000 Seemeilen und 18 Tage Schiffsreise von Hamburg entfernt – ist deutsches Hühnerfleisch bis zu zwei Drittel billiger als einheimisches. Die Frachtkosten fallen kaum ins Gewicht“ (Obert 2014, 50). Und die Tatsache, dass „über die Hälfte des Importfleisches für den menschlichen Verzehr nicht mehr geeignet [ist]“ (ebd., 53), weil die Kühlkette allzu oft nicht durchgehend gewährleistet werden kann, auch nicht. Das Geschäft lohnt sich dennoch:
„Seit 2010 hat die EU ihre Geflügelfleisch-Exporte nach Afrika um 182 Prozent gesteigert, Deutschland die seinen im gleichen Zeitraum fast verdreifacht. Im vergangenen Jahr [2013] überschwemmten 42.700 Tonnen deutsches Geflügelfleisch die afrikanischen Märkte. Mit verheerenden Folgen: In Togo deckten vor den Massenimporten jährlich rund zehn Millionen Hühner den Fleischbedarf; heute sind nur noch die wenigen übrig, die in den Dörfern meist zur Selbstversorgung dienen. Auch im benachbarten Benin, in Ghana, selbst im Kongo – überall kämpfen Bauern angesichts der Importflut ums Überleben. In Liberia und Sierra Leone, warnen Agrarexperten, blockiere das Billigfleisch aus den Industrienationen nach dem Ende jahrelanger Bürgerkriege den Aufbau der Landwirtschaft und die Ernährungssicherung und gefährde damit den fragilen Friedensprozess“ (ebd., 50).
Details: Importe Benin
Benin = 10 Mio Einwohner = 175.000 Tonnen deklarierte Geflügelimporte im Jahr 2013, noch einmal fast so viele nicht deklarierte Importe (vgl. Obert 2014, 54). Was passiert damit? Obert zitiert einen Informanten mit den Worten: „Wir laden das Zeug nachts aus den Kühlcontainern in Kleinlastwagen um … [,] packen es in Eistruhen und bringen es [– ein Großteil des Fleisches –] auf Schleichwegen über die Grenze – nach Nigeria. … Ein Milliardengeschäft“ (ebd. 55).
„Togos Nachbarland Ghana entschied 2003, die Einfuhrzölle auf Geflügel zu erhöhen. Das Gesetz wurde mit großer Mehrheit vom Parlament beschlossen. Doch der Internationale Währungsfonds (IWF) – eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die sich eine Politik zugunsten der Armen auf die Fahnen schreibt – machte Druck und drohte dem verschuldeten Entwicklungsland, keine neuen Kredite mehr zu gewähren, falls es auf den Schutzzöllen beharre“ (ebd., 56).
Bis Juli 2013 wurden solche Exporte sogar noch EU-weit direkt subventioniert – und damit von jeder/m Bürger*in (vgl. BMEL 2019). Robert Habeck erwähnt im Zusammenhang mit Exportfleisch und EU-Geldern im Jahre 2018 weiterhin erfolgende „indirekte Exportsubventionen“ (Fleischwirtschaft 2018).
Diese Exporte – ob nun subventioniert oder nicht – konterkarieren die ebenfalls von uns Bürger*innen bezahlte Entwicklungshilfe. Welches Wort außer ‚Wahnsinn‘ könnte treffender sein?
Neben den bisherigen und nunmehr abgestellten direkten Export-Subventionen gibt es weitere indirekte Subventionen: Das Ganze wird subventioniert über Stallbauprämien, allgemeine Subventionen für die großangelegte konventionelle Landwirtschaft, Tierschutz- und Arbeitsschutzregelungen (in Schlachtbetrieben), die ihrem Namen nicht gerecht werden, mangelnden Kontrollen durch zu wenig Personal, Inkaufnahme von Trinkwasserverunreinigung etc. pp.
Station 9: Erntehelfer*innen in Südspanien
Die Bäuerinnen und Bauern, für die es sich z.B. aufgrund des billigen EU-Fleisches oder -Gemüses nicht mehr lohnt, die Felder zu bestellen, geben die ohnehin extrem mühsame Arbeit auf, lassen den Boden erodieren, der Humus geht verloren, oft setzt vermehrt Wüstenbildung ein. Die Bäuerin bzw. der Bauer verlässt nicht selten ihr/sein Dorf, landet zunächst in der nächsten Stadt, wo sie/er auch nicht willkommen ist – und arbeitet schließlich, falls sie/er die Flucht durch die Wüste, durch rechtsfreie Räume und über das Mittelmeer überleben sollte, als Erntehelfer*in… in Südspanien z.B. auf den Gemüsefeldern oder in den Gewächshäusern, deren Produkte z.B. nach Deutschland und Afrika exportiert werden. Und dort macht sie/er die mehr oder weniger gleiche Arbeit wie vorher, nun aber als mittellose*r und allzu oft rechtelose*r Migrant*in, entwurzelt, wahrscheinlich ohne ihre/seine Familie und sorgt unbeabsichtigt und unbewusst, dass dieses u.a. Afrika (weiter) ruinierende System am Laufen bleibt, indem sie/er letztlich (unbewusst) dazu beiträgt, dass weitere Bäuerinnen und Bauern in Afrika aufgeben müssen.
>> Station 9 erklärt einen Mechanismus, der prinzipiell richtig ist, jedoch selbstredend notwendig den Sachverhalt vereinfacht darstellt.
OMG.
Fazit zu Station 1 bis 9:
In Südamerika wird der Regenwald gerodet; viele traditionelle Bauern werden entrechtet und ihrer Existenz beraubt. In Deutschland wird bei der Tiermast mit Jungtieren z.B. aus Dänemark mit dem über den Atlantik verschifften Gen-Soja durch zu großen Stickstoffeintrag das Trinkwasser mit Nitrat verunreinigt. Das alles nur, damit nicht nur der ungesund-übermäßige Fleischappetit der Deutschen befriedigt werden kann, sondern – um des Mammons willen – auch noch weltweit Exportmärkte bedient werden können. Nach dem CO2-intensiven Transport um den halben Globus macht das billige (und faktisch hoch subventionierte) Export-Fleisch z.B. afrikanische Märkte kaputt, verhindert den geordneten Aufbau von Ländern des Globalen Südens, konterkariert Hilfe zur Selbsthilfe, sorgt für langfristig zerstörte Böden, entwurzelt Menschen, die dann u.U. als Erntehelfer*innen in Südeuropa landen.
Und da alles mit allem zusammenhängt geht es noch weiter mit diesem destruktiven Kreislauf…
Station 10 Spaniens Böden und das Trinkwasser
…oder: Ackerböden in Deutschland von Tiernahrung und Tieren besetzt: Wo kommt unser Gemüse her?
In Deutschland werden sehr viele Agrarböden in irgendeiner Form für die Massentierhaltung genutzt. Wo also kommt unser Gemüse her? Zum Beispiel aus Spanien:
In Südspanien liegt das Herz der spanischen Agrarproduktion. Von hier starten ungezählte Lastwagen pro Jahr nach Nordeuropa und Deutschland mit Gemüse und Obst, damit es für den Konsumenten ganzjährig, Saison-unabhängiges, günstiges Obst gibt.
Natürlich hat es Folgen, wenn man aus einem so heißen (und Klimawandel-bedingt immer heißeren) Gebiet eine gigantische Gemüseplantage macht:
„85 Prozent des an die Oberfläche gepumpten Grundwassers fließt in die Agrarproduktion. Überall wird künstlich bewässert… Weite Landstriche sind verkarstet [d.h. vereinfacht ausgedrückt: ausgelaugt], der Grundwasserspiegel ist stellenweise unter 500 Meter gesunken. In den Küstenstreifen um Huelva am Atlantik, Europas größtem Erdbeeranbaugebiet, und in den großen Gemüseplantagen um Almería am Mittelmeer hat der übermäßige Süßwasserverbrauch dazu geführt, dass [salziges] Meerwasser unters Festland nachgeflossen ist“ (Urban 2019).
Intensiv-großindustrieller Gemüseanbau auf einer riesigen Fläche in einer ohnehin übermäßig trockenen und nun von der Klimakrise befördert regenarmen Gegend ist keine gute Idee. Letztlich haben wir es hier mit einer schleichenden Wüstenbildung (‚Desertifikation‘) zu tun:
„Aber nicht nur der Klimawandel verschärft die Desertifikation, die Desertifikation verschärft umgekehrt den Klimawandel, da sie natürliche Regenerationskreisläufe zerstört. Es ist ein Teufelskreis, der kaum wahrgenommen wird“ (Dürmeier 2019).
Wenig überraschen: Nicht die Großindustriellen, sondern die traditionellen Bauern (‚Trockenbauern‘) leiden „am stärksten unter Desertifikation und Klimawandel, denn sie sind auf regulären Regen angewiesen“ (ebd.).
Kleiner Sprung innerhalb der EU von Spanien nach Rumänien:
In Rumänien wird ein 800 Quadratkilometer großes Gebiet mittlerweile als „Sahara an der Donau“ bezeichnet:
„Sie ist weitgehend waldfrei und voller stark sandiger Böden, stellenweise gibt es sogar Sanddünen-Landschaften. Während der Ceausescu-Diktatur wurde hier, wie überall in der südrumänischen Tiefebene, intensive Landwirtschaft betrieben. Inzwischen liegen viele Flächen brach, sind verödet und erodiert“ (Verseck 2020, vgl. Aspekt China: Das desertifizierte Löss-Plateau ergrünt, S. 576ff.).
Im gleichen Artikel wird die Klimaforscherin Roxana Bojariu mit den Worten zitiert:
„Die Ursache ist ein komplexes Zusammenspiel menschengemachter und natürlicher Faktoren.“ Inzwischen versucht man hier mit widerstandsfähigen Pflanzen zu arbeiten, die wenig Wasser benötigen und die für die Gegend eher ungewöhnlich sind, darunter Erdnüsse und Süßkartoffeln (vgl. ebd.).
Hitze, ausbleibender Regen, Wasserknappheit, sinkende Grundwasserstände, Desertifikation – alles entscheidend verschärft und befördert durch die Klimakrise – haben auch das Phänomen der sog. Mondscheinlöcherhervorgebracht. Das sind jene ungenehmigten, d.h. illegalen, u.U. nicht abgesicherten/abgedeckten Bohrlöcher, die als private Tiefbrunnen überall in Spanien gebohrt werden, um an Wasser zu kommen. Bekannt geworden sind diese Mondscheinlöcher durch den tragischen Tod eines zweijährigen Jungen im Januar 2019, der 71 Meter in ein über 100 Meter tiefes und gerade mal 25 cm breites Loch fiel und starb. Was seinerzeit weniger publik wurde, ist, dass diese nach Greenpeace-Schätzungen (2019) über eine Millionen Löcher[1] letztlich eine Folge der Klimakrise sind.
>> Björn Römer beruft sich 2020 im Spiegel auf Expert*innen und schreibt von „[h]underttausende[n] solcher schmalen Schächte … in Spanien… [Gemäß einer aktuellen Studie] werden zwischen 30 und 50 Prozent der jährlichen Wasserressourcen gestohlen.“
Quellen des Abschnitts Landwirtschaft global: Der destruktive Kreislauf rund um die Fleischindustrie
Amann, Susanne et al. (2013): „Schlacht-Plan“. in: Der Spiegel, 43/2013, S. 64-72.
Grefe, Christiane und Theile, Merlin (2019): ‚Das ist doch ökologischer Irrsinn‘. Die Grünen-Politikerin Renate Künast und der Landwirt Marcus Holtkötter streiten über Gülle im Grundwasser und die Frage, ob es nötig ist, Ferkel zu kastrieren“. in: Die Zeit, Nr. 45/30.10.2019, S. 31.
Jüttner, Julia (2019): „Die Wasserschlacht“. in: Der Spiegel, Nr. 41/5.10.2019, S. 34.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Wagenhofer, Erwin (2005): We Feed The World. Film-Doku. DVD.
Palmöl als Produkt globaler Land- und Industriewirtschaft
Palmöl besitzt einen Vorteil, der Kritiker*innen oft entgegengehalten wird und den ich hier gleich zu Anfang nennen möchte:
„Mit Palmöl kann auf vergleichsweise geringer Fläche ein großer Teil des weltweiten Bedarfs an Pflanzenölen gedeckt werden“ (WWF o.J.)
…mehr
Kathrin Hartmann hebt hervor, dass der WWF „[e]ine besondere Rolle bei der Erfindung des nachhaltigen Palmöls spielt… Nach Meinung vieler NGO’s, insbesondere lokaler Aktivisten wie Feri [Irawans Perkumpulan Hijau], ist es der Mitbegründer WWF, der dem Runden Tisch für nachhaltiges Palmöl grüne Glaubwürdigkeit verleiht“ (2018, 113).
Das ist für sich genommen wahrscheinlich richtig.
Doch relativiert sich diese Aussage erheblich, wenn man sich klarmacht,
wo, d.h. in welchen Gegenden Palmölplantagen stehen – und was sich vorher auf diesem Gelände im Regelfall befand,
dass die Menschheit schlicht kein Platzproblem hat – sie nutzt die für eine gesunde und ökologische (Palm-arme) Landwirtschaft erforderlichen Flächen zu 80% im Zusammenhang mit der Massentierhaltung (vgl. S. 621),
dass „Palmöl vor allem für Produkte verwendet [wird], die in Wahrheit kein Mensch braucht“ (Hartmann 2018, 117).
Nun, wenn erstgenannter Aspekt nun also der Vorteil ist… Der Rest dieses Abschnittes ist den anderen, weniger vorteilhaften Aspekten des Palmöls gewidmet.
Deforestation in Malaysian Borneo | gemeinfrei (NASA, 2002)
Zunächst einige Zahlen: Ähnlich wie beim ‚schwarzen Gold‘ der fossilen, hängt unsere Welt heute darüber hinaus auch massiv an der Nadel des Palmöls.
„Anfang der 1980er-Jahre wurde nur etwa fünf Millionen Tonnen Palmöl weltweit produziert“ (Schumacher 2017, 65).
„Palmöl gehört zu den am häufigsten eingesetzten Ölen der Welt; die Produktion hat sich seit 1995 mehr als vervierfacht. Heute werden etwa 70 Millionen Tonnen jährlich produziert. Mehr als zwei Drittel davon kommen in Lebensmittel“ (Uhlmann 2019).
„Der Löwenanteil stammt … aus Malaysia und Indonesien [zusammen: rund 90%]. In den letzten 25 Jahren haben sich dort die Anbauflächen verzehnfacht. Tendenz steigend“ (Dallmus 2019; Zahl aus Schumacher 2017, 65).
„[S]eit 1990 hat Indonesien durch Abholzung und Brände eine Waldfläche verloren, deren Größe an die der Bundesrepublik Deutschland heranreicht: 310.000 Quadratkilometer. … Waren 1990 noch zwei Drittel des Inselstaates mit Wald bedeckt, ist es 2015 schon nur noch die Hälfte“ (Hartmann 2018, 87).
„Die EU ist weltweit der zweitgrößte Importeur von Palmöl“ (DUH 2019).
Ein Blick in den Einkaufskorb:
Palmöl ist selten ‚sichtbar‘, aber quasi unbemerkt überall drin, konkret in etwa jedem zweiten Supermarktprodukt (vgl. Greenpeace 2019):
‚Die Industrie‘ liebt zwei Eigenschaften an Palmöl besonders: Es hat bei Zimmertemperatur eine feste Konsistenz, braucht also nicht lebensmitteltechnisch gehärtet werden – und, viel, viel wichtiger: Es ist überaus günstig auf dem Weltmarkt zu bekommen.
>> Palmfett braucht nicht gehärtet zu werden: Das ist tatsächlich ein Vorteil von Palmfetten/-ölen: Es braucht nicht gehärtet zu werden und ist daher frei von Transfetten, die bekanntermaßen gesundheitsschädlich sind (vgl. WWF o.J.).
Palmöl & die Gesundheit der Verbraucher*innen
Palmöl ist günstig für Industrieunternehmen, doch die tatsächliche Gesamtrechnung ist hoch:
„Palmöl ist nicht das hochwertigste Pflanzenfett: Es hat einen relativ hohen Gehalt an (ungesunden) gesättigten Fettsäuren und einen niedrigen Gehalt an (gesunden) ungesättigten Fettsäuren“ (Leiterer 2019). „Zahlreiche [ungesättigte] Omega-3-Fettsäuren hemmen Entzündungen, einige [gesättigte] Omega-6-Fettsäuren hingegen begünstigen sie. … Omega-3-Fette… halten die Zellmembranen geschmeidig und … [und haben] Effekte auf die Alterungsprozesse Ihres Gefäßsystems und damit die Prophylaxe von Herzinfarkt und Schlaganfall“ (Marquardt 2007, 93). Der Anteil von gesättigten Fettsäuren „beträgt beim Palmöl etwa 45 bis 55 Prozent. Olivenöl bringt es nur auf zehn bis 25 Prozent“ (Uhlmann 2019). Und: „Sonnenblumenöl enthält nur ein Zehntel der Fettschadstoffe des Palmöls“ (ebd.) – und selbst Sonnenblumenöl zählt im Unterschied zu Rapsöl, Olivenöl, Walnussöl, Hanföl und Leinsamenöl längst nicht zu den gesünderen Ölen (vgl. Marquardt 2007, 93).
„[B]ei der Raffination des Öls entstehen [Schadstoffe]. Bei diesem Produktionsschritt wird das Öl auf etwa 200 Grad Celsius erhitzt; Geschmack und Geruch verflüchtigen sich, es wird dadurch vielseitig einsetzbar. Es bilden sich aber auch kritische Fettsäureester. In keinem anderen Fett ist ihr Anteil so hoch wie im Palmöl. Dazu gehören jene Ester, die mit 3-MCPD abgekürzt werden und die die Krebsagentur der Weltgesundheitsorganisation WHO als möglicherweise krebserregend einstuft… [werden. V]or allem Kinder laufen Gefahr, diese Grenzwerte [der europäischen Lebensmittelbehörde Efsa] zu überschreiten“ (Uhlmann 2019).
Es ist trotz der hohen Palm-Durchsetzung unserer Supermarktregale durchaus machbar, Palmöl zu vermeiden – hier vermag die Website bzw. App https://www.codecheck.info/ (Website: Suchfunktion oben rechts) zu unterstützen – auch bei der Suche nach möglichen Ersatzprodukten. Nur bei Keksen wird es schwierig. Das ist, so denke ich, angesichts der Thematik dieses Buches zu verschmerzen sein.
>> Ausnahme: Codecheck kann hier leider nur bei Produkten weiterhelfen, die in irgendeiner Form das Wort ‚Palm‘ in der Zutatenliste aufführen, was bei sehr vielen auch der Fall ist. Glycerin hingegen kann, muss aber nicht, aus Palmöl hergestellt werden. Woraus jeweils das Glycerin hergestellt wurde, braucht derzeit bedauerlicherweise nicht angegeben werden.
Doch mit den bisherigen Ausführungen haben wir allenfalls die oberste Spitze des Eisbergs erfasst:
„Beim Griff ins Supermarktregal und beim Tanken entscheiden wir auch über das Schicksal bedrohter Arten wie Orang-Utan oder Tiger – und des Regenwaldes. Mittlerweile erstreckt sich der Anbau weltweit auf eine Fläche von etwa 19 Millionen Hektar, rund um den Äquator in artenreichen Regionen, wie Indonesien und Malaysia. Für neue Plantagen werden weiterhin zahlreiche Hektar Regenwald gerodet“ (WWF 2018 – Den im Zusammenhang mit Palmöl kritisierten WWF zu zitieren erscheint m.E. möglich, weil das Zitat (des deutschen Verbandes) nicht in dem Verdacht steht, die Situation zu verharmlosen.)
Für das Jahr 2015 zog die Global Fire Emissions Databank bereits im Oktober des Jahres Bilanz:
„[T]here have been nearly 100.000 active fire detections in Indonesia so far in 2015, which since September have generated emissions each day exceeding the average daily emissions from all U.S. economic activity. Following several recent intense outbreaks of fires – in June 2013, March 2014 and November 2014 – the country is now on track to experience more fires this year than it did during the 2006 fire season, one of its worst on record“ (Harris et al. 2015).
Mehr als die Hälfte dieser Feuer fand in tropischen Moorgebieten statt (vgl. ebd.). Nicht nur die Vegetation bzw. Regenwald wird gerodet – auch der besonders kohlenstoffhaltige Boden wird zerstört:
„The burning of tropical peatlands [= Moore] is so significant for greenhouse gas emissions because these areas store some of the highest quantities of carbon on Earth, accumulated over thousands of years“ (ebd.).
Diese für die Palmwirtschaft trockengelegten Moore braucht die Menschheit dringend als CO2-Senke:
„Dabei entweichen riesige Mengen an Kohlenstoff, die zwölf Prozent der weltweiten Emissionen ausmachen. Zwischen 1990 und 2015 wurden in Indonesien 24 Millionen Hektar Regenwald zerstört, das entspricht annähernd der Größe Großbritanniens“ (Greenpeace 2018, 10).
Kathrin Hartmann beschreibt das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, unter denen Palmöl hergestellt und geerntet wird, wie folgt:
„Gern heben die Konzerne hervor, wie sehr ihnen die Kleinbauern am Herz liegen, bewirtschaften sie doch ein Drittel der Plantagen. Allerdings arbeiten sie im sogenannten Nukleus-Plasma-System. Dahinter verbirgt sich wenig mehr als legalisierter Landraub, der in Ausbeutung mündet. Kleinbauern werden dazu überredet, ihre Gewohnheitsrechte auf ihr Land an die Palmölfirma abzutreten, die ihnen im Gegenzug das Landrecht für zwei Hektar mit Ölpalmen am Rand (Plasma) der Plantage (Nukleus) plus einen halben Hektar für Haus und Garten abgibt. So sollen sie sich selbst versorgen und mit der Bewirtschaftung der Miniplantage Geld verdienen. Doch in den drei bis vier Jahren, die die Palmen wachsen müssen, bis sie Früchte tragen, sind die Kleinbauern auf Kredite angewiesen. Die gewährt ihnen die Firma – zu horrenden Zinsen. Außerdem müssen sie Dünger und Herbizide selbst bezahlen, oft auch die Palmsetzlinge. Die meisten Bauern landen in der Schuldenfalle und bleiben ihr Leben lang abhängig von der Palmölfirma, an die sie per Vertrag und zu miserablen Preisen liefern müssen. Von ihrer harten Arbeit können sie nicht leben: Sie verdienen nur etwa 500 Dollar im Jahr“ (2018, 91).
„Die Arbeitsbedingungen auf den Ölplantagen sind knallhart. Bezahlt wird oft nicht nach Stunden, sondern nach Quoten. Bis zu 1.500 Kilo am Tag müssen die schlecht bezahlten Arbeiter schleppen. Menschenrechtsorganisationen berichten von schweren Vergiftungen durch Pestizide. Auch die weitere Verarbeitung in der Ölmühle ist oft umweltschädlich. Abwässer und Abfälle gelangen meist ungeklärt nach draußen“ (Dallmus 2019).
Und, wie eigentlich immer im Zusammenhang mit Arbeit im (land-)industriellen im Globalen Süden ist das Thema ‚Kinderarbeit‘ zu nennen (vgl. ebd.), auch auf den RSPO-zertifizierten Plantagen gibt es „Kinder- und Zwangsarbeit sowie Menschenhandel“ (Hartmann 2018, 101).
>> Die USA verhängten Ende September 2020 ein Importverbot für Palm-Erzeugnisse des malaysischen Weltmarktführers (und RSPO-Mitglieds, vgl. RSPO 2020) FGV im Zusammenhang mit „Anzeichen auf „sexuelle Gewalt auf den Plantagen“ (Spiegel 2020) sowie Zwangs- und Kinderarbeit (vgl. ebd.).
Alledem soll dem der 2004 gegründete ‚Runde Tisch für nachhaltiges Palmöl‘ (RSPO) abhelfen, der zudem Siegel/Zertifikate für nachhaltiges Palmöl vergibt.
Karthrin Hartmann analysiert, wer an diesem Runden Tisch Platz nimmt:
>> Werner Boote und Kathrin Hartmann besuchten für die Kino-Doku Die grüne Lüge (2018) die indonesische Palmöl-Konferenz GAPKI – sehr sehenswert.
Man könnte meinen, dass ein bereits 2004 gegründeter ‚Runder Tisch‘ inzwischen einiges bewirkt haben sollte. Doch lautet nach Ausführungen von Hartmann Aufgabe des ‚Runden Tisches‘ „[d]ie Erfindung des nachhaltigen Palmöls“ (2018, 96). Wie Palmöl grün wird, beschreibt sie so:
„Unilever wirbt damit, hundert Prozent nachhaltiges Palmöl zu kaufen. Trotzdem kann der Konzern nicht ausschließen, dass in seinen Produkten blutiges und illegales Palmöl steckt. Denn Unilever bezieht drei Viertel des Rohstoffs über das sogenannte Book&Claim-System. Darüber kaufen Firmen lediglich Zertifikate für die von ihnen benötigten Mengen Palmöls mit Nachhaltigkeitssiegel. Sie können so nur garantieren, dass irgendwo auf der Welt die entsprechende Menge nachhaltig gesiegelten Palmöls in den Mengen produziert wurde, für das sie Zertifikate gekauft haben. Nur dreißig Prozent des Palmöls, das Unilever verwendet, ist überhaupt zertifiziert. Den größten Teil bezieht Unilever über das Massenbilanzsystem, das aber in den Tanks mit nicht zertifiziertem Palmöl gemischt wird. Nur ein winzig kleiner Teil ist Palmöl, das in der Lieferkette von nicht zertifiziertem Fett getrennt wird (RSPO Segregated). Vom meisten Palmöl also, das Unilever bezieht, kann das Unternehmen nicht wissen, woher es wirklich kommt. Wie aber das rückverfolgbare Palmöl tatsächlich hergestellt wurde, steht auf einem ganz anderen Blatt“ (2018, 112-113).
Gesundheit, Arbeitsbedingungen, Green Washing… da war doch noch was?
Nicht unerheblich: palmgetränktes Benzin.
„Der Großteil des [nach Deutschland importierten] Palmöls … geht in Bio-Energie – ganze 41 Prozent“ (WWF 2016).
>> Der gleichen Quelle ist zu entnehmen, dass 40% in industriellen Nahrungsmitteln und 17% in Waschmitteln, Kosmetika und Produkten der Chemie- und Pharmaindustrie landen.
„90 Prozent des globalen Anstiegs der Nachfrage nach Pflanzenölen seit 2015 entfallen auf Biokraftstoffe“ (taz 2020).
„Allein die EU verbraucht demnach jährlich vier Millionen Liter Palmöl, um es Biodiesel beizumischen“ (ebd.).
„60 Prozent des in die EU importierten Palmöls landen im Tank“ (ebd.).
„Deutschland [ist] größter Hersteller von Bio-Diesel in der EU“ (ebd.).
Auch wenn man sich rückblickend nur an den Kopf fassen kann: Tatsächlich wollte man mit Beimischungen von Raps, Palm & Co die CO2-Bilanz von fossilen Dieselkraftstoffen verbessern und verfügte deshalb, das mit Stand 2020 die Biokraftstoffquote 6,25% beträgt, d.h. „Biokraftstoffe müssen einen Anteil von 6,25% am gesamten Kraftstoffmarkt haben“ (wikipedia 2020).
„Aufgrund der mit Öl-Palmen verbundenen Regenwaldabholzung ist das Biodieselgemisch dreimal schädlicher für das Klima als herkömmlicher Diesel“ (DUH 2019, 23).
Die EU-Kommission legte im März 2019 fest, „dass die Beimischung von Palmöl zum Dieselkraftstoff ab 2023 schrittweise reduziert und bis 2030 beendet sein soll“ (DUH 2019, 22).
Quellen des Abschnitts Palmöl als Produkt globaler Land- und Industriewirtschaft
Konventioneller und Öko-Landbau könnten sich künftig – möglicherweise – via Robotik annähern: Wo ein Ökostrom-angetriebener High-Tech-Jäte-Roboter im Rahmen des ‚precision farming‘ seinen Dienst tut, sind keine/weniger Unkrautvernichtungsmittel erforderlich.
Bleibt die Frage, inwieweit die sog. ‚Landwirtschaft 4.0‘ eine utopisch-luxuriöse Idee des Westens ist.
Wichtig ist jedoch auf jeden Fall, dass die in den letzten Jahren immer gewaltigeren Landmaschinen wieder kleiner und leichter werden (vgl. Pander 2019).
Wenn hier auch ein paar Chancen drinstecken. Letztlich geht es – mal wieder – um das ganz große Geld:
„Analysten von Goldman Sachs prognostizieren, dass der Markt für digitale Agrartechnologie von heute schätzungsweise rund fünf Milliarden Dollar bis 2050 auf 240 Milliarden Dollar wachsen wird“ (Bethge 2020).
Man hat immer zu schauen, von wo der Applaus kommt. Es ist davon auszugehen, dass dem Globalen Süden dieser kapitalintensive Ansatz nicht weiter bringen bzw. an ihm vorbeigehen wird. Das ist nicht hilfreich.
Dass dieser Ansatz hier überhaupt Eingang findet in das Handbuch Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft, verdankt sich der Tatsache, dass Robotik tatsächlich und immerhin ein Weg sein kann, um die tonnenschweren Maschinen vom Acker zu holen, die den Boden und das dort vorhandene Leben im wahrsten Sinne plattmachen und um präziser, d.h. auch weniger Pestizid-orientiert zu arbeiten.
Indoor Urban Farming / Vertical Farming
In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe von neuen Konzepten und Start-ups entstanden, die gemeinsam haben, dass Pflanzen erdlos (Hydroponik) indoors unter (mit grünem Strom betriebenen) LED-Licht gezogen werden – in manchen Fällen in Kombination mit Fisch-Aquakulturen, sodass das mit Nährstoffen versehende (Fisch-)Wasser der Aquakulturen für die Aufzucht der Pflanzen weiterverwendet wird. Das Ganze nach Aussagen der Betreiber*innen ohne den Einsatz von Pestiziden und Antibiotika. Was insofern funktionieren kann, weil die Bedingungen ungleich kontrollierter sind als in der konventionellen Landwirtschaft. Auch spare man sich lange Lieferwege und damit auch eine Kühlkette, heben die Betreiber*innen hervor. Hightech-Gemüse-Aufzuchtschränke stehen mittlerweile offensichtlich schon in einigen EDEKA-Filialen. Was die Hightech-Farmer nicht sagen: All diese Hallen, Zuchtschränke, Becken etc. pp. müssen hergestellt, gebaut, gewartet und irgendwann ersetzt werden. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass es bislang vielfach Gastronomen gehobener Restaurants sind, die diese Angebote nutzen (vgl. Rosenbach 2019).
Gefährlich: ‚Landgrabbing‘
„Rund die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche der EU ist gepachtet. Die Landbesitzer und -besitzerinnen können einen Gutteil der [GAP-EU-]Subventionen selbst einstreichen, indem sie einfach die Pacht erhöhen“ (Matthews 2019, 15).
Nils Klawitter beschreibt die Situation rund um das Thema ‚Landgrabbing‘ für Deutschland wie folgt:
„In Mecklenburg … sind die Flächenpreise seit 2005 um fast 400 Prozent in die Höhe geschossen. Das übertrifft selbst den Preisanstieg in München, wo sich die Bodenpreise im selben Zeitraum um 177 Prozent erhöht haben…. Zu den neuen Landbesitzern gehören Immobilienfirmen, Möbelhändler oder Fondsgesellschaften, fast immer mit Sitz in Westdeutschland. ‚In solchen Konglomeraten, die mit Stoßtrupps osteuropäischer Arbeiter die Felder traktieren, abernten und dann weiterziehen, zählt nicht, ob die nächste Generation den Boden noch bewirtschaften kann‘, sagt Reinhard Jung vom Brandenburger Bauernbund“ (Klawitter 2019, 80).
Michael Bauchmüller weist in der SZ exemplarisch darauf hin, dass mehr als 6.000 Hektar in Thüringen der „Lukas-Stiftung des Aldi-Nord-Eigentümers Theo Albrecht junior [gehören – ] … der jüngste Fall einer unseligen Entwicklung, die vor gut zehn Jahren ihren Lauf nahm: Investoren greifen nach Bauernland … [Bäuerinnen und Bauern] sind mittlerweile eingezwängt zwischen den Kapitalinteressen von Verkäufern und Verpächtern einerseits und dem berechtigten Interesse nach einer nachhaltigeren Landwirtschaft andererseits“ (2020). Bauchmüller hebt des Weiteren hervor, dass es üblich ist, Firmen zu kaufen, die bereits Land besitzen, sodass nicht einmal Grunderwerbssteuern anfallen – während ein Bauer, der Land erwerben würde, selbige zu entrichten hätte (vgl. ebd.).
In Rumänien gibt es viel fruchtbaren Ackerboden – aber Mely Kiyak zeigt, dass dieser zunehmend in ‚falsche Hände‘ gerät:
„Vierzig Prozent seiner Agrarflächen sind an ausländische Investoren verkauft. Wenn ‚der‘ arme Rumäne zu uns kommt, handelt es sich nach Ansicht der Rechten um Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme. Wenn deutsche Unternehmen wie die Allianz-Versicherung mit ihren Ablegern den Rumänen Land wegnehmen, nennt man es Business“ (2019).
Silvia Liebrich betont, dass es sich
„[f]ür finanzstarke Geldgeber lohnt…, in Ackerland zu investieren. Felder, auf denen Getreide oder Soja für Futtertröge wächst, sind zu begehrten Spekulationsobjekten geworden. Keine andere Anlageklasse hat in den vergangenen Jahren eine solche Wertsteigerung erzielt. Hinzu kommt die sichere Prämie von Jahr 250 bis 300 Euro pro Hektar und Jahr, die als von der EU überwiesen wird.
Michael Kopatz bekräftigt indes die Notwendigkeit,
„gegen die Nutzung von Flächen als reine Kapitalanlage vorzugehen. Denkbar wäre ein neues Grundstücksverkehrsrecht, das etwa ein Vorkaufsrecht für örtlich ansässige Landwirte vorsieht. Ein zentraler Ansatzpunkt ist zugleich die Subventionspolitik der Europäischen Union. Es gilt zu verhindern, dass große Betriebe am meisten profitieren, obwohl sie die geringsten Kosten je Ertragseinheit haben. Nicht mehr zeitgemäß ist es zudem, den Maisanbau mit Steuermitteln zu unterstützen. Eine faire Agrarpolitik fördert kleinräumige Strukturen statt Agrarkonzerne. Das stärkt auch die regionale Wertschöpfung und sichert Arbeitsplätze“ (2016, 107).
Diesen Trend zum ‚Landgrabbing‘ gibt es nicht nur in Deutschland und Osteuropa, sondern massiv auch in Afrika – was Kopatz völlig zu Recht als „neue Form des Kolonialismus“ (ebd., 107) einordnet.
Nicht zu vergessen die „Fleischwiesen“ in Brasilien, die z.B. im entwaldeten Bundesstaat ‚Mato Grosso‘ (‚Großer Wald‘) geschaffen wurden.
Mattheus Vieira, Cattle Farming Expert:
„In den [19]70ern lebten in dieser Region nur indígenas, hier war nur Regenwald. 34 Jahre Besiedlung haben diese Gegend zur wichtigsten Landwirtschaftsregion des Landes gemacht. Es ist der perfekte Ort für neue Investitionen und um Geld zu verdienen“ (zit. in Opitz 2018, Min 20).
Was Vieira vergisst zu erwähnen: Das jene Indígenas dieses Land eigentlich besitzen. Sie werden für Gensoja, Fleisch und das ganz ‚große Geld‘ von ihrem eigenen Land verdrängt und vertrieben…
Anleitung: Man statte – unterstützt von ein paar schwerbewaffneten ‚Sicherheitskräften‘ – einer Bauersfamilie einen Besuch ab und sorge für Recht und Ordnung: „Wo ist der Landtitel, der beweist, dass dieses Stück Land Dir und niemandem anders gehört?“
Details
Landtitel = Urkunde über den Besitz eines Stück Land.
„Die Kleinbauern nennen sie [– die bewaffneten Banden –] wegen ihrer Pistolen Pistoleiros und verdächtigen sie, von den benachbarten Großbauern bezahlt zu werden. Die Pistoleiros stecken Häuser in Brand, sägen Strommasten ab, töten Hunde und Milchkühe und schießen mit Revolvern in die Luft und vor die Füße der Landbevölkerung. Sie besprühen sogar Felder und Siedlungen von Flugzeugen aus mit Gift“ (Fischermann et al. 2018). „[I]n den vergangenen 15 Jahren [sind] mindestens 20.000 Familien im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso vertrieben worden… In ganz Brasilien werden 30 bis 40 Menschen pro Jahr im Konflikt um Land und Macht getötet“ (ebd.).
…und fristen nachfolgend i.d.R. verarmt, rechtelos, landlos, würdelos und z.T. hungernd ihr Leben (vgl. Wagenhofer 2005, Doku We Feed The World, vgl.Franzen/Aders 2020, 8-9, vgl. Fischermann et al. 2018).
Quellen des Abschnitts Weitere Aspekte der Agrarkultur
Klawitter, Nils (2019): „‚Der macht alles platt‘. Eigentum: In Zeiten von Niedrigzinsen wird Ackerland immer lukrativer: Investoren kaufen ganze Landstriche auf – einheimische Bauern können kaum noch mithalten“. in: Der Spiegel, Nr. 42/12.10.2019.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Rosenbach, Marcel (2019): „F(r)isch aus der Stadt. Ernährung: Garnelen aus Bayern, Buntbarsche aus Berlin: ‚Urban Farming‘ verspricht gesunde Produkte ohne lange Transportwege. Ist das ein Trend oder die Zukunft der Landwirtschaft?“. in: Der Spiegel, Nr. 34/17.8.2019, S. 58-60.
Wagenhofer, Erwin (2005): We Feed The World. Film-Doku. DVD.
Fazit des Abschnitts Bodenbewahrende Agrarkultur
Ein Dreisatz.
Wir brauchen
für lebendige, humusaufbauende Böden und für Insekten z.B. zur Bestäubung eine
ökologische Landwirtschaft, die u.U. etwas geringere Erträge hat1 und somit
mehr Fläche zur Sicherstellung der Ernährung.
Gleichzeitig haben wir tendenziell weniger Flächen zur Verfügung durch
degradierende Böden z.B. durch Erosion.
die Erderwärmung und
die notwendige Wiederaufforstung von größeren Teilen der Regenwälder.
Wir brauchen
künftig mehr Lebensmittel für mehr Menschen, d.h.
die Äcker, auf denen bislang Tiernahrung angebaut wird bzw. Massentierhaltung betrieben wird, für eine pflanzliche Ernährung der Menschheit und damit
ein sich mindestens weitgehend vegetarisch ernährender Globaler Norden.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Inwieweit Bodenbewahrende Agrarkultur geringere Erträge erwirtschaftet, ist umstritten. Der Vergleich zu konventionell-industrieller Landwirtschaft fällt definitiv nicht so klar aus wie allgemein angenommen – vgl. Fußnote auf S. 569.
Es ist eingangs zu betonen, dass m.E. nicht Nutztierhaltung an sich oder das Essen von Fleisch oder Fisch für sich genommen, sondern die Art und Maßlosigkeit der industriellen Massentierhaltung das Problem ist: Begrenzte, artgerechte Tierhaltung gehört zum bodenbewahrenden agrarkulturellen Kreislauf hinzu, wie bspw. die Düngemethoden des Demeteranbaus oder des Globalen Südens verdeutlichen. Insofern wird hier an keiner Stelle das Wort für eine totale vegane Ernährung oder komplett tierlose Agrarkultur das Wort geredet. Man beachte auch, dass es schlicht undenkbar ist, weite Teile der an den Küsten des Globalen Südens lebenden Menschen ohne Fisch zu ernähren. Und in einigen Gegenden der Welt setzt das Überleben der Menschen die Jagd und den Verzehr von Tieren voraus – wie etwa im Polarkreis bei den verschiedenen Völkern der Inuit.
Kommen wir zur derzeitigen Realität:
Fleisch & Treibhausgase
Jonathan Safran Foer:
„Unser Planet ist ein Tierhaltungsbetrieb.“ (2019, 95 u. 184)
…und das hat einen enormen Impact auf unsere Biosphäre:
„Noch immer stehen 80 Prozent der weltweiten Abholzung in direktem Zusammenhang mit der Landwirtschaft, vor allem betrifft das den Anbau von Futtermitteln“ (Greenpeace 2019, 12, vgl. Weindl et al. 2017).
„Viehhaltung ist der Hauptgrund für Entwaldung“ (Foer 2019, 110).
„Nutztierhaltung ist verantwortlich für 91% der Rodungen im Amazonas“ (ebd., 109).
„Von zuvor illegal gerodeten Waldflächen stammt rund ein Fünftel (18 bis 22 Prozent) der brasilianischen Soja- und Rindfleischexporte in die Europäische Union“ (Spiegel 2020).
„Laut UN-Klimarahmenkonvention stünden Rinder der Welt in Sachen Treibhausgasausstoß an dritter Stelle hinter China und den USA“ (ebd., 110).
„Keine andere Industrie zerstört mehr natürlichen Lebensraum als die Fleischproduktion“ (Bethge 2019, 102).
„Keine andere Industrie zerstört mehr natürlichen Lebensraum als die Fleischproduktion“ (Bethge 2019, 102).
„Ein Drittel aller Treibhausgase und 70 Prozent des Trinkwasserverbrauchs gehen aufs Konto der Lebensmittelproduktion. Wollen wir die Erderwärmung auf zwei Grad zu beschränken, müssen wir diese Werte in Deutschland bis 2030 halbieren“ (Klarmann 2019, 64).
„Annähernd drei Viertel der GAP-Mittel, rund 293 Milliarden Euro [der Mittel der GAP, d.h. der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU] im Zeitraum 2014 bis 2020, fließen in Direktzahlungen, die die intensivsten und umweltschädlichsten Formen der Landwirtschaft begünstigen: Getreideanbau und intensive Tierhaltung. Solche Zahlungen werden entsprechend der Größe der landwirtschaftlich genutzten Fläche geleistet und sind kaum an die Kriterien für Nachhaltigkeit gebunden. Bis zu 15 Prozent der GAP-Mittel sind an die Produktion gekoppelt, das heißt, sie werden pro Tier oder pro produzierte Menge gezahlt. Sie gehen vor allem an die Fleisch- und Milchwirtschaft…“ (Bradley 2019, 26-27).
Viehhaltung bzw. Fleischkonsum hat folglich einen massiven Anteil an der Erderhitzung, am Klimawandel und am Massenaussterben.
Und hier wird es interessant: Im Gegensatz zu unserer Mobilität und unserer Energieproduktion könnte man die Ernährung – prinzipiell, weil dafür keine umfangreichen Infrastrukturen neu geschaffen werden müssen – schnell und vergleichsweise unkompliziert umstellen. Foer konstatiert:
„Ich würde mein Leben… für einen Burger geben?“ – Really?
„Unsere Ernährung umzustellen wird nicht ausreichen um die Erde zu retten, aber wir können sie nicht retten, ohne uns anders zu ernähren“ (2019, 100).
Der Anteil, der Viehhaltung an den CO₂e-Emissionen zugeschrieben wird, wird sehr verschieden beziffert.
Doch selbst die Zahl am unteren Ende der Angaben – 14,5% von der UN – verdeutlicht, dass hier extremer Handlungsbedarf besteht (in diesem Sinne auch Foer 2019, 197).
14,5% >> Foer weist darauf hin, dass die ursprüngliche, aus dem Jahre 2006 stammende Zahl der UN-Organisation FAO von 18% von selbiger bald nach Gründung einer „neuen Partnerschaft zwischen der FAO und der [US-]Fleischindustrie“ nach unten, also auf 14,5%, abgesenkt wurde (2019, 274).
>> FAO = Food and Agriculture Organization of the United Nations = Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen
Die Studie Livestock and Climate Change aus dem Jahre 2009 dimensioniert den durch Nutztierhaltung verursachten Anteil unserer globalen CO₂e-Emissionen vollkommen anders.
Sie taxiert den Anteil der Massentierhaltung an den globalen CO₂e-Emissionen auf
51%.
„The key difference between the 18 percent and 51 percent figures is that the latter accounts for how exponential growth in livestock production (now more than 60 billion land animals per year), accompanied by large scale deforestation and forest-burning, have caused a dramatic decline in the earth’s photosynthetic capacity, along with large and accelerating increases in volatilization of soil carbon“ (Goodland 2012).
Die 14,5- bzw. 18%-FAO-Studie berücksichtigt laut Foer (der sich auf Goodland bezieht) nicht, dass durch die Viehhaltung CO₂-Reduktionen verloren gehen, wenn man dort, anstatt Tiere zu halten, zu einem beträchtlichen Teil Regenwald nachwachsen ließe. (Allgemein darf angenommen werden, dass der Regenwald ohne die Aussicht auf Tierhaltung bzw. Soja-Anbau nicht gerodet worden wäre, sodass es statthaft ist, die entgangenen Reduktionen einzurechnen). Zudem sei Tierzucht am gemessenen Standort (Minnesota) wesentlich effektiver als z.B. im Globalen Süden, „wo der Sektor am schnellsten wächst. … Ebenfalls ausgelassen würde die ‚wesentlich höhere Menge an Treibhausgasen‘, die bei der Verarbeitung tierischer Produkte im Vergleich zu pflanzlichen Alternativen entsteht“ (Foer 2019, 268). Weitere unberücksichtigte Aspekte seien die erforderliche Kühlkette, die Zubereitung und die Entsorgung von Nassmüll bzw. Nebenprodukten, die Nutzung veralteter Zahlen, die Tatsache, dass das sich in 12,5 Jahren abbauende Methan idealerweise nicht auf 100, sondern auf die Klimaschädlichkeit von 20 Jahren gerechnet werde (vgl. S. 146). Auch die Atmung der Nutztiere sei nicht berücksichtigt. „Im Gegensatz zu den Büffelherden des präkolonialen Amerikas gehört Nutzvieh nicht zum natürlichen Kohlenstoffkreislauf“ (Foer 2019, 270-271). Schließlich hebt Foer hervor: Tierische Produkte seien „für menschliches Leben nicht unabdingbar“ – „[G]roße Teile der Menschheit [essen] wenig bis gar keine Tierprodukte“ (ebd.).
Aufgrund der vielen einzubeziehenden Faktoren ist es sinnvoll, die Rechnung eher entlang der Studie des Worldwatch Institute zu gestalten:
Foer konstatiert, dass „vermutlich keine von den beiden“ Zahlen stimme, halte aber „die höhere für die deutlich überzeugender“. Im Übrigen beziehe sich „[e]in Bericht der UN-Vollversammlung [sowie des Weiteren ein UNESCO-Bericht]… auf die 51 Prozent statt auf die [UN-eigenen-]FAO-Einschätzung“ (ebd. 2019, 274): Nicht mal die UNO selbst glaubt an die UN-FAO-Zahlen.
Zudem stoßen Rinder eben nicht CO₂, sondern Methan aus – was die Sache besonders kritisch macht und was dazu beiträgt, dass wir besonders dringend an das Thema ‚Ernährung‘ ranmüssen:
„[N]icht alle Treibhausgase sind gleich wichtig[:]… Auf ein Jahrhundert gerechnet hat Methan vierunddreißigmal so viel ‚Treibhauspotenzial‘ (die Fähigkeit Hitze einzuschließen) wie CO₂. Auf zwanzig Jahre gerechnet, hat es sechsundachtzigmal mehr… Da Methan und Stickoxide kurzfristig sehr viel höhere Treibhausausgaben bedeuten als CO₂, müssen sie am dringendsten gestrichen werden. Weil sie hauptsächlich dadurch entstehen, was wir essen, können sie am leichtesten gestrichen werden“ (Foer 2019, 105-106).
Details
Das UBA rechnet mit dem CO₂-Äquivalent (Treibhauspotenzial) von 25 und nicht 34. Aber auch „34“ ist eine gängige, oft genannte Zahl in diesem Zusammenhang (vgl. Abschnitt Die Physik des Klimawandels, S. 145f.). Die Verweildauer von Methan beträgt 12,5 Jahre – sodass man tatsächlich mit politischen Entscheidungen in den Bereichen Ernährung/Landwirtschaft recht schnell in den Methan-Gehalt der Atmosphäre eingreifen kann. Und: Es macht wenig Sinn die Wirkung von Methan auf 100 Jahre hoch zu rechnen.
Foer verteilt in der Folge gleichermaßen stark Lob und Tadel an Jean Ziegler:
„Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, schrieb, es sei ein ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘, einhundert Millionen Tonne Getreide und Mais zu Biokraftstoffen zu verarbeiten, während fast eine Milliarde Menschen auf der Welt an Hunger leiden. Man könnte es als Körperverletzung mit Todesfolge bezeichnen.
Er sagte aber kein Wort davon, dass in der Nutztierhaltung jährlich etwa die siebenfache Menge an Getreide und Mais verfüttert wird – genug, um alle hungernden Menschen der Erde zu ernähren –, an Tiere, die von den Wohlhabenden gegessen werden. Dieses Verbrechen können wir als Genozid bezeichnen.
Es ist also keineswegs so, dass die Massentierhaltung ‚die Welt ernährt‘.
Die Massentierhaltung lässt die Welt hungern und richtet sie gleichzeitig zugrunde.“ (Foer 2019, 192)
Weitere Zahlen zum Thema ‚Fleisch & Treibhausgase‘:
Es gibt Studien, die nahelegen sowie Unternehmen, die behaupten, dass ein (derzeit nicht zugelassener) Rinder-Futterzusatz mit dem Molekül 3-NOP (3-Nitrooxypropanol) mindestens zu 30% und bis zu 50% die Bildung von Methan im Magentrakt von Rindern vermindern könnte. „Der Stoff habe, wenn er in die Nahrungskette gelange, weder für die Kuh noch für den Menschen schädliche Nebenwirkungen“ (Schilliger 2017). Meinen Recherchen zu Folge erwähnen weder Spiegel, SZ noch Zeit diesen Ansatz, der zudem Züge von Bioengineering trägt, weshalb er hier bis auf Weiteres lediglich Platz in einer Fußnote findet. Selbst wenn eine praktische Umsetzung tragbar wäre und gelänge, wären die grundlegenden Herausforderungen damit allenfalls ein wenig entschärft, aber keinesfalls behoben. Letztlich handelt es sich um die Bekämpfung eines Symptomes. Notwendig ist aber eine Ursachenbekämpfung – und für alles andere haben wir auch keine Zeit mehr. Die Überschrift des Schweizer Tagesanzeigers verrät, worum es mutmaßlich geht: Um ein „Milliardengeschäft mit rülpsenden Kühen“ (ebd.).
Andere Rechnung, andere Zahlen: 1 kg Rindfleisch = 20,65 kgCO2e(Geflügel = 4,22 kg CO2e | Schwein = 7,99 kg CO2e | Weizenmehl = 1,68 kg CO2e | Kartoffeln = 0,62 kg CO2e (nach WWF 2014, 29)
„Über 70% unseres ernährungsbedingten Flächenfußabdrucks entstehen allein durch den Verzehr tierischer Lebensmittel.“ (ebd., 23)
Jedes Rind rülpst bis zu 500 Liter Methan – pro Tag (vgl. Braun et al. 2020, 71)
Statistiken von der Facts-Seite der Film-Doku Cowspiracy (2014):
Land, das benötigt wird, um eine Person ein Jahr lang zu ernähren…
„A person who follows a vegan diet produces the equivalent of 50% less carbon dioxide, uses 1/11th oil, 1/13th water, and 1/18th land compared to a meat-lover for their food“ (ebd.).
Auf 6070 qm können 170 kg tierische Lebensmittel produziert werden (ebd.).
Auf 6070 qm können 16,8t pflanzliche Lebensmittel produziert werden (Faktor 44) (ebd.).
>> vgl. Aspekt Inspirationen für konkrete Verhaltensänderungen/vegetarische Ernährung, S. 180.
In den Niederlanden ist man mal wieder weiter: Hier gibt es ein staatliches Ausstiegsprogramm aus der Schweinehaltung namens warme sanering (‚warme Sanierung‘). Die Regierung sieht 180 Mio Euro vor, die „Schweinebauern zugutekommen, die ihre Ställe endgültig abreißen“ (Theile 2020, 7) und ihre ‚Schweinerechte‘ abtreten. Ein Trend ist, auf dem jeweiligen Gelände dann Einrichtungen zu bauen für Tageseinrichtungen für Betreuungsbedürftige.
„Jüngsten Medienberichten zufolge plant die [niederländische] Regierung ein weiteres Programm über 350 Millionen Euro für ausstiegswillige Viehhalter in stark belasteten Gegenden“ (ebd.).
Diese für Deutschland derzeit bedauerlicherweise noch nicht einmal denkbare Maßnahme gründet letztlich auf dem gleichen weitreichenden Gerichtsurteil in den Niederlanden, welches zum Tempolimit geführt hat (vgl. Abschnitt Tempolimit, S. 314f.).
Update April 2020 zum Aspekt Viren wie bspw. SARS-CoV-2, veränderte Landnutzung und Rindfleisch:
Dem US-Biomediziner und Virologen Dennis Carol zufolge dringen wir Menschen – aufgrund des Bevölkerungswachstums, der geänderten Landnutzungen, bei der Suche nach Rohstoffen und mittels unseres überbordenden Lebensstils – zu weit in die Natur vor, womit wir die Gefahr des Übergreifens eines Virus‘ vom Tier zum Mensch erhöhen:
„Die wichtigste Ursache für das Übergreifen von Viren liegt in der Transformation von Ökosystemen durch eine Änderung der Landnutzung. Deren wichtigster Faktor ist wiederum die Rinderhaltung und -produktion. Hinzu kommt die Herstellung von Nahrungsmitteln für diese Rinder. Eine zentrale Herausforderung ist, die Art und Weise, wie wir unseren Proteinbedarf decken zu überdenken. In dieser Hinsicht glauben wir, dass im Laufe des 21. Jahrhunderts Afrika südlich der Sahara und Südasien immer stärker in den Fokus rücken werden – auch wegen des Bevölkerungswachstums dort. Wenn wir unseren Proteinbedarf weiter auf die bisherige Weise decken – und hier spielt Rindfleisch eine große Rolle – wird die Gefahr des Viren-Übergreifens rasant wachsen. Wir müssen uns nüchtern fragen: Gibt es andere Wege um den Proteinbedarf zu decken? Gibt es Alternativen für die derzeitige Tierhaltung? – Und darüber müssen wir als Weltgemeinschaft ernsthaft nachdenken“ (Carol 2020).
Damit erhält die ohnehin hohe Notwendigkeit zu einer geänderten Produktion von Nahrungsmitteln noch eine weitere Dimension.
>> vgl. Aspekt Antibiotika-Resistenzen, S. 183f. und Aspekt Zoonosen, S. 129f.
Theile, Merlin (2020): „Schwein gehabt. In den Niederlanden bekommen Bauern von der Regierung Geld dafür, dass sie ihre Schweineställe auflösen“. in: Die Zeit, 7/6.2.2020, S. 7.
„Es stimmt, dass eine gesunde Ernährung teurer ist als eine ungesunde – etwa 550 $ pro Jahr [=46 Euro im Monat]. Und jeder sollte das Recht auf Zugang zu gesunden, bezahlbaren Lebensmitteln haben. Aber eine gesunde vegetarische Ernährung kostet pro Jahr im Schnitt etwa 750 $ weniger als eine gesunde fleischbasierte Ernährung“ (Foer 2019, 193).
>> vgl. Abschnitt Was kann Ich tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten Aspekt Nur noch Bioland und Demeter als Bio-Siegel akzeptieren, S. 185f.).
Foer weist dann noch auf die Kosten hin, die durch Fleischkonsum-beförderte Zivilisationskrankheiten entstehen.
„Es ist also nicht elitär, wenn man sich für eine preisgünstigere, gesündere und ökologisch nachhaltigere Ernährungsweise einsetzt.
Was mir dagegen elitär erscheint:
Wenn jemand die Existenz von Menschen, die keinen Zugang zu gesunder Nahrung haben, als Ausrede nutzt, nichts zu verändern, statt als Antrieb, um diesen Menschen zu helfen“ (ebd.).
>> Quelle: Foer, Jonathan Safran (2019): Wir sind das Klima! Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können. Kiwi, S. 193.
Fleisch & Ethik
Tierstrafrechtler Jens Bülte:
„Stellen Sie sich vor, man würde erlauben, Hunde betäubungslos zu kastrieren – den Aufschrei in der Bevölkerung können Sie sich ausmalen.“ (Theile 2019, 6)
Hier geht es nicht um ‚Bullerbü‘. Hier geht es um einen Mindeststandard an Tierwohl, den die Ethik gebietet. Und von dem sind wir: meilenweit entfernt.
Nutztiere sind zum Sterben da?
„Tiere fühlen nicht, Tiere denken nicht, sie haben auch kein Bewusstsein, so [sah die Menschheit es traditionell und so] sehen es viele noch heute…“ (Abé 2019, 29) – und ignorieren bzw. rechtfertigen damit die Massentierhaltung bzw. das Wegschauen (vgl. ebd.).
Da frage ich mich: Wenn das so gesehen wird, warum hält man sich dann so gerne nicht-fühlende, nicht-denkende, bewusstseins-lose Tiere? Vielleicht hält man sie sich, weil man intuitiv weiß, dass Tiere viel mehr sind als nicht-fühlend und nicht-denkend. Und: Jede*r Tierbesitzer*in – wirklich jede*r – weist gern und immer wieder auf die herausragenden Charaktereigenschaften und die besondere Intelligenz ihres/seines tierischen Lieblings hin.
Auch die Wissenschaft beweist mittlerweile, dass die Intuition von Tierbesitzer*innen keineswegs trügt:
„Tiere, das ist die Kernbotschaft, seien dem Menschen näher als lange angenommen. Sie sind soziale Wesen mit vielfältigen Gefühlen und haben sogar eine Art Bewusstsein“ (Abé 2019, 29).
Den bekannten Marshmallow-Test, dem Kinder so gern unterzogen werden („Hier ist ein Bonbon – wenn Du lieber 2 Bonbons möchtest, musst Du Bonbon Nr. 1 fünf Minuten auf dem Teller liegen lassen“), bestehen auch Schweine:
…mehr
Wir Menschen sind derzeit im Grunde ebenfalls kollektiv mit der Marshmallow-Frage konfrontiert „Willst Du jetzt Alles sofort, um den Preis, dass Du (und Dein Kind) hinterher nichts mehr hast – oder willst Du mehrere kleine Portionen, sodass es auch künftig für Dich und Dein Kind reicht“. Ich bin mir nicht sicher, wie die Menschheit diese Frage beantworten wird. Wie gesagt, Schweine bestehen diesen Test.
„Binnen Tagen wird sie [– die Sau ‚Madame‘ –] in der Lage sein, genau das nicht zu tun. Sie wird ihre Impulse kontrollieren und auf sofortigen Genuss [zugunsten ihrer später servierten Lieblingsspeise] verzichten“ (ebd., 30).
Kein Wunder, das Schweine im Kastenstand „ähnlich autoaggressive Symptome wie Menschen in Isolierhaft [entwickeln]“ (Scheub/Schwarzer 2017, 55).
Unseren Blick auf Nutztiere kann man darüber hinaus in einen größeren Zusammenhang stellen:
„Der Ethiker Peter Singer… gebraucht das Wort ‚Speziesismus‘, um den Blick des Menschen auf das Tier zu beschreiben. Er meint seine verzerrte Perspektive zugunsten der eigenen Spezies, nur sie unterliege danach einem moralischen Wertegefüge. Der Philosoph zieht Parallelen zum Sexismus, mit dem eine schlechtere Stellung von Frauen gerechtfertigt wird, sowie zur Rassenlehre des 19. Jahrhunderts, nach deren Logik Schwarzafrikaner versklavt werden durften. Das andere Geschlecht, die andere Rasse, und nun eben die andere Spezies, werden als minderwertig betrachtet. Gerechtfertigt werde die Ausbeutung von Tieren mit Verweis auf die Unterschiede zum Menschen. …
[Doch i]m Grunde sei es irrelevant, wie wenig sich Tiere und Menschen unterscheiden. … Einzig relevant sei, ob es leidet“ (Abé 2019, 30-31).
Update 17.4.2022:
„Passend zu Ostern haben Feuerwehrleute in Bremerhaven ein Entenküken gerettet…[,das in] einen Straßengully gestürzt [war]… Die Entenmutter und zehn Geschwisterküken riefen den Angaben zufolge ‚unentwegt‘ nach dem verlorenen Familienmitglied… [Nach der Rettung] setzte die gesamte Entenfamilie ihren Osterspaziergang fort“ (Spiegel 2022).
Mehr als Fleisch…
Quellen des Abschnitts Fleisch und Ethik
Abé, Nicola (2019): „Wie lebende Maschinen“. in: Der Spiegel, Nr. 33/2019, 10.8.2019, S. 29ff.
Scheub, Ute u. Schwarzer, Stefan (2017): Die Humusrevolution. Wie wir den Boden heilen, das Klima retten und die Energiewende schaffen. oekom.
Theile, Merlin (2019): „‚Stellen Sie sich vor, man würde erlauben, Hunde betäubungslos zu kastrieren.‘ Der Strafrechtler Jens Bülte über die unterschiedliche Behandlung von Haus- und Nutztieren sowie fehlende Kontrollen in deutschen Ställen“. in: Die Zeit, Nr. 12/14.3.2019, S. 6.
Fleisch & Tierhaltung
Fleisch & Tierhaltung: ‚Nottötungen‘ – wtf ist das?
Nein, das sind nicht alles Einzelfälle.
„Jedes fünfte in Deutschland für die Fleischindustrie geborene Schwein erreicht das Schlachtalter gar nicht, weil es erkrankt oder verletzt wird. In Zahlen bedeutet das: Mehr als 13,5 Millionen sogenannter Falltiere werden vorzeitig ‚notgetötet‘“ (Kwasniewski 2019).
Da stellt sich die Frage, wie so eine „Nottötung“ abläuft.
„Schon länger gibt es Hinweise darauf, dass kranke oder verletzte Schweine in der Intensivtierhaltung nicht fachgerecht getötet werden“ (Kwasniewski 2019). Das würde ja auch Geld kosten. Die Sprecherin der Tierrechtsorganisation, Sandra Franz, dazu im Spiegel: „Die betroffenen Tiere sind von vornherein als ‚Verluste‘ einkalkuliert. Da eine Behandlung der Tiere nicht rentabel wäre, werden sie einem langsamen und leidvollen Tod überlassen“ (ebd.). Und die Tierärztin [Elisabeth] große Beilage kommt in einer Studie über ankommende Tierkadaver in Tierkörperbeseitigungsanlagen zu dem Schluss: „Fast 62 Prozent der von große Beilage kontrollierten Schweinekadaver waren mangelhaft betäubt und/oder getötet worden“ (ebd.).
300.000 Schweine pro Jahr – das hat nichts mit einzelnen schwarzen Schafen in der Branche zu tun (vgl. ebd.) – das ist ein systemischer Fehler.
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Wenn aufgrund einer Krankheit wie bspw. der Vogelgrippe sämtliche Tiere von Massentierhaltungen geschlachtet werden, nennt das Verwaltungsrecht das „Bestandsräumungen“ (vgl. Theile 2019, 6). Solche Euphemismen sind meiner Beobachtung nach gerade im Bereich ‚Massentierhaltung‘ auffällig üblich: Es sind Mitte der 1990er Jahre Wochen ins Land gegangen, bis ich verstanden habe, dass es sich im Zusammenhang mit der Rinderkrankheit BSE bei Tiermehl nicht etwa, wie von mir gutgläubig angenommen um (pflanzliches, Körner-/Pflanzen-)Mehl für Tiere handelt, sondern um „mittels mechanischer und chemischer Aufarbeitung“ (wikipedia 2019) zu Mehl vermahlene „Kadaver von verendeten und erkrankten Tieren, Schlachtabfälle und tierische Nebenprodukte“ (ebd.), die nachfolgend reinen Pflanzenfressern vorgesetzt werden, also: Mehl aus Tieren für Tiere, genauer gesagt für Pflanzenfresser.
In meiner Wahrnehmung übernimmt man mit jedem Lebewesen in der eigenen Obhut auch die Pflicht, dieses artgerecht zu halten und im Krankheits-/Verletzungsfalle einem Tierarzt vorzustellen. Eine „Nottötung“ kann daher von der Logik der Sache nur erfolgen, wenn dadurch größeres Leid verhindert wird – aber eben definitiv nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Wie abgestumpft ist unsere Gesellschaft eigentlich, dass es offensichtlich notwendig ist, diese Zeilen zu schreiben?
Frage: Aber warum werden überhaupt so viele Jungtiere krank, noch bevor sie ihr Schlachtgewicht erreichen?
Antwort: Der ‚Ausschuss‘ ist aufgrund der beengten und nicht-artgerechten Haltungsbedingungen derartig hoch.
Ein beliebtes und selbstberuhigendes Argument von Fleischliebhaber*innen ist, dass die Haltungsbedingungen schließlich durch Tierärzte und Kontrollbehörden überprüft würden und sie sich somit keine Gedanken machen brauchen.
Ja, so sollte es sein. Ist es aber nicht – und jede*r weiß es.
Und jede*r weiß, dass jede*r es weiß. Das hat System. Das ist verlogen.
Wer hier mitspielt, nach dem Motto: „Was kann ich dafür, wenn Regeln allzu oft nicht eingehalten werden“, handelt angesichts des eigenen Wissens, dass die Regeln systemisch nicht eingehalten werden, m.E. verantwortungs- und gewissenlos.
Dazu hält der Spiegel fest:
„Die Kontrollen sind mangelhaft, die Veterinärämter so unterbesetzt, dass statistisch gesehen ein Tierhalter in Nordrhein-Westfalen nur rundalle 15 Jahre mit einer Überprüfung rechnen muss. Trotz vieler Verstöße kommt es nur selten zu Strafverfahren – in der Regel stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Geringfügigkeit oder mangels Beweises ein“ (Kwasniewski 2019).
„Im Jahr 2017 waren nach Auskunft der Bundesregierung 562.864 Betriebe in Deutschland tierschutzrechtlich kontrollpflichtig, es gab aber bloß 29.854 Kontrollen, weil auch die Veterinärämter völlig überlastet sind. Die Kontrolldichte lag also bei gut fünf Prozent, in manchen Bundesländern sogar noch darunter.
In Bayern kommt im Schnitt nur alle 48 Jahre ein Kontrolleur vorbei“ (Theile 2019, 6).
Wenn eine Vorschrift Kontrollen erfordert bzw. wenn ein Gesetz Kontrollen vorsieht, dann hat der Staat – vollkommen egal in welchem Lebensbereich – dafür zu sorgen, dass entsprechend das erforderliche Personal eingestellt wird und selbige durchgeführt werden. Andernfalls – und insbesondere, wenn jahrelang viel zu wenig Personal da ist – hat von einem bewussten Wegschauen oder zumindest eine bewusste Inkaufnahme des Staates ausgegangen zu werden. Damit macht sich der Staat zum Komplizen.
Und die/der um diesen Umstand wissende Non-Bio-Fleischkonsument*in – moralisch gesehen – ebenfalls.
Quellen des Abschnitts Fleisch & Tierhaltung: ‚Nottötungen‘ – wtf ist das?
Theile, Merlin (2019): „‚Stellen Sie sich vor, man würde erlauben, Hunde betäubungslos zu kastrieren.‘ Der Strafrechtler Jens Bülte über die unterschiedliche Behandlung von Haus- und Nutztieren sowie fehlende Kontrollen in deutschen Ställen“. in: Die Zeit, Nr. 12/14.3.2019, S. 6.
Fleisch & Tierhaltung: Kastration von männlichen Ferkeln
Argumentation von Befürworter*innen:
Betäubungen dürften nur Tierärzte, davon gäbe es zu wenige (Anmerkung der Redaktion: Kostenfaktor!), das Fleisch unkastrierter Eber rieche beim Braten unangenehm, wolle man das vermeiden, hätten die männlichen Schweine früher geschlachtet zu werden und brächten dann nur 80 statt 120 kg Schlachtgewicht = Thema Effizienz – und: Schlachtbetriebe seien auf 120 kg eingerichtet und wollen keine 80-kg-Schweine (vgl. Ausführungen des Landwirtes Marcus Holtkötter in Grefe/Theile 2019, 32).
In anderen Worten: Es wäre ethisch angebracht, männliche Schweine früher zu schlachten. Das ist eine Zeile Gesetzestext. Simpel. Kann gleich morgen erledigt werden.
>> Quelle: Grefe, Christiane und Theile, Merlin (2019): „‚Das ist doch ökologischer Irrsinn‘. Die Grünen-Politikerin Renate Künast und der Landwirt Marcus Holtkötter streiten über Gülle im Grundwasser und die Frage, ob es nötig ist, Ferkel zu kastrieren“. in: Die Zeit, Nr. 45/30.10.2019, S. 32.
Fleisch & Tierhaltung: Hochleistungsrassen
Vielen Menschen ist heute nicht mehr bewusst, dass Kühe nur Milch geben, wenn die regelmäßig Kälber auf die Welt bringen. Hochleistungsmilchkühe sind indes nicht auf Fleisch gezüchtet, sodass sie „in deutschen Schlachthöfen nicht gefragt [seien]“ (Jaensch 2019, 43), weshalb Landwirt*innen dazu neigen, den „überzähligen [und zumal den männlichen] Nachwuchs ins Ausland zu verkaufen“ (ebd.).
Hochleistungsrassen bei Hühnern, Rindern, Puten und Schweinen:
Früher war es „üblich Hühner zu halten, die sowohl Eier legten als auch Fleisch liefern konnten… Heutige Masthühner sind nach nur einem Monat groß genug, um geschlachtet zu werden, heutige Legehühner legen im ersten Jahr bis zu 330 Eier, ein zweites Jahr ist dann nicht mehr vorgesehen. Noch schlechter haben es die Hähnchen der Legerassen getroffen… Sie [werden umgehend mit Kohlendioxid erstickt und/oder] landen direkt nach dem Schlüpfen im Schredder… [– jährlich in Deutschland] 45 Millionen Küken“ (Göpel 2020, 41-42; Aspekt Kohlendioxid vgl. Maurin 2020, 8). In Deutschland ist dieser unethische Umgang mit Leben weiterhin für eine nach meinem Wissensstand nicht terminierte „Übergangszeit zulässig, wie das Bundesveraltungsgericht 2019 entschieden hatte. Die Praxis darf aber vorerst weitergehen, bis den Brutbetrieben praxisreife Verfahren zur Geschlechtsbestimmung schon im Ei zur Verfügung stehen“ (taz 2020, 15; vgl. Aspekt Fortsetzung des Kastenstandes, S. 562).
Update September 2020: Ein Gesetzesentwurf des Agrarministeriums sieht vor, dass das „routinemäßige Töten frisch geschlüpfter männlicher Küken … in Deutschland ab Januar 2022 verboten sein [soll]… Ab Januar 2024 müssen [gemäß Gesetzentwurf] Methoden zur Geschlechtserkennung angewandt werden, die vor dem siebten Bruttag greifen“ (Maurin 2020, 8). Abwarten, es ist ein Gesetzentwurf.
Hochleistungsmilchkühe haben aufgrund ihrer schweren Euter u.a. Gelenkprobleme (vgl. Albert Schweitzer Stiftung 2020a) – um 1900 betrug die Milchleistung je Kuh 2.165 kg, 1990 4.710 und 2019 8.250 kg (vgl. Statista 2020) – eine Vervierfachung des langjährigen landwirtschaftlichen Normalzustandes; 2016 pro Kuh = ca. 27 Liter pro Tag, ca. 10.000 Liter im Jahr, in den USA sogar 12.000 Liter im Jahr (vgl. Koch 2016).
„Erwachsene Mitteleuropäer saufen Kuhmilch wie Wasser. Haben Sie schon mal so ein entzündetes Euter gesehen von so einer Hochleitungskuh – da würden wir uns aber vier von unseren sechs verschissenen Latte Macchiato am Tag sparen.“ (Hagen Rether 2010)
>> Während des Erzählens spielt Rether lässig ein eigenes Arrangement von „Schlaf, Kindlein Schlaf“ auf dem Flügel.
Bei Puten bedeutet die Überzüchtung, dass „durch das ungleiche Verhältnis von Muskulatur zu den inneren Organen und die Überbeanspruchung des Stoffwechsels … häufig ihr Körper [versagt]“ (Albert Schweitzer Stiftung 2020b): „Während ein männliches Küken noch etwa 60 Gramm wiegt, beträgt sein Gewicht am Ende der Mast bis zu 21 kg – das entspricht einer 350-fachen Gewichtsteigerung“ (ebd.). Man hat davon ausgehen, dass diese Tiere u.a. durch schmerzende Beinveränderungen und Entzündungen quasi immer Schmerzen haben.
Hochleistungsschweine werden geimpft, bekommen Ohrenmarken, ihre Vorderzähne werden mithilfe einer Art Bohrmaschine (vgl. Höfler/Windel 2020, 111) abgeschliffen, die Schwänze z.B. „mit einer Stanzmaschine“ (ebd.) abgeschnitten – und die männlichen Tiere i.d.R. kastriert,
bis zum 31.12.2020 betäubungslos (vgl. Amann et al. 2013, 66),
ab 1.1.2021 unter Vollnarkose „plus Schmerzmittel für danach“ (Schönherr 2020, 21),
gemäß Spiegel wurde bislang „lediglich das Schmerzmittel Metacam … verabreicht“ (ebd.). „Viele Ferkel erhalten [mit Stand 2013] … direkt nach der Geburt ein Langzeitantibiotikum“ (ebd., 68).
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Zitat Website des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft: „Ursprünglich sollte das Verbot [betäubungslos zu kastrieren] zum 1. Januar 2019 in Kraft treten. Das deutsche Tierschutzgesetzt ist mit Blick auf das Thema Ferkelkastration eines der ambitioniertesten Gesetze innerhalb der EU… Die Debatte um die Verlängerung spiegelt die Zielkonflikte zwischen hohen Tierschutzstandards und betrieblicher Praxis.“ (BMEL 2020).
Was bleibt denn von dem Schwein überhaupt noch so, wie es auf die Welt gekommen ist?
Und, analog zur Pute: „Manche Rassen … legen so schnell an Gewicht zu, das das Skelett entwicklungstechnisch nicht mitkommt. Dann brechen die Beide, weil das Tier sich selbst zu schwer wird“ (ebd.).
Soweit kurz herausgegriffen einige wenige Aspekte des Themas ‚Hochleistungsrassen‘.
Update Juni 2020:
Der Deutsche Ethikrat äußert sich 2020 „[n]ach langen Vorbereitungen ‚zum verantwortlichen Umgang mit Nutztieren‘[:] … [N]icht vertretbar seien Hochleistungszucht, durch die Tiere Schaden nähmen“ (Sezgin 2020, 12) – es folgt eine Liste, die den Ausführungen dieses Handbuch-Abschnitts in nichts nachsteht, ergänzt um Aspekte wie „Dauerbeleuchtung in Geflügelzuchthallen, Spaltböden in Kuhställen, enge Käfige für Muttersauen… sowie … die Trennung von Mutter- und Jungtieren direkt nach der Geburt“ (Deutscher Ethikrat 2020, 45).
„Wenn wir … [diese Ausführungen] ernst nähmen, würde die Nutztierhaltung im Land komplett zusammenbrechen. Irreversibel. Denn weder Fleisch, Eier noch Milch könnten in relevantem Maßstab produziert werden, wenn die bekannten Maßnahmen zur Effizienzsteigerung verboten würden“ (Sezgin 2020, 12).
Derweil drohen diverse traditionelle ‚alte‘ Nutztierrassen auszusterben – denn in den Ställen und auf den Weiden stehen i.d.R. die immer gleichen hochgezüchteten Hochleistungsrassen. Dabei gibt es weltweit mehr als 1.000 Rinder und Schafrassen, „beim Pferd ungefähr 700 und bei Ziege und Schwein immerhin noch mehr als 500“ (Sambraus 2010, 9). „Doch [v]iele Rassen sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts ausgestorben, zahlreiche sind in ihrem Bestand bedroht. Je nach Tierart sind es 20 bis 40 Prozent“ (ebd.). „Für die nächsten 20 Jahre [Stand: 2010!] rechnet die FAO mit einem Totalverlust von 2.000 weiteren Haus[nutz]tierrassen“ (Frölich/Kopte 2010, 16).
Damit schwindet die genetische Vielfalt – und steigt das Risiko, dass es mal eine Hochleistungsrasse oder gar eine ganze Nutztierart durch eine Krankheit weitgehend oder gar komplett dahinrafft. Die traditionellen Nutztierrassen haben gegenüber den Hochleistungsrassen den großen Vorteil, dass sie i.d.R. wesentlich robuster, anspruchsloser, fruchtbarer und widerstandsfähiger gegen Krankheiten sind (vgl. ebd.).
Die Arche Warder am Rande der Ortschaft Warder bei Kiel, ein Greenpeace-Projekt, beforscht, bewahrt und züchtet (unter Achtung der genetischen Vielfalt) alte Nutztierrassen und zeigt ihre Arbeit mit dem gleichnamigen Tierpark mit definitiv artgerechter Haltung. Für Menschen, die Kühe wahlweise entweder für schwarzbunt oder braun halten, ist es doch überraschend, Lockengänse, Tauchschweine und Schafe bzw. Ziegen mit verschiedensten Kopfschmuck zu Gesicht zu bekommen. Der erste Besuch dort kann sich ‚exotischer‘ anfühlen als ein Besuch in einem Zoo mit den ‚üblichen‘ Tieren aus aller Welt.
Quellen der Abschnitte Fleisch & Tierhaltung: Tierhaltung: Hochleistungsrassen
79.350 Zuchtrinder wurde 2017 aus Deutschland in Non-EU-Länder transportiert (vgl. Theile 2019, 3), „vorwiegend in die Türkei [30.236], nach Russland [17.923] und nach Usbekistan [6.898]… Die ins Ausland verschickten Rinder sind in der Regel [trächtig] im sechsten bis siebten Monat… Laut Vorschrift müssen die Rinder nach spätestens 29 Stunden für 24 Stunden abgeladen, gefüttert und getränkt werden“ (ebd.). Offiziell sind es Zuchttiere. Die Tierärztin Manuela Freitag, die gehalten ist, solche Transporte bis zu meteorologisch angekündigten 30 °C zu genehmigen, ist da nicht noch sicher: „‚Ich bezweifle stark, dass die deutschen Hochleistungsrassen für die Zucht in diesen Drittstaaten überhaupt geeignet sind‘… Es wundere sie deshalb nicht, dass aus den betroffenen Ländern immer wieder nachgeordert wird“ (ebd.). Eine von der Tierschutzorganisation Animals‘ Angels begleitete Fahrt von 60 trächtigen Kühen dokumentiert 205 Stunden Tortur bei bis zu -10 °C vom Emsland in Deutschland über Polen, Belarus – 14 Stunden Pause mit Entladung – Russland – 24 Stunden Pause ohne Ent-ladung – Kasachstan – 13 Stunden Pause mit Tränkung nach 43 Stunden (ohne Entladung) – Fergana Usbekistan = 6.000 km (vgl. ebd.).
29 Stunden!
>> vgl. Albert Schweitzer: Ehrfurcht vor dem Leben, S. 205f.
>> Quelle: Theile, Merlind (2019): „Jenseits der Schmerzgrenze“. in: Die Zeit, 28.2.2019, S. 3.
Fleisch & Tierhaltung: Kastenstand für Muttersauen
Die Argumentation von Befürworter*innen, z.B. äußert sich der Landwirt Marcus Holtkötter wie folgt:
„Die Sau [liegt] nach dem Abferkeln bis zu 28 Tage im Kastenstand [und wird] in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt… Aber wenn wir darauf verzichten würden…, würden 30 bis 40 Prozent der Ferkel von ihr erdrückt“ (Grefe/Theile 2019, 32).
Renate Künast spricht hier von einer „grundsätzlich falschen Tierhaltung“ und hebt darauf ab, dass bei Massentierhaltung „viele Jungtiere sterben“ (vgl. Abschnitt ‚Nottötungen‘ – wtf ist das?, S. 556f.). Soll heißen: Die Ferkel überleben dann zwar den Kastenstand, „erleben“ aber vielfach nicht ihr Schlachtgewicht. Künast weiter: „Höhere Überlebenschancen bieten Außenklimaställe und Auslauf“ (Grefe/Theile 2019, 31).
Der Spiegel ergänzte 2013:
„Maximal einen Tag darf eine Sau überfällig sein, dann wird die Geburt hormonell eingeleitet. Sonst gerät das ganze System aus dem Rhythmus. So wie immer dienstags besamt wird, sollen donnerstags die Ferkel kommen“ (Amann et al. 2013, 66).
Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg 2015 ist der bisherige Kastenstand von Sauen nicht mehr zulässig. Um eine Neuregelung wird seitdem gerungen, ein neuerlicher Einigungsversuch ist im Juni 2020 gescheitert, sodass die Duldung aufgrund fehlender Neuregelung fortgesetzt wird (vgl. Schießl 2020a).
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1997 trat das erste Hamburger Klimagesetz in Kraft, welches Klimaanlagen verbot – soweit baulich möglich und zumutbar. Solche Gesetze werden i.d.R. erst durch von den Behörden erarbeiteten Rechtsverordnungen scharfgeschaltet. Eine solche Verordnung ist nie ergangen, sodass es weiterhin über einen Zeitraum von weit über 20 Jahren legal war, Klimaanlagen zu bauen (vgl. Hamburger Umweltsenator Jens Kerstan im Umweltausschuss 7.1.2020).
Update 4.7.2020:
In der letzten Sitzung des Bundesrates vor der Sitzungspause gibt es nun doch noch eine Neuregelung für das Thema ‚Kastenstand‘:
Dem zufolge dürfen „Muttersauen nur noch wenige [d.h. 5] Tage statt mehrere Wochen in Kastenstände gesperrt bleiben… – aber erst nach einer Übergangszeit von bis zu zehn Jahren. Der Bauernverband kritisierte den Beschluss, weil nun Ställe umgebaut werden müssen“ (Maurin 2020, 6; vgl. BR 2020, vgl. Schießl 2020b).
Letzteres sei für viele kleinere und mittlere Betriebe schwer zu stemmen. Das ist wahrscheinlich richtig angesichts der geringen Margen. Andererseits könnte man nun ausrechnen, wie viele Muttersauen von dieser kleinen Verbesserung aufgrund der Übergangszeiten niemals profitieren werden… Es gibt zu viele Schweinezuchten in Deutschland. Das alles zeigt, dass es nicht sinnvoll ist, allein an dem kleinen Schräubchen ‚Kastenstand‘ zu drehen – das fällt eigentlich schon eher unter das Thema ‚Ablenkung‘. Hier ist umgehend eine wesentlich größere Transformation erforderlich.
>> vgl. Aspekt Küken-Schreddern S. 558: Wirtschaft schlägt Tierwohl. >> Die Niederlande sind da – mal wieder – weiter als Deutschland und reduzieren ihre Schweinebestände systematisch – siehe Niederlandes staatliches Ausstiegsprogramm für Schweinezüchter, S. 552.
Doch auch unabhängig vom Magdeburger Urteil von 2015 gibt es durchaus vielfach den Willen, innerhalb des bestehenden Systems mehr Tierwohl herbeizuführen – aber das ist nicht so einfach, wie es zunächst erscheint:
„Ein Stall mit Auslauf bedeutet zum Beispiel, dass Gerüche aus dem Stall nicht mehr über einen Kamin an die Außenwelt gehen, sondern [diffus] über viele andere Wege“ (Bauchmüller 2020).
„‚In der Praxis ist es oft so‘, sagt [der Landwirt und Vorsitzende der ‚Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft‘ Martin] Schulz, ‚Landwirte wollen umbauen, legen Pläne vor, aber die Behörden scheuen eine Entscheidung.‘ Aus Angst, dass die Genehmigung vor Gericht keinen Bestand hat. Denn neben besorgten Verbrauchern gibt es auch jede Menge klagefreudige Anwohner“ (zit. in Bauchmüller 2020).
Wenngleich die Klagefreundlichkeit in Deutschland tatsächlich ein Problem darstellt, ist es doch schwer vorstellbar, dass all die 7,27 Millionen Schweine (vgl. SZ 2020) und 7,993 Millionen Niedersachs*innen (vgl. wikipedia 2020) bei einer Freilandhaltung bzw. offenen Ställen allein schon ‚geruchstechnisch‘ gut miteinander klarkämen…
Das bedeutet, dass Tierwohl und eine weniger inadäquate Massentierhaltung sich ein stückweit ausschließen. Gekoppelt an ethische Erfordernisse sowie den aus der Biodiversitäts- und Klimakrise zu ziehenden Konsequenzen liegt es auf der Hand, dass es eines gewaltigen ‚Weniger‘ bedarf.
Mein persönliches Fazit zu dem Abschnitten Fleisch & Ethik sowie Fleisch & Tierhaltung lautet: Mit diesem Schweinesystem möchte ich nichts zu tun haben. Ich möchte daran keinen Anteil haben.
Jeder Kauf von Billig-Fleisch stützt das System Massentierhaltung / Tierelend / Regenwald-Abholzung / Verlust von Artenvielfalt / Massenaussterben / Klima-Aufheizung / Trinkwasserverschmutzung / Dumping-Lohn.
Rind geht auch Bio nicht wegen CO2e/Methan.
Rind/Lamm/rotes Fleisch/verarbeitetes Fleisch (Wurst & Co) geht nicht wegen (Darm-)Krebsrisiko.
Konventionelles Geflügel geht nicht wegen Antibiotika-Resistenz-Risiko.
Bleibt nicht viel.
Es bleibt:
Veganismus oder selten frisches, nicht-rotes Biofleisch bzw. Milchprodukte auf der Stufe Bioland/Demeter.
Quellen des Abschnitts Fleisch & Tierhaltung: Kastenstand für Muttersauen
Amann, Susanne et al. (2013): „Schlacht-Plan“. in: Der Spiegel, 43/2013, S. 64-72.
Grefe, Christiane und Theile, Merlind (2019): „‚Das ist doch ökologischer Irrsinn‘. Die Grünen-Politikerin Renate Künast und der Landwirt Marcus Holtkötter streiten über Gülle im Grundwasser und die Frage, ob es nötig ist, Ferkel zu kastrieren“. in: Die Zeit, Nr. 45/30.10.2019, S. 32.
Maurin, Jost (2020): „Sauen kommen öfter aus dem Käfig raus“. in: tageszeitung, 4./5.7.2020, S. 6.
„Nach Schätzungen der Welternährungsorganisation (FAO) sind heute insgesamt 660 bis 820 Millionen Menschen direkt oder indirekt von der Fischerei abhängig. Bis zu zwölf Prozent der Weltbevölkerung leben demnach von diesem Wirtschaftszweig“ (Latif 2014, 292).
„Weltweit ernähren sich allein drei Milliarden Menschen hauptsächlich von Fisch“ (Götze 2019).
Überfischung & Massenfischhaltung
Zur Überfischung trägt der Fischfang im industriellen Maßstab inkl.
des Fanges noch nicht geschlechtsreifer Tiere (vgl. Welzer 2016, 15) und
direkt umweltschädigender Fangmethoden maßgeblich bei.
Jüngst entdeckte man, dass die Erderwärmung gewissermaßen ‚hilft‘ die verbliebenen Fischbestände ‚aus dem Meer zu quetschen‘:
„In wärmeren Gewässern vermischen sich sauerstoffreiche und -arme Schichten weniger gut. Thunfische und Haie brauchen zum Beispiel wegen ihrer Größe und ihres Energiebedarfs viel Sauerstoff. Sie würden in relativ sauerstoffreiche Schichten an höheren Lagen gezwungen und setzten sich dann der Gefahr aus, gefischt zu werden. Das trage zusätzlich zur Überfischung bei, berichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Weltnaturschutzunion“ (Zeit 2019).
Um dem ‚Fischhunger‘ gerade auch der Bürger*innen der Industrienationen gerecht zu werden, gibt es mittlerweile in einem ausbordenden Maße sog. Aquakulturen:
„Die Aquakultur ist einer der am schnellsten wachsenden Zweige der Lebensmittelproduktion, und der Lachs ist einer ihrer Vorzeigefische. Allein Norwegen hat 2016 1,2 Millionen Tonnen Lachs geliefert“ (Kriener 2019, 32).
Aquakulturen = 66 Mio t : „Wildfang“ = 80 Mio t (Zahl der FAO 2012, zit. in Latif 2014, 293)
Aquakulturen sind: Massentierhaltung – und oft große Umweltverschmutzer:
Und: „[U]m einen Lachs mit einem Kilogramm Gewicht heranzuziehen, benötigen Farmbetreiber zwischen zwei bis vier Kilo Wildfisch als Futter“ (ebd., 295).
Der Einsatz von Antibiotika ist auch bei Aquakulturen ein Problem. Jedoch hebt Kriener hervor, dass bezogen auf die Lachszucht in Norwegen der Verbrauch dieser Medikamente massiv zurückgegangen ist:
„Ursache sind die Impfungen der fingergroßen Jungfische gegen Infektionskrankheiten. In rasender Geschwindigkeit wird ein Fischlein nach dem anderen maschinell per Spritze geimpft“ (2019, 32).
Ein großes Problem sind Parasiten namens Lachsläuse, die „gegen die eingesetzten Insektizide teilweise resistent geworden [sind]“ (ebd.).
Entflohene Zuchttiere mit degeneriertem Erbgut gefährden Wildlachs-Bestände:
„Das Einsickern entwichener Zuchtlachse verändert den Genpool der Wildlachse, der sich über Jahrhunderte an die lokalen Ökosysteme angepasst hat. Farmlachse sind ganz auf Wachstum getrimmt, sie sind aggressiver und größer, weniger fit, sie haben eine geringere Fruchtbarkeit und – Lachse können bis zu zehn Jahre alt werden – eine kürzere Lebenserwartung“ (34).
Und:
„Allein der Marktführer Norwegen meldete während eines 14-jährigen Beobachtungszeitraums [offiziell] durchschnittlich 450.000 entkommene Fische pro Jahr“ (33).
Noch bis in die 1990er Jahre hinein wurden Zuchtlachse vorwiegend mit Fischmehl und Fischöl. Seither versucht man, „den Raubfisch Lachs zum Veganer zu erziehen“ (33).
„Wichtigster Bestandteil des Lachsfutters ist heute Soja. Die … Studie von Ytrestøyl beziffert den Sojaanteil am Lachsfutter auf 21,3 Prozent. Rapsöl kommt auf 18,3 Prozent, dazu kleinere Anteile Weizen, Sonnenblumen, Bohnen und Erbsen. Der Fischmehlanteil ist auf 19,5 Prozent gesunken, Fischöl auf 11,2 Prozent des Lachsfutters. Raubfische wie der Lachs vertragen das Pflanzenfutter allerdings denkbar schlecht, sie reagieren mit Durchfällen. Deshalb müssen die pflanzlichen Rohstoffe von Fasern und Kohlehydraten befreit werden. Dazu werden die Proteine isoliert und mit Aminosäuren angereichert. Die Low-Carb-Diät ist aufwendig und teuer. Und selbst nach der fischgerechten Aufarbeitung werden die pflanzlichen Futterpellets ungern gefressen. Ein Zusatz von Miesmuscheln als Geschmacksträger muss die Pflanzenkost aromatisieren, dann fressen die Fische ohne zu mucken“ (35).
Kriener hält abschließend fest, dass ein Raubfisch, der wenig Fisch frisst, entsprechend weniger Omega-3-Festtsäuren enthält, sodass man statt dessen „auch eine Gemüsepfanne servieren [könne]“ (35).
Douglas Tomkins, der vormals North Face und Esprit begründete und in seiner zweiten Lebenshälfte in Patagonien riesige Landschaften renaturiert und zu Nationalparks umgestaltet hat, erzählt im Gespräch mit Florian Opitz im Film bzw. Buch Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit:
„‚Damit pflastern sie seit Jahren [ohne Lizenz] die ganze Küste [in einsamen Gegenden in Patagonien] zu… Meistens sind es europäische Firmen, die hier das tun, was sie zu Hause nicht dürfen.‘ … In Chile würde etwa die gleiche Menge Lachs produziert werden wie in Norwegen, aber die hundertsiebzigfache Menge Antibiotika verfüttert. Dazu kämen Farbstoffe, Fungizide, Hormone. … ‚Wusstest du, dass eine einzige Lachsfarm so viel Scheiße produziert wie eine Stadt mit 65.000 Einwohnern? Und die ganze Scheiße fließt ins Meer.‘ … Der Lachs … sei … eingeschleppt worden. Jetzt fresse er die Küsten und Flüsse leer“ (2012, 210).
Werfen wir zunächst einen Blick auf die fossile Gegenwart, die bis auf weiteres noch allzu sehr in der Vergangenheit gefangen ist:
Ein Blick in die fossile Vergangenheit: Erdöl. Erdgas. Kohle.
Dass die Nutzung fossiler Energieträger ein Auslaufmodell ist, hat sich bis zu den Erdöl-, Erdgas- und Kohle-fördernden Unternehmen zumindest, was das Tagesgeschäft und weitere Investitionen betrifft, noch nicht wirklich herumgesprochen.
So schiebt man weiterhin auch seit den 2010er Jahren Unternehmungen unvorstellbaren Ausmaßes an.
Allein die Größe der Projekte legt nahe, dass sie im Sinne des ‚Too Big To Fail´ auch deshalb so groß dimensioniert werden, um die kommenden ‚Rückzugsgefechte‘ vor Gericht, gegen Politik und Gesellschaft mit möglichst breiter Brust durchzuziehen und ggf. per Schadensersatz entsprechend auch bei Nicht-Produktion zu profitieren.
„Exxon beispielweise wird bis 2016 jährlich 37 Milliarden Dollar für die Suche nach Öl- und Gasvorkommen und ihre Erschließung ausgeben. Das sind ungefähr einhundert Millionen Dollar pro Tag“ (Welzer 2016, 126).
Das zunehmende Tauen des nordpolaren Meeres macht Förderung dort möglich, wo bis vor kurzem Permafrost und ewiges Eis es verhinderten. So ist das Erdgasfeld Bowanenkowskoje auf der russischen Halbinsel Jamal an der Mündung des Flusses Ob in die Karasee erst seit einigen Jahren nutzbar – seit 2012 wird dort gefördert:
„Für rund 23 Milliarden Euro wuchsen nicht nur Verladeterminals ins Eismeer, das seinem Namen immer weniger gerecht wird, es entstanden auch Straßen, Nahstrecken, Siedlungen, ein Kraftwerk, ein Flughafen. Bestandteil des Jamal-Projekts sind außerdem 15 eisbrechende Flüssiggasstanker, jeder fast 300 Meter lang; Stückpreis: 320 Millionen Dollar. Sie sollen dafür sorgen, dass der Transport auch im Winter nicht zum Erliegen kommt“ (Langer 2019).
Derzeit investiert die „Chevron [Cooperation] … voraussichtlich 54 Milliarden Dollar in die Gasförderung auf Barrow Island, ‚einem Naturreservat erster Güte‘ vor der Nordwestküste Australiens… Einer von Chevrons Partnern bei diesem Projekt ist Shell, das Berichten zufolge noch einmal zehn bis zwölf Milliarden Dollar in den Bau der größten jemals realisierten schwimmenden Offshore-Bohrinsel (länger als vier Fußballfelder) steckt, um an einer anderen Stelle an der Nordwestküste Australiens Erdgas zu fördern. … Das Australienprojekt von Chevron soll mindestens dreißig Jahre lang Gas liefern, während die monströse Plattform von Shell mindestens fünfundzwanzig Jahre in Betrieb sein soll“ (Klein 2015, 182). Eine Offshore-Gas-Plattform in der Länge von vier Fußballfeldern? Trotz ‚Paris‘? Was soll ich da noch fragen außer: Habt ihr sie noch alle?
Aufgrund der Tatsache, dass die USA und Kanada möglichst unabhängig vom Nahen Osten bzw. der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) sein wollen, haben sie in den letzten 20 Jahren und durch neue Technologien begünstigt vermehrt angefangen, sog. ‚unkonventionelles Öl‘, das sog. Bitumen, das in Öl- und Teersanden (Oil sands, Tar sands) enthalten ist, abzubauen. Dieser „Prozess ist ungefähr drei- bis fünfmal so klimaschädlich … wie die Förderung von konventionellem Öl“ (Klein 2015, 175).
„Inzwischen wird in den USA… so viel Öl gefördert, dass die Zahl der Ölwaggons in der Zeit von 2008 bis 2013 auf 9.500 auf geschätzt 400.000 stieg – also um 4.111 Prozent“ (Klein 2015, 377, Hervorhebung Klein).
Weiterhin hat hier das Stichwort ‚Fracking‘ zu fallen, welches für ein Verfahren steht mittels ungenannter Chemiecocktails (vgl. Klein 2015, 396) Öl oder Gas aus dem Untergrund, meist aus Schiefer herauszupressen, mit dem Risiko von Methanemissionen, Trinkwasservergiftungen, entzündbarem Trinkwasser, kleinen Erdbeben, Geländesenkungen (vgl. ebd., 396f.) und mutmaßlich Krebs (vgl. Maher 2019).
Laut einer 2011 veröffentlichten Studie der Cornell Universität „liegen die Methanemissionen bei gefrackten Erdgas um mindestens 30 Prozent höher als bei konventionellem Gas“ (Klein 2015, 179).
Fracking von Öl bedeutet i.d.R. einen erheblichen Methanschlupf(1) – der, soweit man ihn erwischt und das Methan nicht direkt in die Atmosphäre entweicht (‚Venting‘), zu rund 300 Mio t CO2 jährlich verbrannt wird (‚Flaring‘) (vgl. Eichhorn 2020):
„Derzeit werden weltweit 150 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr abgefackelt“ (Eichhorn 2020).
„[E]s [ist] meist rentabler, nur das [im Schiefergestein] eingeschlossene Öl zu fördern. Um das Gas abzutransportieren, müssten eigens Pipelines verlegt werden. Weil das zu teuer ist oder die Expansion der Ölfelder zu schnell fortschreitet, wird das Gas als sogenanntes ‚assoziiertes Gas‘ häufig an Ort und Stelle verbrannt. 2018 wurden nach Schätzungen allein im Permbecken [in Texas] Gas im Wert von 750 Millionen Dollar abgefackelt, ohne jeglichen öffentlichen Nutzen“ (ebd.).
>> siehe Weltkarte des Online-Projekts Skytruth: Satellite-Detected Natural Gas Flaringhttps://viirs.skytruth.org/apps/heatmap/ flaringmap.html#lat=32.60445&lon=-1.20972&zoom=3&offset=15&chunk=2018 (Abrufdatum 20.8.2020) – in North Dakota ist es absurd hell >> auf ‚Satellit stellen‘ und reinzoomen, teilweise kommt man sogar mit Streetview, vgl. Jahr 2018, „560 U.S. 82, Plains, Texas, USA“, etwas nach Osten zur Straße 82, dann Streetview.
Erläuterungen zu (1) 'Methanschlupf'
Methanschlupf ist auch ein Problem stillgelegter Öl- und Gasbohrungen – zu Lande und zu Wasser, vgl. Aspekt Erdgas gilt als die am wenigste schlimme Form der fossilen Energieträger, S. 529f. Des Weiteren haben Pipelines Methanschlupf… Hinzu kommen die vielen, vielen kleinen Lecks in Erdgasleitungen in den Städten dieser Welt: „Wir haben im Hamburger Stadtgebiet an 145 Stellen erhöhte Methankonzentrationen entdeckt. Für zwei Drittel sind Lecks im Gasnetz die Ursache… Insgesamt rund 286 Tonnen Methan gelangen jährlich allein über das Hamburger Gasnetz in die Atmosphäre, haben die Forscher ermittelt“, zitiert der Spiegel den Autor einer 2020 veröffentlichten Studie, die sich mit Lecks in globalen Gasnetzen auseinandersetzt (Diermann 2020). – Mit anderen Worten: Methan tritt in weiten Teilen der Produktionskette von Öl und Erdgas in die Atmosphäre aus.
Derweil „deuten die [Methanschlupf-]Daten der NOAA auf rund doppelt so hohe Gasverluste hin wie offiziell angegeben“ (Eichhorn 2020).
Preisfrage: Was passiert, wenn eine Firma plötzlich zahlungsunfähig ist? Und somit die Mitarbeiter*innen nicht mehr bezahlt werden? Räumen Sie und Ihre nicht bezahlten Mitarbeiter*innen dann noch monatelang auf und hinterlassen das Firmengelände besenrein? Oder ist es nicht doch eher so, dass Sie Ihre Sachen packen und unverzüglich das Gelände verlassen?
In den USA wird die hoch subventionierte Öl- und Gas-Fracking-Branche durch fallende Öl- und Gaspreise – auch, aber nicht nur durch Covid-19 – von einer umfangreichen Pleitewelle erfasst (vgl. Kriener 2020, 8).
„Der Londoner Thinktank Carbon Tracker schätzt die Kosten für die ordnungsgemäße Schließung eines Bohrlochs auf 300.000 Dollar“ (ebd.).
„Die US-Regierung schätzt laut New York Times, dass inzwischen mehr als 3 Millionen Bohrstellen aufgegeben worden sind: davon sollen 2 Millionen nicht sicher verschlossen sein und Methan in einem Ausmaß emittieren, dass den Auspuffgasen von 1,5 Millionen Autos entspricht“ (ebd.).
„Einige der Vorstände hätten noch [– so drückt sich Joe Biden aus –] vor dem Bankrott ‚Millionen und Millionen Dollar‘ kassiert“ (ebd.).
>> Übrigens: Auch ‚sicher‘ verschlossenen Bohrlöcher entweicht oft noch relevant und langjährig Gas, vgl. Aspekt Erdgas gilt als die am wenigste schlimme Form der fossilen Energieträger, S. 529f.
ca. 5min: Nicht BP, aber gleiche Liga: Achim Reichel: „Exxon Valdez“, 1996 — Nein. Das sind nicht alles Einzelfälle: Exxon Valdez, Deepwater Horizon, BSE, Fukushima, Bitterfeld, Contergan, Glyphosat, Chrom im Trinkwasser in Hinkley (vgl. „Erin Brockovich“)… sind zusammenzudenken, die Ursache ist letztlich immer die gleiche… Es sind keine Einzelfälle, das hat System, es ist systemisch, d.h. es ist Bestandteil des derzeitigen globalen ökonomischen Systems, das Alles kaputtmacht. — vgl. https://musik-und-klimakrise.de/songs-klassiker#Exxon_Valdez (Abrufdatum 17.8.2022)
Auch darf nicht unerwähnt bleiben, das es in der fossilen Industrie offensichtlich als vollkommen normal angesehen wird, eine Öl-Plattform (‚Deepwater Horizon‘) mitten in den Golf von Mexiko zu stellen und ein 1.500 Meter unter dem Meeresspiegel liegendes Ölfeld anzubohren – und keinen Plan B zu haben, sodass nach einer heftigen Explosion im Jahre 2010 das austretende „Öl von BP drei lange Monate in den Golf rauschte“ (Klein 2015, 401), um dann schließlich mit Chemikalien das Öl unter Wasser verschwinden zu lassen, sodass es wenigstens gut aussah, aber eben bis heute eine gigantische, dauerhafte Umweltkatastrophe bedeutet. Dies ist in allen ölschillernden Details nachzulesen bei Kathrin Hartmann im Kapitel „Wie BP die größte Ölpest aller Zeiten im Meer versteckte“ – und, hinzuzufügen ist: Wie BP das systematische Greenwashing für sich entdeckte (vgl. 2018, 29ff.).
>> siehe Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. München: Blessing. >> s.a. Boote, Werner u. Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Die Ökolügen der Konzerne und wie wir uns dagegen wehren können. Film-Doku. >> Konkrete Beispiele zum Thema Greenwashing siehe https://klima-luegendetektor.de/ (Abrufdatum 29.9.2020)
Und dann sind da noch die Teersandabbaugebiete in Alberta, Kanada.
Garzweiler ist schlimm? Ja. Aber ohne Braunkohletagebaue in Deutschland in irgendeiner Form verharmlosen zu wollen: Verglichen mit den Teersandabbaugebieten in Alberta, Kanada ist Garzweiler ein winziges, Stecknadel-kleines Loch in der Erde… Das Ding bei Fort McMurray gilt als das größte Industrieprojekt der Welt, sodass Naomi Klein diese Region zu Recht als eine ‚Opferzone der Erde‘ bezeichnet.
>> Garzweiler I betrifft eine Fläche von 66 km2 (ungefähr so groß wie der Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf). Garzweiler II = 40 km2 (entspricht etwa Berliner Bezirk Mitte) (vgl. wikipedia 2020c)
52-minütige 360°-Geo-Reportage „Fort McMurray, Kanada im Ölfieber“. [Ein Film von Andreas Gräfenstein, 2014]. in: YouTube, online unter https://youtu.be/eadcv_oMM9o (Abrufdatum 15.5.2020);
>> siehe dazu 52-minütige 360°-Geo-Reportage „Fort McMurray, Kanada im Ölfieber“. [Ein Film von Andreas Gräfenstein, 2014]. in: YouTube, online unter https://youtu.be/eadcv_oMM9o (Abrufdatum 15.5.2020);
>> Auch Naomi Klein besucht in der Doku This Changes Everything die Tar Sands und dokumentiert, wie es den Angehörigen der First Nations, die juristisch gegen den Abbau der Tar Sands und gegen Keystone-XL-Pipelines (siehe Fußnote S. 519) vorgehen, und anderen Bürger*innen entlang der Keystone-Pipeline ergeht: Klein, Naomi und Lewis, Avi (2015): This Changes Everything. Film-Doku inspiriert durch Naomi Kleins Buch This Changes Everything: Capitalism vs. Climate, deutscher Titel: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima.
Ich habe mich gefragt, wie groß ist eigentlich dieses Abbaugebiet in Alberta?(1). Derzeit realistisch gilt ein Abbau auf einer Fläche von 4.800 km2, tatsächlich wird mit Stand Ende 2016 auf 953 km2 aktiv Tagebau betrieben – also auf einer Fläche, die deutlich größer ist als Berlin (891,12 km2). (vgl. Alberta.ca 2017)(2).
„[A]lles an diesem größten Industrieprojekt der Erde… [ist] überdimensioniert[,] auch die in Südkorea hergestellten Maschinen…, die können so lang und schwer wie eine Boeing 747 sein, und manche Schwerlaster sind drei Stockwerke hoch“ (Klein 2015, 284).
„Um einen Liter Bitumen aus dem Sand zu waschen, braucht man fünf Liter Wasser – Wasser, das danach ein mit Schwermetallen und zum Teil krebserregenden Kohlenwasserstoffen verseuchter Schlick ist und in Klärteichen gelagert wird. Diese künstlichen Seen voller Giftbrühe sind zusammengenommen mit 130 Quadratkilometern bereits halb so groß wie Frankfurt am Main“ (Teves 2018).
Und: Der größte Staudamm der Welt (‚Syncrude tailings pond‘, Kriterium ‚Dammvolumen‘) dient nicht etwa der Rückhaltung von Wasser…, nein, er steht in Alberta und hält die hochtoxische Brühe zurück, die entsteht, wenn man Teersande/Ölsande von ‚überflüssigem‘ Sand/Gestein befreit (vgl. wikipedia 2020a).(3)
Die Beharrungskräfte sind groß. Wir reden darüber, den fossilen Industrien, d.h. der größten und Kapital-kräftigsten Industriebranche der Welt, das bisherige Geschäftsmodell ‚wegzunehmen‘, genauer:
Es muss zerstört werden…
Es hat von der Politik zerstört zu werden.
>> Nichts für schwache Nerven: Wenn Sie bei Google Earth die Stichwörter ‚Fort McMurray, Alberta, Kanada‘ eingeben und dann etwas nach Norden schwenken, können sie diese vielleicht größte Wunde des Planeten besichtigen.
>> Querverweis: Wofür nun also das auf diese Weise dem Boden abgerungene Öl vornehmlich eingesetzt wird, siehe Abschnitt Verkehr & Mobilität: Eine Klima-notwendige Mobilitätswende, S. 294 und dort insbesondere den Aspekt Thema ‚Verkehrsopfer inkl. Luftverschmutzung‘, S. 298.
Nein, dies ist kein Postkartengruß aus Fort McMurray, Kanada – aber so richtig anders sieht es hier in South Kalimantan, Indonesien auch nicht aus. Naomi Klein nennt solche Mega-Abbaugebiete ‚Opferzonen‘. | Fotos by Dominik Vanyi on unsplash
Details: Erläuterungen zu (1), (2) u. (3)
(1) Die theoretische Abbaufläche, also die Fläche der Ölsandvorkommen beträgt 142.200 Quadratkilometer und ist somit größer als England. England = 130.395 Quadratkilometer
(2) Hinzu kommen Flächen, die bereits ausgebeutet sind und renaturiert zu werden haben: Die Fläche, die als per Zertifikat als renaturiert gilt, beträgt Ende 2016 ganze 1,04 km2. Die Fläche der nicht zertifizierten ‚Permanent Reclamation‘ beträgt Ende 2016 rund 61,6 km2.
(3) Bei Athabasca, einem der Ölsand-Abbaugebiete in Alberta, beginnt das hochumstrittene und teilweise im Bau befindliche Keystone-XL-Pipeline-System, „das kreuz und quer über den Kontinent verlaufen soll … [und dessen] südliche Ausläufer von Oklahoma zu den Exportterminals an der texanischen Küste [führt]“ (Klein 2015, 365, vgl. Handbuch Fußnote auf S. 531). Des Weiteren soll Keystone XL „durch den Ogalla-Aquifer … führen, eine ausgedehnte unterirdische Süßwasserquelle in den Great Plains, die Trinkwasser für rund zwei Millionen Menschen und rund 30 Prozent des gesamten in Amerika zur Bewässerung benötigten Grundwassers liefert“ (ebd. 418). Im Juli 2020 hat „[d]as oberste Gericht der USA … ein Gesuch der Regierung abgelehnt, einen Baustopp für Keystone XL aufzuheben, den ein Gericht im Bundesstaat Montana im April verhängt hatte“ (Schwarz 2020, 9).
Ein Blick in die Gegenwart:
Energiewende in Deutschland
Hinsichtlich der deutschen Energiewende fallen immer wieder zwei komplett verschiedene Wahrnehmungen auf: Im Inland gilt sie als verzögert, ausgebremst und zu guten Teilen gescheitert. Im Ausland hingegen wird die Energiewende als innovativ wahrgenommen – und so strömt ihr (und in diesem Zusammenhang auch Angela Merkel) in der Regel deutliche Bewunderung zu.
…mehr
Dass Deutschland einige Jahre lang als Vorreiter beim Klimaschutz galt hängt auch damit zusammen, das die Bilanzen der Wiedervereinigungsjahre aufgrund des Zusammenbruches der alten Industrien der DDR in Relation zu den Vorwendejahren sehr gut aussahen (vgl. Göpel 2020, 78).
Beides ist richtig. In der Tat, Deutschland hier einen das Ausland beeindruckenden Alleingang hingelegt, der aber – bedauerlicherweise – letztlich nur deshalb so hell nach außen strahlt, weil ‚die Anderen‘ noch weniger tun.
Mojib Latif konstatiert:
„Es ist übrigens das historische Verdienst Deutschlands, Solar- und Windstrom über das Erneuerbare-Energien-Gesetz bezahlbar gemacht zu haben. Nur deswegen boomen die Erneuerbaren jetzt weltweit“ (2020, 104).
Aber es gilt auch: Wir könnten schon so viel weiter sein.
Ein wesentliches Puzzleteil zur Bewältigung der Klimakrise: Die Energiewende bzw. die massive Nutzung von erneuerbaren (=regenerativen) Energien.
Ohne eine zügige und umfassende Energiewende gekoppelt mit einer ebenso einschneidenden Mobilitätswende gibt es keinen Ansatz zur Eindämmung der Klimakrise:
Die „Energiewende und Verkehrswende sind zwei Seiten einer Medaille.“ (Müller-Görnert 2019, 2)
Status quo:
42,1% beträgt der Anteil der Erneuerbaren Energien am Strommix 2019 – wohl vorrangig aufgrund der optimaler Wetterverhältnisse (vgl. UBA 2020a), davon sind im Strommix 20,9% auf Windenergie und 7,8 % auf Solarenergie zurückzuführen (vgl. AGEB 2020, 27).1
„Windenergieanlagen an Land und auf See [haben 2019] … so viel Strom wie kein anderer Energieträger in Deutschland [erzeugt]“ (AGEB 2020, 32).
37,8%, betrug 2018 der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen, was etwa dem Anteil der Verstromung von Braun- und Steinkohle entspricht2 (vgl. UBA 2019).
Öffentliche Netto-Stromversorgung3 in Deutschland, Anteile
Regenerativ: 47,5% >> Wind = 25,4% | Solar = 9,5% | Biomasse = 8,6% | Wasserkraft 4,0% Fossil: 52,2% >> Braunkohle = 20,1% | Atom = 20,1% | Steinkohle 10,0% | Gas = 9,3% (vgl. Pinzler et al. 2019, 3)
Das bedeutet: Absehbar können – mit mehr politischem Willen und einem Mehr an Durchsetzungsvermögen – 100% des Strombedarfes in Deutschland auf Basis von erneuerbaren Energien erzeugt werden.
Details: Erläuterungen zu (1), (2) u. (3)
1 Atomstrom hat der gleichen Quelle zu Folge 2019 noch einen Anteil von 12,3% an der Bruttostromerzeugung. Mit der Abschaltung des AKW ‚Phillippsburg 2‘ Ende 2019 reduziert sich der Anteil weiter (ebd. 25).
2 Zusätzlich wird Deutschland Kohle selbstredend auch für die Gewinnung von Wärme verfeuert.
3 Nettostromverbrauch = Endenergieverbrauch = Bruttostromverbrauch abzgl. Netzverluste und abzgl. des Eigenverbrauchs im Umwandlungsbereich bzw. des Kraftwerkseigenverbrauchs.
Aber – und das wird auffälliger- bzw. merkwürdigerweise selten erwähnt in der Debatte – damit ist nicht viel erreicht.
Ein klimaneutrales, dekarbonisiertes Deutschland hat nicht nur seinen Strom, sondern seinen Gesamtenergiebedarf aus erneuerbaren Energien zu erzeugen:
Anders als im fossilen Zeitalter benötigen wir künftig Strom für Alles, für Wärme, für die Industrie inkl. energieintensiver Branchen wie Stahl, Aluminium, Kupfer und Zement bzw. Beton sowie für die Mobilität sowohl für den ÖPNV, Carsharing und auch – gemäß derzeitiger politischen Entscheidungen – für E-Autos in privater Hand.
Hierbei besagt der Leitgedanke der sog. Sektorenkopplung, das die bisher eher getrennt wahrgenommenen Sektoren der Energiewirtschaft zusammenwachsen durch „die Umwandlung von Erneuerbaren (Überschuss-)Strom in Gase [à la Wasserstoff] oder Flüssigkeiten“ (Fraunhofer 2018, 1), die dann energetisch für Bereiche genutzt werden, die traditionell mit fossilen Brennstoffen betrieben wurden wie z.B. der energieintensiven Produktion von Stahl.
Definition 'Sektorenkopplung'
Definition ‚Sektorenkopplung‘: „Der Begriff ‚Sektorenkopplung‘ meint, dass mittelfristig erneuerbare Energien nicht nur für den üblichen Stromverbrauch genutzt werden, sondern z.B. via Elektrolyse umgewandelt in synthetische Kraftstoffe z.B. für den Schiffs- und Flugverkehr oder andere besonders energieintensive Industrien zur Verfügung stehen werden. Bei der Umwandlung in synthetische Kraftstoffe ist der Wirkungsgrad recht gering, sodass extrem viele Wind- und Solarkraftwerke benötigt werden, um den Bedarf an Energie zu decken“ (Zukunftsrat 2020, 9).
Das Entscheidende dabei ist, dass die mit Strom und nachfolgend via Wasserelektrolyse gewonnenen Gase und Flüssigkeiten CO2-neutral sind, weil deren Verfeuerung letztlich nur genau das Maß an CO2 in die Atmosphäre hineinbringt, was zuvor mittels Stromenergie zur Erzeugung des Wasserstoffs der Atmosphäre entnommen wurde.
42,1% Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung bedeuten einen Beitrag zum Bruttoendenergieverbrauch Deutschlands (2499 TWh) von 17,1% (vgl. UBA 2020c).
Diese 17,1% (=452 Terawattstunden (TWh)) verteilen sich wie folgt auf:
Wärmeerzeugung per EE: 176 TWh Biogene Brennstoffe und Gase, Wärme = 152 TWh | Geothermie und Umweltwärme = 16 TWh | Solarthermie = 8,5 TWh
Biokraftstoffe 32 TWh (Palm, Raps, Methan aus Biogasanlagen)
Windenergie und Photovoltaik haben einen Anteilan der derzeitigen Strombereitstellung aus erneuerbaren Energieträgern von 38%.
Windenergie und Photovoltaik haben einen AnteilamBruttoendenergieverbrauch von 4,8% bzw. 1,8%, d.h. zusammengenommen von 6,6%.
(Alle Zahlen stammen aus bzw. basieren auf UBA 2020a)
Diese Energie wird von etwa 29.456 Onshore-Windenergieanlagen (vgl. BWE 2019)(1) und mehr als 1,7 Mio Solaranlagen (vgl. Stromreport 2020) erzeugt. Es hat etwa 20 Jahre – seit Verabschiedung des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) – gedauert, diese Anlagen ‚gegen alle Windmühlen‘ unter unendlichen Mühen und vielen Milliarden Euro aufzubauen. Es macht keinen Sinn, zu errechnen, wie lange es dauern würde, in diesem Tempo fortzufahren.
>> 29.456 Onshore-Windenergieanlagen – dies ist die Gesamtzahl der in Deutschland stehen Onshore-Windkraftanlagen. Nicht alle sind in Betrieb.
>> Apropos EEG: Das EEG garantiert seit 2000 den Erzeugern von Strom aus erneuerbaren Energien den Anschluss ans Stromnetz, die Abnahme des erzeugten Stromes und feste Einspeisevergütungen. Zur Finanzierung gibt es die sog. EEG-Umlage. Bei Einführung galt das Gesetz als großer Wurf und beflügelte seinerzeit insbesondere den Zubau an Photovoltaik. Das EEG wurde jedoch 2004, 2009, 2012, 2015 und 2016/17 reformiert, was zu immer größeren Nachteilen für kleine Erzeuger (Stichwort ‚Bürgerenergiewende‘) führt, die großindustriellen Erzeuger u.a. aufgrund von Ausschreibungsverfahren bevorzugt sowie hinsichtlich der Energiewende eher eine bremsende Wirkung entwickelt. Die hohen Arbeitsplatzverluste im Bereich ‚Photovoltaik‘ und ‚Windkraft‘ sind letztlich mehrheitlich auf diese Gesetzesreformen zurückzuführen. Das EEG geriet um 2013 in den Fokus der Lobby-Kritik, weil das EEG vorgeblich für Verbraucher*innen den Strompreis erhöhe, wie man auch an dem extra ausgewiesenen Posten auf den Stromrechnungen erkennen könne. Was in der Stromrechnung hingegen nicht notiert ist, sind die Kosten, die die Verbraucher*innen für die Subventionierung von fossil erzeugtem Strom zu bezahlen haben: „Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft hat nachgerechnet, was die versteckten Subventionen für Kohle, Gas und Atom im Vergleich mit der Erneuerbaren-Förderung in Deutschland kosten. Ergebnis: Eine ‚Konventionelle-Energien-Umlage‘ läge aktuell rund 50 Prozent über der EEG-Umlage“ (Bah 2017). Im Übrigen ist das m.E. eine Geisterdiskussion – es wäre vollkommen in Ordnung, wenn Strom aus nicht-fossilen Energieträgern teurer wäre. Folge dieser Lobbyaktion war bedauerlicherweise die Altmaier’sche ‚Strompreisbremse‘. „Die verheerenden Folgen der Novellierung der Photovoltaik-Förderung werden in der Energieforschung von den Wissenschaftlern ironisch als ‚Altmaier-Knick‘ bezeichnet, weil Peter Altmaier in seiner damaligen Funktion als Umweltminister erheblichen Anteil an der Novelle hatte. Nach der Novelle brach die boomende Solarzellenproduktion in Deutschland ein“ (Coen 2016, 3). Auch erwähnenswert: „Fast die Hälfte des industriellen Stromverbrauchs ist ganz oder teilweise von der EEG-Umlage befreit“ (Die Anstalt Faktencheck, 77) – etwa 2.000 Betriebe. Begründung: Die Unternehmen stehen im internationalen Wettbewerb, wie z.B. offensichtlich auch die Zugspitzbahn (vgl. ebd.). Auch diese etwa fünf Milliarden Euro (vgl. ebd., 78) zahlen die Steuerzahler*innen. Derweil kommt heute nur noch ein relativ gesehen kleiner Teil der EEG-Umlage tatsächlich bei den Erzeugern an, weil der sog. Umwälzmechanismus verändert wurde: Seit 2010 hat sich die EEG-Umlage für Verbraucher*innen fast verfünffacht, die Einspeisevergütung für die Erzeuger jedoch nur verdoppelt – die Differenz kommt aufgrund eines merkwürdigen Mechanismus, dem sog. EEG-Paradoxon, der sich m.E. dem logischen Denken entzieht, ein weiteres Mal den energieintensiven Branchen zugute. Die höheren Umlagenbeiträge, die die Verbraucher*innen zahlen, kommen nicht den EE-Erzeugern, sondern ermöglichen den energieintensiven Branchen, Strom zu günstigeren Preisen einzukaufen (vgl. Weber 2014). Zu diesem ‚merkwürdigen Mechanismus‘ hält Susanne Götze fest: „Ein beliebter Trick besteht darin, Gesetze so lange zu verkomplizieren, bis sie keiner mehr versteht. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz war ursprünglich so gut, dass es weltweit kopiert wurde. Damals umfasste der Gesetzestext fünf Seiten. Mittlerweile ist das auf 140 Seiten angewachsen. Da blickt zum einen niemand mehr durch, eine Heerschar von Anwälten interpretiert das Gesetz immer neu“ (zit. in Rühle 2020). Einen unterhaltsamen und inhaltlich überaus fundierten ‚Grundkurs EEG‘ gibt die ZDF-Satiresendung ‚Die Anstalt‘ vom 1.10.2019, deren 105-seitiger Faktencheck Hauptquelle dieser Fußnote ist, siehe https://www.claus-von-wagner.de/tv/anstalt/oktober (Abrufdatum 16.6.2020), s.a. Eicke Webers Vortrag über die „vorsätzlich aufgeblasene EEG-Umlage“: https://www.youtube.com/watch?v=VjN_J3QA3RI (Abrufdatum 16.6.2020), vgl. Naumann: „Die EEG-Umlage verständlich erklärt“ (2018). Mit Stand September 2020 hat das Bundeskabinett eine Novelle des EEG verabschiedet. Die Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW, Claudia Kemfert, findet, dass „[d]ie Novelle … weniger schlimm als befürchtet, aber trotzdem nicht gut genug“ (2020).
Unter der Annahme eines gleichbleibenden Brutto-Endenergiebedarfs bleibt derzeit für eine komplette Umstellung auf erneuerbare Energien eine Versorgungslücke von etwa 83%.
Erläuterung
Bezugnehmend auf den einige Absätze darüber genannten Sachverhalt, dass 42,1% Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung einen Beitrag zum Bruttoendenergieverbrauch Deutschlands (2499 TWh) von 17,1% (vgl. UBA 2020c) bedeuten.
Global fällt die Bilanz ähnlich aus:
„Immer noch stammen mehr als 80 Prozent der weltweiten Primärenergie aus fossilen Quellen. Wind und Sonne liefern weniger als zwei Prozent“ (Spiegel 2020, 97)
Erläuterung
Fedrich verwendet folgende Zahlen hinsichtlich des Anteils der Energieträger an der weltweiten Stromversorgung: Kohle 38% | Gas 23% | Wasserkraft 16% | Atomenergie 10% | Wind 5% | Biomasse 3% | Öl 3% | Sonne 2% | Erdwärme 1% (2020, 54)
Dazu ist festzuhalten:
Das Potenzial von Wasserkraft ist in Deutschland weitgehend ausgeschöpft.
Weitere derzeit ausgereifte Technologien im Bereich Erneuerbare Energien sind Brennstoffzellen, Kraft-Wärme-Kopplung (KWK)(1), Wärmepumpen(2), (Tiefen-)Geothermie(3), Solarthermie zur Erzeugung von Warmwasser (z.B. zum Heizen) – und in Deutschland begrenzt Solarthermische Kraftwerke(4).
Biokraftstoffe, die bislang die Bilanz der Erneuerbaren statistisch gesehen verbessern, werden aus obiger Rechnung künftig teilweise wegfallen – mindestens, weil Palm als Kraftstoff wegfallen wird.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
(1) Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) bedeutet die gleichzeitige Umwandlung von Primärenergie in Nutzwärme und mechanische bzw. elektrische Energie. Konkret wird die bislang allzu oft ungenutzte Abwärme, die z.B. bei chemischen Prozessen in der Industrie entsteht, per KWK z.B. in ein Fernwärmenetz eingespeist. So koppeln Blockheizkraftwerke die Erzeugung von Strom und Wärme, sodass der Wirkungsgrad gegenüber nicht-gekoppelten Systemen deutlich höher ausfällt.
(2) Wärmepumpen hat man sich wie einen geschlossenen Rohrkreislauf vorzustellen. Wärmepumpen machen sich Temperaturdifferenzen zwischen Haus und entweder dem Boden, dem Grundwasser oder der Außenluft zunutze. Ein flüssiges Kältemittel nimmt Energie aus der in Relation wärmeren Umgebung auf und verdampft (schon bei niedrigen Temperaturen), gelangt in einen (mit hoffentlich EE) strombetriebenen Kompressor, der den Kältemitteldampf verdichtet, d.h. unter Druck setzt und dadurch weiter erhitzt. Die so erzeugte Wärme wird an ein Heiz- und Warmwassersystem abgegeben. Die Temperatur sinkt, das Kältemittel verflüssigt sich wieder, ein Entspannungsventil sorgt für Druckabfall bzw. -ausgleich, das Kältemittel erreicht seine Ursprungstemperatur – der Kreislauf beginnt von Neuem. Derzeit kommen überwiegend „teilfluorierte Kohlenwasserstoffe (HFKW) zum Einsatz[, die] … ein hohes Treibhauspotenzial auf[weisen] und sind beim Entweichen oder bei der Entsorgung der Anlage bis zu mehrere tausend Mal klimaschädlicher als CO2… [Zurzeit] gilt besonders das Kältemittel R290 (Propan) als zukunftssicherer Ersatz für HFKW-Kältemittel“ (Dein Heizungsbauer 2020). Zu Teilhalogenierten Fluorkohlenwasserstoffen ‚HFWK‘ vgl. Abschnitt Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase, S. 145f.
(3) Geothermik nutzt Erdwärme in Form von Erdwärmesonden (vgl. Wärmepumpen), Erdwärmekollektoren oder durch flache Grundwasserbrunnen (vgl. Island). Es „existieren auch Erdwärmesonden mit mehreren hundert Metern [Tiefe] und sogar bis zu einigen tausend Metern“ (Erdwerk 2020). Geologe Matthias Franz: „In Norddeutschland sind die Bedingungen für die Tiefengeothermie besonders günstig“ (Römer 2020). „[I]m großen Maßstab, also für Kommunen, wird die Sache erst interessant, wenn es bis zu 5.000 Meter hinuntergeht. In den Wasserreservoiren, im Boden verteilten Blasen, herrschen Temperaturen von teils über 100 Grad. Mit derart warmem Wasser kann nach dem Heizen sogar noch Strom gewonnen werden“ (ebd.).
(4) Ein Verzeichnis sämtlicher technisch ausgereifter, nicht-fossiler Energiegewinnung bzw. -umwandlung siehe Project Drawdownhttps://drawdown.org/solutions (Abrufdatum 23.6.2020, click ‚Electricity‘; s.a. Inhaltverzeichnis bzw. tabellarische Auflistung im ‚Buch der Synergie‘ von Achmed Khammas http://www.buch-der-synergie.de/c_neu_html/inhalt_c.htm (Abrufdatum 16.6.2020).
Das bedeutet, dass unter der Annahme eines gleichbleibenden Brutto-Endenergiebedarfs die Versorgungslücke von etwa 83% künftig mehrheitlich durch Windkraft (onshore/offshore) und Photovoltaik gedeckt zu werden hat.
Denkbar wäre, vermehrt erneuerbare Energien aus anderen Ländern der EU zu beziehen z.B. aufgrund der höheren Sonneneinstrahlung im Süden Europas. Hierzu gibt es nichts Spruchreifes, weshalb diese Alternative bzw. diese ergänzende Maßnahme hiermit einmal genannt sei und im Folgenden aus den Überlegungen ausgeklammert wird.
Strom aus Windkraft und Photovoltaik hat nur dann einen Wirkungsgrad von 100%, wenn er unverzüglich direkt eingespeist wird.
Die Versorgungssicherheit zur Vermeidung des Zusammenbruches des Stromnetzes (‚Blackout‘) sowie Nutzungsspitzen sind in den Bedarf an Anlagen einzukalkulieren.
Einzukalkulieren sind umgekehrt auch Produktionsspitzen. Der hier erzeugte Strom hat zwischengespeichert zu werden.
Mit dem Power-to-Gas-Verfahren (Power to Fuel/Power-to-liquid/Power-to-x) stellt man aus Strom aus erneuerbaren Energien her, in dem man Wasser (H2O) mit der Energie des Stromes per Wasserelektrolyse in (Bio-)Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O2) zerlegt.
Dieser Wasserstoff kann nun unter Nutzung (i.d.R.) der Luft entnommenen CO2 methanisiert – und als Methan – d.h. als Biogas – z.B. zur Wärmegewinnung genutzt werden – gerade für zwischenzuspeichernde Überkapazitäten ist das eine Möglichkeit, erzeugten Strom nicht komplett verloren gehen zu lassen. Bei der Verbrennung dieses Biogases entsteht lediglich die Menge an CO2, die zuvor aus der Luft entnommen wurde. Es ist prinzipiell also ein klimaneutrales Nullsummenspiel. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der dazugehörige Strom, die Industrieanlagen zur Erzeugung und Weiterverarbeitung des Stromes allesamt ressourcenintensiv entwickelt, gebaut, unterhalten und irgendwann ersetzt zu werden haben.
Wird Strom per Wasserelektrolyse in Wasserstoff umgewandelt, ergibt sich ein maximaler Wirkungsgrad von 83%, der Median liegt bei 80% (vgl. Milanzi et al. 2018, 9).
Wird der Strom als Wasserstoff zwischengespeichert via Wasserelektrolyse, um dann wiederum als Strom ins Netz eingespeist zu werden, geschieht dies mit einem Wirkungsgrad von „40% oder sogar tiefer“ (Energie-Lexikon 2020a).
Benutzt man Batterien – die es so noch nicht im industriellen Maßstab für eine Massenproduktion gibt, liegt der Wirkungsgrad höher, bei Lithium-Ionen-Batterien etwa bei 85% (Öko-Institut 2018, 27).
>> Lithium-Ionen-Batterien: Diese Art Akkus werden i.d.R. sowohl in E-Autos als auch in Smartphones, Tablets, Laptops etc. eingebaut, vgl. Abschnitt Der ‚globale Impact‘ eines Smartphones, S. 644ff.
>> Nicht berücksichtigt in dieser Rechnung: Die seltene Erde (!) Lithium und weitere Stoffe haben entdeckt, gefördert, transportiert, weiterverarbeitet, transportiert, zusammengesetzt zu werden. Die gesamte Infrastruktur dafür hat entwickelt, hergestellt, transportiert, zusammengesetzt, gewartet, repariert und ersetzt zu werden. Das alles kostet Energie.
„‚Um synthetischen Sprit für eine Strecke von 100 Kilometern herzustellen, brauchen wir die gleiche Menge Strom, die für 700 Kilometer in einem batterieelektrischen Auto reicht‘, sagt Fischedick“ (Ilg 2020), so Manfred Fischedick, Professor am Institut für Klima, Umwelt, Energie an der Universität Wuppertal.
Wird der Strom aus erneuerbaren Energien via Wasserelektrolyse in Wasserstoff und dann weiter in synthetische Kraftstoffe, d.h. in sog. strombasierte Kraftstoffe oder E-Fuels à la Power-to-Liquid für Lkw oder in E-Kerosin für Flugzeuge umgewandelt, haben wir „durch die doppelte chemische Umwandlung“ (Agora Verkehrswende 2018,11) „[i]n günstigen Fällen … [einen] Wirkungsgrad in der Größenordnung von 50 %; darin nicht enthalten sind natürlich Energieverluste bei der späteren Nutzung der Brennstoffe oder Kraftstoffe z. B. in Verbrennungsmotoren [z.B. in Lkws] oder Flugzeugturbinen“ (Energie-Lexikon 2020b).
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Betreibt man einen Auto-Verbrennungsmotor mit einem per Strom per Wasserelektrolyse erzeugten E-Fuel, haben wir einen Gesamtwirkungsgrad von 13% (vgl. Agora Verkehrswende 2018,11). Das E-Fuel mit niedrigem Wirkungsgrad treibt einen Verbrennungsmotor an, der seinerseits einen mageren Wirkungsgrad hat: „Das mühsam gewonnene Elektrobenzin landet dann in einem Motor, der zwei Drittel der enthaltenen Energie verpuffen lässt“ (Wüst 2018). Von der ursprünglich durch erneuerbare Energien generierten Energie bleibt als gerade mal rund 1/8 übrig. Für den Bereich ‚Pkw‘ ist das also keine Option.
Für Power-to-Liquid (PtL), d.h. z.B. für E-Kerosin bzw. synthetisches Kerosin ergibt sich auch nach Alexander Tremel, der für Siemens in diesem Feld forscht, ein Wirkungsgrad von ca. 50%: „Die Effizienz ließe sich zwar steigern, allerdings zu sehr hohen Kosten“ (zit. in Wüst 2018).
Auf Schiffen ist Platz für große Methan-Flüssigtanks, sodass der per Wasserelektrolyse erzeugte Wasserstoff nach Methanisierung als Methan (aus dem auch Erdgas besteht) als Biobrennstoff eingesetzt werden kann. Hier ist in der Praxis von einem Wirkungsgrad von 80% auszugehen (Energie Lexikon 2020c), was bei einem Wirkungsgrad von 70% für die Wasserelektrolyse einen kulminierten Wirkungsgrad von 56% ergibt (vgl. Öko-Institut 2014, 10).
Der Hinweis auf eine mögliche zukünftige Effizienzsteigerung findet sich immer wieder in der Literatur – jedoch ist es: Zukunftsmusik. Wir haben bei aller Zuversicht hinsichtlich der zu ergreifenden Klimaschutzmaßnahmen mit dem zu rechnen, was wir haben.
Wie sehr man hier noch am Anfang steht, deutet das EU-Projekt namens Sun-to-liquid an, mit dem in der 100-Kilowatt-Pilotanlage bei Madrid mit Hilfe von eingefangener Sonnenwärme ein Liter synthetisches Kerosin pro Tag mit einem Wirkungsgrad von 5 bis 6% generiert wird (vgl. Grotelüschen 2019).
Zu berücksichtigen ist weiterhin:
Energiebilanzen enden (wie auch CO2-Bilanzen) i.d.R. an den Staatsgrenzen. Schiffe und Flugzeuge – ob nun für Urlaubsreisen oder hinsichtlich des Transportwesens – brauchen aber auch dann noch Energie, wenn sie die deutsche Bucht verlassen haben – und um den Globus fahren/ fliegen. Auch diese Energie hat künftig von Erneuerbaren Energien zu kommen.
I.d.R. wird üblicherweise des Weiteren davon ausgegangen, dass z.B. China weiterhin viele energieintensive Produkte nach Deutschland exportiert und der Welthandel etwa so weiter geartet wie bislang. Das ist bei einem Zeithorizont von 30 Jahren kein Selbstgänger, sodass sich der Energiebedarf aus diesem Grund ggf. noch weiter erhöhen könnte.
Zu berücksichtigen sind selbstredend auch künftige Effizienzgewinne:
So gehen Wissenschaftler*innen von diversen Einsparungen durch Effizienzmaßnahmen aus: „Es ist unfasslich, wie viel Kraft in so einer Kilowattstunde steckt“ (Weizsäcker 2011). Es braucht ja nicht gleich der Faktor Fünf zu sein, wie Ernst Ulrich von Weizsäcker und mit ihm der Club of Rome je nach Lesart visionär oder plakativ sein Ziel der Energieeffizenz proklamiert (vgl. ebd.).
Die Bundesregierung sieht ebenfalls Energieeffizienz und Energiesparen als wesentliche Faktoren für die Umsetzung der Energiewende: So will man auf Basis der sog. Energieeffizienzstrategie 2050 eine Minderung des Primärenergiebedarfes um 50% gegenüber der Zahlen des Jahres 2008 erreichen (BMWI 2019, 6).
Der WWF geht für 2050 hingegen von einer Zunahme des Energiebedarfs in Deutschland um 30% aus (vgl. WWF 2018, 61).
Sicher ist hier nur die Unsicherheit.
Selbstverständlich gibt es grundsätzlich ein erhebliches Energieeffizienz-Potenzial. Doch schon das Wort ‚Potenzial‘ deutet an, dass dieses nicht unmittelbar und verlässlich verfügbar ist, sondern vor allem in der Zukunft angesiedelt ist. Die genaue Höhe ist ebenfalls mehr als ungewiss. Daher kann der Aspekt ‚Effizienzsteigerung‘ nur begrenzt und nicht quantifiziert in diese Überlegungen eingehen.
Exkurs:
Hinzu kommt der Fachkräftemangel in Deutschland, der u.a. in den Bereichen ‚Energie‘ und ‚energetische Gebäudesanierungen‘ ein hochrelevanter Problemfaktor ist:
Maßnahmen zur Effizienzsteigerung sind stets mit Investitionen verbunden. Für all diese Maßnahmen werden Menschen benötigt, die die erforderlichen Maßnahmen mit ihrer Arbeitskraft umsetzen. Doch herrscht ein eklatanter Fachkräftemangelin Deutschland, der nicht ohne weiteres beseitigt werden kann.
Im Bereich ‚Gebäudesanierung‘, die maßgeblich zu den Effizienzmaßnahmen gehört, ist der Fachkräftemangel derart hoch, dass bei einer Sanierungsquote von 0,6% gemäß Senatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) (vgl. NDR 2020a) in Hamburg sämtliche Auftragsbücher voll sind, sodass es nebulös bleibt, wie die zur Erreichung der Klimaziele erforderliche Sanierungsquote von 2% erreicht werden kann, selbst wenn genug Geld da ist. Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt – und sogar wenn hier nachhaltig Abhilfe geschaffen werden sollte durch einen Attraktivitätsgewinn dieser Berufsstände wird es Jahre dauern, bis einer Mehr-als-Verdreifachung der Handwerker*innen Hamburgs umgesetzt ist. Ohne die erforderliche Sanierungsquote gibt es keinen ausreichenden Effizienzgewinn.
Das ist selbstredend nicht nur in Hamburg so: Schon derFachkräftemangel-bedingte Sanierungsstau für sich genommen gefährdet die Einhaltung des Pariser Abkommens durch Deutschland.
Erforderlich ist eine komplette Neufassung der Arbeit in Deutschland:Entlang der Klimaschutz-Bedarfe ist zu eruieren, welche Berufe in Zukunft nach derzeitiger Einschätzung vornehmlich gebraucht werden – und diese Berufe sind in Berufsbild und Gehalt entsprechend attraktiv zu gestalten. Der Umkehrschluss gilt auch – gewissermaßen hat sich die Attraktivität von Berufen an der Systemrelevanz auszurichten.Das wird spannend, wenn z.B. ein*e Handwerker*in zu Recht mehr Geld erhält als ein*e Geldanlageberater*in: Wir brauchen vermehrt Menschen, die Häuser energetisch sanieren, Moore vernässen, Wälder pflanzen, Renaturieren, klimaerforderliches Stadtgrün pflegen sowie Humusaufbau betreiben.
So ist auch die Frage aufzuwerfen, inwieweit für o.g. Tätigkeiten tatsächlich stets und immer ein akademisches Studium sinnvoll ist – oder nicht doch eher eine Art ganzheitliche Ausbildung als Global Climate Worker?
Vielleicht ist es an der Zeit, die Universität wieder zum Ort der Grundlagenforschung und Lebensbildung zu machen.
Helikopter-Eltern kann ich persönlich nicht empfehlen, ihre Kinder auf die 2000er Überflieger-Leistungsgesellschaft vorzubereiten… Ich denke, symbolisch gesprochen, die Helikopter werden am Boden bleiben. Wer seinen Kindern einen Gefallen tun möchte, sollte sie m.E. nicht noch mal eben schnell zum sterbenden Barrier-Reef katapultieren, sondern sie zur Genügsamkeit, Resilienz und Flexibilität erziehen – ich rege an, die lokale Pfadfindergruppe bspw. einem Früherziehungs-Chinesisch-Kurs vorziehen.
>> s.a. Aspekt Künstliche Intelligenz, Digitale Gesellschaft und Arbeitsplätze, S. 457
Also: Effizienzgewinne sind ein ‚ungedeckter Scheck‘ und sollten daher m.E. nicht zu optimistisch in die Kalkulation einbezogen werden.
Zudem sind Rebound-Effekte zu befürchten, auch die zunehmende Digitalisierung legt zunehmenden Strom- und Energiebedarf nahe – und das bis auf Weiteres anzunehmende ‚Wachstum‘ frisst Einspareffekte ebenfalls oftmals auf.
Das größte und allein schon deshalb m.E. unumgängliche Energie-Einsparpotenzial besitzt derweil die Aufgabe des HöherSchnellerWeiter-Lebensstils sowie des Wachstumsdogmas.
Künftiger Zubau von Photovoltaik und Windenergie
Es ist nicht seriös zu ermitteln, wie viele Windenergie- und Photovoltaikanlagen benötigt würden, um den Energiebedarf eines klimaneutralen Deutschlands zu decken. Zur Erinnerung: Derzeit sorgen 29.456 Onshore-Windenergieanlagen und 1,7 Mio Solaranlagen gemeinsam mit weiteren Offshore-Windenergieanlagen für 6,6 Prozent und gemeinsam mit den weiteren EE für 17,1% des derzeitigen Endenergiebedarfs (vgl. S. 522).
Da die Installation einer massiven Zahl von Windenergieanlagen tatsächlich alternativlos ist, wird auch genug Platz vorhanden sein – das ist eine Frage der Erfordernis, nicht der Ästhetik oder der persönlichen Befindlichkeit.
Alle diese Windenergie- und Photovoltaik-Anlagen benötigen Ressourcen. Die Anlagen haben geplant, genehmigt, hergestellt, transportiert, aufgebaut und ihr Strom per zu installierendem Netzanschluss eingespeist zu werden, sie benötigen – vor allem Windenergieanlagen – Wartung und sie haben eine begrenzte Betriebsdauer, sodass sie irgendwann durch eine Neuanlage ersetzt sowie abgebaut und ressourcengenerierend recycelt zu werden haben. Positiv ausgedrückt schafft das alles: langfristige Arbeitsplätze. Weniger positiv ausgedrückt bedeutet das einen ungeheuren Aufwand, dem wir uns besser heute als morgen stellen.
Dieser zu tätigende (Energie-)Aufwand schmälert die sowieso stark ausgeschöpften CO2-Budgets Deutschlands und aller Industrieländer, was einmal mehr bedeutet, dass keine Zeit zu verlieren ist.
Fazit: Was bleibt?
E-Fuels & Co sind derzeit deshalb so populär, weil sie als Chance gesehen werden, das Leben einigermaßen auf dem Komfort-Standard von heute weiterleben zu können.
Ich denke, in diesem Abschnitt ist sichtbar geworden, dass die derzeitigen E-Fuels- und Wasserstoff-Offensive-Visionen bei näherer Betrachtung keineswegs die Perspektive eines bequemen ‚Weiter so‘ offerieren. Sie sind gleichwohl die beste Option, die wir haben.
Es ist heute nicht seriös davon auszugehen, dass Grüner Wasserstoff, synthetisches Kerosin und allgemein E-Fuels künftig ein Massentourismus-Reiseverhalten möglich macht, das dem heutigen auch nur entfernt ähnelt.
Angesichts der Herausforderungen, die vor uns stehen, hat das auch keine Priorität.
Diesen Abschnitt inhaltlich mit dem Abschnitt Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion‘ verbindend bleibt m.E. nur eine Folgerung: Flughafen in bisheriger Größe, Flugzeugindustrie (sorry, Finkenwerder), Massen-Luftfahrttourismus und Klimaschutz gemäß dem Pariser Abkommen schließen sich gemäß aktuellem Stand definitiv aus. Das ist für viele Menschen eine bittere Wahrheit, aber angesichts der Energiebedarfe ist das zurzeit und mittelfristig nicht anders realistisch umsetzbar.
Zitate wie das Folgende sind dann – so berühmt sie auch sein mögen – eher theoretischer Natur und somit nur bedingt hilfreich:
„Die Sonnenstrahlung, die die Erde in einem Jahr erreicht, könnte 10.000 Jahre lang den Energiebedarf der gesamten Menschheit decken“ (Knauer 2009).
Den Schlussgedanken eröffnet hier Graeme Maxton mit den Worten:
„Wollen wir unser verbleibendes CO2-Kontingent, das wir an anderer Stelle für kniffeligere Aufgaben brauchen werden, mit ineffizienter Braunkohle verplempern?“ (2020, 165).
Dieser Punkt kann gar nicht stark genug betont werden:
Der globale Infrastruktur-Umbau zur Klimaneutralität wird selbst alles andere als klimaneutral verlaufen.
Man mache sich klar, wie viel Öl/Kohle/Gas noch dafür eingesetzt werden wird, um sowohl die Industrienationen als auch den Globalen Süden auf eine klimaneutrale EE-Infrastruktur umzustellen.
Und das ist ein wichtiges Argument dafür,
sofort, jetzt, heute mit der Umstellung zu starten, um das Budget nicht allein schon durch die Sozial-ökologische Transformation inkl. der Energie-, Mobilitäts- und Agrarwenden zu sprengen sowie
allgemein im großen Stil Suffizienz zu betreiben, denn sie allein wirkt konkret unmittelbar klimaeffektiv.
Suffizienz bedeutet „die Reduktion von Rohstoff- und Energieverbrauch durch Reduktion von Konsum- oder Komfortansprüchen“ (Paschotta 2019). Ein ‚Weniger‘ ist im Unterschied zu sämtlichen Reformbemühungen und technischen Lösungen sofort umsetzbar und zeitigt umgehend Ergebnisse.
Erdgas, LNG und die ‚Wasserstoffstrategie‘
Erdgas = Methan
1kg Methan (CH4) verbrennt zu 2,74 kg CO2 sowie zu Wasser (vgl. Energie-Lexikon 2010)
Erdgas gilt als die am wenigsten schlimme Form der fossilen Energieträger.
Obige Tabelle bestätigt das zunächst, weil sie ausschließlich den Energieumwandlungsprozess und die damit verbundenen Emissionen betrachtet. Und nur dies interessiert für die offizielle/ formale Klimabilanz von Kraftwerken bzw. von Deutschland.
Doch die Reduktionen, die durch die mit Millionengeldern geförderten Umbauten von Kohle- zu Gaskraftwerken in Deutschland entstehen (werden), sehen nur und ausschließlich auf dem Papier gut aus:
Denn:
Bei der Förderung von Erdgas – also von Methan – entweicht eine relevante Menge Gas in die Atmosphäre: Das sog. Methanschlupfloch.
Dies trägt deutlich zu den Methanemissionen bei, erscheinen jedoch nicht in den Klimabilanzen Deutschlands. Aber sie sind da. Und es geht nicht um papierende Rechenkünste, sondern um Physik.
Greenpeace Energy geht von einer nicht eingerechneten Vorkettenemission von 25% der Gesamtemission aus (2020, 3), was u.a. am erst unlängst erkannten „Umfang von Flaring (Abfackeln von Erdgas) und [an den] Methanemissionen bei der Erdgasförderung [liegt]“ (ebd., 36).
Flaring setzt rund 300 Mio t CO2 frei = ca. 1% der globalen CO2-Emissionen und darüber hinaus Methan, maßgeblich befördert durch Öl-Fracking, bei dem auch das eingeschlossene Gas freigesetzt wird.
Hinzu kommen Fahrlässigkeit und Unfälle.
Der Spiegel erwähnt dazu, dass „an der Quelle [in Ohio] innerhalb von 20 Tagen ungefähr 120 Tonnen Methan pro Stunde ausgetreten [seien. Bei einem anderen Leck wurden i]nnerhalb von 112 Tagen … in Kalifornien rund 100.000 Tonnen Methan freigesetzt“ (2019f.).
Um das Problem im Griff zu bekommen, hat der 2020 amtierende US-amerikanische Präsident „jüngst angekündigt, für Frackingunternehmen in seinem Land die Regeln zum Methanschlupf zu lockern“ (Fischer et al. 2020) – damit kann ab sofort die bislang zwei Mal jährlich erfolgende Untersuchung auf Umweltgefahren und undichte Stellen nunmehr unterbleiben (vgl. Kriener 2020, 8).
Doch es bedarf keiner Unfälle, damit Erdgasförderung zum Problem wird, der Routinefall selbst ist bereits das Problem:
In den USA sind Bohrlöcher oftmals 4.000 Meter tief, die nur schwer abzudichten sind.
Uwe Dannwolf, Chef der Beratungsgesellschaft RiskCom erklärt: „‚Die Zementierung gelingt häufig nicht gut‘… [a]uch weil die Löcher aus Kostengründen oft zu klein gebohrt werden, kann sich der Zement rund um die Förderrohre nicht gut verteilen“ (Fischer et al. 2020). Gemeint ist, dass auf diese 4 km Länge/Tiefe bezogen der Zement durch den eher knapp kalkulierten Abstand zwischen Förderrohr und Lochwand schlicht ungleichmäßig und nicht verlässlich luftabschließend nach unten durchrutscht, sodass sich in der Folge Hohlräume bilden können.
Laut Fischer et al. zeigen Satellitenmessungen, dass die Methanbelastung bspw. in Turkmenistan, einem Land, das viel Erdgas produziert, „sehr groß ist“ (ebd.).
Und dann ist da noch das Problem mit den Methanschlupflöchern von verlassenen, vorschriftsmäßig und damit vermeintlich ‚sicher verschlossenen‘ Förderstellen:
„Einmal geöffnet, kann das Gas hier jahrzehntelang entweichen und somit ein Vielfaches der Emissionen verursachen, die während der Förderung selbst anfallen. So zu beobachten etwa im venezolanischen Maracaibo-See. Die Gegend war eine der ersten großen Ölförderregionen des Landes. ‚Heute blubbert es hier überall im See‘, erzählt Matthias Reich, Professor für Bohrtechnik an der Bergakademie in Freiberg“ (Fischer et al. 2020).
Auch aus einem Teil der mehr als 15.000 alten Bohrlöcher der Nordsee „treten erhebliche Mengen des Treibhausgases Methan aus… [E]ine neue Studie des Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel[, die] knapp 1.700 … Bohrlöcher[] auf einer Fläche von der Größe Sachsen-Anhalts [untersuchte,] ergab…, dass in diesem Bereich 900 bis 3700 Tonnen Methan austreten können“ (SZ 2020).
Das Entscheidende hier ist, dass „das Gas aus flachen Gastaschen [stammt], die weniger als 1.000 Meter tief im Meeresboden liegen und gar nicht Ziel der ursprünglichen Bohrungen gewesen waren“ (ebd.).
>> vgl. Aspekt Flaming, S. 517 und Fußnote zum Thema Pipeline- und Gasleitungslecks auf der gleichen Seite.
Gefracktes LNG ist letztlich Teil der America-First-Taktik des amtierenden US-Präsidenten, der im Bereich ‚Fossile‘ ‚Jobs, Jobs, Jobs‘ schaffen wollte. Und ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung mit ihrem LNG-Terminal-Ausbau den gegen die Pipeline ‚Nord Stream 2‘ plärrenden US-Präsidenten bei Laune halten möchte.
Erdgas ist alles in allem Teil des Problemsund nicht Teil der Lösung. Denn im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Erdgas neu als Brückentechnologie zu etablieren kann nicht sinnvoll sein: Deutschland hat 2035/37, der Planet spätestens 2050 klimaneutral zu sein, sodass die entsprechenden Infrastrukturen lange vor ihrem Laufzeitende (und damit gegen den Willen der Betreiber) wieder stillgelegt werden müssen – die Menschheit schafft sich hier vor allem ein: zusätzliches Problem.
„‚Es ist ein Irrglaube, Erdgas wäre die Lösung‘, sagt Niklas Höhne vom Kölner New Climate Institute. Die globalen CO2-Emissionen – also auch die aus der Verbrennung von Erdgas – müssten bis 2050 auf null sinken“ (Spiegel 2019).
Brückentechnologien sind Problemverlagerungen und Zwischenlösungen, für die wir keine Zeit haben.
Für Brückentechnologien fließen unglaublich viel Geld, Zeit, Energie und Know-how in die falsche Richtung.
Brückentechnologien sind meist additiv: Sie bilden eine weitere Infrastruktur neben der Vergangenheits- und der Zukunftstechnologie – was sie besonders kritisch macht hinsichtlich der Reboundeffekte.
Brückentechnologien sind Altmaier’sche Tricks, um weiterhin Geld zu verdienen, um das eigentliche Problem nicht anpacken zu müssen und um zu suggerieren, man würde aktiv. Sie lenken von der eigentlichen Ursache ab: Wir haben von der Idee, es könne weiter so gehen bzw. HöherSchnellerWeiter könne noch irgendwie Bestand haben, endlich loszukommen.
Nebenbei: Nord Stream 2 ist auf eine Betriebsdauer von „mindestens 50 Jahren ausgelegt.“ (Rehmsmeier 2019)
Derzeit gibt es dennoch – global und vor allem auch in Deutschland – Bestrebungen, Erdgas stärker (vgl. ‚Nord Stream 2‘(1), ‚Hamburger Klimaplan‘) und im Falle des LNG (liquefied natural gas, vgl. geplante LNG-Terminalanlage im Hamburger Hafen(2)) neu und verstärkt zu etablieren.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
(1) ‚Nord Stream 2‘ ist eine international politisch und ökologisch hochumstrittene, noch im Bau befindliche Pipeline in der Ostsee, die ab 2021 Erdgas von Wyborg in Russland zur deutschen Küste bei Greifswald transportieren soll (vgl. Dornblüth et al. 2020). Diese Pipeline wird mittels erheblichem politischen Druck vonseiten der derzeitigen US-Administration bekämpft, möchte man doch das eigene LNG möglichst konkurrenzlos über den Atlantik verschiffen (vgl. Stephanowitz 2019).
(2) Die German LNG Terminal GmbH plant den „Bau, Besitz und Betrieb eines Import-Terminals für verflüssigtes Erdgas in Norddeutschland (Eigendarstellung: German LNG 2018), mutmaßlich mit dem Standort in Brunsbüttel. Ein weiterer zusätzlicher Standort könnte mit Stade ebenfalls in der Umgebung von Hamburg liegen (vgl. Spiegel 2019e). Entsprechende Terminals entstehen derzeit „für Dutzende von Milliarden Dollar … an der US-Küste“ (Wettengel 2020, 9) – und diese werden gespeist durch das Keystone-XL-Pipeline-System, vgl. Fußnote S. 519.
Aus Erdgas bzw. LNG wird heute vielfach Wasserstoff hergestellt.
Grauer Wasserstoff nennt man den heute i.d.R. verwendeten Wasserstoff, der aus Erdgas unter Emission großer Mengen CO2 hergestellt wird (vgl. Greenpeace Energy 2020, 5).
Als ‚blau‘ wird Wasserstoff bezeichnet, wenn das bei der Herstellung von grauem Wasserstoff entstehende CO2 zum größeren Teil über das (selbst große Mengen an Energie verbrauchende) Carbon Capture und Storage (CSS) genannte derzeit nicht ausgereifte Geoengineering-Verfahren abgeschieden und unterirdisch eingelagert wird (vgl. ebd.).
Grüner Wasserstoff entsteht bei der Wasserelektrolyse und ist, so der Strom mit erneuerbaren Energien produziert wurde, emissionsfrei (vgl. Abschnitt Energiewende in Deutschland, S. 524).
Nun soll also in Deutschland gemäß ‚Nationaler Wasserstoffstrategie‘ vornehmlich grüner Wasserstoff die Energiewende weiter befördern und auf ein neues Niveau zu heben.
„Ob der erste grüne Wasserstoff in Deutschland im Industriemaßstab schon vor 2030 produziert werden könne, bezweifelte [Stefan] Kaufmann[, der gerade ins Amt gekommene Innovationsbeauftragte für den Förderschwerpunkt ‚grüner Wasserstoff‘]. Das gesamte Projekt ‚Wasserstoffrepublik‘ sei eher auf einen Zeitraum von zwanzig Jahren ausgelegt“ (Ronzheimer 2020, 18).
Ein Großteil des Wasserstoffs soll dabei aus diversen afrikanischen Staaten importiert werden – die Machbarkeit solcher Projekte würde gerade für 31 afrikanische Staaten geprüft (vgl. ebd.).
Bauchmüller et al. stellen dazu fest:
„Als die Bundesregierung kürzlich ihre „nationale Wasserstoffstrategie“ verabschiedete, taxierte sie den Bedarf auf 90 bis 110 Terawattstunden. Doch nur für 14 Terawattstunden sah sie Potenzial im Inland. Der Rest müsste aus dem Ausland kommen. Und auch im jüngsten Konjunkturpaket findet sich der Wasserstoff-Import wieder. Zwei Milliarden Euro verbuchte die Koalition für ‚außenwirtschaftliche Partnerschaften‘“ (2020).
„Doch in der Region [Congos], in der das Kraftwerk entstehen soll, macht das neue Engagement aus Deutschland eher Sorgen. Bis zu 37 000 Dorfbewohner könnten hier, 256 Kilometer westlich der Hauptstadt Kinshasa, ihr Zuhause verlieren“ (ebd.).
„Unsere Unfähigkeit, den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen, darf nicht dazu führen, dass im Kongo ein Riesenstaudamm ganz Dörfer und Ökosysteme zerstört, um Wasserstoff für den deutschen Markt zu produzieren“ (Averbeck/Graichen 2020, 25) (Die Autorinnen wurden von der Bundesregierung in den nationalen Wasserstoffrat berufen“ (ebd.)).
Und: Wollten wir nicht unabhängiger werden von Energie aus Drittstaaten?
Zurück zum LNG. Fassen wir hier noch einmal zusammen:
Gefracktes LNG ist unkonventionelles Erdgas, dass unter erheblichen Umweltschäden und Methan-emittierend produziert, unter gewaltigen Energieverlusten mit einer noch aufzubauenden gigantischen Infrastruktur um die halbe Welt geschifft wird, um dann (unter erheblichen Energieverlusten) in Wasserstoff umgewandelt zu werden und im Jahre 15 bzw. 17 vor erforderlicher Klimaneutralität Deutschlands (vgl. S. 23):
von Altmaier & Co als zukunftsfähige Brückentechnologie gehyped wird.
Das alles sind Investitionen, Knowhow und Aufmerksamkeit, die eigentlich einer anderen Branche auf das äußerste fokussiert gebühren: den erneuerbaren Energien.
Noch eine abschließende Randbemerkung:
Im Großen wie im Kleinen gilt: Eine Heizung, die jetzt und in den nächsten Jahren verbaut wird, läuft auch 2050 noch.
Nach der Darstellung der von der aktuellen Koalition und namentlich insbesondere der Union geförderten ‚Zukunftsbrückentechnologien‘, kommen wir nun zu den von der aktuellen Koalition und namentlich insbesondere der Union eher zurückgedrängten erneuerbaren Energien – und hier stellvertretend insbesondere auf die:
„Das Thema Klimaschutz ist für mich ein Herzensanliegen.“ Peter Altmaier, 2012, zit. in SZ, 31.5.2012
Windkraft
30.000 Windkrafträder gibt es in Deutschland ‚an Land‘ (vgl. Witsch 2019).
„Bis 2030 will die Bundesregierung den Anteil erneuerbarer Energien am Strommix von derzeit 38 Prozent auf 65 Prozent erhöhen. Den Großteil davon soll Windenergie schultern“ (Witsch 2019).
Aber:
„Die durchschnittliche Dauer von Genehmigungsverfahren hat sich nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Für jedes Vorhaben fordern die Behörden eine Flut von Gutachten ein, um sich gegen mögliche Klagen abzusichern. Und geklagt wird mittlerweile so gut wie jedes Projekt, von betroffenen Bürgern oder Umweltverbänden“ (Bruhns et al. 2020).
Beispielsweise wurden 2019 „deutschlandweit 325 Windturbinen mit [insgesamt] mehr als 1.000 Megawatt (MW) Leistung beklagt“ (Fachagentur Windenergie an Land 2019) – was nach Angaben des Spiegel „der Leistung von drei kleineren Kohlekraftwerken entspricht“ (Bruhns et al. 2020) – oder eben dem 2020 ans Netz gegangenen Steinkohlekraftwerk Datteln IV mit seinen 1.000 Megawatt (vgl. Handbuch S. 68).
„Kaum mehr ein Windpark wird gebaut, ohne beklagt zu werden. Über 1.000 Bürgerinitiativen in ganz Deutschland engagieren sich mittlerweile gegen den Bau neuer Anlagen – auch vor Gericht“ (Witsch 2019).
Doch ist es so:
„Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstitut forsa im Auftrag der Fachagentur Wind ergab…: Selbst unter den Bürgern, die in der Nachbarschaft ein Windrad haben, sind drei Viertel damit einverstanden“ (Pinzler 2019).
Die von Altmaier und Seehofer am 20.9.2019 im ‚Eckpunkte-Papier für das Klimaschutzprogramm 2030‘ (vgl. Bundesregierung 2019) angekündigte und vom ‚Klimakabinett‘ so beschlossene bundesweite Abstandsregel von 1.000 Metern zu (Kleinst-)Siedlungen (‚Splittersiedlungen‘) würde nach Ansicht des Greenpeace-Chefs Martin Kaiser die Energiewendebeerdigen.
Auch der Fraktionschef der Grünen, Anton Hofreiter, bemüht das friedhöfliche Bild und konstatiert, „[d]er Entwurf sei ‚ein weiterer Sargnagel für die Windkraft‘“.
„‚Mit diesem Gesetz wird die Axt an den Grundpfeiler des Klimaschutzes gelegt‘, sagte WWF-Klimaexperte Michael Schäfer. Zumal die Regeln nicht nur neue, sondern auch bestehende Anlagen träfen. In den nächsten Jahren erreichen Tausende Windräder ihre Altersgrenze. Da viele ältere Anlagen im 1.000-Meter-Radius liegen, wäre ihr Ersatz [– das sog. Repowering –] unmöglich“ (Bauchmüller 2019).
Sturm gegen die Abstandsregel formiert sich auch von Seiten des Deutschen Gewerkschaftsbundes DBG, des Energieverbandes BDEW, des Windenergieverbandes BWE, des Verbandes Kommunaler Unternehmen VKU, des Maschinenbauverbandes VDMA – und sogar und insbesondere auch von Seiten des Industrieverbandes BDI. Sie alle unterschrieben einen Brandbrief, in dem es u.a. heißt: „‚Die geplanten Einschränkungen der Windenergie an Land‘ stellten ‚die Realisierbarkeit sämtlicher energie- und klimapolitischer Ziele der Bundesregierung infrage‘“ (zit. in Spiegel 2019a).
„Das Umweltbundesamt fürchtet, dass eine Anwendung des Mindestabstands von 1.000 Metern die Fläche, auf der nach jetzigem Stand Windräder gebaut werden dürfen, um 20 bis 50 Prozent verkleinert. ‚Ein Zubau an Windenergiekapazität gegenüber dem Status quo ist auf der verbleibenden Fläche faktisch nicht möglich‘, heißt es in einer Untersuchung des Umweltbundesamts“ (Spiegel 2019b).
Im November 2019 beschließt die GroKo, die umstrittene Abstandsregel sowie weitere zu regelnde Aspekte des Ausbaus der erneuerbaren Energien aus dem ansonsten weitgehend fertiggestellten Kohleausstiegsgesetz herauszulösen und zu einem späteren Zeitpunkt in einem eigenen Gesetz zu verankern (vgl. Spiegel 2019c).
Im Mai 2020 – also etwa acht Monate nach den ersten Ankündigungen – haben sich die Koalitionspartner darauf verständigt, „man werde ‚den Ländern die Möglichkeit einräumen, einen Mindestabstand von bis zu 1.000 Metern festzulegen‘… Die Union hat damit zumindest auf dem Papier einen Mindestabstand eingeführt“ (Kreutzfeldt 2020, 8). Was als relevante Siedlung, von der der Abstand zu wahren ist, eingeordnet wird, ist entgegen voriger Gesetzesentwürfe nunmehr doch ebenfalls unbestimmt und somit Ländersache (vgl. ebd.).
Der Schaden, den dieses nunmehr teilweise verpuffte Gesetzesvorhaben angerichtet hat, ist immens. Das Bundeswirtschaftministerium, welches auch für Energie und – daran sei hier kurz erinnert – damit auch für erneuerbare Energien zuständig ist, hat, wie seinerzeit durch das Rumspielen am EEG (vgl. Fußnote S. 522), durch Festlegung eines deinvestierend wirkenden (im Juni 2020 doch noch abgesagten) Solardeckels(1) sowie jetzt mit der vielmonatig angekündigten ebenfalls deinivestierend wirkenden Abstandsregel in der EE-Branche Fakten geschaffen, den Industriestandort Deutschland geschwächt, die Energiewende massiv beschädigt, verzögert und weiter verschleppt, die Zukunftsfähigkeit verringert und jede Menge Arbeitsplätze vernichtet.
Es ist explizit festzuhalten, dass ja ausschließlich das faktische Verbot des Neubaus von Windkraftwerken vom Tisch ist. Für die Branche wurde nichts getan.
Spielen Sie mal gedanklich die gleiche Politik mit anderen, alteingesessenen Industriebranchen durch, z.B. der Autoindustrie. Dieses Gedankenspiel ist: undenkbar.
Erläuterungen zu (1) 'Solardeckel'
Der sog. ‚Solardeckel‘ wurde bei der Novelle des EEG 2012 eingeführt und besagte, „dass die Förderung neuer PV-Anlagen endet, sobald die Summe der nach §19 EEG installierten, geförderten Photovoltaik-Anlagen in Deutschland eine gemeinsame Leistung von 52 Gigawatt überschreitet. Prognosen zufolge wäre dieser Solardeckel im Herbst 2020 erreicht worden. Anlagen bis 750 kWp (Kilowatt-Peak), die nach dem Erreichen dieser Grenze in Betrieb gehen, hätten dann keine garantierte Einspeisevergütung für den Solarstrom erhalten, der in das öffentliche Stromnetz eingespeist wird“ (EON 2020).
2019, erstes Halbjahr = 86 neu aufgestellt (laut taz: Kreutzfeldt/Pötter 2019) 2019, erstes Halbjahr = 35 „unterm Strich … in Betrieb genommen“ (laut Pinzler et al. 2019, 3)
2018: 8 installierte Windkraftwerke in Bayern (vgl. Dohmen et al. 2019, 17)
>> Wie absurd es in Deutschland in Sachen ‚Windkraft‘ zugeht, zeigt das Beispiel von dreißig Windrädern in Bayern, die genehmigt sind und trotzdem nicht oder bis auf weiteres nicht gebaut werden: Diese Windkrafträder wurden genehmigt, bevor das sog. 10-H-Gesetz (auch 10H-Regel genannt) in Bayern in Kraft gesetzt war.
Warum wird der Zubau weniger statt mehr, wie angesichts einer umfassenden Energiewende zu erwarten wäre?
„2017 [wurde] das System der Vergütungen verändert: Statt fester Zahlungen für jede gelieferte Kilowattstunde sollten Windpark-Projekte nun in Konkurrenz treten. Wer also eine Förderung für sein Windrad wollte, musste bei einer Ausschreibung mitbieten. … [Dieses als kostensenkend beworbene] neue System hatte Nebenwirkungen. Zum einen löste es ein [sog.] Dezemberfieber in der Branche aus, weil möglichst viele noch zu den alten Konditionen bauen wollten – so kam es zu den enormen Zuwächsen der Jahre 2016 und 2017. Die wiederum riefen Windkraft-Gegner auf den Plan – und mit ihnen unzählige Klagen gegen neue Windparks“ (Balser et al. 2019).
>> Ebenfalls nicht zielführend ist, dass der Anschluss von Windkraftanlagen gesondert, d.h. extra und einzeln genehmigt werden muss. „Windparkbetrieb und Netzanschluss befinden sich in Deutschland in verschiedenen Händen… Schon der Anschluss eines normalen Solarparks kann zu Geduldspiel werden. In Spanien wird mit der Baugenehmigung zugleich die Netzverbindung garantiert“ (Dohmen et al. 2019, 17). Alles andere macht m.E. auch keinen Sinn.
Windkraft: Gegner*innen
Nein, es ist nicht ideal, eine Windenergieanlage vor das Dorf gestellt zu bekommen.
Hm, andere Dörfer – ganze Landschaften – wurden der Braunkohle geopfert. Manche Menschen leben seit Jahren mit der Ungewissheit, ob ihr Dorf quasi als letzte Zuckung der Braunkohleförderung nicht noch geräumt werden wird. Andere Menschen wiederum wohnen in unmittelbarer Nähe eines Atomkraftwerks und haben auffällig viele Leukämiefälle in der Gegend. Manche Menschen müssen mit einem Zwischen- oder Endlager für Atommüll in der Nachbarschaft ‚leben‘. Andere wiederum finden es wenig lustig, dass die Wände in ihrem Haus tiefe Risse bekommen, weil unter ihrem Haus alte Steinkohle-Stollen zusammensacken. Die Liste könnte weiter fortgesetzt werden mit neuen Flughafenstartbahnen, die quasi an die eigene Grundstücksgrenze stoßen, mit Einflugschneisen-Lärmbelastung, mit stinkenden Klärgruben oder Megaställen, Autobahnen-Lärm und -Abgasen, ICE-Trassen etc. pp.
Aber ein Windrad? Versehen mit einer reichlich üppigen Abstandsregel? (Es müssen ja nicht gleich 1.000 Meter zu Splittersiedlungen sein, wie es im Herbst 2019 der Altmaier’sche Gesetzentwurf vorsah.)
Windkraft-Verweigerung im Kontext der existenziellen Klimakrise?
Vor dem Hintergrund, dass uns der Planet ohne massive Energiewende Feuer unterm Hintern macht?
Ist ein Windrad vor den Toren des Dorfes ein zu großes Opfer für die Kinder und Enkel*innen?
Wohl (hoffentlich) nicht. Also:
Worum geht es hier eigentlich?
Gängige Argumente gegen Windkraftwerke sind:
Windkraftwerke – eine Todesfalle für Tiere?
Michael Diestel, Windkraftbefürworter, hat hier eine deutliche Meinung:
„Man verweist immer wieder auf das Sterben der Vögel. Aber wenn es hier wirklich um Artenschutz ginge, müssten wir alle Straßen schließen“ (Witsch 2019).
Kopatz fügt hinzu:
„Tatsächlich kommen jährlich zwischen 10.000 und 100.000 Vögel um … die Zahl relativiert sich, wenn man bedenkt, dass pro Jahr schätzungsweise 18 Millionen Vögel an Glasscheiben zu Tode kommen. Hohe Verlustzahlen entstehen auch an Freileitungen und beim Vogelschlag an Straßen und Bahnstrecken…“ (2019, 178-179).
Benjamin Fredrich beruft sich auf Nabu-Zahlen, wenn er in seinem Katapult-Buch 102 grüne Karten zur Rettung der Welt schreibt:
„[B]ei Windkraftanlagen sterben die meisten Vögel, weil sie gegen den Mast prallen, und nicht, weil sie vom Rotor getroffen werden. Wenn Windkraftanlagen farbig gestrichen werden, fliegen deutlich weniger Vögel dagegen“ (2020, 34).
Ein Argument gegen Windkraftwerke ist tiefenfrequenter Schall <20Hz, der sog. Infraschall. So berichtet das ZDF, dass „sich aus der Wissenschaft und Medizin die Hinweise [mehren], dass Infraschall die Gesundheit beeinträchtigen kann“ (Hermes 2018). Wer allerdings jemals auch nur eine Nacht in einem Einfamilienhaus unweit einer Hauptverkehrsstraße verbracht hat, weiß, dass auch vorüberdonnernde Lastwagen genau diesen tiefen Schall, den man teilweise ausschließlich körperlich spürt, verursachen. So gesehen kann man sagen: Ja, das ist nicht schön, betrifft aber unglaublich viel mehr Menschen, als Nachbar*innen von Windenergieanlagen.
Das Ärzteblatt kommentiert: „Windparks erzeugen Infraschall – Meeresrauschen auch.“ (Lenzen-Schulte et al. 2019)
Im September 2020 kommt eine neue Studie zu dem Schluss: „[W]er Infraschall vermeiden will, müsste künftig aufs Autofahren verzichten“ (Wille 2020).
>> Und weiter: „Eine dreieinhalbstündige Autofahrt beschert den Insassen genauso viel Infraschall-Energie wie 27 Jahre Aufenthalt in 300 Metern Abstand zu einem Windrad“ (Wille 2020).
Tatsächlich belegen „Studien mit Placebo-Infraschall die durch negative Erwartungshaltung beeinflussten Symptome … Nocebo-Effekte“ (ebd.): Ein typischer Nocebo-Effekt tritt ein, wenn man bei einem neuen Medikament den Beipackzettel liest und daraufhin meint, die dort beschriebenen Nebenwirkungen zu spüren. Das hier zitierte Ärzteblatt bestätigt auch obige Feststellung des ZDF, weist aber darüber hinaus darauf hin, dass auch Beschäftige im Umfeld von landwirtschaftlichen Maschinen und Flugzeugen betroffen sind und schließt mit der Feststellung, dass „es dringend epidemiologischer Studien [bedarf], die das [Thema] genauer untersuchen“ (ebd.; zu ‚Nocebo‘ s.a. auch Abschnitt Glaubenssätze dechiffriert: Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen, S. 390).
Mir persönlich drängt sich der Eindruck auf, dass Infraschall eigentlich ein Sachverhalt ist, der in unserer immer weiter anthropogen gestalteten Welt bislang überwiegend städtisch wohnende Bundesbürger*innen und nun auch vermehrt Menschen auf dem Land – z.B. durch Windenergieanlagen – betrifft.
Update 2022:
Die Diskussion rund um Infrasschall wäre also selbst bei Richtigkeit des Sachverhaltes müßig und überflüssig. Doch sind sogar die der Diskussion zugrundliegendenen Zahlen falsch, was die Diskussion endgültig zur Nicht-Diskussion macht: Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) veröffentlichte 2005 eine Studie, in der ein einziger, im Ergebnis jedoch massiver Rechenfehler vorlag und der dafür sorgte, dass die Infraschallberechnung um Potenzen zu groß geriet. Und gleichwohl diente genau diese Studie über den Zeitraum von etwa 15 Jahren als ‚Diskussionsgrundlage‘. Als der Fehler endlich entdeckt wurde, wehrte man sich mit Händen und Füßen und drohte mit der Rechtsabteilung – eine gute Fehlerkultur sieht anders aus.
„Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier von der CDU hat sich jedenfalls inzwischen ausdrücklich für die Arbeit der Bundesanstalt entschuldigt, die ihm unterstellt ist: ‚Es tut mir sehr leid, dass falsche Zahlen über einen langen Zeitraum im Raum standen‘, sagte er. Die Akzeptanz von Windanlagen an Land habe ‚ein Stück weit‘ unter den falschen Zahlen gelitten.“ (Storch 2021, vgl. Spiegel 2021)
Was für eine Untertreibung.
Windenergieanlagen – ziehen das Grundwasser in Mitleidenschaft?
Ein weiteres Argument von Windkraftgegnern ist, Schmieröle könnten ins Grundwasser gelangen oder gar Chrom.1
Dazu ist hier festzuhalten, dass eine Recherche mit den Suchwörtern ‚Windkraft‘ und ‚Grundwasser‘ ergibt, dass weder der Spiegel, die Zeit noch die Süddeutsche Zeitung sich dieses Argument in den letzten zehn Jahren zu eigen gemacht haben2.
Umgekehrt ist es so, dass der Nichtausbau der Windenergie bedeutet, dass „der [Braunkohle-] Tagebau Sulfat und Chlorid [entlässt], ins Oberflächenwasser Eisen, was die Flüsse ‚verockert‘ und, so das Umweltbundesamt, ‚aquatische Lebensgemeinschaften‘ stört“ (Stöcker 2019).
Wenn die Besorgnis ums Grundwasser doch immer so groß wäre, wären wir wohl alle mindestens wenig-Fleisch-essende Flexitarier, denn die größte und überaus reale Bedrohung für unser Grundwasser geht von der Massentierhaltung aus.
>> vgl. Aspekt Zu viele Tiere auf zu wenig Raum >> Trinkwasserschädigung durch Nitrat, S. 591
Keines dieser Argumente ist m.E. stichhaltig.
Da stellt sich nochmals und dringender die Frage:
Worum geht es eigentlich? Um Bevormundung? Um Gerechtigkeit? Um ein „Warum ausgerechnet wir?“
„Nimby“ – „But not in my backyard.“
Ist nicht die Frage, wie ich darauf reagiere, wenn mich eine Veränderung direkt betrifft, der ‚Lackmustest‘ (Gradmesser/Prüfstein), wofür ich wirklich stehe im Leben?
Wäre es nicht sinnvoller, dafür zu protestieren, dass das Windrad durch entsprechende Stromtrassen und Zwischenspeicher angemessen in das deutsche Stromnetz eingebunden wird – statt dagegen zu sein, dass es gebaut wird?
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
(1) Beliebt ist auch die Befürchtung, das Windkraftwerk könne umfallen. „Wie klein die Gefahr sei, sagt Geschäftsführer [Wolfram] Axthelm[ vom Bundesverband Windenergie], zeige schon die Versicherungsprämie für Haftpflicht. Ein Windrad sei in dieser Hinsicht kaum teurer als ein Moped“ (Dohmen 2019, 20).
(2) Anmerkung: Die SZ ist die einzige der drei Zeitungen, die diesen Aspekt zumindest erwähnt, in dem sie im Zusammenhang mit einem lokalen Streit um den Aufbau von Windkrafträdern im Jahr 2016 darauf hinweist, dass ein Gutachten im geschilderten Fall diese Problematik nicht gänzlich ausschließen konnte, weil in diesem Fall der Grundwasserspiegel möglicherweise so hoch sei, dass das Grundwasser an die Fundamente der betreffenden geplanten Windkrafträder heranreiche, vgl. Bögel, Wieland (2016): „Naturschutz: Wasser gegen Wind“. in: Süddeutsche Zeitung, 12.7.2016, online unter https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ebersberg/naturschutz-wasser-gegen-wind-1.3075436/ (Abrufdatum 10.12.2019).
Sind nun all diese Bürger*innen generell gegen Windkraft und damit letztlich auch gegen Klimaschutz? Geht es wirklich (ausschließlich) um das Thema Not in my Backyard?
In meiner Wahrnehmung sind diese Aspekte ‚Vogelschutz‘, ‚Infraschall‘, ‚Grundwasser‘ lediglich Hilfsargumente von Bürger*innen, die weniger etwas gegen Windenergieanlagen, sondern in erster Linie etwas gegen Fremdbestimmung haben.
Solche Konflikte, wie sie derzeit rund um das Thema ‚Windkraft‘ in Deutschland toben, sind m.E. eigentlich leicht vermeidbar.
„Preben Maegard, ehemalige Präsidentin der World Wind Energy Association, hat es einmal so formuliert:
‚Wenn Menschen vor Ort die Eigentümer der Windparks sind und davon profitieren, dann werden sie sie auch unterstützen. Es wird nicht heißen: ‚Bitte nicht vor meiner Haustür‘, sondern: ‚Bitte auf unserem Land‘“ (Klein 2015, 166).
Nun, das war ja bei der ursprünglichen Form des EEG im Jahre 2000 auch durchaus der Gedanke, der dem Gesetz zugrunde lag: die Bürgerenergiewende (vgl. Fußnote auf S. 522).
So wie sich das EEG und die weiteren Rahmenbedingungen heute darstellen, laufen Bürger*innen dagegen Sturm:
Und tatsächlich,
wer hat schon Lust auf einen großen, von außen durchaus zu Recht als Eindringling wahrzunehmenden Großinvestor, der an den Dorfrand einen riesige Stahlbeton-Pfeiler, deren Auftriebsläufer bei einer gängigen 3 MW-Anlage 200 Meter Höhe aufweisen, installiert, von dem man selbst in keiner Weise profitiert und lediglich Nachteile in Form von Baulärm und eine Einschränkung des Panorama-Genusses hat?
Das ist trivial.
Und damit ist die folgende Frage aufzuwerfen:
Warumamputier(t)en Altmaierund seine Vorgänger die Bürgerenergiewende und entfachen ein gesellschaftliches Feuer gegen eine Energiewende? Die kommen muss und für deren Verzögerung gesamtwirtschaftlich und -gesellschaftlich kein Interesse bestehen kann?
Offensichtlich werden andere Interessen im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie höher gewichtet.
Und damit kommen wir einmal mehr zum ‚good old‘ Thema ‚Arbeitsplätze‘, konkret zum Thema
Weitere Aspekte der Energiewende: Arbeitsplätze, Stromtrassen, Kostenwahrheit
Thema ‚Arbeitsplätze und Erneuerbare Energien‘
Was z.B. für die Autoindustrie aber auch für die Braunkohle immer und stets hervorgehoben wird und
was im Bereich der Erneuerbaren Energien i.d.R. unter den Tisch fällt sei hier klar und deutlich formuliert:
Die Windkraft-Verweigerung der Politiker*innen und Bürger*innen kostet tausende gerade neu entstandene, zukunftsfähige Arbeitsplätze.
Allein das Unternehmen Enercon kündigt im Herbst 2019 an „wegen der schlechten Marktlage bis zu 3.000 Stellen abzubauen … Neben Enercon hat auch die Siemens-Tochter Gamesa den Abbau Tausender Arbeitsplätze angekündigt, der Windanlagenbauer Senvion meldete im April Insolvenz an“ (Zeit 2019).
… und die Kohlekumpel werden in Watte gehüllt(1). Der Aufschrei um Arbeitsplatzverluste ist in den Bereichen Kohle und Auto deutlich lauter als bei Sonnen- und Windenergie.
Warum? Besonders im Zusammenhang mit der Autoindustrie wird gern hervorgehoben, dass das besonders ‚wertvolle‘ Arbeitsplätze seien, weil sie sozialversicherungspflichtig seien und besonders hoch qualifizierte Arbeit böten und dementsprechend dotiert seien. Ja, das wird richtig sein. Das ändert aber nichts daran, dass Arbeitsplätze rund um Erneuerbare Energien Zukunftsjobs sind. Und wenn diese nicht so toll bezahlt werden, sich die Firmen weniger durch Personalräte auszeichnen, die Jobs weniger sozialversicherungspflichtig sind, mag das angehen – aber es sind zukunftsfähige Arbeitsplätze. Neue Super-Arbeitsplätze à la ‚alte Bundesrepublik‘ wird es ohnehin (und zwar branchenunabhängig!) kaum noch geben, denn generell und branchenübergreifend entstehen auch Dank der Agenda 2010 i.d.R. nur noch solche ‚leichtgewichtigen‘ Jobs. Damit haben wir – bis auf Weiteres und vorbehaltlich einer besseren Politik – bedauerlicherweise zu leben.
Selbstverständlich sollten wir um jeden einzelnen Arbeitsplatz kämpfen. Aber eben um wirklich jeden, und: branchenunabhängig.
Um folgende Arbeitsplätze geht es:
>> 20.336 Arbeitsplätze in der Braunkohle – 2/3 der Beschäftigen geht bis 2030 in Rente (vgl. Statista 2020 u. UBA 2018).
>> 338.600 Arbeitsplätze im Bereich erneuerbare Energien inkl. Zulieferern, davon 160.200 in der Windenergie, Stand 2016, also vor dem Altmaier’schen Windkraftdesaster (vgl. BMWI 2018).
>> 26.000 Stellen wurden 2017 in der Windkraftbranche abgebaut (vgl. Wetzel 2019) – hier gibt es also in einem Jahr höhere Arbeitsplatzverluste als in der Braunkohle überhaupt noch existieren und noch über viele Jahre gepäppelt werden.
>> In den letzten drei Jahren sind im Bereich EE insgesamt mindestens 40.000 Arbeitsplätze verloren gegangen (vgl. NDR 2020b). Da nun der Markt darniederliegt, wird es bei diesen Zahlen wohl nicht bleiben.
>> Zuvor war schon die Solarwirtschaft zusammengebrochen, „wo [nach 2011] die Beschäftigung innerhalb von fünf Jahren um mehr als 110.000 Personen sank“ (UBA 2020b, 10).
Anmerkung zu (1)
Ich finde es weniger schlimm, dass Kohlekumpel in Watte gehüllt werden, als dass Arbeitnehmer*innen zukunftsfähiger Arbeitsplätze einzelner Branchen nicht in Watte gehüllt werden.
Die Energiewende benötigt: Stromtrassen
Kurz ist das (ebenfalls allzu oft vor Gericht landende) Thema ‚Stromtrassen als Grundlage für eine Energiewende in Deutschland‘ anzureißen.
Die riesigen, der künftigen Gesamtenergieversorgung dienenden Strommengen haben über Stromtrassen quer durch Deutschland transportiert zu werden:
„[R]und 7700 Kilometer werden mittlerweile als notwendig erachtet. Davon existieren bis jetzt 950 Kilometer. 2017 wurden bundesweit 30 Kilometer fertiggestellt“ (Dohmen et al. 2019, 15).
Michael Kopatz zieht dazu einen spannenden Vergleich zum Straßenbau:
„Neue Trassen für Strom werden als politisch heikel empfunden. Neue Trassen für Kraftfahrzeuge müssen aber einfach sein. Überflüssig zu erwähnen, dass eine Überlandleitung nicht annähernd mit der Eingriffstiefe einer neuen Straße zu vergleichen ist. Sie zerschneiden keine Landschaften emittieren weder Schadstoffe noch Klimagase und sind geräuschlos“ (2016, 217-218).
Der Befund lautet dennoch:
„2011 brachte die Regierung ein sogenanntes Netzausbau-Beschleunigungsgesetz auf den Weg, um das Großprojekt anzutreiben. Das Resultat: Neun Jahre später[, d.h. 2020,] sind von den geplanten rund 5.900 Kilometern erst rund 800 Kilometer gebaut“ (Bruhns et al. 2020).
Ein Blick in einen Teilaspekt der Zukunft:
Weitere Potenziale erneuerbarer Energien
Abschließend und allgemein ist festzuhalten, dass das Thema ‚Erneuerbare Energien‘ mit Blick in die Zukunft noch viele Möglichkeiten offeriert.
Pragmatisch gesehen:
Wärmepumpen haben eine Menge bis lang nicht ausgeschöpftes Potenzial.
Derzeit gibt es mindestens 35 Projekte an Offshore-Windenergieanlagen, die nicht im Meeresboden verankert sind, sondern schwimmende Konstruktionen vorsehen. Das macht vorbehaltlich des Ressourcenverbrauches Sinn, um auch in tieferen Gewässern (50m und tiefer) vor Steilküsten – nicht alle Meeresküsten sind so aufgebaut wie die Ostsee – Windenergieanlagen betreiben zu können – und auch der spätere Entsorgungsvorgang ist potenziell leichter zu bewerkstelligen (vgl. Janzing 2020, 8).
Mit Zukunftsblick:
Wenn man sich das online gestellte, über 6.000-seitige ‚Buch der Synergie‘ von Achmed Khammas anschaut, über das ich unumwunden zugebe, dass es mich im Theoriebereich vollkommen überfordert, das mich aber wiederum hinsichtlich der Akribie, mit der einzelne Energieumformungen bzw. -gewinnungstechniken beschrieben sind, begeistert, dann scheint es so zu sein, als gäbe es derart viele Möglichkeiten, die schier unendliche Energie, die uns letztlich in verschiedenster Form zur Verfügung steht, auszuschöpfen und zu nutzen, dass es geradezu grotesk ist, dass wir Menschen jemals dem Pakt mit dem Teufel ‚Öl‘ eingegangen sind. Hier geht augenscheinlich wesentlich mehr als gemeinhin angenommen.
Redet man über verschiedene Arten, Energie zu erzeugen, werden die Bau- und Rückbaukosten sowie sonstige Folgekosten i.d.R. nicht eingerechnet.
Würden diese Kosten eingerechnet werden – und was sollte dagegen sprechen, es geht ja um die Gesamtkosten und den Gesamtenergiebedarf, alles andere macht keinen Sinn – dann würde keine Regierung der Welt auf die Idee kommen, ein AKW auch nur zu planen.
Die Baukosten des AKW Stade, 2003 vom Netz gegangen, lagen bei 150 Mio Euro. Bei den Rückbaukosten geht man mit Stand 2017 von 1 Mrd. Euro aus (NDR 2017). Die gleiche Zahl wird auch für den bald beginnenden Rückbau von Brunsbüttel genannt (vgl. HA 2019) – insgesamt sind rund 30 AKWs in Deutschland zurückzubauen (vgl. Atom aktuell 2014).
Dadurch, dass diese eine Milliarde Euro Rückbaukosten pro Kraftwerk nicht (bzw. nicht angemessen) in den Strompreis eingerechnet wurde/wird, haben sich also frühere Generationen in einem m.E. unangemessenen Maß auf Kosten der aktuellen/künftigen Generationen bereichert, die die Rückbaukosten tragen.
Von der Kosten und der Sicherung der Endlagerung sowie den Gefahren und mannigfachen Kosten eines möglichen GAUs ist dann noch gar nicht gesprochen worden.
Fazit zum Thema ‚Energie & Zukunft‘
Es kann nicht sein, dass die Umsetzung der Energiewende, an der u.a. die Mobilitätswende hängt und damit insgesamt die Einhaltung des Pariser Abkommens, von einzelnen Bürgerinitiativen und einzelnen Kläger*innen torpediert werden. Menschenrecht schlägt Einzelinteressen.
Derweil könnte man – wie Harald Welzer vorschlägt – „fast 13.000 Kilometer deutscher Autobahnen in der nachhaltigen Moderne für die Platzierung von Windrädern genutzt werden, die dann nicht mehr andernorts die Landschaft verspargeln müssten“ (2016, 214)… Manfred Unfried wünscht sich derweil eine „Windmühlen-Allee an der A7 von Flensburg bis Füssen“ (2020, 46).
Jeremy Rifkin weist indessen darauf hin, dass der Staat die neue Energie-Infrastruktur zu „bauen [hat], schnell und entschlossen“ (Heuser 2019, 24).
Käme es so, „könnten die fossilen Brennstoffe schon deshalb ihre Bedeutung verlieren. ‚Gas‘, sagt Rifkin trocken, ‚lohnt sich bald nicht mehr‘“.
Für diese Annahme spricht, dass Solarstrom eigentlich günstiger ist, als fossiler Strom je sein kann
Erläuterung
Das ist vollkommen plausibel, wenn man Abbau der erforderlichen Ressourcen, den Auf- und Abbau der Produktionsinfrastruktur sowie die Transportwege für die zu verbrennenden Energieträger in die Kostenrechnung einbezieht. Wenn man die weiteren Umweltkosten einrechnet, wird es geradezu absurd, dass über all das überhaupt eine Diskussion entbrennen (!) kann. Im Spiegel ist zu lesen, dass die Preise für Photovoltaik seit 2010 um mehr als 75% gefallen sind, die „für Windkraft um bis zu 35 Prozent. In weiten Teilen der Welt sind die Erneuerbaren schon jetzt die billigste Energiequelle“ (Evers 2019, 110). „Für die effizientesten Solarparks berechnen die Forscher einen Preis von durchschnittlich 3,71 Cent bis 11,54 Cent pro Kilowattstunde. Zum Vergleich: Elektrizität aus konventionellen Kraftwerken kommt der Studie zufolge auf Herstellungskosten bis zu 21,94 Cent pro Kilowattstunde“ (Witsch 2018). „Technische Fortschritte bei der Photovoltaik hätten zu starken Kostensenkungen geführt, ‚so dass sie unter allen Kraftwerkstypen im Mittel die kostengünstigste Technologie in Deutschland ist‘, begründet das [Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme] ISE die Energiewende-Sensation“ (Sorge 2018).
2018 kam eine von der Technischen Universität Lappeenranta (LUT University) und der Energy Watch Group erarbeitete Studie heraus, die errechnete, dass „100% Erneuerbare Energie in ganz Europa [machbar bis 2050 ist und zudem] kostengünstiger [ist,] als das derzeitige Energiesystem“ (Energywatchgroup 2018).
Im Juni 2020 erwähnt der Carbon Tracker-Analyst Kingsmill Bond, dass „Erneuerbare Energien … inzwischen in 85 Prozent der Märkte billiger [seien] als fossile“ (Pötter 2020, 9).
„Überlässt man dagegen alles dem Markt, kommt die Wende zu spät oder wird durch Monopolfirmen ausgebeutet“ (ebd.).
Solarenergie und Windkraft als Spielball politischer Bremsprozesse: Wir haben für so etwas keine Zeit mehr.
>> An dieser Stelle ist möglicherweise das Anschauen der positiven Videobotschaft ‚Imagine the Future‘ der Klimaaktivistin Xiye Bastida eine gute Idee? – siehe: https://youtu.be/GBeU6UZyPjY (Abrufdatum 1.7.2020)
Energywatchgroup (2018): „Neue Studie: 100% Erneuerbare Energie in ganz Europa ist kostengünstiger als das derzeitige Energiesystem und reduziert die Emissionen vor 2050 auf Null“. in: Energywatchgroup, 11.12.2018, online unter http://energywatchgroup.org/neue-studie-100-erneuerbare-energie-in-ganz-europa (Abrufdatum 3.7.2020)
Gesetzes- und Verordnungsblatt (2014): „Fundstelle GVBl. 2014 S. 478 / Gesetz zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und des Gesetzes über die behördliche Organisation des Bauwesens, des Wohnungswesens und der Wasserwirtschaft“. in: verkuendung-bayern.de, 20.11.2014, online unter https://www.verkuendung-bayern.de/gvbl/2014-478/ (Abrufdatum 7.4.2020)
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein.
Götze, Susanne (2020): „‚Das Budget der Lobbyisten wird immer größer‘“. [Alex Rühle interviewt Susanne Götze und Annika Joeres anlässlich der Buchveröffentlichung Die Klimaschmutzlobby – Wie Politiker und Wirtschaftslenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen]. in: Süddeutsche Zeitung, 29.5.2020, online unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/klimaschutz-klimawandel-lobbyismus-1.4921970 (Abrufdatum 19.6.2020)
Öko-Institut (2014): „Prüfung der klimapolitischen Konsistenz und der Kosten von Methanisierungsstrategien“. in: Öko-Institut, 3-2014, online unter https://www.oeko.de/oekodoc/2005/2014-021-de.pdf (Abrufdatum 1.6.2020)
Spiegel (2020): „Spiegel Streitgespräch: [Paul Dorfman:] ‚Veraltete AKW sind ein reales Risiko‘. [Staffan Qvist:] ‚Der Atomausstieg führt jedes Jahr zu über 1000 Toten‘“. in: Der Spiegel, 34/14.8.2020, S. 94-98.
Natur braucht einen Wert | CO2 braucht einen Preis
Ein wesentliches Grundproblem ist, dass Umweltverschmutzung in dieser Welt, wie sie zurzeit ‚funktioniert‘, keinen mathematisch unmittelbar messbaren Wert hat, sondern aus der Rechnung ausgeklammert wird:
Unternehmensgewinne werden eingestrichen – die zur Erzielung dieser Gewinne entstandenen Umwelt- und Klimaschäden werden i.d.R. von der Allgemeinheit getragen, d.h. ‚vergesellschaftet‘.
Man spricht hier von einer Externalisierung der Umweltkosten.
Das ist eine stillschweigende Subventionierung von umweltschädlichem Wirtschaften/Verhalten.
Das bedeutet auch, dass umweltschonendes Wirtschaften/Verhalten finanziell nachteilig wirkt.
Übersetzt auf Firmen bedeutet das, dass umweltschonendes Wirtschaften einen Wettbewerbsnachteil darstellt. (Ausgeglichen werden kann dieser jedoch durch Aufwertung des Images, der Marke, der Corporate Identity o.ä.)
Für Verbraucher*innen bedeutet das, dass man zurzeit i.d.R. mehr bezahlt, wenn man klimaschonend per Bahn nach Paris reist, als wenn man per Flugzeugdüse rund 0,5t CO₂ pro Person in die Luft schleudert, um dort hin- und zurück zu kommen.
…mehr
Die Zeit bringt das Beispiel eines Paares, dass 40 Euro pro Person für einen Hin- und Rückflug nach Málaga zahlt, derweil das Parkhaus, in dem ihr Auto für zehn Tage untergebracht ist mit 140 Euro zu Buche schlägt: „Manchmal zahlen die beiden auch nur das Parkhaus. Sie haben Vielfliegerkarten, sie besitzen ein Ferienhaus in der Nähe von Málaga“ (Ahr 2018).
Es folgt:
Natur braucht einen Wert. (vgl. Aspekt Inwieweit sich der Wert von Natur in Geld ausdrücken lässt ist hoch umstritten, S. 672f.)
Die Externalisierung von Kosten darf nicht länger möglich sein.
Wir brauchen ‚wahre Preise‘ oder auch: ‚Kostenwahrheit‘.
…mehr
Eine ‚kostenwahre‘ Welt ist eine nachhaltige Welt. Wahre Preise sorgen dafür, dass umweltschädliche Produkte die teuersten sind. Wenn man sich das mal an Beispielen so richtig klar macht, bekommt man ein Gefühl dafür, wie heftig der Status quo ist.
Die Menschheit braucht einen – wirkungsvollen – Preis für Umweltverschmutzung. Spezifisch auf die Klimakrise angewendet, liegt es hier nahe, CO₂ zu bepreisen.
Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, dazu:
„Wenn wir CO₂-Bepreisung hätten, dann würden die Preise im Supermarkt auch den CO₂-Gehalt reflektieren. Und dann, an der Kasse würden wir weniger bezahlen, wenn wir CO₂-freundlicher eingekauft hätten“ (Nguyen-Kim 2019).
Anders ausgedrückt:
„Wir übersetzen gewissermaßen Klimaschädlichkeit in Geld“ (ebd.).
So weit, so gut. Was die mit einem Wert bemessene Natur definitiv nicht gebrauchen kann, ist hingegen diesen Wert in einen weltweiten Handel mit Emissionsrechten zu übersetzen:
In Madrid (COP 25, Dezember 2019) wurde in erster Linie über einen solchen globalen Handel mit CO₂-Emissionsrechten verhandelt. Erfolglos. Zum Glück. Denn auf diese Weise könnten Länder durch (angeblich achtbare) Zertifikate den eigenen Klimaschutz hinauszögern. In der Zeit führt Petra Pinzler dazu aus:
„[D]urch einen lax geschriebenen Artikel 6… [könnte es] jede Menge Zertifikate geben, die ihr Geld nicht wert sind – weil die Projekte, durch die angeblich CO₂ eingespart werden sollten, nicht seriös sind.
Wenn Brasilien also beispielsweise in der einen Ecke den Urwald abfackelt, anderswo aber Wald anpflanzt – dann könnte es dafür Zertifikate bekommen und die weltweit verkaufen.
Deutschland wiederum könnte sie kaufen und damit ein Verbot des Verbrennungsmotors hinauszögern – weil es ja durch die Zertifikate angeblich weniger CO₂ in die Atmosphäre entlässt.
Es gab in Madrid noch irrere Ideen: Brasilien hätte gern Zertifikate verkauft, wollte die Einsparungen aber dennoch sich selbst gutschreiben. Diese wären dann also doppelt verbucht worden“ (2019).
Es ist also zu begrüßen, dass hier die EU angesichts eines zu lasch geplanten Art. 6 nicht eingeknickt ist und die Verhandlungen in diesem Punkt lieber vorerst scheitern ließ.
CO2-Zertifikate sind im weltweiten Maßstab nicht überprüfbar bzw. nicht zu kontrollieren – es ist gänzlich unrealistisch, auch gerade vor dem Hintergrund der drängenden Zeit.
Jedes Land soll ‚vor seiner eigenen Haustür kehren‘ und umgehend seine Hausaufgaben machen.
Der globale Handel mit Emissionsrechten würde auch bedeuten, dass Länder/Firmen der Industrienationen versuchen würden, dem Globalen Süden CO2-Zertifikate abzukaufen. Das hilft dem Planeten nicht, dem Globalen Süden nicht und trägt m.E. (neo-)koloniale Züge.
Quellen des Abschnitts Natur braucht einen Wert | CO2 braucht einen Preis
Nguyen-Kim, Mai Thi (2019): „Klimawandel: Das ist jetzt zu tun! (feat. Rezo)“. in: maiLab, 14.9.2019, online unter https://www.youtube.com/watch?v=4K2Pm82lBi8/ (Abrufdatum 30.9.2019)
Mit einem CO₂-Preis allein ist es indes bei Weitem nicht getan:
7 min – Wolfgang Lührsen: Pecha Kucha „Die Prinzipien der Transformation“, gehalten beim Ratstreffen des Zukunftsrates – Jedes Zehntel Grad, jede Art zählt: Die globale Umweltkrise als Chance, 16.2.2021 – https://youtu.be/HjREqZzN5Bs (Abrufdatum 12.01.2021)
Wir müssen ran an unser ökonomisches System
Überschrift eines 2018er Gastbeitrages des Soziologen Harald Welzer in der Süddeutschen Zeitung:
„Wer vom Klimawandel spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen.“
Grundlegende Erwägungen:
Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer weist angesichts der viel beschworenen Eigenheit des Menschen, immer mehr zu wollen, pointiert darauf hin, dass dies lediglich „Folklore“ sei – er meint wohl ‚unterkomplex‘. Es sei zu einfach, zu denken,
„es sei ‚der Mensch‘, der mittlerweile zu einer geologischen Kraft geworden sei und das Erdsystem nachhaltig aus dem Takt bringe“ (Welzer 2018).
Hieran stört Welzer die Perspektive eines vermeintlich unabänderlichen „kosmischen Verhängnisses“ (ebd.), das keine Verantwortlichen kenne.
Aber:
„Es ist erst der global verbreitete wachstumswirtschaftliche Kapitalismus, also eine historisch extrem junge Wirtschaftsform, der die gigantischen Zerstörungswirkungen entfaltet, die systemisch zu werden drohen“ (ebd.).
Auch Naomi Klein vertritt die Auffassung, dass es in erster Linie die aktuelle Ausprägung des Kapitalismus sei, die … jawohl: uns in die Scheiße geritten hat – und nicht der Mensch an sich. Womit der Buchtitel
This Changes Everything: Capitalism vs. Climate
(Titel des 2015er Grundlagenwerks zur Klimakrise von Naomi Klein)
viel Sinn macht.
>> vgl. dazu im Abschnitt Intro den Hinweis des SZ-Autors Matthias Kolb, dass „etwa die Hälfte des Kohlenstoffdioxids, dass die Menschheit jemals in die Atmosphäre geblasen hat, … in den vergangenen dreißig Jahren ausgestoßen [wurde]“ (2019, siehe S. 32), sowie im gleichen Abschnitt befindliche ‚universelle Kurve‘, die auf alle Bereiche unseres Lebens anzuwenden ist (S. 31).
Biodiversitäts- und Klimakrise bedeutet mehr als hellgrüne Politik im Sinne einer Energie-, Verkehrs- und Agrarwende plus den Kauf grünangestrichener Produkte.
Mitweltkrisenpolitik darf, kann und muss – entgegen der Altmaier‘schen Formel, die das Gegenteil behauptet (vgl. S. 228) – selbstverständlich auch auf Kosten von Wohlstand und Arbeitsplätze gehen – wo und in welchen Bereichen es notwendig ist.
Frage: Warum?
Antwort: Nun, weil es sonst irgendwann gar keine Arbeitsplätze und erst recht keinen Wohlstand mehr geben können wird.
Machen wir uns klar: Ohne eine konsequente Politik, die Wert auf Zukunftsfähigkeit und zukunftsfähige Arbeitsplätze legt, kommen wir nicht vom Fleck. Nicht vom Fleck kommen bedeutet am Ende genau das, wo wir nicht hinwollen: Keine Arbeitsplätze mehr und keinen Wohlstand.
„Was helfen die Jobs, wenn sie der Selbstzerstörung dienen?“ (Kopatz 2019, 41).
>> vgl. dazu Aspekt Sozialverträglichkeit als Nebelkerze, S. 243f.
Franz Alt führt dazu aus:
„Seit dreihundert Jahren glauben die Ökonomen, Geld sei die Basis allen Wirtschaftens. Es ist jedoch die Natur, die diesen Namen verdient und die Basis der Ökonomie bildet. Auf einer toten Erde zu wirtschaften macht wenig Sinn und bringt auch keine Jobs“ (2020, 98).
„Auf einem toten Planeten gibt es keine Jobs“ – „There are no jobs on a dead planet“ (Pötter 2020, 1 u. DGB 2017). | unsplash/Markus Spiske
Die taz bzw. der Deutsche Gewerkschaftsbund fassen das nochmals drastisch zusammen:
„Auf einem toten Planeten gibt es keine Jobs“ – „There are no jobs on a dead planet“ (Pötter 2020, 1 u. DGB 2017).
Machen wir uns nichts vor: In der anstehenden sozial-ökologischen Transformation wird es noch mehr als in Agenda 2010-Zeiten die Ausnahme sein, dass Bürger*innen jahrzehntelang in der gleichen Branche oder gar am immer gleichen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz arbeiten.
Wichtig ist
nicht so sehr der Bestand des branchenbeständigen Dauerarbeitsplatzes als vielmehr, dass es für möglichst viele Menschen angemessene Arbeitsplätze gibt. Daher macht es heute und künftig keinen Sinn mehr, über Arbeitsplatzverluste einer einzelnen Branche zu klagen.
diebranchenunabhängige Gesamtzahl der Arbeitsplätze (und ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE).
Sind wir mittlerweile nicht fast Alle irgendwie Quereinsteiger*innen? Und lebenslang Lernende?
Lassen wir das ‚Arbeitsplätze-Argument‘ weiterhin so unangefochten zu wie bisher, werden wir die Transformation nicht schaffen. Denn das Argument verhindert absolut den Umbruch. Ohne Perspektive. Jahr um Jahr. Die zeitliche Verzögerungspotenz liegt z.B. für Australien bei hundert Jahren:
„Der Überfluss an Rohstoffen, Öl und Gas, Eisenerz und Bauxit, war ein Segen für Australien, aber auch ein Fluch, weil er den Ehrgeiz, andere Industrien zu entwickeln, nicht gerade beförderte. 72 Prozent der australischen Exporteinnahmen kommen aus der Kohle, die Reserven würden wohl noch hundert Jahre reichen“ (Deininger 2020, 3).
Warten wir also 100 Jahre, bis sich das ‚Arbeitsplatzargument‘ von selbst erledigt?
Anmerkung
Über die klimatischen Bedingungen, unter denen in 99 Jahren die letzte Kohle aus dem Tagebau bzw. Stollen gekratzt würde, möchte ich lieber nicht so genau Bescheid wissen.
Guyanas Regierung wurde Hauke Goos zufolge gerade mit einem „Kolonialvertrag“ (2020) massiv über den Tisch gezogen, als es darum ging, zu welchen Bedingungen ExxonMobile künftig das vor gerade mal fünf Jahren entdeckte 200 Kilometer vor der Küste innerhalb der Hoheitsgewässer befindliche riesige Ölfeld auswerten wird.
Warten wir also Jahrzehnte, bis sich auch hier das in diesem Fall garantiert nicht guyanische, sondern US-amerikanische ‚Arbeitsplatzargument‘ von selbst erledigt?
…
Die so begonnene Liste könnte – branchenübergreifend geführt – ein ganzes Buch füllen.
Viel sinnvoller erscheint mir da doch der Fokus auf die Gesamtzahl von Arbeitsplätzen, die Einführung eines BGE und die sozialabgefederte Anwendung der Regel ‚Im Zweifelsfall für den innovativen Arbeitsplatz‘ zu sein.
Wenn die Sicherung der Arbeitsplätze von gestern die Zukunft der Kinder und die innovativen Arbeitsplätze von morgen gefährden, dann haben diese durch Weiterbildungen, Umschulungen, Angebot eines Zweitstudiums, Sozialmaßnahmen und Frühverrentung um- bzw. abgebaut zu werden.
Richard David Precht weist in einem Interview mit dem Spiegel im August 2020 darauf hin, dass gerade das Arbeitsplätzeargument ein Argument für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ist:
„Das Kernproblem ist, dass sich die Politik nicht viel traut, denn sie könnte Arbeitslose produzieren, ob beim Klimawandel oder der Digitalisierung. Das macht Politik erpressbar. Die beste Möglichkeit, aus dieser Falle herauszukommen, wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen.“
Die Biodiversitäts- und Klimakrise macht in allen Lebensbereichen tiefgehende Veränderungen unabdingbar: Erforderlich ist eine Orientierung an einem noch auszuhandelnden ‚menschlichen Maß‘. Zu Entwickeln ist eine ‚Kultur des Genug‘.
>> vgl. Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. oekom. >> vgl. Folkers, Manfred und Paech, Niko (2020): All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. oekom.
Precht ergänzt:
„Woher soll die ungeheure Menge an Energie kommen, die die Server der digitalen Zukunft verbrauchen? Unser ganzes Lebensmodell bedarf einer Inventur. Gefordert ist nicht weniger als ein neuer Gesellschaftsvertrag“ (2018, 46; s.a. Kalkulation zum Thema Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., S. 265ff.).
Das Intro des ‚Handbuch Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft‘ mit dem Punkt Ein ‚Weiter so‘ führt ins ‚Aus‘. ‚Business as usual = Death‘ wieder aufnehmend:
Wir alle, sowohl als Gesellschaft als auch als Individuen, werden uns und unser Verhalten stark zu ändern haben – Bernd Ulrich hält dazu in der Zeit treffend fest:
„Wenn es einen Weg gäbe, die Klimawende auch ohne grundlegende Veränderungen bei Produktion, Konsum und Mobilität zu bewerkstelligen, dann hätte die GroKo ihn sicher schon gefunden.“ (Ulrich 2019)
>> siehe dazu Aspekt Was ist politisch zu tun, S. 436, in Abschnitt Generationengerechte Politik für die Zukunft, S. 372.
Im Übrigen ist es angebracht einen Unterschied zwischen Überfluss- und Wohlstandsgesellschaft zu machen.
Es braucht immer ein*n Mutige*n, die/der die Wahrheit ausspricht – das bin jetzt mal zur Abwechslung ich selber. Für Deutschland auf den Punkt gebracht:
Wir haben den Überfluss, der uns nie zustand, loszulassen, um die Chance zu wahren, einen grundlegenden Wohlstand zu erhalten.
>> siehe dazu Abschnitt Was kann ich tun, S. 163 und dort Aspekt Unhaltbarer Lebensstil in Deutschland, S. 164.
Und genau das ist die Botschaft, die von einer/m (nicht grünen/linken) führenden Politiker*in den deutschen Bürger*innen mitgeteilt zu werden hat – bislang hat sich keine*r getraut.
Mit diesem eingeschenkten ‚reinen Wein‘ wäre endlich die Voraussetzung für eine politisch probate Diskussion und Durchsetzung von Notwendigkeiten zu Veränderungen in allen Lebensbereichen gegeben: Dann hätte man eine fundierte Basis, auf der man miteinander reden kann – und sicher auch mehr Verständnis/Einsicht/Interesse für Veränderungen.
Zurzeit gibt es (noch) eine stillschweigende Abmachung/Komplizenschaft zwischen weiten Teilen der Bevölkerung und den meisten Politiker*innen, eine gemeinsame Vogel-Strauß-Kopf-in-den-Sand-Taktik: Wir sitzen das Ding aus, machen Symbolpolitik – und ansonsten machen wir einfach weiter wie bisher.
Es bleibt am Ende die Frage, inwieweit deutsche Politiker*innen der älteren Semester rechts der (Dunkel-)Grünen die Dimension und Dringlichkeit der Biodiversitäts- und Klimakrise begreifen (wollen).
Und:
Mit ‚weniger Konsumieren, weniger Reisen, weniger Fleisch‘ ist es nicht getan. Unser Steigerungslogiken-basiertes ökonomisches System ‚funktioniert‘ nur dann, wenn wir ein HöherSchnellerWeiter-Leben im Überfluss führen, d.h. mehr konsumieren als notwendig, also: Überflüssiges kaufen, das nach zwei Wochen in der Ecke steht. Und weil das in diesem System notwendig ist, lobt der Staat auch umgehend ‚Abwrackprämien‘ u.ä. aus, um die Nachfrage künstlich hochzuhalten – und Menschen kaufen dann Autos, die sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht benötigen.
Wenn also unsere Wirtschaft nur ‚brummt‘, wenn Überfluss gelebt wird – und wenn wir diesen Überfluss loszulassen haben, um die Chance auf einen grundlegenden Wohlstand zu erhalten, folgt daraus logisch, dass wir unser derzeitiges ökonomisches System hin zu einem künftig weniger wachstumsorientierten Modell umzubauen haben.
Auch hierüber erfahren wir nichts von deutschen Politiker*innen. Wenn diese – insbesondere die Vertreter*innen der Union – hervorheben, es liege an den Bürger*innen selbst im Interesse des Klimaschutzes Vernunft walten zu lassen und weniger zu konsumieren, dann ist das schlicht eine Lüge, weil genau diese geforderte ‚Vernunft‘ im derzeitigen wachstumsorientierten Turbokapitalismus in die Rezession führen würde. Dieses Dilemma muss schnellstmöglich aufgelöst werden.
Jeff Daniels bzw. Will McAvoy hält dazu in The Newsroom fest:
„Der erste Schritt, ein Problem zu lösen, ist, zu erkennen, dass es eins gibt.“
Übersetzt auf die Biodiversitäts-/Klimakrise bedeutet das:
Ein erster Schritt, die Krise zu lösen, ist, zu erkennen und gegenüber den Bürger*innen zu benennen, dass das Dilemma ‚Vernunft = weniger Konsum = Rezession | mehr Konsum = ‚Klimakollaps‘ bzw. ‚Mass Extinction‘ nur durch einen grundlegenden Umbau des derzeitigen Wirtschaftsmodells hin zu einem weniger wachstumsorientierten Modell zu lösen ist.
Im 2018er Wir sind dran-Bericht vom Club of Rome ist dazu festgehalten:
„Dana Meadows lehrte uns: ‚Menschen brauchen keine riesigen Autos; sie brauchen Respekt. Sie brauchen keine überfüllten Kleiderschränke. Sie müssen sich attraktiv fühlen und sie brauchen Vielfalt, Schönheit, etwas Spannung. Menschen brauchen Identität, Gemeinschaft, Herausforderungen, Anerkennung, Liebe, Freude. Dies alles mit materiellen Dingen zu erfüllen, führt zu unstillbarem Appetit auf falsche Lösungen für echte Probleme. Die psychische Leere ist eine der Triebkräfte für den Wunsch nach materiellem Wachstum. Eine Gesellschaft, die ihre immateriellen Bedürfnisse artikuliert, sucht und findet auch immaterielle Wege, diese zu befriedigen. Sie benötigt dann viel weniger Rohstoffe und Energie, böte dafür aber höhere menschliche Erfüllung’“ (Meadows et al. 1992).
>> vgl. Ausführungen zum Aspekt Menschen sind soziale Wesen – und wollen vor allem eines: Sinnstiftung und Anerkennung, S. 386 in Abschnitt Glaubenssatz ‚Der Mensch ist im Grunde schlecht‘, S. 380.
Maja Göpel bringt es auf die Formel:
„Fragen wir doch ruhig mal andersherum: Was zum Beispiel brauchen wir denn unbedingt, wenn wir gut versorgt sein wollen?“ (2020, 127)
Quellen des Abschnitts Wir müssen ran an unser ökonomisches System
Alt, Franz (2020): Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt: Schützt unsere Umwelt. [Der Dalai Lama im Gespräch mit Franz Alt]. Benevento.
Daniels, Jeff (Rollenname: Will McAvoy), The Newsroom; im Original heißt es: „First step in solving any problem is recognizing there is one.” Sorkin, Aaron (2019): „The Newsroom Script Episode 1“. in: goodreads, online unter https://www.goodreads.com/work/quotes/23633463-the-newsroom-script-episode-1 2012/ (Abrufdatum 13.7.2019)
Deininger, Roman (2020): „War was? Australien rappelt sich gerade wieder auf nach diesem Sommer des Feuers. Aber wer glaubt, dass das Land sich verändert hat, kennt es nicht“. in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 44, 22./23.2.2020, S. 3.
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Meadows, Donella; Randers, Jörgen und Meadows, Dennis (1992): Beyond the Limits. Confronting global collapse. White River Junction: Chelsea Green. Auf Deutsch übersetzt zitiert in: Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2018): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloher Verlagshaus. S. 196.
Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. oekom.
Pötter, Bernhard (2020): „Made in Germany. For the future“. in: tageszeitung, 28.4.2020, S. 1.
Grundlegende Neuausrichtung von Politik und Gesellschaft
Man kann die Dinge aus einer anderen, proaktiven Perspektive denken:
Was soll sich in Deutschland lohnen: Was soll belohnt und gefördert werden? Und was nicht?
Gesundheit – oder: Krankheit
Ein gutes Leben für Alle – oder: ein luxuriöses Leben für Wenige
Ein Leben basierend auf den Menschenrechten – oder: ein Leben, das im Grunde genommen auf faktischer Sklaverei, Kinderarbeit und Menschenrechtsverletzungen basiert
CO₂-vermeidendes Leben – oder: zivilisationsaufkündigende CO₂-Prasserei
Parität – oder: Männer (Parität = Frauen sind gleichwertig an relevanten gesellschaftlichen, ökonomischen, und politischen Entscheidungen beteiligt, siehe Abschnitt Klima, Ökofeminismus und Parität, S. 423).
Dezentrale Lösungen à la Photovoltaik – oder: Großtechnologie
Bürger*innenstrom – oder: Konzernstrom
Bauen im Bestand und Umverteilung von bestehendem Wohnraum – oder: Neubau inkl. Bodenversiegelung und mehr Infrastruktur
>> Wenn man sich die Liste anschaut: Nichts ist, wie es sein sollte.
>> Aber: Die bessere Alternative ist nicht undenkbar, sondern vorhanden und: machbar.
Es geht hier um eine Grundsatzentscheidung, die dann ordnungspolitisch durch entsprechende Leitplanken und Normen begleitet werden kann. So wie es zurzeit in die falsche Richtung ordnungs-politisch durch entsprechende Leitplanken und Normen begleitet wird.
Details: Erläuterungen zu (1) 'Hygge'
1 Hygge meint den Zustand des bewussten, runterfahrenden, wertschätzenden Miteinander-Abhängens z.B. bei Kerzenschein und Tee, des Palaverns mit Freunden, ohne zu tief in konfliktreiche (z.B. politische) Themen einzusteigen – und beschreibt letztlich das Streben nach freier Zeit (Freizeit) und Zeit-Erleben (allein oder mit Vertrauten) ohne großen materiellen oder organisatorischen Aufwand; s.a. Portal LebeLieberLangsam Beitrag Hybris vs. Hygge / Hygge contra Hybris unter https://blog.lebelieberlangsam.de/hybris-vs-hygge-hygge-contra-hybris
Postfossile Gesellschaft und das Machtgefüge der Welt
In einer postfossilen Welt werden i.d.R. keine Kriege um Öl geführt. Die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft wird das globale Machtgefüge massiv verändern. Um zu illustrieren, wie viel Macht und umgekehrt Abhängigkeit das fossile Zeitalter – aber auch Krieg – mit sich gebracht hat, sei auf folgenden Aspekt hingewiesen:
„Konservativ geschätzt hat die USA zwischen 1999 bis 2003 allein für die Aufrechterhaltung ihrer militärischen Präsenz in der Golfregion 600 Milliarden Dollar aufgewendet“ (Rammler 2017, 53-54).
>> Rammler, Stephan (2017): Volk ohne Wagen. Streitschrift für eine neue Mobilität. Fischer, S. 53-54, siehe hier auch zur engen „Verbindung zwischen unseren treibstoffsüchtigen Automobilflotten und Militärapparaten und der jahrzehntelangen Destabilisierung des Morgenlandes durch neoimperiale Ressourcensicherungspolitik der westlichen Industrieländer“ (S. 48ff.).
Für 600 Mrd. Dollar kann man eine Menge Windräder bauen und Solarzellen installieren.
Das bedeutet zweierlei:
Die Welt hat die Chance, ohne diese Öl-Abhängigkeiten friedlicher zu werden.
Wenn jemand sagt, die Finanzierung des ökologischen Umbaus sei zu teuer – dann ist auf Basis obigen Zitats klar, dass diese Gelder zweifelsfrei vorhanden sind und wo die benötigten Mittel herkommen können. Sinnvolle Kriege gibt es nicht. In einer untergehenden Welt machen sie noch weniger als keinen Sinn.
>> siehe Aspekt Bundeswehr & Rüstung in ökologischer Perspektive, S. 81. >> s.a. Aspekt U.S. military greenhouse gas emissions, S. 89 im Abschnitt Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen, S. 83.
Fazit des einleitenden Abschnitts Was ist politisch zu tun?
Diese Frage überblicksartig beantwortend wurde darauf hingewiesen, dass
es der Internalisierung der bisher externalisierten Kosten u.a. in Form eines CO2-Preises bedarf, damit es sich nicht länger lohnt, die Umwelt und das Klima zu zerstören. Es bedarf der Kostenwahrheit.
wir unser ökonomisches System zu verändern haben, weil wir vom Überfluss fortkommen müssen, aber im derzeitigen Wirtschaftsmodell nur Überfluss eine Rezession verhindert.
das bisherige Arbeitsplatz-Argument aufzugeben ist zugunsten der Regel „Im Zweifelsfall für den innovativen Arbeitsplatz“.
eine Grundsatzentscheidung ansteht darüber, was sich künftig lohnen soll in unserer Gesellschaft – und was nicht.
die Welt eine Chance hat, ohne die alten Öl-Abhängigkeiten friedlicher zu werden.
Kommen wir zu konkreten politischen Zielen, die zeitnah umzusetzen sind, damit wir die Chance haben, überhaupt über eine künftige Zivilgesellschaft nachzudenken:
Konkrete politische Ziele
Fridays for Futures Forderungen vom April 2019 entsprechen den Vereinbarungen des 2015er Pariser Abkommens (korrekt: „Übereinkommen von Paris“ vom 12. Dezember 2015) – das bedeutet, dass Fridays for Future (FFF) lediglich das einfordern, was Deutschland ohnehin beschlossen hat – und damit, dass sich FFF ausschließlich auf Ziele berufen, zu denen sich Deutschland verpflichtet hat. Daher mutet es grotesk und mehr als verlogen an, wenn nun seit spätestens Anfang 2019 die Politik-Hühner im Hühnerstall erschrocken aufflattern und FFF-Forderungen als überzogen/unrealistisch/ utopisch bezeichnen.
…mehr
So betont auch der Spiegel, dass Thunberg für nichts Radikales einträte und bezeichnet ihre Forderungen im Gegenteil als „fast bieder“ (Gorris et al. 2019, 59).
Letztlich sind die Forderungen von FFF lediglich ein undezenter Reminder an die Regierung Merkel.
In Luisa Neubauers Worten:
„Was wir [als Fridays for Future] machen ist: Wir setzen uns dafür ein, dass die Bundesregierung selbst gesteckte Ziele einhält. Schon das ist absurd, dass wir dafür auf die Straße gehen müssen – das sollte selbstverständlich sein“ (Stern 2019).
Und:
„Wir sind in unserem Kern null radikal. Wir möchten, dass Politiker sich an eine unterzeichnete Vereinbarung halten. Das ist sehr unradikal“ (Kittlitz 2020).
FFF und Greta Thunberg sagen nichts weiter als: Hört auf die Wissenschaftler*innen und den Weltklimarat.
Vereinbarungen des Pariser Abkommens, die Fridays for Future unter Einhaltung des IPCC-1,5°-Zieles im April 2019 einfordern:
Nettonull 2035 erreichen = Klimaneutralität bis 20351
Kohleausstieg bis 2030
100% erneuerbare Energieversorgung bis 2035
(sog. ‚Dekarbonisierung‘)
Subventionen-Stopp für fossile Energieträger bis Ende 2019
Abschaltung von 1/4 aller Kohlekraftwerke bis Ende 2019
Einführung einer CO₂-Steuer auf alle Treibhausgas-Emissionen. Zügige Preisentwicklung hin zu 180 Euro pro Tonne CO₂ – in Übereinstimmung mit den Vorstellungen des Umweltbundesamtes (nicht zu verwechseln mit dem Umweltministerium) (vgl. FFF 2019 u. Spiegel 2019a).
Details: Erläuterungen zu (1)
vgl. Aspekt Nationales CO₂-Budget (Deutschland), S. 64. Diese 15 Jahre – der Zeitpunkt ab dem unsere Wirtschaft und auch alle übrigen Lebensbereiche dekarbonisiert zu sein hat, also sich unser Leben um 180° gedreht haben muss – können nur Menschen, die ausschließlich in Quartalszielen denken, lang vorkommen.
Diese Ziele sind wünschenswert und ihre Umsetzung würde selbstredend einen großen Schritt nach vornbedeuten.
Doch: Neben diesen auf eine Energiewende zielenden Forderungen und Zielen ist zweifellos auch in anderen Bereichen – eine tiefgehende Umgestaltung unseres Lebensstiles erforderlich.
Eine grundlegende Mobilitätswende, die nicht nur auf einen Austausch des Antriebssystems von Pkw setzt, ist erforderlich. Eine reelle Verkehrswende schließt die Umstellung von Privatbesitz-Pkw-Individualverkehr (MIV) auf multimodale Sharing-Verkehrssysteme unter Betonung von Schiene, Zweirad und ÖPNV mit ein >> siehe Abschnitt Verkehr & Mobilität: Eine Klima-notwendige Mobilitätswende, S. 294ff.
Die Analyse des Handbuches Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft ergibt, dass das Ende des Luftfahrt-Massentourismus, wie wir ihn kennen, erforderlich ist >> siehe Abschnitt Klimakiller Flugverkehr, S. 252ff. und hier insbesondere Aspekt Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., S. 265ff.
Kreuzfahrten sind – so sie Zubringerflüge beinhalten – der ‚ökologische Doppelschlag‘ >> siehe Abschnitt Der ökologische Doppelschlag: Kreuzfahrten, S. 288ff.
Eine grundlegendeAgrarwende beinhaltet die Prioritätensetzung auf Bodenerhaltung, Humus-Aufbau, Bewahrung der Biodiversität und Qualitätswahrung des Trinkwassers. Daraus ist zu folgern, dass
nur Bio die Welt dauerhaft ernähren kann, allein schon deshalb, weil wir sonst bald keine Böden mehr haben, auf denen etwas wächst >> siehe Abschnitt Ernährung der Weltbevölkerung, S. 620f. – und
die konventionell-industrielle Landwirtschaft und die CO2-emittierende konventionelle Massentierhaltung tiefgreifend umgewandelt zu werden haben zu Gunsten der bodenbewahrenden Agrarkultur >> siehe Abschnitte Fleisch & Treibhausgase, S. 549ff. und Landwirtschaft, S. 567ff.
Eine umfassende, sämtliche Lebensbereiche umwälzende sozial-ökologische Transformation (SÖT) unter Einschluss der Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) – vergleichbar in ihrem Ausmaß „mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit“1 (Schnabel 2018, 22) >> siehe Abschnitt Ideen für eine nachhaltige Zukunft, S. 484ff, Aspekt neuer Generationenvertrag, S. 485f. sowie Abschnitt Zusammenfassung, Aspekt SÖT, S. 680.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Precht hebt hier zusätzlich den Aspekt der vierten industriellen Revolution (Digitalisierung) hervor und merkt an: „Noch nie in der Geschichte hat eine gewaltige technisch-ökonomische Revolution nicht zu einer großen Veränderung und Neuerfindung der Gesellschaft geführt (2018, 107, Hervorhebung Precht). Auch Precht bedient sich bei der Dimensionierung des Ausmaßes der Transformation des Vergleiches ‚Mittelalter – Übergang in die Neuzeit‘, vgl. 2018, 11.
Noch einmal zurück zu FFF. Die Umsetzung der zuvor o.a. FFF-Ziele würde auf jeden Fall einen großen Schritt nach vorn bedeuten – aber:
Sie, die Ziele von FFF kratzen indes nicht am neoliberalen Wachstumsdogma, Finanzialismus, Extraktivismus (=übermäßige Ressourcenausbeutung) und auch nicht am globalen Turbo-Kapitalismus inkl. dem Neo-Kolonialismus dieser Tage.
Dieses Handbuch Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft verdeutlicht mindestens, dass die Vereinbarungen des Pariser Abkommens, die Fridays for Future unter Einhaltung des IPCC-1,5°-Zieles einfordern, keine radikalen Maximalanforderungen für die Bewältigung der Klimakrise, sondern vielmehr die allerunterste Kante der tatsächlich notwendigen Maßnahmen darstellen.
Warum das so ist? Nun, dazu ist herauszustellen, wo wir nach Unterzeichnung und dem derzeitigen Stand der Umsetzung des Pariser Abkommens stehen:
Zurzeit befindet sich die Menschheit tatsächlich auf einem ‚drei bis vier Grad Celsius-Pfad‘ bis 2100 (vgl. Spiegel 2019b, Spiegel 2019c, Spiegel 2019e).
Der neueste Unep-Bericht der UNO vom November 2019 wird im Spiegel wie folgt analysiert:
„Wenn die Weltbevölkerung so weiterlebe wie aktuell, droht die Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts um bis zu 3,9 Grad statt wie angestrebt um nur 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu steigen. Selbst wenn alle Staaten ihre derzeit zugesagten Beiträge zum Klimaschutz auch wirklich erbringen, werden demnach 2030 noch immer 32 Gigatonnen CO₂ zu viel ausgestoßen, um das 1,5-Grad-Ziel erreichen zu können“ (Spiegel 2019e).
Originaltext des Unep-Berichts: „Assuming that climate action continues consistently throughout the twenty-first century, a continuation of current policies would lead to a global mean temperature rise of 3.5 °C by 2100 (range of 3.4–3.9 °C, 66 per cent probability). This corresponds roughly to a tripling of the current level of warming as assessed by the IPCC (2018)“ (Unep 2019).
Mit anderen Worten: Wir haben da derzeit ein überaus umfassendes CO₂-Gap, das dringend vermieden bzw. abgebaut werden muss.
Graeme Maxton weist ebenfalls explizit darauf hin, dass ‚Paris‘ nur ein Anfang sein kann:
„Auch das Pariser Abkommen wird eine Klimakatastrophe nicht abwenden, nicht einmal dann, wenn sich jedes Land an seine zugesagten Emissionengrenzen halten würde. Die globale Durchschnittstemperatur würde bis zum Ende des Jahrhunderts dennoch um 3 °C steigen“ (2018, 38).
In diesem Sinne fordern im November 2019
„mehr als 11.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 153 Ländern … mehr Klimaschutz. Im Fachjournal BioScience (Ripple et al., 2019) konstatieren sie, ohne grundlegendes Umsteuern sei ‚unsägliches menschliches Leid‘ nicht mehr zu verhindern. Fast drei Viertel der 184 Zusagen zum Einsparen von Treibhausgasen, die Länder im Rahmen des Pariser Abkommens eingereicht haben, sind demnach nicht ehrgeizig genug. ‚Aus den vorliegenden Daten [und ohne weitere, ehrgeizige Zusagen] wird klar, dass ein Klima-Notfall auf uns zukommt‘“ (Zeit 2019).
Im Spiegel ist dazu zu lesen:
„Gemessen am Ziel, den Ausstoß von klimaschädlichen Substanzen bis 2030 um mindestens 40 Prozent zu reduzieren, seien nur die 28 EU-Staaten und sieben weitere Länder auf Kurs… Die Forscher fordern … Veränderungen vor allem in sechs Bereichen…[, darunter auch eine] nachhaltige Veränderung der Weltwirtschaft…“ (2019d).
Wie heftig die Staaten derzeit die Ziele von Paris verfehlen wird auch daran deutlich, dass laut dem Think Tank Carbon Tracker nicht einmal im Jahr 2020, „diesem historischen [Covid-19-]Krisenjahr [mit einer voraussichtlichen bundesdeutschen BIP-Schrumpfung von 6,3 Prozent] …, der weltweit CO2-Ausstoß NICHT so schnell [sinkt], wie es nach dem Pariser Klimazielen notwendig wäre“ (taz 2020, 8, Hervorhebung taz).
Wenn die jährlichen Klimakonferenzen weitgehend wirkungslos bleiben, eine allgemein zu große Passivität herrscht, wenn also ‚Paris‘ zu spät kommt, das hier beschlossene nicht ausreicht und nicht mal das nicht ausreichende umgesetzt wird, dann ist es verständlich, dass
„afrikanische Delegierte auf den UN-Klimakonferenzen … von ‚Genozid‘ [sprechen], wenn sie das kollektive Versagen beim Thema Emissionssenkungen beschreiben.
Und aus diesem Grund sagte Mary Ann Lucille Süring, Chefin der philippinischen Climate Change Kommission, auf dem Gipfel von 2013 in Warschau:
‚Ich habe allmählich das Gefühl, dass wir darüber verhandeln, wer leben und wer sterben soll‘“ (Klein 2015, 336).
Dass wir nach Unterzeichnung und dem derzeitigen Stand der Umsetzung des Pariser Abkommens noch nicht ausreichend vorankommen, verdeutlichen auch der sog.
Earth Overshoot Day und die Planetaren Grenzen
Definition ‚Earth Overshoot Day‘
Als ‚Erdüberlastungstag‘ wird das Datum eines Jahres bezeichnet, an dem die Menschheit die planetaren Grenzen überschreitet, d.h. den Zeitpunkt, an dem wir uns mehr nehmen, als uns im Interesse unserer nachfolgenden Generationen zusteht; der Tag, ab dem wir die Ressourcen übernutzen.
„Jede*r Gärtner*in weiß, dass man nicht mehr einbringen kann, als auch wächst“ (Göpel 2020, 28).
Das Konzept diesen Namens stammt aus dem „Jahre 2009 von einer Gruppe von 28 renommierten Wissenschaftlern unter der Leitung von Johan Rockström und Will Steffen“ (Weizsäcker et al. 2019, 44) und wurde 2015 überarbeitet bzw. aktualisiert. Es zeigt in einem Kuchendiagram die neun planetaren Grenzen, die als „planetarische Lebenserhaltungssysteme“ (ebd.) definiert werden:
Stratosphärischer Ozonabbau | Verlust der Biodiversität und Artensterben | Chemische Verschmutzung und Freisetzung neuartiger Verbindungen | Klimawandel | Ozeanversauerung | Landnutzung | Süßwasserverbrauch und der globale hydrologische Kreislauf | Stickstoff und Phosphor fließen in die Biosphäre und Ozeane | Atmosphärische Aerosolbelastung (ebd., 44-45).
Grün markiert sind einzig der Abbau der Ozonschicht, die Versauerung der Meere und der Süßwasserverbauch, die also derzeit sicher unterhalb der Belastungsgrenze liegen.
Grau unterlegt sind die Verschmutzung durch Chemikalien, funktionale Vielfalt der Biosphäre, Luftverschmutzung, was bedeutet, dass die Belastungsgrenzen noch nicht quantifiziert ist – also der Zustand unklar ist.
Gelb markiert, d.h. innerhalb des Unsicherheitsbereiches mit einem zunehmenden Risiko sind Klimawandel und Landnutzungsänderungen.
Rot markiert ist der Phosphorkreislauf, der damit jenseits des Unsicherheitsbereichs ist und ein Hochrisiko darstellt.
Rot markiert, aber darüber hinaus über die äußeren Grenzen des Diagramms hinausreichend, sind sowohl die genetische Vielfalt als auch der Stickstoffkreislauf graphisch dargestellt (Beschreibung folgt ebd., 45).
Kate Raworth ‚Donut-Modell‘, visualisiert per: CC SA 4.0 by Apfelsamen
2012 ergänzte die Oxam-Mitarbeiterin und Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth das Modell um einen Innenraum bzw. inneren Kreis, der aus dem zuvor nur nach außen gerichteten Kreis-Diagramm visuell gesehen einen Donut machte, sodass tatsächlich vom ‚Donut-Modell‘ die Rede ist:
Die nach innen gerichteten Balken des so ergänzten Modells bilden zusätzlich zu dem Zustand der o.g. planetaren Obergrenzen die sozialen Untergrenzen an, d.h. den Grad an Mangel der sozialen bzw. gesellschaftlichen Grundlagen ab, konkret die Parameter Nahrung, Gesundheit, Bildung, Einkommen und Arbeit, Frieden und Gerechtigkeit, Politische Teilhabe, Soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung, Wohnen, Netzwerke, Energie und Wasser.
Der vom Global Footprint Network berechnete sog. Earth Overshoot Day, welcher 2020 übrigens auch schon 50 Jahre alt wird, zeigt die atemberaubende Dringlichkeit des Handelns:
Wir haben nur eine Erde. Wir leben auf ihr, als gäbe es einen Planeten B, C, D etc.
1971 war es erstmals soweit: Am 21. Dezember begannen die Menschen mehr Ressourcen zu verbrauchen, als ihnen für das Jahr zur Verfügung stand (vgl. Greenpeace 2018).
„Die Wahrheit lautet, wenn wir in sinnvollen ökologischen Grenzen leben wollen, müssten wir zu einem Lebensstil zurückkehren, wie wir ihn in den 1970er Jahren hatten.“ (Klein 2015, 117)
Ja, warum eigentlich nicht? Auf dem technologischen Niveau und mit der gesellschaftlichen Offenheit von heute – mit der relativen Ruhe von 1975.
Ich kann daran absolut nichts Abstoßendes erkennen. Und erst recht nicht, wenn ich an die Alternative denke. Aber Vorsicht: Diese Option hat ein Verfallsdatum, und dieses ist zeitlich nicht mehr weit entfernt.
CC SA 4.0 by Footprint123
Earth Overshoot Day 2019 = 29. Juli. Wir nutzen die Ressourcen, als gäbe es 13/4 Erden.
>> Covid-19 sorgt dafür, dass der Overshoot Day 2020 drei Wochen später liegt als erwartet, d.h. am 22.8. (vgl. Röseler 2020, 9).
Das bedeutet, dass eigentlich an diesem Datum sämtliche Lichter ausgehen müssten für den Rest des Jahres.
Das Global Footprint Network schreibt dazu:
„Der Earth Overshoot Day (oder Erdüberlastungstag) markiert das Datum, an dem der jährliche Bedarf der Menschheit an Natur das übersteigt, was die Ökosysteme der Erde im ganzen Jahr regenerieren können. Der Earth Overshoot Day hat sich in den letzten 20 Jahren um zwei Monate vorgeschoben. Der 29. Juli ist der frühste Earth Overshoot Day in der Menschheitsgeschichte. Zum ersten Mal hat die Welt in den frühen 1970er Jahren die globale Grenze überschritten. Mittlerweile nutzt die Menschheit die Natur derzeit 1,75-mal schneller, als sich Ökosysteme regenerieren können. Damit können wir auch sagen, dass die Menschheit von 1,75 Erden lebt. Diese Übernutzung, oder Raubbau, ist möglich, weil wir das natürliche Kapital unseres Planeten liquidieren (und entsprechend Reserven abbauen) können und damit seine zukünftige Regenerationsfähigkeit untergraben“ (GFN 2019).
CC SA 4.0 by Footprint123
Daneben sind solche Angaben auch auf einzelne Nationen herunterbrechbar:
Der deutsche Erdüberlastungstag lag 2019 auf dem 3. Mai.
Die Deutschen leben so, als gäbe es drei Erden.
Würden alle Menschen so leben wie wir, dann müsste es drei Erden geben.
„Die Menschen hierzulande leben ab dem 3. Mai daher auf Kosten kommender Generationen und der Menschen im Globalen Süden, die deutlich weniger verbrauchen, aber stärker von den ökologischen Folgen betroffen sind“ (Germanwatch 2019).
„An jedem Tag, der danach[, d.h. ab dem Earth Overshoot Day] kommt, nehmen wir bei der Natur einen Kredit auf, den wir nicht zurückzahlen, und haben im nächsten Jahr noch weniger Umwelt zur Verfügung als je zuvor… [Und:] Der Exportweltmeister importiert im großen Stil Natur und Ressourcen aus anderen Ländern“ (Göpel 2020, 28).
USA = 5 Erden | Großbritannien = 2,7 | Frankreich = 2,7 | China = 2,2 (vgl. ebd.)
„Mit jeder Grenze, die man Amazon-Kunden, SUV-Fahrern oder Fast-Food-Junkies jetzt nicht aufzeigt, wird die Zeit bis zur Sintflut kürzer.“ Jan Freitag in der Zeit, 2018
Daneben gibt es als Maß unseres Handelns noch die Doomsday Clock, den älteren unter den Leser*innen vielleicht noch als ‚Atomkriegsuhr‘ bekannt. Diese Uhr spielt mit dem Bild, dass es ‚Fünf vor 12‘ sei.
„1947 wurde sie mit der Zeigerstellung sieben Minuten vor zwölf gestartet und seither in Abhängigkeit von der Weltlage vor- oder zurückgestellt. Seit dem 25. Januar 2018 stand sie auf zweiMinuten vor zwölf. Am 24. Januar 2020 teilte das Bulletin of the Atomic Scientists mit, die Uhr auf 100 Sekunden vor Mitternacht umgestellt zu haben“ (wikipedia 2020, Hervorhebungen wikipedia).
So stand diese Uhr 1953 auf 2 Minuten vor 12, als sowohl die USA als auch die Sowjetunion erstmals innerhalb weniger Monate jeweils Wasserstoffbombentests unternahmen; zur Zeit des Kalten Krieges war dies hinsichtlich der Atomkriegsuhr ein einmaliger Rekord. Seit den 2000er Jahren rückt die Zeit immer näher an die 12 – aber erst 2019 erreichte sie nach 1953 erneut wieder die 2 Minuten. Bislang hatte man den Zeiger jahrzehntelang nur ganze Sekunden vor- und zurückschreiten lassen; sie auf 100 Sekunden vorzustellen besitzt daher schon eine gewisse Symbolkraft (vgl. wikipedia 2020 u. Spiegel 2020).
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein.
GFN (2019): „Earth Overshoot Day: Der diesjährige Earth Overshoot Day fällt auf den 29. Juli, das früheste Datum in der Geschichte der Menschheit“. in: Global Footprint Network, 6/2019, online unter https://www.overshootday.org/newsroom/press-release-june-2019-german/ (Abrufdatum 29.1.2020)
Gorris, Lothar et al. (2019): „Das Mädchen mit der roten Pille“. in: Der Spiegel, 40/28.9.2019, S. 56-62.
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2019): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Pantheon.
Die Zwillingskrise ‚Klima/Artensterben‘ kann auch als Chance betrachtet werden: Anders zu leben. Weltweit. Ohne Sweatshops, ohne faktische Sklaven: Mit einem besseren Leben für Alle. Wir brauchen diesen übersteigerten neoliberalen Finanzialismus-Turbokapitalismus nicht. Wir können auch anders.
Wir müssen auch anders: Die Krise – die drohende Katastrophe – macht ein umfangreiches Umschwenken der Menschheit erforderlich. Und das bietet die Chance, grundlegende Aspekte unseres globalen Zusammenlebens zu verändern, z.B. bezogen auf
unser Wirtschaftsmodell
unsere Art zu arbeiten und zu leben und
unser weltweites Finanz- und Bankensystem.
Diesen drei Aspekten ist dieser Abschnitt gewidmet.
Globale Umweltkrise als Chance: Unser Wirtschaftsmodell verändern
Zunächst haben wir als Realität anzuerkennen, dass wir nicht länger in einer ‚leeren Welt‘ leben – auf deren Basis immer noch sehr viele Menschen argumentieren –, sondern in einer ‚vollen Welt‘ mit definierten planetaren Grenzen (vgl. Göpel 2020a, 29-30 u. Weizsäcker/Wijkman 2019, 110f.).
Für Konzepte für weitergehende Maßnahmen Deutschlands und der EU betreffend die grundlegenden Aspekte unseres Zusammenlebens bedarf es glücklicherweise bzw. bezeichnenderweise zunächst keinerlei Forschung. Beispielsweise könnten die wissenschaftlichen Beiräte der Bundesregierung wie z.B. der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen und der Sachverständigenrat für Umweltfragen und sowie das Umweltbundesamt problemfrei und easy aus der Hüfte geschossen innerhalb von zwei, drei Wochen alle benötigten Informationen aus ihren bisher von der Bundesregierung weitgehend ignorierten Datensätzen zusammentragen und präsentieren: Das ganze Wissen ist bereits vorhanden, die Konzepte sind da – um ausprobiert zu werden.
6min: Kurzfilm Wirtschaft ist Care. Wir wirtschaften für ein gutes Leben für alle. Der Mensch steht im Zentrum – und nicht Geld. s.a. https://wirtschaft-ist-care.org/ (Abrufdatum 28.3.2022)
Darüber hinaus gibt es weltweit eine ganze Menge Menschen, Gruppen und Institutionen mit Ideen und Konzepten, wie wir die künftige Wirtschaft lokal, regional, national und global gestalten können. Diese per Trial & Error umzusetzenden Ideen1 verbergen sich hinter Begriffen wie Postwachstumsökonomie, Gemeinwohlökonomie2, Suffizienz3, Degrowth, Wellbeing Economy4, Transition Towns5, aber kleiner gedacht auch hinter Stichwörtern wie Urban Gardening, Solawi (=solidarische Landwirtschaft), Tauschkisten, Repair-Cafés…6
Details: Erläuterungen zu (1) bis (6)
1 Es gibt nicht das eine Konzept – und das ist auch gut so. Die derzeitige Ausprägung des Kapitalismus ist auch nicht an einem Tag am Reißbrett entstanden, sondern hat sich per Trial & Error nach und nach entwickelt und entwickelt sich täglich weiter, vgl. S. 217.
2 Gemeinwohlökonomie (GWÖ) bezeichnet alternative, ethische Wirtschaftsmodelle, bei denen sich Unternehmen am Gemeinwohl, an Kooperation und an den Bedürfnissen des Gemeinwesens orientieren und dies in einer jährlichen Gemeinwohl-Bilanz dokumentieren.
3 Paech merkt hier treffend an, dass „Suffizienz … die chronische Additionslastigkeit [vermeidet], mit der Nachhaltigkeitsdefizite im Kontext des ‚grünen‘ Wachstums, basierend auf Effizienz und Konsistenz, verarbeitet werden. Sie dringt insofern bis zu den Ursachen vor, als sie sich nicht unter den Vorbehalt stellen lässt, dass unverantwortbare Handlungsmuster und Objekte erst dann aufzugeben seien, wenn für sie ein aus Sicht der betroffenen Akteure und Schadensverursacher adäquater Ersatz geschaffen worden ist (Folkers/Paech 2020, 143). In anderen Worten: Grünes Wachstum bedeutet durch eine Gleichzeitigkeit konventioneller und progressiver Waren/Angebote/Produkte/Dienstleitungen grundsätzlich ein Mehr – wenn etwa sowohl konventionelle als auch energieeffiziente Baustoffe gleichzeitig im Markt befindlich sind, sind parallele Infrastrukturen vorhanden. Wenn man sich hingegen als Gesellschaft bewusst für ein Weniger (Suffizienz) entscheidet, fallen solche sich aus dem ‚Grünen Wachstum‘ ergebenen Faktoren weg. Weil man Ansprüche aufgibt, fallen von heute auf morgen Dinge einfach ersatzlos weg.
4 Die Wellbeing Economy ist eine Politik, die sich an den Bedürfnissen des Menschen (und seiner Mitwelt) orientiert. In Ablehnung des BIP gibt es in diesem Ansatz das Wellbeing Budget, welches die Lebensqualität (meist in Anlehnung an die Agenda 2030) umfassend und ganzheitlich misst mit dem Ziel „der Verbesserung des gesamtgesellschaftlichen Wohlbefindens“ (wikipedia 2020d). „Zusätzlich erlaubt das Framework den Regierungen zu prüfen, ob der heutige Wohlstand auf Kosten des Wohlstandes von künftigen Generationen erzielt wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Wellbeing Budgets ist die Wirkungsmessung der zur Zielerreichung eingesetzten Maßnahmen. So soll ein Prozess mit Feedbackschleifen, Politikanpassung und -verfeinerung entwickelt werden bei dem die Maßnahmen laufend angepasst werden, um der Zielerreichung näher zu kommen. Schließlich soll ein Wellbeing Budget Gegenstand einer fortwährenden öffentlichen Debatte sein. Der Einbezug aller Beteiligter und Betroffener – wie der Zivilgesellschaft, der Unternehmen und der politischen Entscheidungsträger – soll es ermöglichen, einen breit abgestützten Konsens darüber zu finden, welche Ziele sich eine Gesellschaft setzt“ (ebd.). Seit Mai 2019 gibt es in Neuseeland das weltweit erste Wellbeing Budget. Auch Schweden und Island sind auf dem Weg, ein solches Konzept der Wohlfahrtsmessung einzuführen (vgl. ebd.; s.a. https://wellbeingeconomy.org/ (Abrufdatum 28.8.2020). Bemerkenswert und wohl eher kein Zufall: Sowohl Schweden, Neuseeland als auch Island haben mit Stand Sommer 2020 bemerkenswert Frauen-geprägte Regierungen bzw. in letzteren beiden Fällen konkret Regierungschefinnen.
5 Selbstdarstellung: „Im Rahmen der Transition Town Bewegung (übersetzt etwa ‚Stadt im Wandel‘) gestalten seit 2007 Umwelt- und Nachhaltigkeitsinitiativen in vielen Städten und Gemeinden der Welt den geplanten Übergang in eine postfossile gemeinschaftlich organisierte Gesellschaft und relokalisierte Wirtschaft. Initiiert wurde die Bewegung u. a. von dem britischen Permakulturalisten Rob Hopkins gemeinsam mit seinen Studierenden des Kinsale College of Further Education in Irland“ (Transition Initiativen 2020).
6 vgl. dazu Abschnitt Was kann Ich tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten, S. 169ff., Aspekt Für Fortgeschrittene, S. 190f.
Ein wesentliches Messinstrument des bisherigen Wirtschaftsmodells ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das vorgibt die Wirtschaftsleistung zu messen.
Details: Erläuterungen zu (1) bzgl. BIP
Denkbar ist also, dass ein aufgrund einer Katastrophensituation wirtschaftlich schlechtes Jahr, durch Investitionen, Aufträge und Maßnahmen – d.h. wirtschaftliche Aktivitäten zur Beseitigung der Katastrophe –, das BIP in Rekordhöhen wachsen lassen könnte, obwohl halb Deutschland arbeitslos und die Hälfte der Geschäfte geschlossen.
Dass das BIP eben auch negative, schadensbeseitigende Investitionen misst1 – z.B. die Reinigung von Stränden nach Öl-Katastrophen –, ist allgemein bekannt. Maja Göpel fügt hinzu:
„Die versteckten Kosten dessen, was wir durch die Ernährung, wie wir sie jetzt gestalten, eigentlich alles in Kauf nehmen, an den Gesundheitskosten, an der Zerstörung der Ökosysteme … Wenn man das alles mal volkswirtschaftlich bilanziert, ist das häufig gar nicht so ein goldenes Bild, was wir da immer noch Wachstum nennen, sondern das entsteht als eine Fortschrittsgeschichte, weil wir einen Teil der Kosten ganz systematisch ignorieren“ (2020b).
Weil ‚Natur‘ für sich genommen (bislang) keinen messbaren Wert zuerkannt hat, nicht in die ‚Rechnung‘ eingeht und daher auch nicht unmittelbar für sich genommen Wachstum generiert, steht die ‚Natur‘ von Fall zu Fall dem BIP-orientierten Wachstum im Weg:
„‚Es ist die Tragik der Moderne, dass wir auch gut funktionierende Dinge nicht so lassen können, wie sie sind, weil es das Wachstum schmälert‘, sagt Göpel. Ihr Lieblingsbeispiel sind die Bienen. Sie bestäuben Pflanzen kostenlos. ‚Das ist toll, aber so richtig verdient daran niemand‘, so Göpel. ‚Verkauft eine Firma jedoch Roboterbienen1, die den Job nach dem Bienensterben übernehmen, wächst das Bruttosozialprodukt‘“ (zit. in Jung/Schießl 2020).
Der US-Politiker Robert Kennedy während des Vorwahlkampfes zur US-Präsidentschaft, 1968:
„Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht“ (zit. in Pfister 2011).
Details: Erläuterungen zu (1)
Maja Göpel erwähnt an andere Stelle, wer Auftraggeber für die Erfindung einer Roboterbiene ist und das ein Patent für eine beantragt hat: Walmart (vgl. 2020a, 38).
Eine Abkehr vom BIP zugunsten eines mehr an einem progressiven Wohlstandsbegriff orientierten Maßes ist daher erforderlich.
Die Frage ist, inwieweit eine einzelne Kennzahl überhaupt in der Lage ist, das (dann noch zu definierenden) Wohlbefinden von Bürger*innen eines Staates etc. abbilden kann.
„Viele einschlägige Forscher wollen … [inzwischen] mit einem ‚Armaturenbrett‘ voller verschiedener Werte operieren. Für Klima und Natur, Arbeit und Bildung, Verteilung und andere Gerechtigkeitsfragen“ (Heuser/Pletter 2020,22). Das BIP wäre dann nur noch ein Wert von mehreren. Bei der OECD ist mittlerweile „das wohl ausgefeilteste Armaturenbrett … [mit] elf Indikatoren [entstanden]: Einkommen und Wohlstand, Arbeit und deren Qualität, Wohnen, Gesundheit, Wissen und Fähigkeiten, Umweltqualität, subjektives Wohlbefinden, Sicherheit, Work-Life-Balance, soziale Beziehungen und ziviles Engagement“ (ebd.).
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„Die Marktfreunde fürchten, dass ein sogenannter alternativer Index eine linksalternative Politik fördert“ (Heuser/Pletter 2020, 22). Ich möchte ergänzen: Ich fürchte, dass der jahrzehntelange einseitige Fokus auf das BIP den Marktfundamentalismus und damit letztlich die gesamten negativen Folgen inkl. Klimakrise und sechstes Massenaussterben massiv befördert hat.
>> s.a. Aspekt Wellbeing Economy, Fußnote auf S. 454
Ein zutreffenderes Maß als das BIP könnten auch die Konzepte der o.g. Gemeinwohlökonomie (GWÖ) einbringen. Ein wesentlicher Kopf hinter diesem Ansatz ist Christian Felber, der u.a. mit der Gemeinwohl-Bilanz eine alternative (zurzeit unter den gegebenen Umständen eher eine zusätzliche, ergänzende) Methode der Bilanzierung von Unternehmen entwickelt hat:
„Maximal 1.000 Punkte kann ein Betrieb in der Gemeinwohl-Bilanz erreichen. Die Sparda Bank kommt auf 602 Punkte, die Krankenkasse BKK ProVita schafft 790 Punkte. Rund 400 Unternehmen lassen sich mittlerweile nach solchen Richtlinien durch externe Auditoren testieren“ (Jung/Schießl 2020).
Dem Gemeinwohl-Prinzip verwandet ist die Genossenschaft.
Die einfachste und seit langer Zeit sehr erfolgreich umgesetzte Art, um Wirtschaft anders zu gestalten, ist die: Genossenschaft.
Fahren wir den Finanzialismus zurück und fördern wir massiv privatrechtliche Betriebe/Unternehmensformen, die keinen Gewinn im eigentlichen Sinne machen können – und wir sind da, wo wir hinwollen: Dann sind wir bei mittelständischen, dezentralen und doch betriebswirtschaftlich orientierten Unternehmen, die dem dienen, wofür Wirtschaft eigentlich gedacht ist. Sie dienen: der Gesellschaft.
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Manfred Folkers wendet es in Folkers/Paech so: „Ohne Zinssystem, ohne Renditeerwartung und ohne Streben nach Expansion und Maximierung wird sich ein Mittlerer Weg ergeben, der Maßhalten und Vielfalt in Einklang bringt“ (2020, 104).
Revolutionär einfach. Und doch so Welt-bewahrend.
Daher regt dieses Handbuch an, das Genossenschaftsmodell zum Ausgangspunkt zu nehmen für eine Neuausrichtung des umzubauenden globalen Wirtschaftsmodells.
Nicht nur das globale Wirtschaftsmodell hat grundlegend umgebaut zu werden – auch unsere Art, zu arbeiten ist im Begriff, sich massiv zu verändern:
Globale Umweltkrise als Chance: Unsere Art zu arbeiten und zu leben verändern
Auch ohne Klimakrise und Artensterben macht die Digitalisierung unserer Gesellschaft und Wirtschaft erhebliche Umgestaltungen rund um das Thema ‚Arbeiten‘ erforderlich:
vgl. Marc Pendzich: Pecha Kucha „’Wohlstand‘ neu gedacht: Gemeinwohl & soziales Miteinander statt HöherSchnellerWeiter“, gehalten bei der Veranstaltung „Jedes Zehntel Grad, jede Art zählt: Die globale Umweltkrise als Chance“ des Zukunftsrat Hamburg, 16.2.2021 – https://youtu.be/GA4RImiZQsU (Abrufdatum 17.2.2021)
Die digitale Gesellschaft bringt u.a. durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) ganz neue Herausforderungen mit sich. Vor allem ist damit zu rechnen, dass in Deutschland sehr viele Arbeitsplätze u.a. im Bereich ‚Sachbearbeitung‘ in Verwaltungen bei Versicherungen, Finanzämtern etc. durch den Einsatz von Software abgelöst werden.
Bislang ersetzte Technik nur Muskelkraft und mechanische Tätigkeiten – jetzt geht es an mittlere geistige Tätigkeiten.1
Es wird immer Arbeitsplätze geben – aber es scheint zweifelhaft, dass diese noch das alte Solidarsystem mittels sog. sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze tragen werden können. Durch den Eintritt der Babyboomer bzw. des Pillenknicks ins Rentenalter sowie durch die ‚Agenda 2010‘2 ist dieses System ohnehin massiv ins Wanken geraten – wer hat heute schon noch einen unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Vollzeit-Arbeitsplatz? KI wird das System weiter marodieren.
Hier gibt es eine Reihe von Ansätzen, die sich unter dem Dach des Begriffes ‚Bedingungsloses Grundeinkommen‘ (BGE) versammeln. Grundideen sind, dass sich niemand mehr um sein Existenzminimum sorgen muss – und dass nicht länger Arbeit die Sozialkassen finanziert, sondern der Staat, z.B. via Finanztransaktionssteuer oder bspw. durch eine Maschinensteuer3 (auch Robotersteuer genannt). Mit einem BGE kann man keine großen Sprünge machen, aber es ist möglich keiner bezahlten Arbeit nachzugehen: Es ist leichter möglich nein zu einem Bullshitjob zu sagen.
Zu der an diesem Punkt der Diskussion regelmäßig aufscheinenden Widerrede, ‚für Führungskräfte geht das aber nicht‘ ist hier einzubringen, dass heute dieses Argument in Zeiten der starken Vernetzung, hochgradig arbeitsteiligen Organisationen und dem ständigen, flexiblen Neuzuschnitt von Verantwortungsbereichen nicht mehr wirklich gültig ist (vgl. Kopatz 2016, 252-253). Führt man dann noch das äußerst unterstützenswerte Vieraugenprinzip ins Feld, bleibt kaum mehr übrig als der Verdacht, dass es eigentlich in Kopatz‘ Worten um eine „kulturelle[] Borniertheit der von Männern dominierten Führungsriege [gehe]“4 (2016, 253).
Zur vermeintlich so schwierigen Finanzierbarkeit des BGE sei hier kurz folgendes angemerkt:
Derzeit wird Arbeit besteuert, z.B. bei sozialversicherungspflichtigen Jobs, wodurch (auch globales) Outsourcing provoziert wird bzw. Arbeitsplätze abgebaut werden.
Es ist wenig klug, erwünschte Dinge zu besteuern, von denen man mehr haben möchte. Es ist sinnvoller unerwünschte Dinge zu besteuern, von denen es weniger geben soll, z.B. Rohstoffverbrauche, Energie, Emissionen, zu viel Geld in einer Hand und Müll (vgl. Maxton 2018, 88 u. 118).
„[W]as uns das die ganze Zeit kostet, keine mutigen und kreativen Entscheidungen zu treffen, sondern aus der Angst heraus [bei der Jobwahl] lieber auf Nummer sicher zu gehen, das lässt sich überhaupt nicht bemessen“ (Bohmeyer 2020, 20).
Auf weitere typische Gegenargumente à la „Dann geht ja niemand mehr arbeiten (außer ich)“ möchte ich hier nicht eingehen – nur so viel:
„Gehen Sie davon aus, dass Sie nicht der ‚Normalfall‘ sind – und davon, dass die anderen auch keine Idioten sind“ – Hans Rosling über unsere Egozentrik bei gleichzeitig allzu negativem Menschenbild (2018, 196).
>> siehe zur Entkräftung der typischen Gegenargumente z.B. Werner, Götz (2018): Einkommen für alle: Bedingungsloses Grundeinkommen – die Zeit ist reif, Kiepenheuer und Witsch.
>> Mehr dazu siehe Aspekt Glaubenssatz ‚Der Mensch ist im Grunde schlecht‘, siehe S. 380ff.
>> Im August 2020 startet in Deutschland die Proband*innensuche zu einem umfangreichen Feldversuch zum Thema BGE: 120 Teilnehmer*innen erhalten 36 Monate lang ein BGE in der Höhe von 1.200 Euro – und 1.380 Teilnehmer*innen, die zuvor als statistische Zwillinge ausgewählt wurden, bekommen kein BGE, siehe dazu ausführlich Diekmann, Florian (2020): „Langzeitstudie zum Grundeinkommen: Das 1200-Euro-Experiment“. in: Der Spiegel, 18.8.2020, online unter https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/grundeinkommen-studie-startet-das-1200-euro-experiment-a-413dcee7-1d58-4d19-abd1-8d241972ffd4 (Abrufdatum 1.9.2020)
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 vgl. Opitz 2018, Min 66; siehe ausführlich Precht 2018. Er erwähnt eine Studie von 2013, der zufolge „die am weitesten entwickelten Länder der Erde in den nächsten fünfundzwanzig Jahren 47 Prozent ihrer Jobs [verlieren]“ (23). – Die Autoren der Studie „Frey und Osbourne listen mehr als siebenhundert Tätigkeiten auf, die teilweise oder ganz von Computern übernommen werden können“ (24) – vgl. www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf (Appendix ab S. 57) – „Jede Tätigkeit, deren Routinen algorithmierbar sind, ist prinzipiell ersetzbar“ (Precht 2018, 24). Precht zitiert den Mathematiker und ehemaligen IBM-Manager Gunter Dueck, der angesichts der zunehmenden Bedeutung der/des Kundin/Kunden als Prosument*in von aussterbenden „Flachbildschirmrückseitenberatungsjobs“ spricht (vgl. 24-25), also von Jobs, die darin bestehen, jemanden zu beraten, während man auf einen Flachbildschirm starrt – wie bspw. im Reisebüro. „[D]ie Digitalisierung – und das unterscheidet sie von [den drei] früheren industriellen Revolutionen – erobert kein neues Terrain, sondern sie macht bestehendes effektiver“ (29). In der Delphi-Studie des Millennium-Projekts heißt es laut Precht: „Übrig bleiben vor allem jene Berufe, in denen ‚Empathie‘ gefragt ist, in denen man sich um etwas kümmert, jemanden umsorgt, ihn pflegt, ihm zuspricht, ihn coacht, ihn bildet, ihm individuelle Sorgen und Nöte lindert und ihm hilft, Probleme zu lösen… ‚Alle Menschen werden irgendetwas tun. Aber vieles davon geschieht eben nicht mehr im Rahmen von Erwerbsarbeit‘“ (118). Interessant: Michael Bohmeyer weist darauf hin, dass „[e]ine These zum Populismus ist: Er gedeiht oft dort, wo Existenzangst herrscht. Ein Grundeinkommen könnte sie lindern“ (2020, 20). Siehe auch Zwischengedanken zum Aspekt Erforderlich ist eine komplette Neufassung der Arbeit in Deutschland, S. 527.
2 Wie viel Prozent der Bürger*innen, die keinen sozialversicherungspflichtigen Job haben, haben sich ausreichend privat rentenversichert? Gewissermaßen hat die Agenda 2010 dafür gesorgt, dass Arbeitsplätze in der Gegenwart billiger wurden, um den Preis, das Deutschland künftig nicht um eine Grundrente für alle herumkommen wird (vgl. Bedingungsloses Einkommen, S. 458).
3 Ein dringend zu korrigierender Fehler der weltweiten Politik ist m.E. das Versäumnis, keine Steuer auf die Arbeit von Energiesklaven, d.h. Maschinen bzw. Roboter zu erheben, die zumindest einen Teil der wegfallenden Sozialabgaben einspielt. In diesen Tagen, in denen Maschinen per KI auch vormals geistige Tätigkeiten vermehrt ersetzen, wäre dies eine Möglichkeit, um den Menschen per auf diese Weise finanziertem BGE ein Leben ohne umfangreiche Lohnarbeit zu ermöglichen (vgl. Precht 2018, 9).
4 vgl. dazu Abschnitt Klima, Ökofeminismus und Parität, S. 423, Aspekt männliche Dynamiken, S. 426
Der Punkt ist, dass wir m.E. künftig gar nicht mehr um ein BGE herumkommen werden, weil das alte Modell bereits jetzt nicht mehr funktioniert und nicht genug Vollzeitarbeit für alle da sein wird – hingegen aber (auf der Basis des BGE) viele ehrenamtliche Tätigkeiten übernommen werden können, die diese Gesellschaft solidarisch befördern werden.
Weniger Konsum (Keine Trosteinkäufe).
Mehr Gemeinschaft (Weniger Status).
Menschliches Maß (Weniger CO2).
Ich empfehle in diesem Zusammenhang jeder/jedem Fulltime-Job-Leser*in, innezuhalten und mal mit Bleistift und Papier Bilanz zu ziehen, wie viel Zeit sie/er an ihrem/seinem Arbeitsplatz ausschließlich dafür verbringt, um ihre/seine Statussymbole zu bezahlen. In meinen Augen ist das sich selbst gestohlene Eigenzeit: Die härteste Währung der Welt ist nicht der Dollar, der Euro oder der Franke. Die härteste Währung ist Zeit.
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Offensichtlich verbringen sehr viele Deutsche sehr viel Zeit damit, nur und ausschließlich für Status bzw. Status-Symbole zu arbeiten: „Jeder zehnte Erwerbstätige [in Deutschland] arbeitet gewöhnlich mehr als 48 Stunden pro Woche. Zweieinhalb Milliarden Überstunden im Jahr sind kaum noch Zeugnis von Strebsamkeit und Fleiß. Sie schaden der physischen und psychischen Gesundheit“ (Kopatz 2016, 274) – What for? Niemand sagt: „Bevor ich sterbe, möchte ich mir einen Tabletcomputer kaufen.“ (ebd., 273). Positiv unterstellt, die Überstundler*innen bekommen die Überstunden bezahlt. Was genau sind das für Statussymbole, für die die Überstundler*innen derart viel arbeiten? Nun, i.d.R. werden diese äußerst CO2-intensiv sein.
>> siehe dazu mein Webportal https://lebelieberlangsam.de/, vgl. Ware, Bronnie (2011): 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden. Goldmann. >> siehe auch Aspekt, dass Menschen in Deutschland durchschnittlich 13 lange Jahre ihres Lebens nur arbeiten: für ihr(e) Auto(s), S. 351.
Ein Schlussgedanke von Richard David Precht:
„[D]ie Daten von Armen [sind] nichts wert.“ (2018, 127)
Globale Umweltkrise als Chance: Unser weltweites Finanz- und Bankensystem verändern
Die Biodiversitäts-/Klimakrise bietet im Einklang mit dem bis hier geschriebenen darüber hinaus die Chance zur dringend erforderlichen Re-Regulierung des deregulierten Finanzsystems.
Mit der Forderung, die weitgehende Deregulierung der Finanzmärkte rückgängig zu machen, baut man sich i.d.R. eine breite Gegnerschaft auf.
Das ist nicht mein Anliegen – gehen wir daher auf die Positionen der Befürworter*innen der Deregulierung ein und nehmen diese Positionen zunächst einmal für ‚bare Münze‘:
Gehen wir also positiv davon aus, dass die Deregulierung der Finanzmärkte eine feine Sache ist und der Dreisatz des neoliberalen Glaubensbekenntnis korrekt:
Wenn Sie mögen, sprechen Sie mit – oder bauen Sie das Folgende am besten als Affirmation in Ihr morgendliches Motivationsprogramm, bevor Sie die Börsennachrichten einschalten… molto fortissimo, und alle zusammen:
Wachstum! Deregulierung!! Shareholder Value!!!
(lauter!)
Also, spielen wir das Gedankengebäude ‚Deregulierung‘ doch mal durch:
Banken zum Beispiel. (Lehman Brothers: geschenkt.) Banken können gar nicht genug dereguliert werden. Denn: Sie wollen unser Bestes. Daher sollten wir ihnen bzw. ihren Manager*innen möglichst uneingeschränkt freien Lauf lassen und Billiarden-Spielgeld in Sekundenbruchteilen rund um den Globus hin- und herschieben lassen. Nichts kann passieren, denn auf den Markt und auf die Unsichtbare Hand – die mutmaßlich durch irgendein Drei Fragezeichen-Buch inspiriert wurde – ist stets Verlass.
Der Markt wird es schon regeln. Hat er immer getan. Vertrauen Sie ihm. Er ja will nur spielen.
Der Markt wird regeln, dass
wir zugunsten unserer Informationsgesellschaft künftig eine bessere Bildung in Kindergärten, Schulen und Unis etc. bekommen,
es keine Armut und keinen Hunger mehr gibt auf der Welt,
unsere Gesellschaft aus lauter zufriedenen Arbeitsnehmer*innen besteht,
wir alle bezahlbaren Wohnraum in den Städten finden,
wir gesunde Lebensmittel Dinge auf den Teller bekommen statt fettiger Billig-Fertignahrung,
eine persönlich-liebevolle Pflege in Krankenhaus und Altenheim selbstverständlich wird,
Lobbyist*innen sich gleichermaßen edelmütig und uneigennützig gegen das sechste Massenaussterben einsetzen,
mit Öl kein Geld mehr zu verdienen ist,
die Renten steigen und
in politisch brisanten Gegenden mehr Wohlergehen, Gerechtigkeit und demokratische Rechtssicherheit einkehren, und, ach ja,
die Doppelkatastrophe ‚Erderhitzung/Massenaussterben‘ marktliberal und technologieoffen gelöst wird.
Der Markt wird das alles regeln! Und komische Ideen abseits dieses wunderbaren Markrationalismus‘ sind folglich: rote Socken-Gedankenkitsch, links und somit fast schon Kommunismus.
Nun, ich nehme an, wir können uns darauf einigen, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens dieser Ereignisse eher niedrig zu veranschlagen ist.
Daher kommen wir um tiefgreifende Veränderungen des Finanz- und Bankensektors nicht herum:
Die (globale) Finanzwirtschaft – oder anders ausgedrückt: die Art wie Geld derzeit ‚funktioniert‘ wird sich deutlich verändern müssen – es geht, wie Michael Kopatz es ausdrückt, nicht um eine Revolution, sondern um „die Rückkehr zum Ordnungsrahmen der 1970er-Jahre, welcher die Auswüchse der Spekulanten zuungunsten sicherer Kapitalmärkte verhindert hat (2016, 18).
Dieser Ordnungsrahmen war „nach dem Zweiten Weltkrieg … – auch als Lehre aus dem in den Dreißigerjahren schon einmal gescheiterten, naiven Wirtschaftsliberalismus [entstanden]“ (Fricke 2018). Es gab „einen ziemlich weitgehenden Konsens darüber, dass es etwa für Banken eine strikte Kontrolle braucht, Wechselkurse besser offiziell festzulegen sind (um Spekulation zu stoppen) und nicht überall immer alles dereguliert werden musste. Und damals regierten in Deutschland ja auch keine Linksradikalen, sondern ein gewisser Konrad Adenauer und ein Ludwig Erhard“ (ebd.).
Re-Regulierung des deregulierten Finanzsystems: Shareholder Value
‚Shareholder Value‘ ist antisozial, denn es dient nicht der Gesellschaft oder dem Gemeinwohl, sondern verlangt auf Kosten von Gesellschaft, Menschen und Umwelt Gewinnmaximierung ‚um jeden Preis‘ zu Gunsten weniger Menschen, namentlich der Aktionärinnen und Aktionäre.
‚Shareholder Value‘ ein unverständliches Konstrukt: Wirtschaft bzw. Eigentum hat – so steht es auch im GG Art. 14 Absatz 2 – „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen“. Mir persönlich stellt sich daher die Frage: Wie und auf welcher Basis ist Shareholder Value mit dem Grundgesetz vereinbar?
Die Prämisse „Gewinnmaximierung um jeden Preis“ meint wirklich jeden Preis, egal wie hoch er auch sein mag: „Wer darauf hofft, dass Giganten wie RWE1, Bayer oder VW von sich aus mehr für den Klimaschutz tun werden, ist schrecklich naiv. Die Vorstandschefs können gar nicht, selbst wenn sie wollten. Sie sind einzig ihren Aktionären verpflichtet, nicht dem Gemeinwohl“ (Kopatz 2019b).
Details: Erläuterungen zu (1)
1RWE hat 2019 per Großkonzernlogik „[i]n einem milliardenschweren Tausch … die erneuerbaren Energien des Konkurrenten Eon übernommen. In wenigen Monaten gehen auch die Ökostromanlagen der bisherigen Konzerntochter Innogy an RWE. Der Konzern strebt laut SZ an, bis 2040 klimaneutral zu werden und setzt sich nach Angabe des Konzernchef Rolf Martin Schmitz „an die Spitze der Bewegung“ (Müller 2019).
Re-Regulierung des deregulierten Finanzsystems: Derivate
Zahlreiche Spekulationsgeschäfte z.B. mit sog. Derivaten, die eher Spielcasino-Wetten gleichen, zumal sie wenig bis gar nichts mit der Realwirtschaft zu tun haben, gehören schlicht – wie es in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war (vgl. Hermann 2019, 74) – verboten.
Mit Derivaten spekuliert man auf die künftige Kursentwicklung. Ulrike Hermann definiert in einfachen Worten: „Sie dienen dazu, sich gegen Preisschwankungen abzusichern. Bauern können den Preis ihrer Ernten festlegen… Die Zukunft wird in die Gegenwart verlagert und damit berechenbar gemacht, weswegen diese Variante der Derivate auch ‚Future‘ heißt“ (2019, 74). Das Geschäft hat auf jeden Fall abgewickelt zu werden, was unpraktisch ist, wenn man nur spekulierend Geld verdienen will. Dafür gibt es dann zusätzlich die Derivate namens ‚Optionen‘ (vgl. ebd.). Diese „Derivate sind für die Börsianer so attraktiv, weil der ‚Hebel‘ enorm ist: … Man muss nur eine kleine Gebühr fürs Derivat zahlen – und schon kann man auf die Kursentwicklung von Aktien, Devisen, Zinsen oder Rohstoffen spekulieren“ (ebd.).
Seit 1997 gibt es auch Wetterderivate, die sog. ‚Wetterfutures‘. Positiv ausgedrückt können sie ein „Instrument des Risikomanagements eines Unternehmens darstellen“ (wikipedia 2020e). Weniger positiv erlauben diese „Katastrohen-Derivate“ (ntv 2008) es „Unternehmen und Banken…, auf Wetterveränderungen zu setzen, als wären tödliche Katastrophen ein Würfelspiel in Las Vegas (zwischen 2005 und 2006 verfünffachte sich der Markt für Wetterderivate beinahe, von 9,7 Milliarden auf 45,2 Milliarden Dollar)“ (Klein 2015, 18).
Neben Wetterfutures zeichnet sich „seit Anfang 2000 … ein deutlicher Trend der zunehmenden Spekulation mit Nahrungsmitteln ab“ (Oxfam 2020) – eine sog. ‚Finanzialisierung‘, was bedeutet, dass Spekulanten und die Regularien der Finanzmärkte vermehrt z.B. über die (globalen) Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise bestimmen. „Mitte der 1990er Jahre war in den Statuten über den internationalen Handel noch festgeschrieben, dass Nahrungsmittel nicht als gewöhnliche Waren zu behandeln seien. Mit gutem Grund, denn jeder Mensch braucht Nahrung zum Überleben“ (Wallach 2020, 9). Doch trieben beispielsweise 2007/2008 „Finanzspekulanten … die Getreidepreise in die Höhe“ (Oxfam 2020). „Sowohl in den Jahren 2007/2008 als auch in 2011 waren die Weltmarktpreise für wichtige Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen binnen kürzester Zeit explodiert. Allein der Maispreis erhöhte sich [auf dem Weltmarkt] im Frühjahr 2008 innerhalb von knapp 2 Monaten um 46 Prozent“ (Heuser 2016). „In Äthiopien stiegen die Maispreise um 100 Prozent, in Uganda um 65 Prozent und in Tansania um 54 Prozent. Die Weizenpreise stiegen in Somalia um 300 Prozent, im Senegal um 100 Prozent und im Sudan um 90 Prozent. Nahrungsmittel wurden für viele Familien unbezahlbar“ (Oxfam 2020), denn sie geben ohnehin bis zu 80% ihres Einkommens für Lebensmittel aus (vgl. Heuser 2016).
„Die rasant steigenden Preise für Lebensmittel führten zu Hungerprotesten in 61 Ländern“ (Oxfam 2020).
Vergleichbares passierte z.B. auch am Beginn der Covid-19-Krise:
Ullrich Fichtner erwähnt im Zusammenhang mit Derivaten im Spiegel, „dass in London einzelne Hedgefonds aus dem Corona-Börsencrash Milliardenprofite schlugen“ (2020, 19).
Michael Kopatz hingegen hebt im Zusammenhang mit Spekulationsgeschäften die sog. Darkpools hervor:
„Ein anonymer Verkäufer kann seine Angebote weltweit in verschiedenen Darkpools platzieren. Interessenten geben Gesuche auf, ohne zu wissen, ob gerade solche Aktien angeboten werden. Eine Software bringt Gebote und Gesuche zusammen. Anders als bei normalen Börsen erfährt so keiner, dass überhaupt ein Handel stattgefunden hat“ (2016, 18, 230).
„2018 [wurden] Derivate im Nominalwert von 700 Billionen Dollar gehandelt … – die globale Wirtschaftsleistung betrug aber nur 85 Billionen Dollar. Die allermeisten Derivate können also gar keinen realen Gegenwert haben, sondern sind reine Spekulation“ (Hermann 2019, 74).1
Dazu hält Harald Lesch fest:
„Dieses virtuelle Geld, dass da [per Derivate & Co in den Finanzmärkten] hin- und hergeschoben wird und sich immer mehr und mehr vermehrt auf merkwürdige Weise … presst auf unsere reale Welt… Das ist der wirkliche Hammerdruck der da stattfindet. Machen Sie sich klar, das Weltbruttosozialprodukt besteht aus 70 europäischen Billionen Dollar. Die Versicherung [per Derivat & Co] für dieses, das was an den Börsen gehandelt wird, sind 700 Billionen Dollar. D.h. wir haben Versicherungen, die sind 10 Mal mehr wert als das Tatsächliche, was da ist.
Stellen Sie sich doch mal vor, Sie kaufen sich ein Auto für 2.000 Euro und versichern es für 20.000. Haben Sie dann noch ein Interesse daran, dass die Karre heilbleibt? Natürlich nicht“ (Lesch 2016, ab Min. 18).
Durch viele Derivate blicken nicht einmal mehr Fachleute durch – symbolisch wird das durch folgende Anmerkungen von Ulrike Hermann im Atlas der Globalisierung: „Das erste kommentierte Lexikon für Derivate erschien 1989 und war bereits 700 Seiten stark. Der Nachfolger, der 2006 kurz vor der Finanzkrise aufgelegt wurde, hatte fast 5.000 Seiten“ (2019, 75).
Hermann hat derweil analog zu eingangs erwähnten Forderung von Kopatz nach Rückkehr zum Ordnungsrahmen der 1970er Jahre (vgl. S. 460) eine geradezu absurd einfache Lösung für diese reinen Spekulationsgeschäfte – es geht schlicht um dieser Wiedereinführung einer Grundregel, „die bis vor vierzig Jahren noch galt:
Ein Derivat darf nur kaufen, wer auch das dazu gehörige Grundgeschäft getätigt hat. Eine Fluglinie, die Öl benötigt, könnte also weiterhin Ölderivate erwerben, um sich gegen Preisschwankungen abzusichern. Aber reine Spekulanten wären ausgeschlossen“ (2019, 75).
Ähnlich wie beim fossilen Geschäftsmodell gibt es hier viele, viele Menschen2 inkl. zukünftigen Pensionsfonds-Rentner*innen, die aus finanziellen Gründen von obiger Idee nicht überzeugt werden können. Es wird nicht reichen, einen Runden Tisch zu gründen.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Zur reinen Spekulation gehören auch sog. Leerverkäufe, bei denen man Papiere verlauft, die man gar nicht besitzt und hofft, dass der Kauf der schon verkauften Papiere zu einem späteren Zeitpunkt günstiger ist als gegenwärtig, sodass man aus der Differenz einen Gewinn erzielt, vgl. wikipedia 2020a.
2 Hier geht es um Besitzstandswahrung, Macht und Geltungsbedürfnis von ohnehin hochgradig privilegierten Menschen – und um viele, viele Arbeitsplätze, die nicht mehr benötigt würden, wenn der Finanzialismus aufgegeben werden würde.
Re-Regulierung des deregulierten Finanzsystems: Erfahrungen aus der Finanzkrise 2008/09
Die Aufhebung der Trennung des Kreditgeschäfts vom Investmentbanking hat sich definitiv nicht bewährt – vgl. die weltweite Finanzkrise 2008f.,
Banken haben auch nach 2008 kein relevantes Eigenkapital vorgeschrieben bekommen: „Es muss nur 3 Prozent der Bilanzsumme betragen, was lächerlich wenig ist“ (Hermann 2019, 75).
…mehr
Ähnlich absurd-bemerkenswert ist, dass „[ü]ber 90 Prozent des gesamten Geldes – mehr als 400 Billionen Dollar auf unseren Konten – … nur in Computern existieren]“ (Harari 2015, 219).
Re-Regulierung des deregulierten Finanzsystems: Hochfrequenzhandel, Finanztransaktionssteuer
Nano-Sekunden-Handel ist nicht dem Menschen dienlich – und würde z.B. durch eine Finanztransaktionssteuer deutlich unattraktiver.
Letztere ‚Robin-Hood-Steuer‘ würde Finanztransaktionen z.B. durchschnittlich mit 0,05 Prozent besteuern. Die so generierten Gelder könnten dann z.B. für den Klimaschutz oder auch zur Bekämpfung der globalen Armut eingesetzt werden (vgl. Kopatz 2016, 18, 230 u. vgl. Precht 2018). (1 Nanosekunde ist eine milliardstel Sekunde. Das hat mit Handel und mit den Bedürfnissen von Menschen nichts mehr zu tun.)
Allgemein könnte man den Finanzsektor auf ein menschliches Maß runter bremsen. Nur weil man übermenschlich schnell sein kann, bedeutet das noch lange nicht, dass man diese menschliche Grenze auch einreißen muss. Auch könnten Berichtszyklen durchaus verlängert werden.
Haim Bodek, Hochfrequenzhändler, 2018:
„Ich verlasse den Raum grundsätzlich nicht und lasse hier ‚etwas’ unbeaufsichtigt handeln. Ich will bei dem Algorithmus sein, den ich erschaffen habe. Auch wenn ich ihn nicht unter Kontrolle habe. Ich beobachte ihn. Tut er auch das, wofür ich ihn entworfen habe? Ich rede nie mit Wirtschaftswissenschaftlern oder politischen Entscheidungsträgern. Es gibt da einfach keine Verbindung… [W]elche Leute Stellen wir ein? Wissenschaftler, IT-Experten und Anwälte. Wir stellen weder Betriebswirte [d.h. ‚mba’s‘] noch andere Wirtschaftswissenschaftler ein. Viele unserer mathematischen Modelle kommen aus Bereichen wie Pferdewetten“ (zit. in Opitz 2018, ab Min 79).
Re-Regulierung des deregulierten Finanzsystems: weitere Aspekte und Lösungsansätze
Bei der Bewertung von Aktien kann es nicht ausschließlich auf einen finanziellen Wert ankommen, der darauf basiert, dass externe Kosten unberücksichtigt bleiben. Hier geht die Dagens Industri (DI), die größte täglich erscheinende Wirtschaftszeitung Skandinaviens voran und druckt im Börsenteil zunächst viermal im Jahr zusätzlich auch klimabezogene Kennzahlen der 124 größten schwedischen Unternehmen (vgl. Wiemker 2020).
Über die Art wie Zins und insbesondere Zinseszins funktionieren ist nachzudenken.
Grundsätzlich sind die Verhältnisse zwischen Arm und Reich sowohl innerhalb von Gesellschaften als auch global deutlich anzunähern.
Im kleineren Maßstab wiederum sind ergänzende lokale Währungen bzw. Regionalwährungen wie z.B. das ‚Brixton Pound‘ oder der ‚Chiemgauer‘ zu unterstützen. Diese bewirken – wenn sie von der lokalen Bevölkerung angenommen werden –, dass das Geld lokal zirkuliert. I.d.R. vernetzt sich die lokale/regionale Wirtschaft und arbeitet verstärkt zusammen. Kund*innen kaufen tendenziell lokaler ein. Somit wird also die eigene Region wirtschaftlich gestärkt (vgl. Laurent/Dion 2016).
Seit 1934 Jahren existiert in der Schweiz die vor allem in Gewerbekreisen verbreitete Parallelwährung WIR (‚Wirtschaftsring-Genossenschaft‘), die einst eine Maßnahme gegen die Weltwirtschaftskrise war und mit der heute – mit abnehmender Tendenz – rund 1,3 Mrd. WIR („ein WIR entspricht gemäß Definition der WIR-Bank einem Franken“ (Scherrer 2017)) umgesetzt werden (vgl. ebd.).
Dann gibt es noch die in das Thema ‚Regionalwährung‘ oft mit hineinspielende, zusätzliche Idee vom Fließgeld/Freigeld – ein ‚umlaufgesichertes‘ Geld, das der Idee des Zinses und Zinseszinses entgegengesetzt ist und im Falle des Hortens an Wert verlieren würde, sodass es sich verstärkt lohnt (immer wieder) zu investieren – und zwar: regional (vgl. wikipedia 2020c).
Auch ist die Frage aufzuwerfen, inwieweit Spekulationsgeschäfte überhaupt noch statthaft sind, sodass sie nach Ansicht von Maxton „mit 100 Prozent besteuert werden [sollten]. Anders ausgedrückt: Wer ein Haus oder ein Gemälde kauft, sollte dies tun, weil er Wohnraum braucht oder ein hübsches Bild für die Wand, nicht weil er von deren Wertsteigerung profitieren möchte“ (2020, 134).
Auch weiterhin können in der Wirtschaft durchaus Wettbewerbsbedingungen herrschen – aber alles in einem kleineren Format, ohne Shareholder Value, fair, klimagerecht – und vor allem unter Einkalkulierung sämtlicher bisher externalisierter Kosten.
Wer hier angesichts der prinzipiell anstehenden umfangreichen Neuregulierungen und Gesetzesänderungen von „faktischer Enteignung“ spricht, mache sich klar, dass derzeit
ständig tausende von Bäuerinnen und Bauern vorwiegend im Globalen Süden faktisch enteignet werden, weil sie ihr erodiertes oder sogar desertifiziertes Land nicht mehr bestellen können und möglicherweise gezwungen sind, ihren Besitz aufzugeben und zu flüchten,
täglich allgemein Häuser, Grundstücke1 und sonstiges Hab und Gut ungezählter Menschen massiv entwertet oder zerstört werden und
z.B. konkret durch den Bau von immer neuen Megaställen oder durch den Ausbau von Straßen Anwohner*innen oft zu Recht den Wertverlust ihrer Häuser befürchten (vgl. Amann et al. 2013, 68).
Und wer der Auffassung ist, dass die hier genannten Punkte nichts mit seiner drohenden ‚faktischen Enteignung‘ zu tun hat, weil ihm ja die Gewinne seiner bisherigen Finanzgeschäfte im Rahmen des bestehenden Systems legal zugestanden haben, handelt letztlich auf die genau gleiche ethisch verwerfliche Weise wie die Vertreter*innen der Kolonialmächte, die einst die First Nations (die früher sog. „Indianer“) Landabtretungs- und Schürfverträge haben unterzeichnen lassen, obwohl diese außerhalb des Systems, d.h. außerhalb der kolonialistischen Gesetzgebung standen (und darüber hinaus keinen Schimmer davon hatten, was sie dort unterzeichnen).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Kopatz konstatiert, dass die kalte Enteignung z.B. „durch Straßenlärm … seit Jahrzehnten zu[nimmt] und … allgegenwärtig ist. Der Wert eines Mehrfamilienhauses kann sich an einer stark befahrenen Straße gegenüber Häusern in ruhiger Wohnlage halbieren“ (2019a, 102).
Re-Regulierung des deregulierten Finanzsystems: Weitere Aspekte: Keine Privatisierung von Lebensnotwendigem
Bestimmte Bereiche sollten künftig nicht mehr unter ‚freien‘ Wettbewerbsbedingungen stehen:
Die Privatisierung von Institutionen, die existenzielle Bedürfnisse der Menschheit abdecken, hat sich m.E. insgesamt nicht bewährt: Es ist nicht sinnvoll, Trinkwasser,1 den ÖPNV, das Schienennetz, Elektrizitäts- und Wärmekraftwerke und Krankenhäuser zu privatisieren.2
Die Erforschung von neuen Medikamenten gehört nicht in die Hände von privaten Unternehmen: Patente auf Medikamente, die im Globalen Süden Leben retten können, bewirken u.U., dass viele Menschen an durchaus günstig herzustellende Medikamente (z.B. aus Kostengründen) nicht herankommen3 – und auch die unterbleibende Entwicklung von neuen Antibiotika ist hier ein deutlicher Hinweis.
„[N]ur 0,12 Prozent der kommerziellen weltweiten Forschungs- und Entwicklungsgelder [werden] für Tuberkulose und Malaria ausgegeben. Krankheiten, an denen jedes Jahr 1,7 Millionen Menschen sterben – nur nicht hier“ (Kops 2020, 12).
„Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Masern sind von der öffentlichen Hand hergestellt und verteilt worden. Als Jonas Salk, der Erfinder des Polio-Impfstoffes, gefragt wurde, wer das Patent besitze, antwortete er: ‚Alle Menschen. Es gibt kein Patent. Können Sie die Sonne patentieren?‘“ (Trojanow 2020, 12).
Allgemein ist es nicht sinnvoll, Ärzte/Krankenhäuser nach quantitativen ärztlichen Leistungen zu bezahlen. Hier hat m.E. der Eid des Hippokrates zu genügen, um eine entsprechende Qualität bei grundsätzlich sehr guter Bezahlung sicherzustellen.
Das gleiche gilt für Organspenden: Hier darf m.E. grundsätzlich kein Geld drinstecken, es bedarf vielmehr einer Ethikkommission und maximaler Transparenz. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind – und nur dann –, spricht m.E. viel für eine Widerspruchslösung, d.h. jede*r Bürger*in ist – sofern diese*r nicht explizit widersprochen hat – potenzielle*r Spender*in.
Leben kann nicht patentierbar sein. Dies schließt Saatgut und Gene mit ein.
Zusammengefasst gilt für die wesentlichen Lebensgrundlagen:
Gemeinwohl statt Privatinteressen und Patentschutz.
Geht nicht – gibt’s nicht.
Wie auch vor Paris müssen wir uns daran erinnern, dass ‚unmöglich‘ keine Tatsache ist, sondern eine Einstellung.4
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 Stellen Sie sich vor, Trinkwasser würde knapp – wollen Sie dann auf den Goodwill eines Privatunternehmens angewiesen sein? So wie in anderen Gegenden der Welt? (vgl. Doku Bottled Life – Nestlés Geschäfte mit dem Wasser. Film-Doku von Urs Schnell, 2012). Wie beim sog. ‚Wasserkrieg‘ 2000f. in Bolivien, zu dem es kam, nachdem das Wasser Boliviens (!) privatisiert und die Preise verdoppelt wurden? (vgl. Opitz, Florian (2006): Der große Ausverkauf. Film-Doku; vgl. Gouverneur 2020, 5). Im Übrigen ist Trinkwasserknappheit bezogen auf Deutschland definitiv nicht unrealistisch: „Momentan betreiben Landwirte nur auf 3 Prozent der Fläche Bewässerungsanbau, etwa beim Kartoffel- oder Rübenanbau in Niedersachsen. Schätzungen gehen davon aus, dass wir in 20 bis 30 Jahren ein Drittel der landwirtschaftlichen Flächen mit Grundwasser bewässern müssen. Dann werden wir Nutzungskonflikte bekommen, die wir bislang noch nicht kennen“ (Borchardt 2020, 9). „Auf eine Initiative Boliviens hin verabschiedete die UN-Generalversammlung am 28. Juli 2010 eine Resolution, die dem Zugang zu ‚einwandfreiem Trinkwasser und sanitärer Grundversorgung‘ zum Menschenrecht erklärte“ (Gouverneur 2020, 5).
2 vgl. dazu Opitz, Florian (2006): Der große Ausverkauf. Film-Doku. In diesem Film gibt es – neben vielem anderen – eine Szene, die das perfekte Sinnbild dafür ist, warum Privatisierungen in bestimmten Bereichen so gar keine gute Idee sind… Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass jede*r Zuschauer*in exakt wissen wird, welche Szene ich meine… Der Glaubenssatz (vgl. Definition Fußnote S. 227), Privatunternehmen seien innovativer als der Staat, ist nur eine These, deren Beweis aussteht. Wie viel Grundlagenforschung ist eigentlich in der Menschheitsgeschichte durch Privatunternehmen erfolgt? Man beziehe außerdem in die Überlegungen ein, wie viele Erfindungen durch privatwirtschaftliche Interessen schon verhindert oder in den Safe eingeschlossen wurden, um veraltete Geschäftsmodelle zu sichern. Und auch die ‚geplante Obsolenz‘ verhindert vielfach eine optimal-innovative Technik. Es gilt: Ein Privatunternehmen wird nicht notwendigerweise wirtschaftlich-effizienter geführt als z.B. eine Genossenschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts.
3 Auch heute fordert AIDS „alljährlich rund 750.000 weitere Opfer – ein Sterben, das in der westlichen Welt weitgehend unbeachtet bleibt, seit dort wirksame Medikamente zur Verfügung stehen“ (Grolle 20209, 103).
(Klimawoche 2020, Min 7)
4 Zitat von der Bewegung M2020https://mission2020.global/ (Abrufdatum 1.7.2020), deutsch zit. nach Klimaretter 2017. Maja Göpel packt es in andere Worte: „Geht nicht ist häufig eine andere Formulierung für will nicht“ (Klimawoche 2020, Min 7).
Quellen des Abschnitts Biodiversitäts-/Klimakrise als Chance
Amann, Susanne et al. (2013): „Schlacht-Plan“. in: Der Spiegel, 43/2013, S. 64-72.
Bohmeyer, Michael (2020): „‚Wir würden öfter Nein sagen können“. [Viola Diem interviewt Michael Bohmeyer]. in: Die Zeit, Nr. 35/20.8.2020, S. 20.
Borchardt, Dietrich (2020): „Hydrologe über Dürreperiode 2020: ‚Bei uns wird Wasser knapp‘“. [Heike Holdinghausen interviewt Dietrich Borchardt]. in: tageszeitung, 6.7.2020, S. 9.
Gouverneur, Cédric (2020): „Gletschersterben in Bolivien“. in: Le Monde diplomatique [Deutsche Ausgabe]. August 2020, S. 1 u. 4-5.
Grolle, Johann (2020): „Das Jahrhundertvirus“. in: Der Spiegel, 17/17.4.2020, S. 100-104.
Harari, Yuval Noah (2015): Eine kurze Geschichte der Menschheit. Pantheon.
Hermann, Ulrike (2019): „Börsen, Banken, Derivate. Spekulieren ist noch immer lukrativer, als in die Realwirtschaft zu investieren“. in: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 74-75.
Heuser, Uwe Jean u. Pletter, Roman (2020): „Maßloser Wohlstand“. in: Die Zeit, Nr. 34/13.8.2020, S. 21-22.
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer. (Der Originaltitel ist besser gewählt: This Changes Everything: Capitalism vs. Climate.
Klimawoche (2020): „Corona und Klima: Was wir wirtschaftlich und gesellschaftlich verändern müssen“. in: Hamburger Klimawoche, 25.9.2020, online unter https://www.youtube.com/watch?v=jeNuHttfMRw (Abrufdatum 29.9.2020)
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Kopatz, Michael (2019a): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Kops, Krisha (2020): „Impfstoffe und Patente“. in: tageszeitung, 25.5.2020, S. 12.
Laurent, Mélanie u. Dion, Cyril: Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen. 2016.
Lesch, Harald (2016): „Keynote: Harald Lesch fordert endlich Konsequenzen aus dem Wissen um den Klimawandel zu ziehen“. in: Internationale Agrarkonferenz November 2016, veröffentlicht von Bündnis 90/Die Grünen, Upload 21.11.2016, online unter www.youtube.com/watch?v=0r39TopOeI/ (Abrufdatum 9.6.2019)
Maxton, Graeme (2018): Change. Warum wir eine radikale Wende brauchen. Komplett-Media.
Wallach, Lori (2020): „Eine andere Wirtschaftsordnung ist möglich“. in: Le monde diplomatique [deutschsprachige Ausgabe], 5-2020, S. 9
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2019): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Pantheon.
Wiemker, Henrike (2020). „Eine Zeitung drängt Unternehmen zum Klimaschutz – und die sind dankbar dafür“. in: Perspective Daily, 24.3.2020, online unter https://perspective-daily.de/article/1190/pcbnNUmS (Abrufdatum 26.3.2020) [paywall]
Weitere politische Ziele bzw. hochwirksame Maßnahmen zum Klimaschutz
Bäume pflanzen/globale Aufforstung
The global tree restoration potential
Um 25 bis 35% könnten die globalen Treibhausgasemissionen reduziert werden, wenn weltweit Waldrodungen gestoppt und zerstörte Wälder wieder aufgeforstet würden (vgl. Gonstalla 2019, 49).
unsplash/Johannes Plenio
Bäume sind sehr gute, langjährige CO₂-Speicher. Eine im Juli 2019 veröffentlichte Studie namens The global tree restoration potential (Bastin et al. 2019) zeigt, dass eine globale Pflanzung von Bäumen das 1,5°-Ziel „zweifellos“ erreichbar mache. Mittels Satellitendaten wurde ausgewertet, „wo auf der Erde Platz für neue Bäume wäre und wie viel Kohlendioxid[] diese speichern könnten“ (Dambeck 2019). Die Erde könne „ein Drittel mehr Wälder [aktuell 2,8 Mrd. Hektar + Fläche der USA, d.h. 900 Mio Hektar] vertragen, ohne dass Städte oder Agrarflächen beeinträchtigt würden“ (Zeit 2019). Bis zu 60 Jahre dauere es, bis die Wälder herangewachsen wären, dann aber „könnten sie 205 Milliarden Tonnen Kohlenstoff speichern… Das entspricht rund zwei Dritteln der 300 Milliarden Tonnen Kohlenstoff, die der Mensch seit der industriellen Revolution in die Atmosphäre gebracht hat“ (Dambeck 2019). Die Wirkung einer solchen Maßnahme sei viel größer als bislang bekannt gewesen sei. „Umso wichtiger sei es nun, schnell zu handeln … [zumal] sich in einem insgesamt heißeren Erdklima die Fläche [reduziere], die überhaupt für Wald geeignet ist“ (ebd.).
Ebenfalls in der Studie wird erwähnt, dass „[d]ie Menschheit … den ursprünglichen Baumbestand der Erde wohl bereits halbiert“ (Charisius 2019a) habe.
Diese Bäume global zu pflanzen und zu pflegen (Aufwand!/praktische Umsetzung!) vermag sicher den Klimaschutz zu befördern, um die Klimaschutzziele etwas leichter zu erreichen – die Dringlichkeit des Handelns und der starken Transformation bleibt auch beim massenhaften Bäume pflanzen angesichts der gigantischen Herausforderung ‚Klimakrise‘ ungebrochen: Zudem ist immer mehr Bäume pflanzen keine Dauerlösung auf diesem begrenzten Planeten, sondern kann allenfalls unterstützend wirken:
„Wälder können zwar Kohlendioxid aufnehmen und im Holz binden – aber eben nur in begrenzten Mengen während ihrer bis zu 100 Jahre dauernden Wachstumsphase. Will die Menschheit mit ihrem CO₂-Ausstoß weitermachen wie bisher, dann müsste sie alsbald die zwei-, drei- oder vierfache Fläche der USA freiräumen, um dort Bäume zu pflanzen“ (Charisius 2019b) – freiräumen? Natürlich nicht.
Allgemein hat die Idee m.E. eine größenwahnsinnige Anmutung – und mich würde auch interessieren, inwieweit der positive Effekt wieder durch den (fossilen?) Energieaufwand bei Pflanzung und Pflege geschmälert wird… Trotzdem: Systematisch Wälder zu schützen und viele, viele neue Bäume zu pflanzen ist dennoch definitiv richtig – es ist ein weiteres Puzzleteil auf dem Pfad der ‚großen Transformation‘.
Auf NGO-Ebene gibt es selbstredend schon länger umfangreiche Baumpflanz-Projekte. Hier engagiert sich u.a. die globale Nicht-Regierungsorganisation (Non-governmental organization) Plant for the Planet, die von dem seinerzeit 9-jährigen Felix Finkbeiner (*1997) gegründet wurde, unter der Schirmherrschaft von Fürst Albert von Monaco und Klaus Töpfer.
>> Hier gibt es Diskussionen um die Zahl der gepflanzten Bäume – und das Ziel 1.000 Milliarden Bäume liegt offensichtlich in weiter Ferne, im September 2020 erfolgt der berechtigte Hinweis, dass Gruner & Jahr nicht der ideale Sponsor ist (vgl. klimaluegen-Detektor 2020) – aber festzuhalten bleibt: Der Plant for the Planet-Ansatz ist Teil der Lösung, zumal es nicht nur um pure Bäumepflanzen geht, sondern eben auch um Umweltpädagogik und globales soziales Engagement.
Graeme Maxton weist zu Recht darauf hin, dass das Pflanzen von Bäumen ausschließlich CO2 und keine anderen Treibhausgase bindet (vgl. 2020, 49).
Und das Prinzip „Baum rein und alles ist gut“ ist natürlich zu simpel gedacht, symbolisch dafür mag dieses Zitat von Christian Ammer, Forstwissenschaftler an der Universität Göttingen, stehen:
Wenn man dagegen einen Trockenrasen mit seltenen Blütenpflanzen [durch Waldpflanzung] aufforstet, dann erhöht man unter Umständen zwar den Kohlenstoffspeicher“, sagt Ammer, „aber man vernichtet gleichzeitig einen Lebensraum für viele seltene Arten“ (zit. in Laskus 2020).
Auf einen anderen Umstand in diesem Zusammenhang weist Maike Rademaker hin:
Massive Aufforstung mit „Buchen, Eichen und andere[n] Laubbäumen“ (2020,12) bedeutet massive „Wildschadensverhütung“ zur Vermeidung von Verbiss – mit anderen Worten: „Wer einen klimastabilen Mischwald will, muss den Bestand an Schalenwild – vor allem Reh- und Rotwild – in vielen Regionen Deutschlands drastisch verringern. Und das heißt nicht nur, aber vor allem: sehr viel mehr Jagd (ebd.)1. Und das bedeutet u.a., dass „[d]ie jahrelang zusammengesparten Forstämter … besser ausgestattet werden [müssen]“ (ebd.).
>> vgl. Aspekt Waldsterben 2.0/‚Förstersterben‘, S. 131f.
Entsprechendes sieht auch der Gesetzesentwurf der im September 2020 zur Verabschiedung vorgesehenen Novelle des Bundes Jagdgesetzes vor (vgl. Krumenacker 2020).
Die Grüne Mauer im Sahel | The Great Green Wall | The Great Green Wall for the Sahara and the Sahel Initiative (GGWSSI)
ist ein 2007 von der Afrikanischen Union (AU) begonnenes Projekt, dass ein mindestens 15 km breites und etwa 8.000 km langes Band quer durch Afrika unterhalb der Sahara in der Sahelzone etwa auf den Breitengraden vom Senegal, von Mali, Niger, Tschad, Sudan und Eritrea vorsieht. Etwa 15% des Projektes sind laut Projektkoordinator Elvis Paul Tangem (Stand 2017) umgesetzt. Inzwischen ist man davon abgekommen, dass dieser Baumwall unbedingt durchgehend zu sein habe – dieses Bild einer mächtigen Grünen Mauer habe in erster Linie Symbolkraft: „Für den Agrarexperten [Chris] Reij geht es … weniger darum, massenhaft Bäume zu pflanzen, als vielmehr [pragmatisch von den örtlichen Gegebenheiten auszugehen, die Menschen einzubeziehen und in diesem Sinne] viele kleine, in den Dorfgemeinschaften verwurzelte Projekte zu unterstützen und existierende Baumbestände zu erhalten… [D]ie Verantwortlichen sprechen mittlerweile lieber von einem Mosaik als von einer Mauer. Außerdem geht die Initiative nun über die Sahelzone hinaus, insgesamt 21 afrikanische Staaten beteiligen sich“ (Goergen 2017). Klar ist auch, dass es hier um weit mehr geht, als um Bäume pflanzen.
„Never doubt that a small group of thoughtful, committed citizens can change the world; indeed, it’s the only thing that ever has.“
Margaret Mead (1901-1978), US-Wissenschaftlerin (vgl. Quoteinvestigator 2017)
>> Im Herbst 2020 erscheint die Kino-Doku The Great Green Wall, in dem die feministische Musikerin Inna Modja die Sahelzone von West- nach Ostafrika bereist und den Status quo beleuchtet, s.a. https://youtu.be/gCl05qDDacc (Abrufdatum 25.9.2020)
Das Lebensprojekt des Yacouba Sawadogo
Mitten in der Sahelzone, im unwirtlichen Norden von Burkina Faso ist es einem einzelnen Menschen in dreißig Jahren harter körperlicher Arbeit – lange Jahre vollkommen allein – entgegen aller Widerstände (auch seiner Mitmenschen) gelungen, was westliche ‚Entwicklungshelfer‘ vergeblich versuchten: Yacouba Sawadogo hat einen Wald geschaffen, „30 Hektar ehemals totes Land, 42 Fußballfelder, auf denen 60 verschiedene Bäume [sic! Baumarten] und Sträucher [und Getreide] wachsen, die größte Artenvielfalt in diesem Teil der Sahelzone“ (Jeska 2012) („Vor 20 Jahren stand hier nur ein Baum!“, ebd.). 2018 wurde Sawadogo Yacouba mit dem sog. alternativen Nobelpreis, dem ‚Right Livelihood Award‘ ausgezeichnet (vgl. Grefe 2018).
Wenn ein einzelner Mensch vermag, im Sahel einen 42 Fußballfelder umfassenden Wald zu schaffen – dann zeigt das, was eigentlich alles möglich wäre – und es ist m.E. sehr frustrierend, dass es so oft bei solchen ‚Mutmachergeschichten‘ bleibt – weil immer angeblich alles nicht geht. Machen statt reden.
In diesem Fall allerdings hat Yacouba Sawadogo inzwischen zahlreiche Nachahmer*innen gefunden (vgl. Grefe 2018) – andererseits wurde dem Projekt der eigene Erfolg zum Verhängnis: Dort, wo Wald und Felder entstanden waren und das lokale Klima wieder angenehm war, baute die Regierung: Häuser. Sawadogo „tat das, was er immer getan hat, wenn das Leben sich ihm entgegenstellte: Er fing wieder von vorne an. Wanderte mit seiner Hacke ein Stück weiter: dorthin, wo niemand war und wo niemand sein wollte, hackte neue Löcher“ (Jeska 2012).
Moore erhalten bzw. renaturieren
Moore = lediglich 3% der globalen Landfläche.
„[A]ber sie speichern doppelt so viel Kohlenstoff wie die Biomasse aller Wälder zusammengenommen“ (Succow 2019, 111).
Auch Sven Titz weist darauf hin, dass intakte Moore große Mengen an CO₂e binden:
„Die dort wachsende Biomasse wird nach dem Absterben nämlich kaum zersetzt, sondern lagert sich in Form von Torf ab. Moore besitzen dadurch die Fähigkeit, Kohlenstoff aufzunehmen und dauerhaft zu speichern – sie sind ‚Kohlenstoffsenken‘. Legt der Mensch das Moor trocken, kehrt sich der Prozess um: Die einstigen Feuchtgebiete setzen dann grosse Mengen an Treibhausgasen frei – vor allem Kohlendioxid, Methan und Lachgas.“ – „Wie gross das Problem ist, verdeutlicht jetzt eine Studie von Jens Leifeld [et al.] am Forschungsinstitut Agroscope in Zürich … Laut [deren] Rechnung könnten die Trockenlegungen in den Tropen ein bis vier Zehntel des Kohlenstoffbudgets aufbrauchen, das zur Einhaltung der Zwei-Grad-Grenze benötigt wird“ (2019).
5% der Moore in Deutschland sind noch intakt (vgl. Succow 2019, 111.).
„5% Deutschlands waren ursprünglich mit Mooren bedeckt – eine Fläche so groß wie Sachsen… Die meisten Moore wurden trockengelegt. Heute sind nur noch 0,1% mit nassen Mooren bedeckt – eine Fläche so groß wie Bremen“ (Fedrich 2020, 64-65).
Der Biologe (und 1990 kurzzeitig als stellvertretender Umweltminister der DDR fungierende) Michael Succow:
„Große Flächen in Deutschland werden [derzeit] revitalisiert. Mecklenburg-Vorpommern ist dabei ein Vorbild. In dem Bundesland sind schon über 20.000 Hektar Moore wieder vernässt worden. Ein Problem ist aber die Überdüngung der umliegenden Äcker. Das Grundwasser, das die Moore speist, ist hoch mit Nitrat und anderen Stoffen belastet. Das fördert eine andere Pflanzenwelt, vor allem dichte Schilfbestände. Die für Moore typische moosreiche Vegetation hat keine Chance. Es wird Jahrzehnte oder teils Jahrhunderte dauern, bis Moore wieder ihre einstige Pflanzendecke mit starker Torfbildung haben“ (ebd.).
Das Thema ‚Subventionen‘ läuft auch im 21. Jahrhundert immer noch und weiterhin in die falsche Richtung. So stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) 2015 heraus, das die Höhe der Subventionen für fossile Energieträger bei 5,3 Billionen Dollar liegt. Diese Summe wurde
„von Regierungen weltweit … dafür ausgegeben, die Preise für Kohle, Öl und Gas künstlich niedrig zu halten… Die IWF-Experten halten die Höhe der Subventionen für ‚schockierend‘, denn sie machen rund 6,5 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts aus. Damit werde für die Preisstützung von Kohle, Öl und Gas weltweit mehr Geld ausgegeben als für den Gesundheitssektor“ (Wetzel 2015).
Diese Summe enthält neben den direkten Subventionen, die 2015 bei 333 Milliarden Dollar1 lagen, die „‚wahren Kosten‘, die durch ihre Förderung, die Verteilung und den Verbrauch von Kohle, Gas und Öl entstehen. Das schließt auch Umwelt-, Gesundheitsschäden und die Klimaerwärmung mit ein“ (ebd.).
„Klimaökonom Lord Nicolas Stern von der Londoner School of Economics zeigt sich erfreut über das IWF-Papier: ‚Diese sehr wichtige Analyse zerstört den Mythos, dass fossile Brennstoffe billig sind, es zeigt wie riesig die tatsächlichen Kosten sind. Es gibt keine Rechtfertigung für diese enormen Subventionen‘, so Stern im Guardian. Er schätzt allerdings, dass die Vollkosten durch den Klimawandel und damit die Subventionen der fossilen Energieträger noch ‚viel größer sind als dieser Bericht aufzeigt‘“ (DW 2015).
Details: Erläuterungen zu (1)
Auch 2017 liegen diese Kosten knapp unter 300 Mrd. Dollar, vgl. IEA 2018, 112.
Naomi Klein kommt auf andere, aber nicht weniger erschreckende Zahlen:
„Nicht nur erhält die Fossilindustrie jährlich Subventionen in der Höhe von 775 Milliarden bis eine Billion US-Dollar, sondern sie dürfen auch noch unsere gemeinsame Atmosphäre als kostenlose Mülldeponie nutzen – ein Sachverhalt, den der Stern Report (Stern Review on the Economics of Climate Change) als ‚das größte Marktversagen, dass die Welt je erlebt hat‘, bezeichnet“ (Klein 2015, 92).
>> vgl. Abschnitt Forschungs-Historie Klimawandel, Aspekt Stern-Report, S. 161
Das bedeutet, dass trotz der Biodiversitäts- und Klimakrise nach wie vor ungebremst unvorstellbare Summen an Geldern in die falsche Richtung fließen. Sie stützen die größten Industriebranchen der Welt, die ohnehin bislang viel zu erfolgreich für ein Weiterbestehen ihres die Menschheit gefährdenden Geschäftsmodells kämpfen.
Die FDP fordert – gerade auch angesichts der Klimakrise – freie Märkte, faire Wettbewerbsbedingungen und Technologieoffenheit. Soll doch die ‚unsichtbare Hand1‘ entscheiden, welche Produkte und Technologien sich durchsetzen. Wunderbar. Machen wir. Streichen wir die Subventionen aller Marktteilnehmer, führen das Verursacherprinzip ein – dann haben wir den freien Markt. Dann kosten die Dinge, was sie tatsächlich kosten. Solarstrom ist schon jetzt, unter den derzeitigen Bedingungen, günstiger als fossiler Strom.
Details: Erläuterungen zu (1) 'unsichtbare Hand'
Auch von Adam Smiths ‚magischer‘ unsichtbarer Hand aus dem Munde von sich selbst als rational bezeichnenden Menschen mag ich nichts mehr hören. Aber, um im Bild zu bleiben gibt es diese magische Hand vielleicht doch: Die unsichtbare Hand greift sowohl in Deutschland als auch global den Armen in die Tasche und steckt es den ohnehin schon Reichen zu. Spannend ist hier der Hinweis von Maja Göpel, dass das „zweite große Werk [von Adam Smith] ‚Die Theorie der ethischen Gefühle‘ heißt, in dem er die Fähigkeit zum Mitgefühl als Wesenszug des Menschen beschreibt… [und Smith] klar für regulierende Gesetze eintrat, also mitnichten davon ausging, der Markt werde schon alles von allein regeln“ (2020, 64).
In die falsche Richtung investierte Gelder sind mehr als nicht in die richtige Richtung eingesetztes Geld.
Die Schäden, die diese Subventionen verursachen, müssen nachfolgend ebenfalls und zusätzlich bezahlt werden: Wenn man an einer Wegkreuzung falsch abbiegt, muss man erst wieder den Fußweg zurückgehen, um dann die andere Wegstrecke zu nehmen. (Falscher Fußweg und Rückweg zum Ausgangspunkt summieren sich auf.) So ist das hier auch. Das bedeutet, dass Klimaschutz noch teurer wird als ohnehin schon.
Mehr noch: Mit jedem Tag werden durch Beibehaltung dieser Route eine Reihe von Fakten geschaffen, die nicht oder nur schwer reversibel sind.
Ein ‚Weiter so‘ ist mehr als ein ‚Weiter so‘:
Mit jedem gebauten LNG-Terminal, jeder Flughafenerweiterung, jeder genehmigten Kohlemine, jedem Bauplan für ein Kohlekraftwerk werden Fakten geschaffen, Klagegründe gegeben, Entschädigungsforderungen heraufbeschworen, Ressourcen verbraucht, Ingenieursleistungen gebunden, Forschungsressourcen in die falsche Richtung gelenkt, Arbeitsstunden verbraucht, Menschen in rückwärts-gewandten Berufen ausgebildet und letztlich Zeit und Geld verbrannt, das nicht mehr für Klimainvestitionen zur Verfügung steht und für den Rückbau, die Schadensbeseitigung, Entschädigungs-Kompensation, Weiterbildung bzw. Zweitstudium benötigt wird. Noch wichtiger als der Faktor Geld/Ressourcen ist die knappste und derzeit wertvollste Ressource überhaupt: Zeit.
Wir haben also die bizarre Situation, dass das ‚Klimapaket‘ verabschiedet wurde, aber (gemäß meinen Recherchen) per Klimapaket keine Reduktionen bei Subventionen von fossilen Energien und sonstigen klimaschädigenden Unternehmungen1 vorgesehen sind. Damit ist das ‚Klimapaket‘ ein add-on und tilgt zu einem kleinen Teil die Schädigungen, die durch die klimaschädlichen Subventionen verursacht wurden: Der Staat stellt Geld für die Ermöglichung von Schäden, um sie anschließend selbst zu bezahlen.2
Gleiches gilt für die Post-Covid-19-Kaufprämie für E-Autos (und plug in-Hybride). Dies ist zusätzlich vom Staat investiertes Geld – die Abschaffung des Dieselprivilegs hätte eine ähnliche (und längerfristigere) Wirkung, wäre aber nicht mit Mehrausgaben bzw. dem Bezahlen von Schäden verbunden gewesen. Es fehlt die Einsicht, die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten – und die Deutschen zahlen den fehlenden Mut ihrer Regierung mit Steuergeld.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Mit einer Ausnahme: Am 21.12.2018 wurde in Deutschland die letzte Steinkohle-Zeche geschlossen, womit diese Subventionen in der Höhe von jährlich 1,732 Mio Euro ablaufen (von 57,079 Mio Euro) (vgl. UBA 2016).
2 Ein konkretes Beispiel: „RWE verdient nach eigenen Angaben bei der Braunkohleverstromung drei Cent pro Kilowattstunde. Die Gesundheits- und Umweltschäden durch die gleiche Menge Braunkohlestrom schätzt das Umweltbundesamt auf 19 Cent pro Kilowattstunde“ (Stöcker 2019). Das bedeutet: Die Allgemeinheit bezahlt – neben der Stromrechnung – mit ihrer Gesundheit und letztlich weitere 19 Cent pro Kilowattstunde, damit RWE 3 Cent pro Kilowattstunde verdienen kann.
Wenn man das Thema ‚indirekte Subventionen‘ noch ein wenig weiter fasst, also den Verzicht auf Internalisierung von externalisierten Kosten – den Umweltschäden – mit einbezieht und dann diese Schäden, die die kommenden Generationen massiv betreffen werden, mit einrechnet und die vom UBA veranschlagten Kosten pro Tonne an CO2-Emissionen (180 Euro/t bei einer Abzinsung künftiger Schäden mit 1% pro Jahr | 640 Euro/t ohne Abzinsung1), kommen wir für die 2019 ausgestoßenen 813 Mio t CO₂e (vgl. S. 76) auf Geldsummen2, die kaum noch Sinn machen: Dann subventioniert Deutschland seine klimaschädlichen Wirtschaftsunternehmen nochmals und zusätzlich mit etwa 155 Mrd. Euro/Jahr bzw. ca. 549 Mrd. Euro/Jahr. Abzuziehen sind davon die Belastungen von Unternehmer*innen und Verbraucher*innen durch den Europäischen Zertifikatehandel (EU ETS) in der Höhe von knapp 10 Mrd. Euro3. Abzuziehen sind auf Basis des nunmehr nachgebesserten ‚Klimapakets‘ ab 2021 weitere ca. 11,8 Mrd. Euro.4
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 Das UBA benennt die Klimakosten wie folgt: 1% reine Zeitpräferenzrate (zentraler Kostensatz) = 180 Euro/t CO2 und 0% reine Zeitpräferenzrate (für Sensitivitätsanalysen) = 540 Euro/t CO2 (vgl. UBA 2019); vereinfacht ausgedrückt: Mittels einer Abzinsung berechnet man den Wert einer zukünftigen Zahlung bzw. Schadens.
2 2018 = 858,4 Mio t CO2e x180 bzw. x640 (vgl. UBA 2020)
3 45% von 858,4 Mio t CO2e = 386,28 x25 Euro = 9,7 Mrd. Euro (Rund 45% der EU-Treibhausgasemissionen werden durch den Emissionshandel (EU Emissions Trading System (EU ETS) abgedeckt, vgl. EC 2015). Der Kurs der ‚CO2 European Emission Allowances’ schwankt in den letzten Monaten um die 23 bis 26 Euro, vgl. https://www.boerse-online.de/rohstoffe/co2-emissionsrechte (Abrufdatum 28.5.2020)
4 55% von 858,4 Mio t CO2e = 472,12 x25 Euro = 11,8 Mrd. Euro
Fazit: Ungeheure Mengen von Subventionen fließen derzeit ungebremst in umweltschädliche Produkte, Unternehmen und Projekte. Diese haben unverzüglich abgebaut zu werden. Sofern es künftig noch Subventionen geben soll, haben diese unmittelbar mit einem CO2– und Nachhaltigkeitsvorbehalt gekoppelt zu sein: Es besteht keinerlei Bedarf an konservativ-bewahrenden, sondern ausschließlich an progressiv-innovativen Subventionsvorhaben.
Eine Umkehr dieses Trends ist derzeit nicht abzusehen.
>> vgl. Aspekt Divestment, S. 480, im Abschnitt Weitere politische Ziele bzw. hochwirksame Maßnahmen zum Klimaschutz.
„Wie ein Wasserpegel heben Standards alle Boote.“ (Kopatz 2016, 373)
Standards setzen, um Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch zu entwickeln
Michael Kopatz hat sich in seinem Buch Ökoroutine – Damit wir tun, was wir für richtig halten des Themas ‚Regulieren durch Standards setzen‘ angenommen:
Mit dem Begriff ‚Ökoroutine‘ ist gemeint, dass Öko zur Routine, d.h. zur Regel, zur Regel für Alle wird.
Für Bürger*innen in Form von Leitplanken, Ordnungsrecht etc.
Für Unternehmen z.B. in Form von Industriestandards
>> vgl. auch Aspekt Verbote – na klar. Was denn sonst?, S. 238f.
Vielversprechend erscheint m.E. insbesondere folgender Aspekt zu sein:
Kopatz‘ Ansatz geht von der Beobachtung bzw. Erfahrung aus, dass viele Bürger*innen einerseits durchaus Handlungsbedarf sehen und sich andererseits dennoch nicht umweltkonformer verhalten wollen, weil es ‚der Nachbar‘ auch nicht tut (vgl. S. 170 u. 377).
Ähnliches gilt für Unternehmer*innen, die ihr Unternehmen gerne auf ‚nachhaltigere Pfeiler‘ stellen würden, aber angesichts der möglicherweise nicht mitziehenden Konkurrenz doch davor zurück-schrecken.
Kopatz stellt fest:
„Verhältnisse ändern, statt [mühsam, wenn nicht vergeblich] Verhalten“ (Kopatz 2019, 67) von Unternehmer*innen und Bürger*innen.
„Wenn nicht das persönliche Verhalten zur Disposition steht, sondern die Rahmenbedingungen insgesamt, sind Menschen durchaus vernünftig“ (Kopatz 2019, 67).
„Statt mit moralischen Appellen von den Konsumenten das ‚richtige‘ Verhalten einzufordern ist es viel effektiver, die Produktion zu verbessern“ (Kopatz 2019, 15).
Kopatz bringt die Grundlage seiner ‚Ökoroutine‘ auf die kürzest mögliche Formel:
„I will, if you will“ (Kopatz 2020).
Anders gefasst: „Verhältnisse ändern Verhalten“ (Kopatz 2019, 57).
Das geht konkret so:
Man setzt Standards, die dann mit Übergangsfristen schrittweise angehoben werden. So vermeidet man Wettbewerbsnachteile, plötzliche Preissprünge und Abstrafungen durch Wähler*innen.
„Neben steigenden Standards braucht es Limits und Obergrenzen, beispielsweise für den Flugverkehr“ (Kopatz 2019, 15).
Letztlich ist die Idee nicht neu und langjährig erprobt:
Steigende Standards gibt es schon längst und seit Jahrzehnten in vielen Bereichen; sie sind eine feste Größe beim Regulieren von Industriebranchen und zum Schaffen gerechter Wettbewerbsbedingungen.
Das vielleicht augenfälligste Beispiel kennen wir alle mit den regelmäßig erfolgenden und in diesem Sinne verlässlichen, Planungssicherheit gebenden Erhöhungen von Umweltstandards – bspw. in Form von Abgasnormen (‚Euro-Normen‘) bei Autos wird dies bereits seit spätestens Anfang der 1990er Jahre betrieben.
Neuist hingegen die Idee, dieses bewährte Prinzip systematisch und umfassend zur Lösung der Klima- und Umweltherausforderungen zu machen – Kopatz geht es um systematische Implementierung solcher Standarderhöhungen in allen Bereichen mit dem Ziel, klimagerechte Umweltnormen zu etablieren.
Industrie/Wirtschaft:
Bewährt hat sich das Ganze z.B. bei Effizienzstandards ist der Bauwirtschaft:
„Die Entscheidung der EU-Staaten, auf ständig steigenden Effizienzstandards für die Bauwirtschaft zu setzen, zeigt exemplarisch, wie sich Ökoroutine mit europäischer und nationaler Rahmen-setzung systematisch ins Werk setzen lässt. Die hohen Standards sind nicht nur ein Beitrag zur Bekämpfung der Erderwärmung und begrenzen künftigen Energieverbrauch. Sie entlasten den einzelnen Bürger auch von der moralischen Abwägung zwischen Klimaschutz und Küchendesign. … Klimapolitisch ambitionierte Bürgermeister und Stadtplaner müssen fortan nicht mehr darum bangen, dass das geplante Neubaugebiet nicht angenommen wird, weil die energetischen An-forderungen zu hoch sind, denn auch die Baugebiete der Nachbargemeinde sind gleichermaßen zum Klimaschutz verpflichtet“ (Kopatz 2016, 118-119).
Derweil gilt die Agrarindustrie gemeinhin als nur schwer reformierbar; Kopatz sieht hier weniger Probleme:
Die Reaktion von Landwirt*innen auf die Forderung nach ‚höheren Standards‘ lautet gemäß Kopatz regelmäßig so:
„Also, wenn sich auch die Holländer, die Franzosen und Spanier an die höheren Standards halten müssen, dann habe ich damit kein Problem“ (2019, 148).
„[D]ie Agrarwende [ist] so einfach auf den Weg zu bringen, dass man sich verwundert die Augen reibt… Das Regelwerk ist bereits vorhanden… Ein Fahrplan für die Agrarwende müsste nur noch vorgeben, in welchem Ausmaß und Zeitraum der Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln und Dünger zu reduzieren ist. Das kann eine großzügige Zeitspanne sein, etwa bis zum Jahr 2030“ (2016, 92). Prima, dass das Regelwerk bereits vorhanden ist. Doch können großzügige Übergangszeiten m.E. im Widerspruch zu Kopatz‘ Ausführungen nur und ausschließlich dort gewährt werden, wo – auch aufgrund jahrelangen Verschleppens – keine ‚Gefahr im Verzug‘ vorliegt. Dies erscheint mir
bei Glyphosat und/oder massiv Bienen- bzw. Insekten-schädigende Stoffen und
beim Tierwohl und allgemeiner
beim Thema Rinder-Massentierhaltung (Methan) und Stickstoffdüngung/Lachgas/Trinkwasser der Fall zu sein. Hier bedarf es einer schnellen, m.E. sofortigen Abhilfe, die sich jedoch nicht in vereinzelten Sofortmaßnahmen erschöpfen kann, sondern in eine ebenso schnelle wie umfassende (europaweite) Agrarreform zu münden hat.
>> vgl. Abschnitte Fleisch, Fisch & Ernährung, S. 549 und Landwirtschaft S. 567ff.
Konsument*innen:
Sinnbildlich gilt: Wenn der Nachbar keinen SUV kaufen kann, brauche ich auch keinen.
Mehr noch: Uns Verbraucher*innen können solche Standards manchmal sogar massiv entlasten. Hierzu spielt Kopatz auf die EU-Ökodesignrichtlinie an, welche dafür sorgt, dass die Leerlaufverluste z.B. von Unterhaltungselektronik, die zuvor „nicht selten Leerlaufverluste von 40 Watt und mehr“ (2016, 146) aufwiesen nunmehr bei länger ausgeschalteten Geräten auf unter ein halbes Watt normiert seien (vgl. Schulz 2019) – sodass die Bürger*innen sich darum keinen Kopf mehr machen müssten (vgl. Kopatz 2016, 146).
Kopatz merkt hier zu Recht an, dass das ein großer Vorteil von Standards ist. Aber die Krux ist, das Standards lückenlos zu sein haben – sonst läuft es wie bei den Motorrollern, die in den 2000er Jahren mit zwei Vorderrädern auf den Markt kamen und aufgrund einer entsprechenden Gesetzeslücke ohne eigenständigen Führerschein mit einem Standard-Autoführerschein benutzt werden durften.1 (Die Lücke wurde 2013 geschlossen, vgl. Wille 2018).
Details: Erläuterungen zu (1)
„Mit einer Spurbreite von mehr als 46 Zentimeter galt ein Dreirad-Scooter als Zwei- und nicht als Einspurfahrzeug, daher Autoführerschein“ (Wille 2018).
Auch die Ökodesignrichtlinie, die hinsichtlich des Leerlauf-Stromverbrauchs sicher einen großen Schritt nach vorn bedeutet, ist keineswegs lückenlos. So lautet auch im Jahre 2019 die Empfehlung von Utopia:
„Auch für Computer oder Zubehör gibt es eine EU-Verordnung, die alle Hersteller dazu zwingt, den Stromverbrauch bei abgeschalteten Geräten auf ein halbes Watt zu reduzieren. Oft tricksen Hersteller aber und führen einen eigenen Ruhemodus ein. Einige Geräte haben dagegen gar keinen ‚Aus‘-Schalter. Da hilft dann die beste Verordnung nichts. Kaufe also nichts, was nicht auch einen echten ‚Aus‘-Schalter hat“ (Schulz 2019).
Dabei liegt die Lösung so nahe: Jedes elektrische Gerät hat unabhängig von irgendwelchen Spar-Modi einen mechanischen An-Ausschalter aufzuweisen. Eine Zeile Gesetzestext. Wenige Dinge sind leichter zu regulieren.
Und in Kombination bzw. Ergänzung mit einer EU-CO2-Grenzsteuer (vgl. S. 209) wäre die Einführung bzw. der ökologisch orientierte Zuschnitt von Zöllen möglich:
„Für Textilien fallen in Europa zum Beispiel zwölf Prozent des Warenwerts an Zollgebühren an, für Lederschuhe acht Prozent. Die EU unterscheidet also nach der Warenart und nutzt ganz selbstverständlich den immensen Steuerungsspielraum, den Zölle bieten. … Es wäre also auch denkbar, den Import von menschenfreundlich hergestellter Kleidung vom Zoll zu befreien und konventionelle Produkte deutlich höher als bisher zu verzollen. Ein ähnliches Vorgehen wäre auch in Hinblick auf Elektronikprodukte möglich: Hersteller von Produkten wie dem Fairphone, die sich nach-weislich um faire Produktionsbedingungen auch im Bergbau bemühen, könnten ihre Ware günstiger einführen“ (ebd., 174-175).
Kopatz‘ Fazit:
„Der Einzelne ist mit der Bewältigung von derart komplexen Problemlagen wie etwa dem Klimawandel überfordert … Der verschwenderische Umgang mit Ressourcen ist und bleibt Routine in unserer Kultur. Doch Routinen können sich ändern. Ökoroutine nimmt das hohe Umweltbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger ernst und möchte auf dieser Basis Standards verbessern, Limits festlegen und Anreize schaffen“ (2016, 346-347): „Ökoroutine verändert die Verhältnisse so, dass sich nachhaltiger Konsum verselbstständigt“ (ebd., 356).
Und:
„Viele Gründe sprechen für die Fortführung und Ausweitung der Ökosteuer.
Zu beschließen ist sie jedoch nur schwer.
Einfacher ist das bei Limits … und Standards, denn sie machen sich nicht unmittelbar in der Geldbörse bemerkbar und lassen [sich] weniger leicht als unsozial abtun“ (ebd., 372).
Umweltschädigendes Verhalten ist in diesem Gedankengebäude
i.d.R. innerhalb von festgelegten Limits weiterhin prinzipiell möglich,
aber unbequem und
vom Verursachenden zu bezahlen.
Der Ansatz der Ökoroutine bedeutet eine gesellschaftlich-wirtschaftliche Umkehr der Verhältnisse, die i.d.R. die Menschen mit dem höchsten CO2-Fußabdruck am meisten betrifft, also die Vermögenden (vgl. S. 254).
Dabei ist wichtig, dass sich Vermögende nicht beliebig heraus kaufen können.
>> vgl. Aspekt Deckelung von Flugkilometern, S. 286
Die von Michael Kopatz selbst so bezeichnete ‚unbequeme Wahrheit‘ lautet:
„Nur Limits beenden den Exzess“ (2019, 95).
Michael Kopatz‘ Ansatz ist m.E. eine der vielversprechendsten Reformideen, die wir haben – wäre da nicht der Faktor Zeit. Und das Zeitfenster ist seit Veröffentlichung der Ökoroutine im Jahre 2016 nach meiner Einschätzung angesichts der immer dringlicheren Nachrichten der Klimatolog*innen wesentlich kleiner geworden.
Der Ansatz ‚Ökoroutine‘ kratzt übrigens m.E. deutlicher am Wachstumsdogma, als man zunächst annehmen könnte:
Allein die Deckelung des Infrastrukturausbaus sowie die Finanzmarktregulierungen würden hier für entscheidende Veränderungen sorgen.
Quellen des Abschnitts Standards setzen, um Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch zu entwickeln
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Kopatz, Michael (2020): [Rede beim Ersten Hamburger Klimagipfel]. 20.1.2020.
Stop subsidies on fossil fuels icon | public domain
Die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft ist unabdingbar. Und obgleich viele Staaten zumindest ansatzweise Reformen einleiten, um sich vom Öl loszueisen, agierten die Player der Finanzmärkte in den 2010er Jahren, als gäbe es kein Morgen, sondern nur Quartalsberichte.
Seit der Unterzeichnung des Pariser Abkommens haben Greenpeace zufolge „24 [beim 2020er Weltwirtschaftsforum] in Davos anwesende Banken … immer noch unglaublich viel Geld in fossile Brennstoffe investier[t]: 1,4 Billionen Dollar“ (Brinkmann 2020).
Vor diesem Hintergrund erhält, seit etwa 2010, eine im universitären Bereich der USA namentlich am Swarthmore College in Pennsylvania entstandene Bewegung mehr und mehr Zulauf und Einfluss (vgl. Stewart 2014).
Grundidee ist, dass diejenigen großen Unternehmen, deren kapitalintensives Geschäftsmodell auf fossilen Energien beruht, auf das Kapital ihrer Kapitalgeber*innen angewiesen sind; der Entzug dieses für das Geschäft notwendig verlässlich zuströmenden Kapitals würde das Ende des bisherigen Geschäftsmodells bedeuten.
Und selbst wenn der Kapitalentzug nur teilweise gelingt, brandmarkt der weltweit erkennbare Wille vieler Großanleger*innen die fossilen Unternehmen, für die das mindestens eine moralische Katastrophe bedeutet.
Es geht um eine Art Delegitimierungsprozess. Und Divestment bedeutet mehr als nur Geld abziehen, denn das Geld wird ja woanders und zwar – so die Idee – nachhaltiger investiert.
„Die Church of England steht an der Spitze einer erstaunlichen globalen Bewegung: Immer mehr Anlageprofis drängen Konzerne dazu, umweltpolitische und soziale Aspekte in ihren Geschäftsmodellen zu berücksichtigen und die Standesregeln guter Unternehmensführung einzuhalten. Das Schlagwort lautet ESG Investing. Das Akronym steht für Environmental, Social und Governance“ (Bartz 2019, 62-63).
„Den vielleicht größten Hebel, um Druck auf Klimamuffel auszuüben, hat die Church of England über die Initiative ‚Climate Action 100+‘ (CA100+), ein Zusammenschluss von über 340 Investoren, die gemeinsam mehr als 33 Billionen Dollar verwalten. Gemeinsam mit der niederländischen Fondsgesellschaft Robeco steuern die Briten die Initiative. Ihr Augenmerk gilt den weltweit größten Dreckschleudern, jenen 100 Konzernen, die zwei Drittel aller Treibhausemissionen ausstoßen… ‚Ab 2023 wird deinvestiert‘, sagt Adam Matthews, der den Pensionsfonds der Church of England leitet, einen weiteren Fonds der Klerikalen mit etwa zwei Milliarden Pfund“ (Bartz 2019, 63).
Und das ist in der Tat ein äußerst mächtiger Hebel, wie auch die Kampagne Fossil Free der Klimaschutzorganisation 350.org zeigt, die u.a. von Barack Obama, Prince Charles und vom Friedensnobelpreisträger Al Gore unterstützt wird: Mittlerweile ziehen sich diverse Pensionsfonds, Stiftungen sowie das Land Irland finanziell aus entsprechenden Unternehmen zurück. Mit Stand Juni 2020 deinvestieren 1237 Organisationen und mehr als 58.000 Personen, die zusammen mehr als 14 Billionen US-Dollar verwalten (vgl. Gofossilfree 2020).
Beispielsweise Norwegen baut nunmehr – Stand Oktober 2019 – Stück für Stück seinen Staatsfonds (der den Wohlstand der kommenden Generationen sichern soll) um und trennt sich von Anlagen in der Höhe von ca. 5,4 Milliarden Euro, die in die weltweite fossile Industrie investiert wurden (vgl. Spiegel 2019).
Der guten Nachricht folgt – Stand Januar 2020 – Ungereimtes:
„Vor Norwegens Küste hat ein riesiges Ölfeld die Produktion aufgenommen. Es soll 50 Jahre lang fossilen Brennstoff liefern“ (Seidler 2020) – die Begründung für dieses Investment möchte ich ‚neoliberal‘ nennen: „Besser umweltschonend gefördertes norwegisches Öl als anderes“ (vgl. ebd.). Und „[d]as Geld aus dem Öl- und Gasgeschäft wandert zu einem guten Teil in … [den o.g.] Staatsfonds (‚Staten pensjonsfond Utland‘)“ (ebd.), der eben kein Geld in internationale fossile Unternehmen steckt.
Norwegen hat zudem im Sommer 2020 die sog. ‚Eiskante‘ verschoben, d.h. selbige „politisch neu definiert – und damit den Rahmen für das Gebiet [neu] gesteckt, in dem potenziell nach Öl und Gas gesucht werden darf… [und bricht damit nach Ansicht des WWF] mit seiner langen Tradition wissenschaftsbasierter Entscheidungen“ (Preker 2020).
Auch dem Bund und den Länder Deutschlands kann man bislang keine Vorbildfunktion attestieren: Die Initiative Fossil Free Berlin kommt zu dem Ergebnis: „Allein der Bund steckte den Autoren zufolge rund 800 Millionen Euro in Fossil-Aktien“ (Böcking 2020). Matthias von Gemmingen von Fossil Free Berlin: „Sie glühen und brennen, die Aktiendepots von Olaf Scholz und den anderen Finanzministern… Diese Art von Börsengeschäften sind mit dem Pariser Klimaabkommen unvereinbar“ (zit. in ebd.).
Wenngleich der m.E. vielversprechende Divestment-Ansatz bislang nur Achtungserfolge vorweisen kann, überwiegen die guten Nachrichten:
Beim Bau der Adani-Mine im Nordosten Australiens (vgl. S. 62), wurde 2018 bekannt, dass
„die Minen aus dem laufenden Geschäft finanzier[t werden] … müssen, weil sich keine Investoren fanden. Der Analyst Tim Buckley bezeichnete das Projekt [welches im Jahr 2030 für 5,4 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen stehen könnte] als ‚unbankable‘… 62 Großkonzerne [haben] ausgeschlossen, sich an der Erschließung der Mine zu beteiligen … 16 globale Versicherungsunternehmen haben sich … geweigert, das Vorhaben zu versichern“ (Arzt 2020, 8).
Und:
„Eine Analyse des Imperial College London und der IEA[, d.h. die International Energy Agency] zeigte kürzlich, dass in den vergangenen Jahren bei den Investitionen in erneuerbare Energien die Renditen erheblich besser waren, als bei den Projekten fossiler Energieträger. Das betreffe sowohl die USA als auch Großbritannien, Frankreich und Deutschland“ (Janzing 2020).
Prima soweit… Doch wo stehen wir eigentlich hinsichtlich der finanziellen Bedeutung der fossilen Industrien? Das verdeutlicht dieses Zitat:
„[A]n der Londoner Börse wurden 2019 fast ein Viertel aller Dividenden von Öl- und Gasfirmen gezahlt“ (Pötter 2020, 9).
>> vgl. Aspekt Notwendigkeit zur Zerstörung des Geschäftsmodells der größten Industriebranche der Welt, S. 519
Immerhin: Ein Bericht des Think Tanks Carbon Tracker warnt im Juni 2020, dass „Investitionen in Öl, Gas und Kohlen viel riskanter als gedacht [seien]“ (Pötter 2020, 9), weil Erneuerbare Energien billiger seien und fossile Energien keine Zukunft haben, „warnt Geldgeber und Aufsichtsbehörden vor einer riesigen Kohlenstoffblase“ und empfiehlt „einen geordneten Rückbau von fossilen Vermögenswerten zu planen“ (ebd.).
Quellen des Abschnitts Divestment
Arzt, Ingo (2020): „ Die Kohlemine, die zeigt, dass Klimaschutz wirkt“. in: tageszeitung, 10.1.2020, 8.
Bartz, Tim (2019): „Mit Gottes Hilfe“. in: Der Spiegel, 22/25.5.2019, S. 62-64.
„Das Thema globale Erwärmung ist aus meiner Sicht eines der wichtigsten umweltpolitischen Themen, dass wir behandeln müssen. Und deshalb werde ich mit allem Nachdruck versuchen, möglichst viele politische Erfolge in Berlin zu erreichen, auch wenn der Prozess auch mir oft zu langsam geht.“ Angela Merkel, 1995, als Umweltministerin1
Klimanotstand ausrufen
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Von der Ausrufung eines Klimanotstandes will die CDU/CSU i.d.R. nichts wissen – das ist verständlich, markiert doch jede Ausrufung eines Klimanotstandes das eklatante Klimapolitik-Versagen der Union, die – wie Rezo sich ausdrückte – mit Stand 2019 in den letzten 36 Jahren 29 Jahre an der Macht war. Also genau zu der Zeit, in der „etwa die Hälfte des Kohlenstoffdioxids, das die Menschheit jemals in die Atmosphäre geblasen hat, … ausgestoßen [wurde] (Kolb 2019, vgl. Abschnitt Intro,) und parallel der Ressourcenverbrauch und der Konsumismus in schwindelerregende Höhen entglitten sind.
>>Details: Erläuterungen zu (1): Quelle: TV-Interview mit der Bundesumweltministerin Angela Merkel, 1995, aus den Archiven, Quelle: Deutsche Welle 2019.
Der YouTuber Rezo brachte die Klimakrisen-Situation vor den Europawahlen im Mai 2019 mit seinem ‚Realitäts-Schock‘-Video auf den Punkt:
„Mir war vorher nicht bewusst wie krass diese Parteien vorbei an Expertenmeinungen Politik machen. Man kann daher sagen, dass der aktuelle Kurs von CDU und SPD unser Leben und unsere Zukunft zerstören werden. Und das ist keine übertriebene wütende Parole, sondern der Konsens von tausenden Experten, die sich auf unzählige wissenschaftliche Untersuchungen stützen.“
Aus meiner Sicht trifft jede Aussage des Klimakrisen- und des Fridays for Future-Parts (am Ende des Videos) messerscharf den Punkt. Auch die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat Rezo wissenschaftlich überprüft und hatte nichts Relevantes zu beanstanden.
Es hat schon etwas Irrlichterndes, sich nun mit einer ‚Mehr vom Gleichen‘- und ‚nahezu-weiter-so‘-Programmatik als Problemlöser und Garant für ‚Freiheit‘ darzustellen.
Andere Regierungen sind schon wegen deutlich weniger zurückgetreten.
Andere Parteien und Parlamente in Deutschland und Europa sehen im Gegensatz zur Union durchaus die Notwendigkeit einen Klimanotstand zu erklären: Derzeit haben 69 Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland – darunter München, Konstanz, Kiel, Bochum, Wiesbaden und Heidelberg – den sog. ‚Klimanotstand‘ ausgerufen (vgl. wikipedia 2020).
Des Weiteren hat das EU-Parlament für Europa den ‚Klimanotstand‘ ausgerufen.
Hier scheiden sich die Geister, inwieweit dies eine reine Symbolpolitik und somit überflüssig sei – und inwieweit der Begriff ‚Notstand‘, der ja eigentlich „eine Ausnahmesituation darstelle, deren Bekämpfung die Einschränkung von Bürgerrechten in Kauf nimmt“ (Gilbert 2019, 5) angemessen sei. „Manche Städte, darunter Kiel, sprechen deswegen in ihren Beschlüssen explizit vom international benutzten Begriff ‚climate emergency‘“ (ebd.). „Berlin hat als erstes Bundesland eine ‚Klimanotlage‘ deklariert“ (Wetzel 2019).
Was genau ist an Symbolpolitik prinzipiell schlecht? Nach meiner Ansicht sollte derzeit jede Maßnahme ergriffen werden, um den vielen noch vom unendlichen HöherSchnellerWeiter träumenden Bürger*innen zu verdeutlichen, dass wir vor drastischen Umbrüchen und Veränderungen stehen. (Die Nutzung des englischsprachigen Begriffs ‚emergency‘ könnte evtl. in Deutschland nicht klar genug machen, worum es tatsächlich geht.) Und im Ernst: Es herrscht faktisch Klimanotstand – auch wenn er sich aktuell im Alltag der Deutschen nur bedingt zeigt.
Wo Klimanotstand im Sinne von ClimateEmergency herrscht, bedarf es einer deutlichen Reaktion.
Daher ist es überfällig, die Bewahrung der Lebensgrundlagen nicht nur allgemein umschrieben wie in GG 20a – „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ –, sondern eben durch exakte Benennung der Herausforderung durch Implementierung der Worte „Klimaschutz“, „sechstes Massenaussterben“ und „Klimagerechtigkeit“ in das Grundgesetz und auch in die Verfassungen der Bundesländer einzubringen.
Und dabei reicht es nicht, wie gerade in Hamburg geschehen, in die Präambel der Hamburger Verfassung sich zur „Verantwortung für die Begrenzung der Erderwärmung“ (Klimaschutzgesetz 2019) zu bekennen. Hier bedarf es eines Klimavorbehalts, der direkt als Artikel im Grundgesetz bzw. in den Landesverfassungen steht.
>> Definition ‚Klimavorbehalt‘: Alle Gesetzesentwürfe sind durch eine Ethikkommission auf ihre Klimatauglichkeit hin zu prüfen.
Eingangs ist hier auf die ‚Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung‘ (kurz: ‚Agenda 2030‘) der UN hinzuweisen, welche 17 Nachhaltigkeitsziele, die ‚Sustainable Development Goals‘, die SDGs beschreibt. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei den SDGs um die Ziele, auf deren Erreichung im Jahre 2030 sich die Menschheit im September 2015 geeinigt hat.
Erstes und damit oberstes Ziel – SDG 1 – ist, die Armut in all ihren Formen und überall zu beenden. Die Klimakrise ist unter SDG 13 erfasst, Aspekte des Biodiversitätsverlustes/Massenaussterbens folgen in SDG 14 und 15.
1 Armut beenden | 2 Ernährung sichern | 3 Gesundes Leben für alle | 4 Bildung für alle | 5 Gleichstellung der Geschlechter | 6 Wasser und Sanitärversorgung für alle | 7 Nachhaltige und moderne Energie für alle | 8 Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle | 9 Widerstandsfähige Infrastruktur und nachhaltige Industrialisierung | 10 Ungleichheit verringern | 11 Nachhaltige Städte und Siedlungen | 12 Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen | 13 Sofortmaßnahmen ergreifen, um den Klimawandel und seine Auswirkungen zu bekämpfen | 14 Bewahrung und nachhaltige Nutzung der Ozeane, Meere und Meeresressourcen | 15 Landökosysteme schützen | 16 Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen | 17 Umsetzungsmittel und globale Partnerschaft stärken (vgl. wikipedia 2020)
>> Definition ‚Nachhaltigkeit‘ gemäß Brundtland Report siehe S. 242
Eine Konkretisierung der 17 Oberziele ergibt sich durch einen Katalog von 169 Unterzielen.
Eine grundlegende Kritik an der Gestaltung der Agenda 2030 ist, dass zur Messung der Ziele vor allem das GDP (Gross Domestic Product), also das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dient und somit Nachhaltigkeit direkt am Wachstumskriterium gemessen wird. Anders ausgedrückt steht Nachhaltigkeit gewissermaßen unter Wachstumsvorbehalt (vgl. Seidl/Zahrnt 2015).
Auf Basis der SDGs wurde Anfang 2017 die ‚Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie‘ verabschiedet (vgl. Bundesregierung 2020). Auch viele Städte nehmen sich explizit der Umsetzung der 17 SDGs an (vgl. z.B. Hamburg 2017 u. München 2016).
Positiv ausgedrückt, sind die 17 SDGs nach meiner Einschätzung bemerkenswert bekannt und werden inkl. der markanten Grafik (s.o. Linkverweis) überall sowohl von Unternehmen, Verwaltungen und Politiker*innen als Referenz und Zielsetzung angegeben.1
Weniger positiv ausgedrückt – und das dokumentiert jede Seite dieses Handbuchs – passiert hinsichtlich der Umsetzung dieser Ziele viel, viel zu wenig. Von dem umfassenden Paradigmenwechsel, der zur Erreichung der SDGs erforderlich wäre, ist die Weltgemeinschaft weit entfernt.
Details: Erläuterungen zu (1)
So auch beim ‚Balance‘-Nachhaltigkeitsbericht 2019 der Lufthansa Group (S. 33), der sogar die Unternehmenspolitik konkret mit einzelnen SDGs in Verbindung bringt (vgl. S. 32). Hochglanzpapier ist geduldig. Auch die Rheinmetall Group („Mobility. Security. Passion“ (2020, 205) hat eine „mögliche[n] Beitrag Rheinmetalls zu den 17 UN Sustainable Development Goals … im [Geschäfts-]Berichtsjahr [2019] ermittelt und eine Zuordnung nach den Rubriken Trusted Company, Responsible Business, Employer of Choice, Environmental Stewardship und Committed Corporate Citizen vorgenommen“ (2020). Rheinmetall Defence bezeichnet sich als das „führende[] europäische[] Systemhaus für Verteidigungstechnik“ (2020, 106) – neudeutsch für ‚Rüstungskonzern‘.
Aus den vielen Aspekten, die sich aus den SDGs ergeben, sei das für das folgende Kapitel wichtige SDG 16 kurz herausgegriffen:
In SDG 16
‚Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen – Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen‘
geht es u.a. um Partizipation, d.h. um Bürger*innenbeteiligung und -teilhabe. Dies ist ein Querschnittsziel, womit gemeint ist, dass davon ausgegangen wird, dass ohne SDG 16 andere Ziele nicht oder nur unzulänglich erreicht werden können.
Umsetzung des SDG16 in Deutschland: Mehr Demokratie, neue Formen der politischen Partizipation
Nachdem der alte Generationenvertrag faktisch aufgekündigt ist (vgl. S. 230f.), bedarf es eines neuen Gesellschaftsvertrages, der uns Klarheit über die Frage verschafft, wie wir „eigentlich zusammenleben [wollen] in einer Welt, die zunehmend unter dem Zeichen des Klimawandels steht?“ (Schmidt 2019, vgl. Abschnitt Was kann ich tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten, S. 196).
Einen feststehenden Masterplan kann es nicht geben. Es bedarf des Trial & Error (vgl. Aspekt Auch der Kapitalismus ist nicht an einem Tag entstanden, S. 217f.) – und hier reicht es nicht, dass wenige Berufspolitiker*innen sich in den immergleichen Gremien und Kreisen Gedanken machen.
„Die Zukunft wird nur auf einem Weg zu erreichen sein, der selbst durch Irr- und Abwege, unpassierbare Stellen, gut Passsagen, Steigerungen und Gefälle, kurz: durch alles andere als Gradlinigkeit gekennzeichnet ist“ (Welzer 2016, 139).
Um hier voranzukommen, d.h. um einen neuen Generationenvertrag auszuhandeln, sind Ideen möglichst vieler Bürger*innen von Nöten, d.h. es bedarf einer umfassenden Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Partizipation der Bürger*innen.
Die anstehende sozial-ökologische Transformation ist derart groß – sie wird alle Lebensbereiche auf den Prüfstand zu stellen haben – daher vergleicht Ulrich Schnabel die Dimension der „Umwälzung [zu Recht] … mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (2018, 22) –, dass man zur Umsetzung die Bürger*innen einzubinden hat, mitzunehmen hat, ja, mitnehmen muss. Und das geht über: Teilhabe.
Es bedarf der umfassenden Beteiligung der Zivilgesellschaft und Teilhabe der Bürger*innen, um in einem konstruktiven Sinn das zu gewährleisten, was Politiker*innen gewöhnlich meinen, wenn sie postulieren, ‚man müsse alle mitnehmen‘. Letzteres kann nicht bedeuten, dass man bei gleichbleibendem Politikverständnis und dem Status quo der überwiegend passiv bleibenden Wähler*innen darauf wartet, dass sich sämtliche Bürger*innen aus ihrer Wohlstandsstarre gelöst haben. ‚Mitnehmen‘ bedeutet vielmehr die Einladung an alle Bürger*innen aktiv zu werden, gemeinsam mit der Politik die Gesellschaft zu gestalten bzw. umfangreiche Angebote zur Bürger*innenbeteiligung zu machen. Bürger*innen sind viel umfassender (sowohl mit Unterstützung digitaler Beteilungsformen als auch via Bürger*innenversammlungen) als bisher in die politischen Gestaltungsprozesse einzubinden. Die Neuverteilung von Arbeit auf Basis eines Bedingungslosen Grundeinkommens wird vermehrt Zeit und Raum für aktive Teilhabe schaffen.
>> zum Aspekt Bedingungsloses Grundeinkommen siehe S. 458f.
Bürger*innen brauchen gerade in Zeiten der vereinsamenden und vereinzelnden Digitalisierung Begegnungsstätten und Infrastruktur, um niedrigschwellig per Trial & Error Projekte z.B. zu Umweltthemen entwickeln und stemmen zu können, ohne erst einmal ein Jahr lang Projektanträge zu stellen und Fördergelder zu beantragen, bei denen – wie z.B. in Hamburg üblich – stets ein finanzieller Eigenanteil zu leisten ist.
…mehr
Hamburg sieht ein m.E. extrem aufwändiges Bewerbungsverfahren vor und steuert im Erfolgsfalle nur den ‚Fehlbetrag‘ dazu. Die Stadt verunmöglicht damit gute Ideen, deren Macher*innen keine Bürokratie- und Finananzbeschaffungsgenies sind.
Oodi in Helsinki | CC SA 4.0 by Bahnfrend
Extrem interessant sind in diesem Zusammenhang Projekte wie bspw. die 2018 eröffnete, riesige (und zudem wunderbar designte) Bibliothek Oodi1 mitten im Zentrum von Helsinki unweit des Hauptbahnhofes, welche als „Ode an die Gemeinschaft“ im Sinne eines „gemeinsamen Wohnzimmers der Bürger*innen zu verstehen ist – und ein beliebter Treffpunkt und eine vielgenutzte Begegnungsstätte mit Coworking-Spaces und gruppendynamischen Sitzgelegenheiten. Es gibt Meeting-Räume, die man „für wenig Geld … [mieten kann], um dort …[z.B. dem] Job als Freelancer nachzugehen, Radiointerviews zu führen, Fotoshootings zu machen… [oder um] Geschäftskunden zu treffen“ (Weißmüller 2019). Es existiert Infrastruktur für Indoor- und Outdoor-Veranstaltungen, es gibt Tablets zum Ausleihen (und Fortbildungen für Bürger*innen mit technologischem Nachholbedarf), 3D-Drucker, Großprinter, Nähmaschinen, Bastel- und Elektronik-Labore, ein vollausgestattetes Tonstudio, ein Kino, zwei Cafés – und das Ganze genau gegenüber dem Parlamentsgebäude (vgl. Blickgewinkelt 2019, Oodi 2020, Weißmüller 2019).
Oodi ist „eine Hommage an Finnlands Unabhängigkeit und an die Gemeinschaft der Bürger*innen“ (Blickgewinkelt 2019), ein „living meeting place“ (Oodi 2020) und sieht aus wie die schönere Schwester der Elphi – hat die fünf Mio Finn*innen aber ‚nur‘ 98 Mio Euro gekostet, also etwas mehr als 1/10 der Kosten des Hamburger Konzerthauses.
Details: Erläuterungen zu (1)
…benannt nach der ‚Ode‘, also im altgriechischen Sinne eines Liedes bzw. eines Liedtextes.
Die sich als Zukunftsstadt definierende Metropole Hamburg möchte nun basierend auf dem finnischen Vorbild ein „Haus der digitalen Welt“ erschaffen, einen Bildungs- und Zukunftsort, „in dem die digitalen Angebote etwa der Volkshochschule, der Bücherhallen und sonstiger Anbieter gebündelt werden sollen, in dem aber auch Unternehmen sich darstellen können und Hamburger täglich in Berührung mit den neuesten Entwicklungen kommen können“ (Lauterbach 2019).
Wird hier nicht nach Art der Pfeffersäcke geknausert, sondern tatsächlich eine Vision umgesetzt, könnte das tatsächlich ein Aufbruchsstimmung erzeugendes Projekt sein, welches motivierend, inspirierend und positiv Teilhabefördernd und somit Demokratie-stabilisierend wirken könnte.
Wenn die so motivierten und vernetzten Bürger*innen dann noch in relevantem Maße Bürger*innenhaushalte zur Verfügung gestellt bekommen, steht einer echten produktiven Beteiligung der Zivilgesellschaft nichts mehr im Wege.
Bregman führt hier das Beispiel an, dass 1989 die brasilianische Metropole Porto Alegre „ein Viertel ihres Etats den Bürgern anvertraute. Zehn Jahre später war diese Idee von mehr als hundert brasilianischen Städten übernommen wurden… Anno 2016 hatten mehr als 1.500 Städte, von New York bis Sevilla und von Hamburg bis Mexiko-Stadt, einen ‚partizipativen Haushalt‘ eingeführt“ (2020, 329). In Porto Alegre bildeten sich diverse Nachbarschaftsvereine (vgl. 331), geriet „die Bestechungskultur unter Druck“ (333), sind Bürger*innen „bereit …, mehr Steuern zu zahlen (334), werden mehr Bürger*innen „durch eine Kanalisation versorgt“ (334) und stiegen die „Ausgaben für das Gesundheitswesen“ (335). Bis solch durchschlagende Wirkungen in Städten wie Hamburg zu vermelden sind, bedürfte es sicher deutlich höherer Budgets – aber insgesamt scheint diese doch ein sehr vielversprechender, ausbaufähiger Ansatz zu sein.
Bürger*innenbeteiligung geht auch digital, z.B. über die von Mehr Demokratie e.V. mitentwickelte schon existierende Open-Source-Tools wie ‚Consul‘1, eine anpassbare Beteiligungsplattform, die schon in über 100 Städten wie z.B. Madrid, Barcelona und Paris in insgesamt 34 Ländern genutzt wird (vgl. Mehr Demokratie 2020).
Allgemein gilt, dass man im Blick zu haben hat, dass Bürger*innenbeteiligung i.d.R. eine Beteiligung derjenigen Bürger*innen bedeutet, die dafür die Ressourcen haben.2
Auch Bürger*innenversammlungen können hier, gerade auch bei konkreten Problemlagen wie der Klimakrise oder dem sechsten Massenaussterben, hilfreich sein und Ideen entwickeln sowie ein stückweit repräsentativ und deutlich dem Bürger*innenwillen Ausdruck verleihen, wie es Demoskop*innen-Umfragen nicht vermögen.
Emmanuel Macron hat nach dem Gelbwesten-Debakel die ‚Flucht nach vorn‘ angetreten und eine umfangreiche Bürger*innenbeteiligung in Gang gesetzt: Im Juni 2020 stimmte in Frankreich ein aus 150 zufällig ausgelosten Personen bestehender „Bürgerrat für den Klimaschutz, eine europaweit einmalige Einrichtung, über insgesamt 149 Vorschläge ab und einigte sich auf vergleichsweise Radikales“ (Joeres). Ein bei 110 km/h liegendes Tempolimit auf Autobahnen, Abschaffung von Werbung für klimaschädliche Produkte bzw. Dienstleistungen, Verbot des Baus neuer Flughäfen (vgl. ebd.). „Fleischgerichte sollten in Kantinen durch vegetarische Alternativen ersetzt werden. Finanziert werden sollten die klimapolitischen Vorhaben durch eine Klimasteuer, gezahlt von Wohlhabenden“ (ebd.; vgl. Balmer 2020, 9). Die Vorschläge des Bürgerrats sollen im Herbst 2020 ins französische Parlament eingebracht und debattiert werden.
Auch in England wurde 2019 eine Bürger*innenversammlung eingesetzt (vgl. Schwarz/Mihatsch 2019).
Warum also nicht auch in Deutschland?
Des Weiteren ist, diesen Gedanken der Bürger*innenversammlungen fortspinnend, darüber nachzudenken, neben Bundestag und Bundesrat eine weitere Kammer zu etablieren, die zunächst beratenden Charakter haben kann. Die in diesem Gremium versammelten Bürger*innen sind per Losentscheid in die Bürger*innenkammer gekommen.3
Die Idee, parlamentarische Vertretungen durch Losverfahren zu bestimmen, ist alles andere als neu und wird des Öfteren – wenn es die alleine Form der Willensbestimmung einer Institution wäre – als ‚Demarchie‘ bezeichnet. Schon Aristoteles sagte: „So gilt es, wie ich sage, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt“ (Scheffel 2019).
Ein zeitgenössisches Beispiel für ein demarchisches Vorgehen findet sich in Island:
Nach der Finanzkrise 2008 haben die Bürger*innen von Island mittels monatelanger Demonstrationen durchgesetzt, dass die Regierung, der Premierminister und der Direktor der Zentralbank zurücktreten (vgl. Laurent/Dion 2016, Min 85ff.). „Am 6. November 2010 trafen sich 1.000 ausgeloste Bürger, um die Prioritäten für ihr Land festzulegen… Im folgenden November wurden 25 Bürger gewählt, um eine neue Verfassung zu schreiben… [Katrín Oddsdóttir:] ‚Wir wollten eine neue Verfassung schreiben für Islands Volk durch Islands Volk‘… [Birgitta Jósndóttir:] „Jeder hatte Zugang zur verfassungsgebenden Versammlung, jeder konnte mitdiskutieren per E-Mail oder Facebook, konnte anrufen oder zur Sitzung kommen. Es war alles sehr offen.‘… [Oddsdóttir:] ‚Wir bekamen sehr gute Vorschläge. Manche haben wir in unseren Verfassungsentwurf aufgenommen. Es gab immer wiederkehrende Themen: Wie können wir die gewählten Vertreter zur Verantwortung ziehen? Wie Transparenz herstellen und sehen, was sie machen? Wie die Macht verteilen, um der Korruption vorzubeugen? Die Menschen sind nicht destruktiv, höchstens eine winzige Minderheit. Die meisten sind nett und gut. Doch Geld und Macht blenden sie. Das ist eine traurige Regel. Und Macht will sich behaupten. Damit wollten wir brechen“ (ebd.).
(>>vgl. Aspekt Menschen sind im Grunde gut, neigen aber einem negativen Weltbild, S. 380ff., und siehe hier insbesondere Aspekt Machtgefühle stören einen mentalen Prozess, S. 385f.)
Eine Zweidrittelmehrheit, d.h. 67%, aller Isländer*innen, stimmten für den so entstandenen Verfassungsentwurf. Die Übernahme des Verfassungsentwurfs als Basis einer neuen Verfassung durch das Parlament scheiterte an den in der Opposition befindlichen Konservativen (vgl. ebd., Min 90 u. wikipedia 2020).
David van Reybrouck weist in hier zitierten Doku Tomorrow von Mélanie Laurent und Cyril Dion auf folgendes hin:
„Ein einem Fall praktizieren wir das Auslosen schon: bei der Auswahl von Geschworenen. In Belgien, Norwegen, Frankreich, den USA etc. Auch wenn das System bei Weitem nicht perfekt ist, sieht man, dass die 12 Geschworenen ihre Aufgabe meistens sehr ernst nehmen. Sie strengen sich unglaublich an, eine Entscheidung zum Wohl der Gesellschaft zu treffen. Jemand, der ausgelost wird, hat vielleicht weniger Sachkenntnisse als ein Politiker… Doch hat er mehr Freiheit als ein Parlamentarier. Er ist nicht so stark an unterschiedliche Interessen gebunden.“
Aus diesen Informationen ist definitiv eines herauszulesen: Da geht mehr als bisher.
2 Interessant und künftig im Thema ‚Bürger*innenbeteiligung‘ zu berücksichtigen: Das sog. Beteiligungsparadoxon oder Partizipationsparadoxon ist charakterisiert dadurch, „dass das Engagement und das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an einem Projekt oder Verfahren bei dessen Beginn noch recht gering sind. Zu diesem Zeitpunkt sind aber die Möglichkeiten, auf Projekt oder Planung Einfluss zu nehmen, sehr hoch“ (Hirschner 2017, 323). Beteiligen sich Betroffene wie gewöhnlich oft „im zeitlichen Ablauf eines Planungs- oder Genehmigungsverfahrens erst sehr spät … [, hat das] negative[n] Folgen für ihre Einflussmöglichkeit“ (ebd.) – und schafft Unzufriedenheit.
3 Dieses Gremium ist alleine deshalb sinnvoll, weil es eine Möglichkeit bietet, dass Parlamentarier*innen wieder mehr Kontakt zu anderen Berufsfeldern und Lebensumgebungen bekommen – denn im Unterschied zur alten Bundesrepublik ist der Bundestag bzgl. der gesellschaftlichen Zusammensetzung und der dort vertretenden Berufe extrem homogen, was nicht hilfreich ist.
Nachfolgend sind – in loser Folge – Ideen, Anregungen und Möglichkeiten aufgelistet, der Klimakrise und dem sechsten Artensterben nachhaltig zu begegnen:
Grundsatz: Money is it >> Nachhaltigkeit muss sich lohnen
Konkret
auf Staats- und Unternehmensebene: Es darf sich finanziell nicht lohnen, als Firma/Staat Umweltkosten zu externalisieren und z.B. CO2 in die Luft zu jagen.
auf individueller Ebene: Es darf sich finanziell nicht lohnen, das Auto zu benutzen statt den Bus zu nehmen oder nach Paris zu fliegen statt in die Bahn zu steigen.
Klimaschutz kann – in einem ersten Schritt – sehr einfach sein. Vielfach braucht man einfach… nichts zu tun: Keine weitere Startbahn bauen, den weiteren Ausbau des Hafens unterlassen (vgl. Kopatz 2020). Einfach die bisherigen Kapazitäten beibehalten. Nicht einmal das schaffen wir zurzeit. Wir schaffen es nicht einmal, nichts zu tun bzw. wesentliche Faktoren der steigenden Emissionen durch Unterlassung zu bremsen.
>> Ganz nebenbei bemerkt, haben wir in Deutschland einen riesigen Sanierungsstau – bspw. haben 2.500 Brücken erneuert, d.h. neugebaut zu werden (vgl. Bruhns et al. 2020, 61) – und das ist völlig unabhängig von der Biodiversitäts-/Klimakrise ein gewichtiges Argument, sich der Bestandspflege bzw. Instandhaltung der bestehenden Infrastruktur und nicht dem Neu- oder Ausbau zu widmen.
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Politik‘ sind z.B.
ein Lobbyismus aufdeckendes/verhinderndes lückenloses deutsches Transparenzregister/Lobbyregister inkl. der vollständigen Offenlegung des Kalenders/der Meetings etc.1, der Nebentätigkeiten2 und Parteispenden3,
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Hier verweist Kopatz darauf, dass es Schätzungen zu Folge „in Berlin inzwischen circa 5.000 Lobbyisten [gibt]. Sie stehen 630 Abgeordneten gegenüber und haben nichts anderes zu tun, als Tag für Tag Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger auszuüben“ (2016, 47). Und weiter: „Durch [Lobbycontrol] … weiß man, dass rund 1.000 Lobbyisten einen Hausausweis für den Bundestag haben. Ein Gerichtsurteil verlangte im Spätsommer 2015 die Veröffentlichung dieser Daten. Die Grünen legten die Namen sogleich offen, anschließend auch die SPD. Die CDU/CSU hingegen weigerte sich“ (ebd., 48). Roßmann berichtet 2020 in der SZ davon abweichend von „fast 800 Lobbyisten, die über einen Hausausweis für den Bundestag verfügen.“
2 Hinsichtlich des Bundestages gibt es derzeit nicht-meldepflichtige und meldepflichtige Nebentätigkeiten. Rekord hält laut der taz derzeit Gregor Gysi mit 38 meldepflichtigen, davon 35 bezahlten Nebentätigkeiten. Christian Lindner hält mit 19 bezahlten Nebentätigkeiten Platz 2. „Rechnet man alle bezahlten Nebentätigkeiten Gysis zusammen, ergibt sich für die Jahre 2017, 2018 und 2019 ein Einkommen in Höhe von 255.000 Euro, wenn man jeweils das Minimum der einzelnen Stufen ansetzt. Setzt man den Mittelwert an, ergibt sich sogar eine Summe von 376.000 Euro. Durch die 36 Monate der laufenden Legislaturperiode geteilt, kommt … Gysi auf Nebeneinkünfte [bei Ansetzung des Minimums] in Höhe von über 7.000 Euro pro Monat neben der regulären Diät“ (Oppong 2019). „Alle Abgeordneten, die [mit Stand 2017!] auf mehr als 150.000 Euro nebenbei kommen, gehören alle der CDU und CSU an. … [Der Sozialwissenschaftlers Sven Osterberg berichtet:] ‚Zwei Drittel der Abgeordneten, die bezahlte Nebentätigkeiten haben, sind Mitglieder der Unionsfraktion‘“ (Esslinger 2017). Geld ist das eine. Aufmerksamkeit das andere: Wer im Bundestag sitzt, hat sich m.E. auf die Belange der Bürger*innen zu fokussieren und nicht auf sein Portemonnaie. Doch mindestens ein Drittel aller Bundestagsabgeordneten geht Nebentätigkeiten nach (Stand 2013, vgl. Kopatz 2016, 48). Und: „Eine Studie von Transparency International Deutschland zu Interessenkonflikten im Bundestag kam im Dezember 2016 zu dem Schluss, dass bei etwa einem Sechstel der Bundestagsabgeordneten potenzielle Interessenkonflikte festzustellen sind“ (Lobbycontrol 2017a, 32). Hier kann man übrigens Abgeordneten und Kandidierenden direkt Fragen stellen: https://www.abgeordnetenwatch.de/ (Abrufdatum 8.6.2020)
3 Im Wahljahr 2017 profitierten die „CDU mit 1,7 Mio Euro und die FDP mit 970.000 Euro … von dem Zuwachs an [meldepflichtigen, über 50.000 Euro betragenen] Großspenden. Auf sie entfallen 93% der Großspenden über 50.000 in diesem Jahr“ (Lobbycontrol 2017b). Inzwischen gibt es anscheinend einen Trend zum Sponsoring – die entsprechenden Summen z.B. von BMW brauchen im Gegensatz zu Spenden-Geldbeträgen nicht veröffentlicht zu werden (vgl. ebd.).
die Übertragung der Entscheidungsgewalt über die Diäten der Politiker*innen an eine Ethikkommission,
die umfangreiche Erhöhung der Diäten bei gleichzeitiger eindeutiger Regelung, dass Politiker*innen keinen Nebentätigkeiten nachgehen dürfen und keine geldlichen/materiellen/immateriellen Zuwendungen von Dritten erhalten dürfen, die das Preisniveau eines Kaffees übersteigen (‚Ein-Kaffee-Regel‘)
klar definierte Übergangszeiten vom politischen Amt zu einer anderen Tätigkeit – und umgekehrt.
Ein anderer Aspekt im Bereich ‚Politik/Wirtschaft‘:
Der Begriff ‚Korruption‘ ist eng mit dem Thema ‚Rechtssicherheit‘ bzw. ‚Rechtsstaat‘ verknüpft. Im Rahmen des Handbuchs kann dieser Punkt nicht vertieft werden, daher sei nur dieser eine Punkt herausgegriffen:
2018, d.h. im Jahre 9 der Hilfspakete und der von außen gesteuerten Sanierungskonzepte, findet sich im Spiegel bzgl. Griechenlands folgende Anmerkung:
„Auch sogenannte doppelte Gesetze sollen dann [=bald] der Vergangenheit angehören … Bislang war es so, dass für einen Sachverhalt unterschiedliche Regelungen galten, und die Entscheidung darüber welche gilt, in den Händen des zuständigen Beamten lag“ (Christides/ Rapp 2018, 89).
Manche Zitate brauchen keinen Kommentar. Dies ist so eines.
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Wirtschaft‘ sind z.B.
ein Unternehmensstrafrecht sowie ein höheres Maß an Haftung für Manager*innen, um z.B. Eskapaden à la Dieselskandal weniger attraktiv erscheinen zu lassen.
die Ermöglichung von Gruppenklagen (statt nur Musterfeststellungsklagen) zur Erhöhung des Verbraucherschutzes – dazu der einstige Geschäftsführer von Greenpeace, Thilo Bode:
Wir „brauchen … dringend ein Unternehmensstrafrecht, damit mit man nicht nachweisen muss, dass ein Herr Winterkorn persönlich die Abschaltsoftware bei VW angeordnet hat, sondern eines, das Unternehmen zivil- und strafrechtlich haftbar machen kann… Es ist anachronistisch, wie die Konzernlobby zu sagen, Unternehmen könnten nicht schuldhaft handeln. Natürlich können sie das, schauen Sie sich VW an“ (Dettmer/Hesse 2019).
ein umfangreiches Lieferkettengesetz, um Menschenrechte und umwelt-/klimagerechte Produktion sicherzustellen.
Menschenrechte und Umweltschutz gehören zusammen. (Oft werden sie auch parallel/gleichzeitig verletzt.)
Ein erstes Lieferkettengesetz wird in Deutschland derzeit vorbereitet. Demzufolge „‚müssen [Unternehmen] künftig prüfen, ob sich ihre Aktivitäten nachteilig auf die Menschenrechte auswirken‘, heißt es in den Eckpunkten für ein ‚Sorgfaltspflichtengesetz‘ der Bundesministerien für Arbeit (BMAS) und Entwicklung (BMZ)… [D]ie Regulierung [soll] für Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten gelten, deren Zentralen in Deutschland stehen… [Indes ist das] ‚Haftungsrisiko für die Unternehmen begrenzt‘“ (Koch 2020).
Das Gesetz könnte einen (kleinen) Schritt nach vorn bedeuten. Doch wird Peter Altmaier im August 2020 von einem Bündnis aus mehr als 100 Organisationen massiv kritisiert: „Altmaier lehne alle Elemente ab, die ein Gesetz erst wirksam machen würden, sagte die Sprecherin der Initiative Lieferkettengesetz, Johanna Kusch. Er wolle das Vorhaben ‚offensichtlich mit allen Mitteln verhindern‘“ (Zeit 2020).
Umweltaspekte scheinen nach derzeitigem Stand jedoch nicht in den Gesetzestext einzufließen.
Wenn man die Gesamtheit der im ‚Handbuch Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft‘ dargelegten Fakten mit in die Erwägungen einbezieht, würde ein ideales Lieferkettengesetz faktisch das Ende des bisherigen Wirtschaftsmodells bedeuten – was natürlich auch Altmaier erkennt.1
Man kann einen Hund nicht zum Jagen tragen. Cheryl Strayed, in ihrem Buch Der große Trip, Goldmann, 2014, S. 220.
Details: Erläuterungen zu (1)
Und nicht nur Altmaier. Auch „[d]er Chef der [sog.] Wirtschaftsweisen, Lars Feld, warnte … davor, dass die deutschen Unternehmen durch das Gesetz stark belastet würden. ‚Mit einem Lieferkettengesetz wird die Axt an das bisherige Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft mit stark internationalisierten Wertschöpfungsketten und einer starken Produktion im Ausland gelegt‘, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Er schaue ‚mit großem Entsetzen‘ auf das Vorhaben“ (Zeit 2020). Man könnte aus alledem schließen, dass der Gesetzesentwurf der beiden Nicht-Altmaier-Ministerien bislang grundlegend in die richtige Richtung zielt und im Falle der Umsetzung offensichtlich wirksam wäre. | Was um Himmels Willen ist ein ‚Wirtschaftweiser‘? Ist nicht allein schon dieser Begriff ein Hinweis auf die ‚Vergötterung‘ des Kapitalismus und damit ein Fingerzeig, dass das Thema religiöse Züge trägt? – vgl. Aspekt Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang, S. 392ff. | Auf die derzeit mangelnde praktische Umsetzbarkeit weist Kolja Rudzio in der Zeit hin: „Sollte jeder Zulieferer tatsächlich zehn weitere Zulieferer haben, ergäben sich bei den 400 Textilfabrikanten von Kik schon auf der dritten Stufe der Lieferkette insgesamt 40.000 beteiligte Unternehmen“ (2020, 21). Diese organisierte Verantwortungslosigkeit brauchen wir ja mittelfristig nicht hinzunehmen, vgl. S. 186.
Grundsätzlicher könnte man die Sache wie folgt angehen:
Normen, die in der EU gelten, haben auch für Non-EU-Staaten/Unternehmen, die in der EU Produkte verkaufen möchten, zu gelten. Die Einhaltung von EU-Arbeitsschutzgesetzen, EU-Umweltauflagen, EU-Sozialversicherungs-Aspekte haben über von der EU finanzierte in der EU ansässige Non-Profit-Unternehmen zertifiziert zu werden. Damit schützt man nicht nur EU-Arbeitsplätze und verhindert die Abwanderung von Firmen, sondern auch Menschen des Globalen Südens vor Ausbeutung und Umweltzerstörung.
Hilfreich könnte hier ein Gesetz sein, welches analog zur CO2-Grenzsteuer festlegt, was überhaupt rein darf in die EU, d.h. nur Menschenrechts-zertifizierte Produkte.
Bspw. Fast Fashion gehörte – was die EU betrifft – umgehend der Vergangenheit an.
>> vgl. Aspekt EU-CO2-Grenzsteuer, S. 209
Weitere nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Wirtschaft‘:
Abseits der Diskussion um CO2-Steuern etc. kann man zur Reduzierung von ‚Verschmutzungsgewinnen‘ auch direkter ansetzen mittels wesentlich „höhere[n] Lizenzgebühren für die Öl-, Gas- und Kohleförderung“ (Klein 2015, 142).
Manfred Folkers wirft durchaus zu Recht die Frage auf, warum Lohnerhöhungen komplett unhinterfragt stets prozentual erfolgen („‚Wer schon viel bekommt, erhält effektiv mehr‘“; Folkers/ Paech 2020, 59).
Ein Equal Pay Act, eine extreme Vereinfachung der Steuererklärungen, maximale Transparenz nach skandinavischem Vorbild bei Steuerdaten, sodass letztlich jeder Mensch Zugang zu diesen Daten hat sowie Gender Mainstreaming gehören auch in diese Liste – Details vgl. Abschnitt Klima, Ökofeminismus und Parität, S. 432f.
(Wieder-)Einführung des Prinzips: „Was möglich ist, wird in der Region produziert“ (Wilms 2019, 9.) Und das hätte zur Folge: Rohstoffe würden in den Herkunftsländern verarbeitet, sodass der Globale Süden seine Abhängigkeit abzuschütteln vermag. Der Welthandel würde stark zurückgehen, ist aber nicht unmöglich (vgl. Anne Pinnow, Soziologin, Nachhaltigkeitsmanagerin und Ethnologin in Wilms 2019, 9).
Anknüpfend an den Gedanken, dass Umweltschutz sich lohnen muss, ist das Gewünschte zu fördern, das Unerwünschte zu besteuern.
Daher ist es sinnvoll eine hohe Steuer auf gesundheitsschädliche Produkte zu erheben: Zigaretten, Alkohol, Zucker – jegliche Fertignahrung, die mehr als (vorschlagsweise) fünf Inhaltsstoffe aufweist.1 Dabei hat die Regel „Prinzip statt Ausnahme“ zu gelten.
Hinter alledem steht weniger der Gedanke, Menschen einzuschränken als vielmehr der solidarische Gedanke, volkswirtschaftliche Kosten z.B. zur Finanzierung von Krankenkassenbeiträgen niedrig zu halten: Man sollte nie übersehen, dass billige Fertignahrung etc. zu höheren Kosten im Gesundheitswesen2 führt etc. pp.
Den Gedanken der genossenschaftlichen Struktur von Unternehmen nochmals aufgreifend (vgl. S. 456), ist festzuhalten, dass für eine bessere Sozialstruktur, für das Arbeitsklima, für Nachhaltigkeit und auch für Arbeitsergebnisse Mitbestimmung bzw. das genossenschaftliche Miteigentum an dem Unternehmen, dessen Arbeitnehmer man ist, sehr hilfreich sein kann:
„Wenn man Menschen die Möglichkeit gibt, einen Job, ein Geschäft, eine Initiative als etwas Eigenes betrachten zu können, dann setzen sie sich dafür ein, entwickeln es weiter und kultivieren es. Bei fremdbestimmten Aktivitäten erfüllen die Leute eine Aufgabe, nicht mehr, und über die Bezahlung hinaus haben sie wenig davon. Selbstbestimmtes Wirtschaften befördert Achtsamkeit, Sorgfalt und Engagement“ (Welzer 2016, 273, vgl. Aspekt Sozialunternehmen Sekem-Farm, S. 575f.).
Pointiert ausgedrückt:
‚Dienst nach Vorschrift‘ und ‚Burn-out‘ oder ‚Nachhaltigkeit‘, ‚Engagement‘ und ‚gutes Betriebsklima‘?
Das ist hier die Frage.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 vgl. dazu Aspekt Steuersätze von Lebens- und ‚Genuss‘-Mitteln Fußnote auf S. 186
2 Hierzu gibt es das zynische Gegenargument, dass beispielsweise Raucher*innen statistisch gesehen früher sterben, sodass sie gar nicht in das Alter kommen, in dem wiederholt langwierige intensivmedizinische Maßnahmen genutzt werden – weiterhin könnte man hinzufügen, dass die Rentenkassen entlastet werden. Wollen wir uns wirklich auf eine solche Diskussion einlassen?
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Qualität und Langlebigkeit von Produkten‘
Verlängerung der „gesetzlichen Gewährleistung“ (umgangssprachlich „Garantie“ genannt) insbesondere für elektronische Neuwaren von 24 Monaten auf z.B. fünf Jahre – wie in Norwegen (vgl. EVZ 2019). Und zack, plötzlich würden die gleichen Geräte viel länger halten.
Dass so viele Geräte bereits nach wenigen Jahren kaputtgehen hat oftmals mit der sog. ‚geplanten Obsolenz‘1 zu tun. Hier kommen von Herstellern bewusst eingebaute ‚Sollbruchstellen‘ zum Tragen. Dies kann ein elektronisches Bauteil sein, welches so konstruiert ist, dass es mit Absicht nicht ‚ewig‘ hält; es kann fest verbaut/verklebt sein, ohne dass das nötig wäre, Ersatzteile können fehlen oder nicht mehr hergestellt werden, Software nicht mehr mit Updates funktionsfähig/Sicher gehalten werden – geplante Obsolenz fördert den Konsumismus bzw. die Wegwerfgesellschaft und tritt immer dann auf, wenn die/der Kund*in das Gerät weiter verwenden wollen würde, aber aus den erwähnten Gründen nicht mehr kann.
In einem Wirtschaftmodell, dass darauf angewiesen ist, dass Verbraucher*innen Dinge im Überfluss kaufen, ist geplante Obsolenz Teil des Systems, dass zu (nicht-nachhaltigem) Wachstum führt.
Würde man geplante Obsolenz von heute auf morgen komplett unterbinden, würde Deutschland u.U. in eine Rezession hineinschliddern. Dies ist ein weiterer Hinweis, dass das Wirtschaftsmodell dysfunktional ist – und nicht durch kleine Maßnahmen ‚reparierbar‘ ist.
Details: Erläuterungen zu (1)
Hier muss natürlich die Geschichte von der Glühbirne – Centennial Light genannt – kommen, die seit 1901 quasi ununterbrochen leuchtet: „In der Feuerwache im [US-]amerikanischen Örtchen Livermore [bei St. Francisco] wird jährlich der Geburtstag einer Birne begangen, die im Jahre 1901 eingeschraubt worden war und seither Helligkeit verbreitet… [Dass Glühfäden heutzutage durchbrennen,] ist … lediglich das Ergebnis der frühesten Absprache eines Kartells der Glühbirnenhersteller, die 1924 gemeinschaftlich beschlossen, die Lebensdauer der Glühfäden technisch zu begrenzen und zwar auf rund 1.000 Stunden“ (Welzer 2016, 268) – vgl. http://www.murks-nein-danke.de/ (Abrufdatum 18.5.2020).
Erweiterte Auflagen zur Bereitstellung von Ersatzteilen bzw. zur Reparatur1 (‚Recht auf Reparatur‘), zur Rücknahme von kaputten Produkten und zu Recycling-Verpflichtungen mit dem Ziel einer Kreislaufwirtschaft (‚Cradle to Cradle‘). Wenn Produzenten ihre Produkte am Ende der ‚Lebenszeit‘ zurückzunehmen und zudem Recycling-Auflagen zu erfüllen haben, werden sie ihre Produkte entsprechend so konstruieren, dass die Unternehmen mit den zurückkommenden Rohstoffen möglichst viel anfangen können.
Zertifizierte nachhaltige Unternehmen können mit einer niedrigeren Gewerbesteuer bevorzugt/gefördert werden, wie es z.B. Heidelberg plant (vgl. Friedmann 2019, 51.)
Websites sollen möglichst barrierefrei sein. Warum gilt das nicht auch für den Besuch eines Supermarktes?
Warum müssen eigentlich wir Bürger*innen zu regelrechten Expert*innen werden, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, dem Palmfett-Isoglukose-Transfett-naturidentischen-Low-fat-low-carb-low-quality-high-price-Scheiß zu entgehen?
Nicht jeder Mensch ist psychisch, intellektuell, sprachlich oder physisch in der Lage, das Kleingedruckte einer Produktverpackung zu lesen und/oder zu verstehen – oder ist dafür zu alltagsbelastet. Maßstab für das, was man Verbraucher*innen zumuten kann, sollte ein*e Alleinerziehende*r sein (vgl. S. 174).
Wer jetzt mit „Hauptsache die Wirtschaft brummt“ kommt, offenbart ein eigenartiges Demokratieverständnis und macht zudem einen Gedankenfehler: Wenn 83 Millionen Menschen im Supermarkt täglich erneut und immer wieder komplizierte Entscheidungen zu treffen haben, ist das gemessen daran, dass es einmalig eines einzigen Gesetzes bedürfte, um im Supermarktregal für Übersicht und Gesundheit zu sorgen, wahnsinnig ineffektiv. Das sind letztlich Kräfte, Zeitaufwändungen und Gesundheitsverluste, die richtig viel Geld, Energie und Innovationskraft kosten.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Schweden hat die „Mehrwertsteuer auf Reparaturen von Fahrrädern, Kleidung oder Schuhen … [von 25% ausgehend!] um die Hälfte gesenkt. Wer einen Handwerker ins Haus kommen lässt, um seine Waschmaschine oder den Kühlschrank reparieren zu lassen, zahlt künftig weniger für die Arbeitsstunde“ (Spiegel 2016).
Nachhaltige Maßnahmen betreffend den Einzelhandel offline/online
Gegen die Verödung der Städte bzw. des Zusammenbruchs des Einzelhandels aufgrund von Onlinehandel schlägt Richard David Precht vor:
„Eine Idee in die richtige Richtung ist, den Erwerb von Konsumgütern über das Internet zu verteuern und den Einzelhandel steuerlich zu begünstigen. Bei einer Internet-Mehrwertsteuer von zusätzlich 25 Prozent wird der Einzelhandel wieder konkurrenzfähig. Und wenn der Bund den gigantischen Erlös an die Städte verteilt, ist auch wieder hinreichend Geld in der Kasse für Stadt- und Strukturentwicklung“ (Precht 2019, 62).
Hier bringt sich auch Graeme Maxton ein und fordert „für kleine Pakete die Nutzung zentralisierter Abholstationen vor[zu]schreiben“ (2020, 125).
In diesem Sinne auch:
Die Gewohnheit, sich als Käufer*in z.B. Kleidungsstücke systematisch in diversen Größen zu bestellen, um dann alles Nichtpassende und Nichtgefallende porto- und gebührenfrei zurückzuschicken ist klimaschädlich.1
Eine Zalando-Sprecherin erklärt: „‚Über alle Märkte [der verschiedenen von Zalando belieferten Länder] liegt die Retourenquote bei 50 Prozent‘ … – die Retourenquote im Modebusiness ist höher als bei anderen Produkten“ (Manager Magazin 2018, vgl. Spiegel 2019).
„[J]edes sechste Paket wird wieder zurückgeschickt. Um Müllberge und Klimabelastung zu reduzieren, könnte eine gesetzlich vorgeschriebene Rücksendegebühr helfen… [so eine Studie]. Schon eine Gebühr von rund drei Euro könnte die Zahl der Retouren um 16 Prozent senken, erwarten die befragten Onlinehändler. Bei [ca. 280 Millionen zurückgeschickten Paketen bzw.] 490 Millionen zurückgeschickten Artikeln im vergangen Jahr entspräche das etwa 80 Millionen Retouren weniger. Das würde dem Klima fast 40.000 Tonnen CO₂[e] ersparen“ (HA 2019, 16; vgl. Retourentacho 2018/19, vgl. Spiegel 2019).2
Eine solche Gebühr würde des Weiteren dem fairen Wettbewerb dienen, weil kleinere Online-Händler*innen sich gebührenfreie Rücksendung vielfach eigentlich nicht leisten können. Zudem sind die zahlreichen Retouren bereits im Verkaufspreis einkalkuliert, sodass diese unter den neuen Voraussetzungen sinken könnten (vgl. ebd., vgl. Spiegel 2019).
Apropos Online-Warenversand:
Wettbewerb ist eine gute Idee? Nicht immer: Jeden Tag dasselbe Bild in den Wohnvierteln Deutschlands – erst kommt der gelbe DHL-Lkw, dann vielleicht der weiße Transporter von Hermes. Und natürlich darf auch das braune Vehikel von UPS nicht fehlen. Mit guter Chance statten auch GLS und DPD Ihrer Straße einen Besuch ab. Fünf große Logistikunternehmen mit entsprechenden Lkw-Flotten, fünf Verteilzentren – und letztlich ein relevantes Maß an Platzverschwendung, Gesundheitsbelastung und vermeidbaren CO2-Emissionen. Auch dadurch, dass Pakete ja nicht immer nur einmal ausgeliefert werden…
Weitgehend unbemerkt, bekommt man z.B. bei Amazon seit mehreren Jahren über die Shop in Shop-Systeme, namentlich dem ‚Marketplace‘, vielfach und immer mehr auch Ware – z.B. einzelne Kleidungsstücke – direkt aus China per Luftfracht geliefert. Wer schaut sich schon an, wer hinter dem Namen eines Marketplace-Anbieters steckt, wenn die Lieferzeit nur wenige Tage beträgt? Konkret hatte ich in der Vorweihnachtszeit 2017 unter Zeitdruck eine in Unkenntnis obiger Ausführungen von mir nicht hinterfragte Wunschliste abzuarbeiten, die per pragmatisch-unromantischer Mail mit einer umfangreichen Linklist bei mir eingetroffen war. Es kamen innerhalb weniger Tage drei eingeflogene Pakete von drei verschiedenen Bekleidungsanbietern aus China. Problem: Eine Jacke passte nicht, ein Teil gefiel nicht. Also leitete ich die Warenrücksendung ein. Mich erreichten von zwei offensichtlich chinesischen Mitarbeiter*innen mit europäischen Pseudonymen wie Jane innerhalb weniger Stunden zwei ziemlich gut in deutscher Sprache formulierte Mails, in denen mich bei Unternehmen unabhängig voneinander baten, die Pakete doch zu behalten gegen einen Preisnachlass von 15% bzw. 30%. Nun wollte ich es genauer wissen: Wer in Deutschland am Markt teilnimmt, hat gemäß den Regeln Waren zurückzunehmen. Wie soll das global funktionieren, wie kann man da im Wettbewerb bestehen? Nach meinem erneut vorgetragenen Rückgabewunsch hat mir die Firma mit den 30% das komplette Geld (12,40 Euro)3 zurückerstattet – mit der Bitte das Kleidungsstück zu behalten. Das 15%-Angebot für die 33-Euro-inkl.-Versand-Jacke wurde zunächst auf 35% raufgesetzt. Als ich mich darauf nicht einließ sollte ich die Jacke auf Kosten des Unternehmens zurücksenden, was ich tat – um dann das Paket einige Wochen später als in China unzustellbar erneut vor meiner Haustür zu finden. Wahnsinn. Seitdem wird in diesem Haushalt nur noch unter genauen Auflagen im Netz bestellt.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Online-Shopping ist nicht in jedem Fall per se klimaschädlicher als der persönlich unternommene Einkauf. Fedrich rechnet wie folgt: Online-Bestellung inkl. Rückversand von Schuhen: Lagerung und Versand = 1.030g CO2 (600g CO2; Strom PC 60g; CO2; Retoure 370g CO2) | Ladeneinkauf per Rad oder zu Fuß =1.270g CO2 (270g CO2 Umschlagszentrum und Anlieferung; Energie für Laden 1.000g CO2) | Ladeneinkauf per ÖPNV 20 km Anreise 1.710g (es kommen zum Einkauf per Rad noch 440g CO2 Busabgase hinzu) | Ladeneinkauf per Auto 20 km Anreise = 3.270g CO2 (es kommen zum Einkauf per Rad noch 2.000 g CO2 Autoabgase hinzu). Allerdings wird „[r]etournierte Ware … häufig einfach weggeschmissen. Ökologisch ist das eine Katastrophe“ (Fedrich 2020, 184-185). Und: Per Rad oder zu Fuß Einkaufen stärkt letztlich die lokale Wirtschaft – wer will schon, dass die Läden der unmittelbaren Umgebung dicht machen? Aus dieser Rechnung folgernd bietet sich ein Einkauf per Internet am ehesten für Produkte an, bei denen wir uns recht sicher sind, dass sie nicht zurückgeschickt werden brauchen, die nicht in der näheren Region zu Fuß oder per Rad beschafft werden können und – ganz wichtig: die innerhalb Deutschlands verschickt werden, vgl. Anmerkungen zu weltweiter Luftpost-Versendung einzelner Kleidungsstücke etc. über Shop-im-Shop-Systeme, S. 496f.
2 Bislang wurden viele Retourenwaren und unverkaufte Artikel verbrannt. Wenn man 12 bis 24 neue Kollektionen pro Jahr in die Läden bringt (vgl. Greenpeace 2017), dann ist das Kleidungsstück zum Zeitpunkt der Kund*innenrücksendung quasi schon ‚aus der Mode‘ – und damit u.U. schwer oder gar nicht verkäuflich, zumal ja auch Platz geschaffen werden soll im Laden, im Lager oder auf der Websiteoberfläche für die nächste neue Kollektion. Letzteres trifft auch allgemein auf unverkaufte Ware zu. So habe die Luxusmarke Burberry allein im letzten Geschäftsjahr 2017/18 Ware zum ursprünglichen Verkaufspreis von 32 Mio Euro verbrannt (vgl. Spiegel 2018a). In den vergangenen fünf Jahren sollen Produkte in der Größenordnung von 100.000 Euro vernichtet worden sein (vgl. ebd.). Amazon vernichtete im gleichen Zeitraum „neuwertige Waren im großen Stil“ (Spiegel 2018b). Und H&M bringt neuwertige Klamotten „tonnenweise“ (Focus 2017) zur Müllverbrennung. Es „sollen seit 2013 [bis mind. 2017] jedes Jahr [in Dänemark] circa zwölf Tonnen [d.h. 12.000 kg] verbrannt worden sein“ (ebd., vgl. Ayoub 2017).
3 Offizielle Kosten für Verpackung und Versand für das Kleidungsstück aus der chinesischen Provinz Guangdong: 1,50 Euro
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Verpackungen/Zero Waste‘
Ein guter Anfang bzgl. Zero Waste. | Unsplash/Markus Spiske
Für Lebensmittelverpackungen hat zu gelten: Keep it simple.
Bis Zero Waste ist es sicher noch ein weiter Weg. Aber auf dem Weg dahin können wir die gröbsten Verpackungseskapaden beseitigen.
Wir können die Ausgabe aller Arten von Mitnahmetüten unterbinden: Es gibt dann in der Gemüseabteilung und an der Kasse unabhängig vom Material keine Tüten-Einwegprodukte mehr, auch nicht gegen Bezahlung. Wer zwei Mal ohne Champignons nach Hause gegangen ist, wird es beim dritten Einkauf ‚auf dem Kasten‘ haben – und eine mit der Grammzahl des Eigengewichts bedruckten Standard-Mehrwegverpackung dabeihaben und dort ihre/seine Pilze einpacken.1 Das ist – sofern die Regeln überall die gleichen sind – überhaupt kein Problem.
Es kann zudem gesetzlich festgelegt werden, welche typischen Supermarktprodukte unverpackt verkauft zu werden haben: Gemüse, Obst, Nudeln, Reis, Müsli, Wurst2, Käse, Nüsse…
Auch was Einwegverpackungen aus Glas und Verbundstoffen betrifft, kann per Keep it simple leicht Abhilfe geschaffen werden: Es reicht vollkommen aus, flüssige Supermarktprodukte in lediglich ca. 20 Mehrwegflaschentypen3 zu verkaufen: Dann kann auch kein Hersteller plötzlich 400 statt 500 ml abfüllen. Aber viel wichtiger: Mehrwegflaschen/-verpackungen brauchen nicht mehr – wie es zurzeit mit einer Reihe von Produkten der Fall ist – zum Originalabfüller/-hersteller zurück transportiert zu werden, was enorme Wege spart. Und was die Markengestaltung des Produktdesigns angeht, können sich die Designer*innen schlicht mehr bei der Etikettgestaltung austoben. Ausgenommen sind von alledem lediglich Produkte, die in der Flasche einen irreversiblen Geschmack oder sonstige Rückstände hinterlassen.
Die weiterhin erhältlichen Verpackungen haben im Unterschied zu bisherigen Verbundstoffen aus nur einem Material zu bestehen, z.B. aus Monoplastik. Sie sollten daher keine Etiketts aus anderem Material aufweisen und idealerweise nur aus einem Teil bestehen. Letzteres trifft z.B. edel verpackte Kekse etc., bei denen die Verpackung oftmals im Verhältnis zum Inhalt unangemessen vielschichtig und groß erscheint. Im ‚Einkaufsguide Verpackungen‘ der Stadtreinigung Hamburg – eine Art ‚Verpackungs-Ampel‘ ist auch zu lesen, dass „[s]chwarze oder sehr dunkel eingefärbte Kunststoffe… von den [Mülltrennungs-]Scannern meist nicht richtig erkannt [werden] und … somit nicht recycelt werden [können]. Perfekt sind helle oder transparente Verpackungen [aus Monoplastik]“ (2020, 3).
Allgemein kann man regulieren, dass Menschen beim Kauf von Produkten tatsächlich ausschließlich die Produkte erwerben. Die Verpackung des Produktes bleibt somit Eigentum und somit in der Verantwortung des Unternehmens. Somit obliegt es dem Unternehmen, den Joghurtbecher wieder zurückzunehmen durch ein geeignetes Pfandsystem. Und gleichzeitig ist ihm aufgetragen nur sortenreine Verpackungsmaterialien zu verwenden, die leichter recycelt werden können.
>> vgl. Abschnitt Was kann ICH tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten, S. 189 sowie ‚Einkaufsguide Verpackungen‘: https://www.stadtreinigung.hamburg/einkaufsguide/#0 (Abrufdatum 2.2.2020)
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Die Menschheit ist zum Mond geflogen. Ich gehe davon aus, dass sie auch das Mitführen von Mehrwegverpackungen beim Einkauf hinbekommt.
2Keep ist simple: Es macht überhaupt keinen Sinn, als Supermarkt eine Wurst- und Käsetheke zu haben und drei Meter weiter zusätzlich noch ein Kühlregal, in dem man das gleichartige Angebot noch einmal in Fluten von Plastik eingepackt vorfindet.
3 „Die umweltfreundlichste aller Getränkeverpackungen ist die [definitiv mikroplastikfreie!] Glasmehrwegflasche. Nach der Rückgabe im Laden wird sie gereinigt und kann etwa 40 bis 60 Mal wiederverwendet werden. So fällt auch der bei der Glasproduktion entstandene relativ hohe Energiebedarf in der Gesamtbetrachtung weniger stark ins Gewicht. Zusätzliche Umweltbelastungen entstehen lediglich durch Reinigung und Transport der relativ schweren Glasflaschen. Diese werden durch die häufig regionalen Vertriebsstrukturen mit kurzen Wegen aber meist gering gehalten“ (Berliner Abfallcheck o.J. [Träger ist der BUND Berlin]), s.a. ‚Einkaufsguide Verpackungen‘ von der Stadtreinigung Hamburg mit einer Art ‚Verpackungs-Ampel‘: https://www.stadtreinigung.hamburg/einkaufsguide/#0 (Abrufdatum 2.2.2020)
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Bildung/Erziehung‘
Italien führt derzeit das Schulfach Klimakunde ein. „33 Stunden im Jahr, eine Lektion pro Woche also. In allen Schulstufen, von der ersten Primarklasse bis zur Maturità. ‚Obligatorisch mit allem Drum und Dran, also auch mit richtigen Zensuren‘, sagt [der italienische Minister für Erziehung und Forschung] Fioramonti“ (Meiler 2019).
Ohne eigene, analoge umfassende Erfahrungen in freier Natur wird das Thema ‚Klimakunde‘ aber allzu abstrakt bleiben:
„Der durchschnittliche Bewegungsradius von Kindern hat sich seit des Sechzigern von mehreren Kilometer auf etwa 500 Meter reduziert, während die Risiken, denen sie tatsächlich ausgesetzt sind, immer weiter abgenommen haben“ (Stöcker 2018).
Niko Paech pointiert:
„Heute lebt die erste Generation junger Menschen, die sich Naturerlebnissen bestenfalls noch auf Instagram und YouTube hingeben“ (Folkers/Paech 2020, 12).
„Die Natur nehmen viele Menschen bis heute als ein bloß äußeres Setting wahr, dem sie nichts schulden: etwas außerhalb ihrer Körper und außerhalb ihrer Gefühle. Was aber wenn der verdorrende Kirschbaum letztlich nichts anderes ist als wir selbst. Um eine solche Sicht in unser Herz einzulassen, bedarf es unerhörten Wandels“ (Weber 2020, 22).
Manfred Folkers:
„Wer noch nie eine Kartoffel gepflanzt, ein Blumenbeet gepflegt oder ein Hähnchen geschlachtet hat;… wer die Grenzen der zur Verfügung stehenden Mittel in ihrer Finanzierbarkeit sieht, hält die Natur für eine Erfüllungsgehilfin der eigenen Wünsche“ (Folkers/Paech 2020, 79).
Knapp die Hälfte aller heutigen Kinder in Deutschland ist „noch nie allein auf einen Baum geklettert“ (Stöcker 2018; Stand 2015).
In Covid-19-Zeiten stellt Richard David Precht fest:
„Apropos biologische Wesen! Vielleicht wird ja gerade das wieder spürbar. Wie viele Menschen fühlen sich heute näher mit ihren Smartphones verwandt als mit Tieren und Pflanzen? Qua Technik schien der Mensch aus der Natur wie aus der Geschichte herausgetreten zu sein“ (2020).
Tatsächlich bewegen wir uns hier in einer gewichtigen Abwärtsspirale: Menschen – ob nun Kinder, Jugendliche oder Erwachsene –, die der Natur und dem Dasein im unversiegelten nicht betonierten Freien entfremdet sind, verstehen oftmals auch nicht wirklich, dass sie Teil der Natur sind und nur mit ihr und dank ihr existieren können: Wenn man keine Beziehung zur Natur aufgebaut hat – wozu sollte sie dann gerettet werden? Welcher Entfremdete sollte warum die erforderliche Energie aufbringen?
Ein Zwischengedanke:
Hätten wir Städter*innen bei klarem Himmel nachts die Möglichkeit, statt rötliches Streulicht das schwarze Himmelszelt aufgespannt mit mehr als einer Handvoll Sterne zu sehen – vielleicht wären wir weniger entfremdet und im wahrsten Sinne des Wortes mehr: geerdet?
Pierre Rabhi über die Notwendigkeit einer anderen Erziehung angesichts der Herausforderungen der Welt:
„Zu fragen: ‚Welche Erde hinterlassen wir unseren Kindern?‘, reicht nicht aus; man muss auch die Frage stellen: ‚Welche Kinder hinterlassen wir dem Planeten?‘“ (2015, 124-125).
Die hier dargelegte Entfremdung spiegelt sich gewissermaßen auch in einem der weitverbreitesten universitären Studiengänge bzw. Berufsfeld wider:
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Universitäre Bildung/Ökonomisierung des Lebens‘
Es ist indes nicht einzusehen, warum an den allermeisten Universitäten Betriebs- und Volkswirte immer noch fast ausschließlich mit einem im wahrsten Sinne des Wortes weltfremden Curriculum (Studium-Lehrplan) konfrontiert werden.
Auf das i.d.R. fehlende über den Tellerrand-Denken weist Richard David Precht explizit hin:
„[O]hne Utopie ist wahrscheinlich … niemandem geholfen, außer einigen Profiteuren des Status quo… [Der] Möglichkeitshorizont [von heutigen Wirtschaftswissenschaftlern wird] … fast immer vom Status quo bestimmt … Etwas anderes haben sie ein ihrem Studium auch nicht gelernt, und für Visionäres ist in ihren ungezählten Fachpublikationen keinen Raum. So schaffen viele von ihnen das Kunststück, trotz aller gewaltigen Umbrüche seelenruhig davon aus[zu]gehen, Arbeit, Beschäftigung und Gesellschaftsstruktur blieben in den nächsten Jahrzehnten mit der heutigen Zeit vergleichbar“ (2018, 111).
Graeme Maxton klinkt sich nahtlos ein:
„Viele schließen … ihr Studium ab, ohne je von alternativen ökonomischen und sozialen Entwicklungsmodellen gehört zu haben. Die meisten Wirtschaftsuniversitäten setzen ihren Schwerpunkt in der Lehre auf Gewinnerzielung und fördern damit ein kurzsichtiges Denken. Und auch wenn sie Module in Ökologie und Umwelt anbieten, hinterfragen nur wenige, warum die Volkswirtschaftslehre die Natur als Externalität behandelt“ (Maxton 2018, 105).
Bregman fügt noch eine eher unerfreuliche menschliche Komponente hinzu:
„[I]n den 1990er Jahren fragte sich der Ökonom Robert Frank, was das Bild vom Menschen als selbstsüchtigem Wesen mit seinen Studenten machte… [und stellte dann per Studie fest]: Je länger sie Ökonomie studiert hatten, desto egoistischer waren sie geworden“ (2020, 35).
Anders ausgedrückt: Studierende der ökonomischen Theorien bekommen tagein, tagaus das Menschenbild „eines Egoisten, der in jeder Situation darauf bedacht ist, kühl den eigenen Vorteil zu kalkulieren“ (Göpel 2020, 56) präsentiert – und werden, und das darf nicht verwundern, tendenziell selbst so1. „Aus diesem Grund überraschte das Ergebnis des Ultimatumspiels2 die Wirtschaftswissenschaften so sehr … [Es passte nicht in das Weltbild des homo oeconomicus, d]ass die Proband*innen … lieber gar kein Geld nahmen, solange der andere in ihren Augen nicht gerecht teilte“ (ebd., 57).
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Natürlich spielt hier auch die Persönlichkeit hinein, die die Person ihre/seine Studienwahl treffen ließ.
2 „Ein Akteur, Spieler 1, macht zunächst ein Angebot über die Aufteilung eines vorgegebenen Geldbetrags, das Spieler 2 anschließend annehmen oder ablehnen kann. Akzeptiert er den Vorschlag von Spieler 1, so wird dieser umgesetzt und an die Spieler ausgezahlt. Lehnt er jedoch ab, so erhalten beide Spieler nichts“ (Ockenfels o.J.). Ergebnis: Nur wenn der Betrag für Spieler 2 bei etwa 1/3 lag, nahm diese*r den Vorschlag an, was Spieler 1 offenbar auch korrekt antizipiert (vgl. ebd.).
Wer in einem solchen Umfeld studiert oder arbeitet, hat sich – wenn wir Bregman und Junger ernstnehmen (vgl. S. 383f.) – in einer nicht menschengerechten Umgebung selbiger anzupassen und sich daher von sich selbst als Mensch zu entfremden. „Durch die radikale Orientierung am Aktienwert seien Manager*innen und Leiter*innen der Börsenfirmen [– so Anwalt Jamie Gamble –] rechtlich dazu verdonnert, sich wie Soziopathen zu verhalten“ (zit. in Göpel 2020, 67). Dass passt hervorragend zu der Beobachtung von Karen Duve, die 2014 ein ganzes Buch zum Thema Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen veröffentlicht hat und eben das Problem darin sieht, dass gerade in den Chefetagen oft Menschen sitzen, die sich wie der homo oeconomicus gerieren und statistisch gesehen überdurchschnittlich oft einen Befund haben.
Bedauerlicherweise macht das ökonomische Denken heutzutage keineswegs Halt an der Ausgangstür von börsennotierten Unternehmen. Die Denke färbt ab und ist gerade in den letzten Jahren weiter eingesickert in unser Berufsleben – vergleiche z.B. die Quantisierung von Nicht-Quantifizierbarem in der Pflege – und in unser Alltagsleben, man denke hier nur an das Thema Selbstoptimierung sowie Wischtechniken bei der Partner*innenwahl. Das alles wird uns nicht helfen bei der anstehenden sozial-ökologischen Transformation. Vollkommen richtig bemerkt Maja Göpel dazu:
„Ein System, das Egoismus belohnt, erzieht zum Egoismus. Wir brauchen eine Neubetrachtung der Werte, die Menschen in ihrer kooperativen Lebendigkeit stützen“ (2020, 72-73).
„Materielle und soziale beziehungsweise umweltorientierte Werte verhalten sich den materialistischen Werten gegenüber wie auf einer Wippe. Wenn die einen zunehmen, nehmen die anderen ab. Wenn die homo-oeconomicus-Perspektive Kultur und Struktur dominiert, dreht sich alles um Status, Macht und Geld. Gleichzeitig schwinden Mitgefühl, Großzügigkeit und Umweltbewusstsein, und die Frage nach dem Genug und dem Wohlergehen des ganzen wird aus Theorie und Weltanschauung getilgt. Und wenn das Wir im Ich immer kleiner wird, entsteht auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Aber die gute Nachricht aus [Tim] Kassers Forschung ist; Die Werte-Wippe funktioniert auch in die andere Richtung. Sobald die sozialen und ökologischen Werte höher im Kurs stehen, sinkt die Wichtigkeit der materiellen Werte“ (ebd., 133-134).
Damit ist ein wesentlicher Punkt der sozial-ökologischen Transformation angerissen: Wir brauchen eine umfassende, alles in Frage stellende Inventur unseres Lebensstils und somit einen erheblichen Wertewandel…
… der sich dann z.B. darin niederschlägt, dass der nächste Punkt dieses Abschnittes nicht als provozierend wahrgenommen würde:
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Ernährung in öffentlichen Institutionen wie Kantinen, Mensen, Kitas…‘
Wenn eine Stadt wie bspw. Hamburg mit energetischen Dämmungen und Solarbedachungen der öffentlichen Gebäude vorangeht, sollte sie auch – wie der BUND Hamburg in seinem ‚Klima-KRISENplan‘ im Vorfeld der Veröffentlichung des ‚Hamburger Klimaplans‘ 2019 herausarbeitet – „sich ab sofort verpflichten, in allen öffentlichen Kantinen und Mensen sowie bei Veranstaltungen in der Regie der Stadt ausschließlich Lebensmittel aus ökologischer Erzeugung sowie vorrangig regionale und saisonale Angebote nutzen. Zudem muss das Fleischangebot verringert werden, denn die Tierhaltung gehört weltweit zu den großen Verursachern von Treibhausgasemissionen“ (BUND 2019).
Ich schließe mich dem an und erweitere den Gedanken auf Kindergärten und Schulen. Pädagogische Einrichtungen prägen unsere Kinder von klein auf und stellen sich zunehmend der Verantwortung einer klimagerechten Erziehung zur Nachhaltigkeit. Betreffend die Ernährung von Kindern z.B. in Kitas und Schulen ist hier – und das ist eine simple Maßnahme – komplett auf nachhaltige, weitgehend regional-saisonale, vegetarische und damit definitiv gesunde Ernährung umzustellen. Fleisch- und Fisch-lose Ernährung ist ohnehin der kleinste gemeinsame Nenner von hochgradig unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten in Kitas und Schulen – und vereinfacht vieles: Die Umstellung erspart diverse ‚Extrawürste‘, sodass ich mich wundere, dass dieser Vorschlag nicht längst – aus Gründen der Bequemlichkeit – umgesetzt ist. Und es schränkt niemanden wirklich ein: Logischerweise werden die Kinder außerhalb der Kita so ernährt, wie die Eltern das wünschen, sodass keine Diskussion über mögliche ‚Ernährungsdefizite‘ notwendig sein wird: Täglicher Fleischkonsum ist definitiv nicht gesund. Und: Es ist im Sinne von uns allen, dass Kinder nachhaltige Ernährungsformen kennenlernen und auf ein Fleisch-reduziertes Erwachsenenleben vorbereitet werden.
>> vgl. Aspekte Rindfleisch bzw. Vegetarismus ab S. 178 sowie Abschnitt Fleisch, Fisch und Ernährung ab S. 549.
Der Bereich ‚öffentliche Beschaffung‘ ist allgemein so aufzustellen, dass die öffentliche Hand – als Vorbild und weil hier Zukunfts-entscheidende Budgets vergeben werden – Aufträge grundsätzlich und institutionell so verankert an besonders nachhaltige/zukunftsfähige Unternehmen vergibt.
Wir sollten bei allen Mechanismen gucken, „wie all das öffentliche Geld systematisch in die Richtung geschoben wird, dass die Transformation stattfinden kann und die[jenigen] begünstigt werden, die sich auf den Weg machen, weil wir momentan in vielen dieser Förderprogramme… [das] noch viel zu wenig … eingebaut haben. D.h., warum sollten all die öffentlichen Gelder nicht ganz klar auf die Zielerreichung dieser Gesellschaft programmiert werden, warum sagt man dann, ‚das ist staatliche Kontrolle des Marktes‘, wenn es darum geht, die Marktanreize, die uns an Nachhaltigkeit vorbeigehen, zu korrigieren, damit wir unsere Ziele erreichen können? Und dann kann die Wirtschaft das wunderbar tun“ (Maja Göpel in Klimawoche 2020, Min 80).
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Wohnungsbau/Wohnen‘
Eine oft übersehene Form von Wachstum.
Wir haben die Art, Wohnungen zu bauen oder zu sanieren zu überdenken:
Derzeit unterliegen die gebauten/sanierten Wohnflächen dem Prinzip des ‚ImmerMehr‘. So steigt nicht nur allgemein die Wohnfläche pro Wohnung an: Auch die Zahl der Wohnungen steigt – weniger, weil es mehr Einwohner*innen gibt, sondern vor allem, weil die Zahl der Single-Haushalte in den letzten dreißig Jahren massiv angestiegen ist – und nun bei über 41,1 Prozent liegt (vgl. BiB 2016).
Michael Kopatz erläutert dazu sinngemäß auf dem Ersten Hamburger Klimagipfel trocken:
„Man kann auch zu zweit, dritt oder viert in einer Wohnung leben. Das ist möglich.“ (20.1.2020).
2018 = 42,2 Mio Wohnungen in Deutschland | 2011 = 40,6 Mio 2018 > 17 Mio Singlehaushalte | > 40% aller Haushalte werden von einer Person bewohnt (vgl. check24 2019)
Wohnfläche der Wohnungen:
„Im Jahr 2014 … lag die Wohnfläche pro Kopf in Ein-Personenhaushalten mit 66,7 Quadratmetern… um mehr als ein Drittel höher als die Wohnfläche pro Kopf in Zwei-Personenhaushalten mit 48,0 m2. Die Mitglieder von Haushalten mit drei oder mehr Personen beanspruchten sogar nur eine durchschnittliche Fläche von 30,6 m2“ (UBA 2019).
Auch in den 1970er Jahren konnte man in Deutschland angemessen wohnen.
1972 lag die Wohnfläche pro Person bei 26,4 Quadratmetern.
1989 bei 36,4 m2.
2018 bei 46,7 m2 (vgl. Gesis, o.J., UBA 2019).1
Details: Erläuterungen zu (1)
Die Zahlen aus dem Jahre 1972 und 1989 sind auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen.
Michael Kopatz trifft den Punkt:
„Während es in Tokio normal ist, wenn eine vierköpfige Familie auf 40 Quadratmetern lebt, gelten hierzulande zwischen 120 und 150 Quadratmeter als angemessen. … Es gab in Deutschland eine Zeit, da war es normal, dass zwei Kinder sich ein Zimmer teilen. … Heute ist fast ein Zustand erreicht, in dem sich Jugendliche arm fühlen, wenn ihnen ‚nur‘ zwölf Quadratmeter zur Verfügung stehen. Im Singledasein setzt sich die Maßlosigkeit fort. Es ist Teil unserer Kultur, wenn zwei Personen auf 100 Quadratmetern leben“ (2016, 113).
Kopatz fügt an anderer Stelle hinzu, dass dieses Bedürfnis nach mehr Quadratmetern und nach Single-Wohnungen zur Folge hat, dass jährlich etwa 300.000 Wohnungen gebaut werden, trotzdem eine Not an Wohnraum besteht und das alles, obwohl sich doch die Einwohnerzahl seit 1970 nicht grundlegend verändert hat (vgl. 2019, 173-174).
Die Einführung eines Wohngemeinschaftschafts-Bonus, wie ihn German Zero fordert, könnte hier einen in die richtige Richtung zielenden Anreiz setzen (2020, 38).
Durchschnittlicher Stromverbrauch (Berlin) 1.500 kWh = Single-Haushalt | 2.500 = 2 Personen | 4.250 = 4 Personen (vgl. check24 2019)
> Ein Singlehaushalt verbraucht deutlich mehr Strom als Mehrpersonenhaushalte.
Je größer die Wohnung, desto höher die sog. ‚Graue Energie‘ (vgl. S. 94), die für sie verbaut wurde. Desto höher prinzipiell die erforderliche Menge von Strom und Wärmeenergie. Desto mehr Platz für Konsumprodukte etc. pp. pp. – Zersiedelung, Versiegelung, Anfahrtswege/Verkehrsaufkommen, Zahl der Stellplätze, Zahl der Pkw… hier kommt eine Menge an letztlich energie-intensiven Faktoren zusammen.
Hier wird sich etwas zu ändern haben. Wer das anzweifelt, möge dieses Wachstum mal einfach in die mittlere Zukunft weiterdenken.
Viele Menschen bleiben – vollkommen nachvollziehbar – in ihren großen Wohnungen, z.B. wenn die Kinder aus dem Haus sind, weil betreffend den freien Wohnungsmarkt ein Umzug in eine kleinere Wohnung in der gleichen oder in einer vergleichbaren Umgebung aufgrund des neuen Mietvertrags unweigerlich teurer würde: Weniger Platz für mehr Geld. Dazu schlagen die Grünen in Berlin das ‚Recht auf Wohnungstausch‘ vor, bei dem Mieter*innen „bestehende Mietverträge untereinander … tauschen“ [können:] Das soll zunächst nur für Wohnungsgesellschaften gelten, private Kleinvermieter sollen davon ausgenommen bleiben“ (Eubel 2019). Dieser immerhin vom Deutschen Mieterbund begrüßte Vorschlag stellt sicher einen Bruch mit bisherigen rechtlichen Usancen dar – aber für Business as Usual ist im wahrsten Sinne des Wortes ‚kein Platz mehr‘. Manche Baugenossenschaften bieten solche Verfahren schon in eigener Initiative seit vielen Jahren an.
Tiny Houses, flexiblere Wohneinheiten mit Gemeinschaftsräumen (‚Clusterwohnungen‘), WGs mit Büroanschluss, altersgerechtes Wohnen mit Freund*innen oder in der Mehrgenerationenhaus… es gibt so viel mehr Möglichkeiten als das traditionelle (und nach meiner Wahrnehmung allzu oft Beziehungs-killende) Schlafstadt-Eigenheim vor den Toren der Großstadt, das man im Winterhalbjahr wochentags nur bei Dunkelheit sieht, wenn man den täglichen Stau zum zweiten Mal hinter sich gebracht hat.
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Stadtgestaltung‘
Der zunehmenden Versiegelung von Städten hat entgegengewirkt zu werden. Für die Menschen – aber auch zur Wasserregulierung. Wenn die Extremwetter dazu führen, dass es mal wochenlang gar nicht regnet und dann sehr viel, ist es wichtig, gezieltes Wassermanagement zu betreiben – um weder aufgrund von Überflutungen noch aufgrund von Dürreperioden zu leiden: Berlin hat etwa 430.000 Stadtbäume (vgl. Weißmüller 2020), die zur Kühlung der Stadt erheblich beitragen: „Auf 50 bis 100 Meter breiten Grünflächen zum Beispiel ist an heißen und windstillen Tagen eine Abkühlung von bis zu vier Grad Celsius möglich“ (ebd.).
Eine moderne City soll eine
„‚Sponge-city“, also Schwammstadt, sein: Wie ein Schwamm soll die Metropole das Regenwasser nicht mehr direkt in ihr Kanalsystem abfließen lassen, sondern speichern und erst allmählich und nach Bedarf wieder abgeben. ‚Die Grundidee ist immer dieselbe‘, sagt [die Ingenieurin Darla] Nickel. Regenwasser soll vor Ort gehalten werden, der natürliche Wasserhaushalt gestärkt und daraus Nutzen gezogen werden.“ (Weißmüller 2020).
„Wer aber das Regenwasser vor Ort halten will, braucht Grünflächen – ob in Form von Dachgärten und Fassadenbegrünung oder durch bepflanzte Zwischenräume und neue Parks. Das bringt Grün in die Stadt und damit auch mehr Lebensqualität für die Bewohner“ (ebd.).
Gerade auch vor dem Hintergrund, dass wir künftig weniger bzw. erwartbar wieder mehr regional verreisen werden, ist innerstädtisches Grün sehr wichtig.
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Publizismus: Journalismus/Internet‘
Es ist die Frage aufzuwerfen, inwieweit in Deutschland ein strengeres Medienrecht on- und offline zu konstruktivem Journalismus beitragen könnte. Bspw. eine Aufwertung von Persönlichkeitsrechten, eine Ausweitung der Gegendarstellung z.B. durch grundsätzliche Verlegung auf Seite 1 und wesentlich höhere Strafzahlungen/Schadensersatz/Schmerzensgeld bei evidenten Falschmeldungen könnten hier mäßigend auf unseriöse Medienangebote wirken. Auch eine genauere Formulierung des Programmauftrages für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der Information, Bildung und Unterhaltung gleichermaßen dienen soll (vgl. NDR 2019), könnte hilfreich sein, weil die Ausrede, Information sei gewährleistet, in dem man sie in Spartenkanäle und/oder außerhalb der Primetime sendet, nicht mehr gelten sollte. Konkret…
Erforderlich ist die Absetzung der ARD-Sendung ‚Börse vor acht‘. Diese Sendung gaukelt den Zuschauer*innen in Zeiten des Nano-Sekunden-Handels vor, irgendetwas Relevantes würde noch auf dem Börsenparkett entschieden. Zur besten Primetime-Sendezeit wird hier Zuschauer*innen suggeriert, dass sich die wichtigsten Nachrichten des Tages um die Frage ranken, wie sich der DAX entwickelt. Im Februar 2018 eröffnete ich einen längeren Mailkontakt mit der ARD mit der Feststellung, dass selbige damit „ein starkes politisches Signal auf ein strikt konservatives ‚Weiter so‘, auf die heutzutage unglaublich falsche These ‚Gehts der Wirtschaft gut, gehts auch den Menschen gut‘1 [setzt] und … so – nach meiner Ansicht – jegliche neutrale (=nicht-wirtschaftsfreundliche) Anmutung [verlässt]. Und mehr noch, die ARD verpasst aus meiner Sicht die Chance, der Gesellschaft durch existenzielle Themen und progressiveres Programm – ja, warum nicht eigentlich: ‚Klimanachrichten‘? – über die wirklich wichtigen und zukunftsrelevanten Dinge [regelmäßig, gerne auch mit einem positiven Schwerpunkt] zu informieren“ (s.a. Göpel 2020, 82, s.a. Kopatz 2016, 68-69).2 Die Antworten der Sachbearbeiterin, die das Thema offensichtlich derart irrelevant fand, dass eine Weiterleitung bzw. eine Kontaktherstellung für sie nicht in Frage kam, fielen gleichbleibend nichtssagend-professionell-unverbindlich aus. Eine sachliche Auseinandersetzung war nicht erwünscht.
1 Der sog. Fahrstuhleffekt (‚The tide lifts all boats‘), demzufolge der Lebensstandard für alle gemeinsam insgesamt steige (vgl. Welzer 2016, 128), auch Trickle-Down-Effect: Dessen Verfechter*innen inkl. Adam Smith behaupten, erfolgreiches Wirtschaften wohlhabender Menschen durch „immense Vervielfachung der Produktion“ (Adam Smith zit. in Kurz 1993) käme auch den weniger Begünstigten zugute, sodass „letztlich die Kluft zwischen Arm und Reich verringert“ (Maxton 2018, 55) werde. „Im Umkehrschluss: Damit die Armen mehr vom Kuchen abbekommen, muss der Kuchen immer größer werden“ (Göpel 2020, 84). Tatsächlich ist es jedoch seit Jahrzehnten so, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich jedoch immer weiter öffnet – sowohl in Deutschland als auch global (vgl. Ausführungen im Abschnitt Klimagerechtigkeit, S. 638). Meiner Wahrnehmung nach wird die These i.d.R. besonders von Menschen vertreten, denen zupass kommt, wenn die These als ‚wahr‘ geschluckt wird – und in der Tat ist sie tief in das Denken namentlich der Bürger*innen Deutschlands eingesickert, wie sich an weitverbreiteten Glaubenssätzen wie „Hauptsache die Wirtschaft brummt“ bemerkbar macht. Sicher ist die Idee vom Fahrstuhleffekt nicht per se falsch, nahe liegender ist jedoch, dass es sich um einen Legitimierungsversuch der Nutznießenden handelt. Im Grunde stellt der Fahrstuhleffekt eine alte Art dar zu argumentieren – auch Kolonisator*innen und Missionar*innen mach(t)en diesen Effekt stets für sich geltend.
2 Fernsehen sollte – auch – der Unterhaltung dienen. Und wir haben alle die Freiheit nicht einzuschalten. Es stellt sich indes trotzdem die Frage, inwieweit es im Jahr 2020 noch ethisch verantwortbar und auf Basis der Einnahmen des Rundfunkbeitrages vertretbar ist, in Anlehnung an historische Sendeformate des 20. Jahrhunderts wie Love Boat und Traumschiff eine Dauer-Werbesendung für Kreuzfahrten – ‚Verrückt nach Meer‘ – zu produzieren und zu senden (vgl. Change.org-Petition 2020). Ähnliches gilt für das unangemessene Übermaß an unkritischen Zoo- bzw. Natur-Sendungen in Dauerschleife – denen ich einen politisch-sedierenden Einfluss unterstelle, was sich m.E. darin zeigt, dass sie in einem überaus merkwürdigen Kontrast zum Naturverbrauch und zur Billigfleisch-Akzeptanz der Bürger*innen Deutschlands stehen. Auch stellt sich die Frage, ob Stefan Mross‘ Hochzeit (mit Anna-Carina Woitschack) wirklich ein samstägliches TV-Großereignis sein muss in Form der Primetime-Sendung ‚Schlagerlovestory.2020 – Das große Wiedersehen‘ (vgl. Ewald 2020). Ich habe nichts gegen solche Sendungen: Unterhaltung ist wichtig – für alle Zielgruppen. Wenn jedoch Sendungen mit Realitätsbezug i.d.R. nur nach 22 Uhr oder in Spartenkanälen gesendet werden, dann ist das hochgradig problematisch und entspricht nicht der Informationspflicht und dem Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Davon ausgehend, dass ARD und ZDF eine eher ältere Zielgruppe, die noch lineares (d.h. nicht zeitversetztes) Fernsehen schaut, bedient – und diese die Mehrheit der Wähler*innen stellt (vgl. Aspekt Wahlmacht, S. 224), dann ist das hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit Deutschlands ein fatales Signal: Auch Unterlassung ist eine Handlung. Ich plädiere für eine Abschaffung der Quotenerhebung und eine Betonung des öffentlich-rechtlichen Auftrages zur Primetime. Hier geht es nicht um Erziehungsfernsehen, sondern einfach um Unterhaltung mit Fantasie abseits von Rosamunde Pilcher. „In Großbritannien zum Beispiel ist das schon ganz anders. Die BBC etwa fordert nicht nur nachhaltige Produktionsstandards ein, sondern hat alle Sektionen im Sender dazu aufgerufen, sich Gedanken zu machen wie ‚environmental sustainabilty‘, also Nachhaltigkeit auch inhaltlich [in Form von ‚Green Storytelling‘] eine Rolle spielen kann – und zwar in allen Genres“ (Urbe 2020, 18). So sendet die BBC eine fiktive Doku, die in einer nicht definierten baldigen Zukunft spielt, in der der Konsum von Fleisch verboten ist. Abschließend ist anzumerken, dass bzgl. der in den letzten Jahren gesendeten Dokus und bzgl. der üblichen Berichterstattung zum Thema ‚Klimakrise‘ der Hinweis auf die Zusammenhänge zwischen Wachstum und planetaren Grenzen i.d.R. nicht ausreichend deutlich ausfällt.
Als das Internet massentauglich wurde kursierte die Idee, die Vision und das Versprechen, das Internet würde die Welt freier machen und demokratisieren. Nach meinem Eindruck ist diese Idee bzw. dieser Anspruch alles in allem gescheitert. Diktaturen schotten einfach die bestehenden Grenzen nicht nur physisch, sondern auch online ab – oder nötigen maßgeblichen Global-Playern ihre Bedingungen – d.h. Zensur – auf. Und die monopolistischen Strukturen der übernationalen Konzerne sorgen auch nicht dafür, dass bspw. Suchergebnisse neutral sind. In aller Naivität habe ich das o.g. ‚große Versprechen‘ nie verstanden – es scheint mir persönlich wesentlich sinnvoller, das Internet als einen verlängerten Arm des regulierungsbedürftigen realen Lebens zu sehen, sodass die Rechtsverhältnisse zwischen digitaler und analoger Welt entsprechend weiter anzugleichen wären.
Nachhaltige Maßnahmen im Bereich ‚Werbung‘
Es ist die Frage aufzuwerfen, inwieweit es sinnvoll ist, zu ermöglichen, in den Massenmedien klimaschädliche Produkte und Dienstleistungen sowie einen entsprechenden Lifestyle zu bewerben. Michael Brüggemann mit dem Fachgebiet Klima- und Wissenschaftskommunikation schreibt über TV-, Radio-, Kino-, Internet- und Plakatwerbung:
„Was in Deutschland wichtiger ist als die Aktivität einer kleinen Gruppe von Leugnern des Klimawandels, sind die täglichen Werbebotschaften, die uns zum Kauf klimaschädlicher Produkte aufrufen“ (2019). Schon mit Blick auf TV-Werbung der 1950er Jahre in den USA konstatierte ein ungenannter Motivationsforscher:
„Reklame sei weniger dazu da, ein [bestimmtes] Produkt zu verkaufen… als den puritanischen Seelen der [US-]Amerikaner ‚die moralische Erlaubnis zu geben, ohne Schuld Spaß zu haben‘. Tatsächlich scheint die Therapie anzuschlagen: Jedes Jahr, jubeln die Marketingleute, werde es leichter, Luxusprodukte zu verkaufen“ (Albig 2020, 58).
Denkbar wäre im größeren Maßstab Gegenwerbung, wie sie Greenpeace als ‚Fake-Anzeigen‘ oder ‚Adbusting‘ in der Rubrik ‚Keine Anzeige‘ auf der letzten Seite, auf dem Backcover des Greenpeace Magazins abdruckt (vgl. Greenpeace Magazin 2017, mit Beispielen).
Ideen für eine nachhaltige Zukunft: Wie könnte ein positives Narrativ aussehen?
Umweltbewegte Menschen postulieren immer wieder, es müsse ein positives Narrativ geben, an dem sich die Bürger*innen orientieren und festhalten können, eine „Zielvorstellung, die solche Großanstrengungen wie den Bau einer neuen Infrastruktur lohnend erscheinen lässt“ (Heuser 2019, 24). Nun, selbstverständlich ist es gut, zu wissen wo man hin will. So habe ich hier im Eingangsabschnitt Intro das Narrativ formuliert:
Die Doppelkrise Klimakrise/Massenaussterben bietet – trotz der bedrohlichen Kulisse – eine Chance. Sie ist die Chance, die wir bislang nie hatten. Sie kann uns von unserem selbstzerstörerischen Trip befreien, das Leben freier machen und für globale Gerechtigkeit sorgen – nutzen wir sie. (vgl. S. 41)
Über dieses Narrativ hinausgehend, fürchte ich jedoch, dass das gewünschte allgemeine, emotional erreichende, von Menschen mehrheitlich positiv aufgefasste Narrativ nicht zu finden ist, und zwar, weil es m.E. selbiges so nicht gibt. Ein Teil der Botschaft wird immer zu lauten haben, dass eine Veränderung hin zu einem deutlichen Weniger von materiellen bzw. konsumistischen Ansprüchen erforderlich ist, was nun mal bis auf Weiteres für Viele keine besonders verführerische Botschaft darstellt.
Das positivste Narrativ, dass angesichts der fortgeschrittenen Biodiversitäts- und Klimakrise noch realistisch zu erzählen ist, besteht m.E. darin, dass unsere Kinder, Enkel*innen und Nachfahr*innen weiterhin ein sinnmachendes Leben auf einem lebenswerten Planeten leben können, wenn wir jetzt handeln.
Und ich denke, dass das angesichts der Tatsache, dass der Karren ziemlich tief im Dreck steckt, schon eine verdammt gute Nachricht ist – die vollkommen auszureichen hat, um endlich, endlich loszulegen.
Ideen für eine nachhaltige Zukunft: Die neuen No Go’s unserer Zeit
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, konkret über die Aspekte unseres gesellschaftlichen Lebens nachzudenken, die zu no go’s geworden sind: No go‘s sind dort zu finden, wo die Divergenz zwischen Soll- und Ist-Zustand z.B. aufgrund des CO2-Ausstoßes unhaltbar geworden ist.
Das Belassen beim Ist-Zustand suggeriert zudem den mit der globalen Krise nicht so vertrauten Menschen ein ‚Weiter so‘, wo es kein ‚Weiter so‘ geben kann:
Fußball-WMs in Flächenländern bzw. mit über tausende Kilometer verteilten Sportstätten, in denen Spieler*innen, der gesamte Staff und die Fans zwischen den einzelnen Spielen hin- und herfliegen ‚müssen‘.
(Ich fürchte, auch die Zeiten, in denen alle Welt zu einem solchen Event einfliegt, haben vorbei zu sein: Stichwort ‚Klimaneutralität 2035/37‘.)
Einmalig aufgebaute Spielstätten à la Olympia:
Bis dato wird jeweils irgendwo auf der Welt alle vier Jahre jeweils sowohl für die Winter- und auch die Sommerspiele ein ganzes Sammelsurium an Beton-Stadion-Klötzen hochgezogen, die hinterher i.d.R. nicht mehr gebraucht werden.
Warum kann denn die Sommerolympia nicht künftig wieder dauerhaft nach Griechenland zurückkehren? Das wäre doch eine wunderbare Tradition.
Warum sollte es nicht einen festen Ort für Fußball-WMs geben? Oder sechs, d.h. auf jedem Kontinent eine, sodass diese alle vier Jahre auf einem anderen Kontinent stattfindet. (Gemeint sind hier Afrika, Asien, Australien, Europa, Nordamerika, Südamerika.)
Warum können Fußball-Europameisterschaften nicht auf nur zwei, drei Städte verteilt stattfinden, drei Spiele täglich auf Kunstrasen? (Die Öko-Bilanz von Kunstrasen ist in Relation zu Stadionneubauten geradezu fantastisch.)
Katar hat etwa 2,8 Mio Einwohner*innen – das entspricht etwa der Einwohner*innenzahl von Hamburg und Köln. Hamburg und Köln verfügen gemeinsam über zwei WM-taugliche Fußballstadien. In Katar soll es bis zum ersten Anstoß acht WM-Fußballstadien geben mit mindestens 40.000 Zuschauer*innenplätzen, summeriert: 300.000 Plätze. Damit kommen auf einen Sitzplatz 10 Bürger*innen Katars.
>> Was da an klimarelevantem Beton/Zement verbaut wurde… für eine vierwöchige Veranstaltung… alle Welt wird einfliegen. Und das im Jahre 2022.Mir wird schlecht… allein aus Klima-Gründen ist diese WM m.E. mit einem Boykott zu belegen… Es gibt noch 6.500 weitere Gründe: Seit der Vergabe der WM an Katar im Jahre 2010 sind in Katar beim allgemeinen Aufbau der WM-Infrastruktur laut Guardian bis Ende 2020 mehr als 6.500 aus dem Ausland angeworbene Bauarbeiter ums Leben gekommen (vgl. Pattisson et al. 2021). Da spritzt einem ja das Blut in die Augen beim Fernsehgucken. Ja, das muss so deutlich. PS: Weitere Argumente für einen Boykott liefern die massiv missachteten Menschenrechte insbesondere auch gegen Arbeitsmigrantinnen in Katar (vgl. AI 2021).
Bezogen auf Deutschland setzen z.B. die Cruise Days in Hamburg ein vollkommen falsches Zeichen. Hier gibt es nichts zu feiern (vgl. Aspekt Der ökologische Doppelschlag: Kreuzfahrten, S. 288ff.). Die Cruise Days demonstrieren eine Normalität, wo keine mehr ist.
Wintersport in Gegenden, in denen keine reelle Chance auf einen weißen Winter besteht: So berichtet der Spiegel über die ‚Wintersporthochburg‘ Oberhof, die im Winter 2019/20 einen Weltcup ausrichtete. Was fehlte, war der Schnee. „Und auch die 37 Schneekanonen im 800 Meter hoch gelegenen Ort halfen nicht sehr viel weiter – es war zu warm fürs Schneeschießen… Für den Weltcup … mussten 2.000 Kubikmeter Schnee in mehr als 30 Lkw-Ladungen aus Gelsenkirchen vom dortigen Biathlonspektakel 370 Kilometer weit nach Thüringen gekarrt werden“ (Ludwig/Purschke 2020, 99).
>> Siehe auch Aspekt Konsequenzen (die angesichts der Zahlen des Flugverkehrs zu ziehen sind), S. 281
Einen auf den ersten Blick ganz erstaunlichen Gedankengang werfen Luisa Neubauer und Alexander Repenning in ihrem Buch Vom Ende der Klimakrise: Eine Geschichte unserer Zukunft auf, basierend auf der Forschung der Transformationsforscherin Luise Tremel: Die Rede ist von der ‚Freiwilligen Selbstdeprivilegierung‘. Gemeint ist die freiwillige, d.h. selbstinitiierte und dann politisch verpflichtend umgesetzte Abschaffung von Gewohnheitsrechten1, die moralisch nicht mehr haltbar sind oder die eigentlich nie haltbar waren:
Dem äußerst spannenden Gedankengang von Luise Tremel soll hier angemessener Platz eingeräumt werden. Nach der notwendigen Vorrede, dass „der Fall [natürlich] nicht ohne Weiteres auf heute übertragbar … [sei, es jedoch „große Parallelen [gäbe]“ (Neubauer/Repenning 2019, 173), führt Luise Tremel aus:
„Rund um den Atlantik … wurde mit Sklaven und mit Sklavinnen gehandelt und mit den Gütern, die von diesen Sklaven produziert wurden. Das waren die ersten Massenprodukte der Weltgeschichte, auf den ersten Massenmärkten. Der Zucker gilt als das Öl des 18. Jahrhunderts, die Baumwolle dominiert das 19. – beide wurden fast ausschließlich von Sklaven hergestellt. Die Sklaverei war also für sehr viele Menschen an sehr vielen Orten mit Wohlstand verbunden, mit der Ausnahme der Sklaven selbst – ansonsten gibt es in den Gesellschaften, die sich der Sklavenarbeit bedienen, eigentlich niemanden, der nicht in irgendeiner Weise an der Ausbeutung teilnimmt: Sie war die Geschäftsgrundlage für landwirtschaftliche Produktion, Transportunternehmen jeglicher Art, Reedereien, große und kleine Handelsunternehmen, Versicherungswirtschaft, Banken, verarbeitende Industrien aller Couleur. Die Sklaverei hat deshalb in allen diesen Branchen Arbeitsplätze geschaffen und gesichert. Das Steueraufkommen hat Staatskassen gefüllt, Privathaushalte kamen über Haussklaven zu Komfort, und die großen Massen der Menschen in diesen Gesellschaften konnten sich Zucker, Baumwollprodukte, Kaffee usw. überhaupt erst dadurch leisten, dass die eigentlichen Kosten dieser Produkte externalisiert wurden – auf Sklaven ausgelagert. Die Sklaverei hat also alle wirtschaftlichen Prozesse dominiert…“ (Tremel 2017, 4).
Ersetzt man in diesem Absatz den Begriff ‚Sklave‘ durch ‚Öl‘ (bzw. ‚fossile Brennstoffe‘) und denkt man an moderne Produkte, weist der vorhergehende Absatz (abgesehen vom unmittelbaren Menschenrechtsaspekt) erstaunliche und massive Parallelen zu den ‚modernen‘ Industriegesellschaften auf: Der Mechanismus ist weitgehend der gleiche. Tremel führt weiter aus:
„Was die Abschaffung der Sklaverei für den Transfer auf ökologische Fragen aber besonders interessant macht, ist, dass die Sklaven und Sklavinnen allein keine Möglichkeit hatten, ihre eigene Ausbeutung gezielt zu beenden. … Deshalb mussten Menschen, die keine Leidtragenden der Ausbeutung waren, mit dafür kämpfen, dass die Sklaverei aufhört. D.h. Menschen lassen hier aus freien Stücken von etwas, aus dem sie bisher Vorteile ziehen, und zwar weil sie jemand anderen schützen oder besserstellen wollen.
Genauso werden Menschen und Gesellschaften, für die es bequem und/oder lukrativ ist, an der Ausbeutung der Natur teilzunehmen, sich dafür entscheiden müssen, diese Privilegien zu beschneiden oder abzugeben. Ohne eine solche freiwillige Selbstdeprivilegierung ist ein guter Ausgang der Transformation kaum zu denken“ (Tremel 2017, 5).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Die hier so benannte freiwillige Selbstdeprivilegierung ist also definitiv keine freiwillige Selbstverpflichtung (vgl. Neubauer/ Repenning 2019, 175).
Neubauer/Repenning kommentieren diese Ausführungen:
„Die Parallelen zum Status quo sind unverkennbar… [D]ie Sklaverei [wurde] nicht abgeschafft, weil sie wirtschaftlich unrentabel wurde. Sie wurde abgeschafft, weil sie falsch und moralisch verwerflich war… Die Mehrheit der [britischen] Abgeordneten[, die für Großbritannien diese Entscheidung trafen,] hatte nicht betont, dass der Sklavenhandel zwar ein Problem sei, doch nationale Alleingänge keine Lösung seien für eine solche globale Herausforderung. Sie hatten nicht darauf verwiesen, dass ihnen Wettbewerbsnachteile entstehen. Sie hatten auch nicht angeführt, dass die Behandlung der Sklav*innen in anderen Ländern ja viel schlimmer sei. Sie hatten den Sklavenhandel einfach verboten, obwohl dies mit wirtschaftlichen Nachteilen einherging“ (2019, 174-175).
>> siehe Abschnitt Ausreden, Ablenkungsmanöver und Ersatzdebatten: Die Zeit des ‚Aberns‘ ist vorbei, S. 234ff. sowie zu Altmaiers Wunschdenken S. 228.
Und in einem Interview führt Neubauer weiter aus:
„Und das war nicht unumstritten, es gab die Proteste, es gab die Widerstände, es gab die Wirtschaftler, die gesagt haben, das wollen wir nicht und dann wandern wir ab… – und die Arbeitsplätze… man hat es gemacht, einfach weil es[, d.h. die Sklaverei,] nicht richtig war. … Es ist möglich, zerstörerische Praxen zu beenden, wenn sie moralisch falsch sind“ (Neubauer 2019, ab Minute 28).
Mit anderen Worten, die abwehrenden Reaktionen der damaligen Wirtschaft folgten genau den gleichen Argumentationslinien wie denen der heutigen CEOs.
M.E. kann man den Bogen noch weiter spannen, denn das heutige, expansive Wirtschaftsmodell, das wir gemäß Tremel, Neubauer und Repenning im Zuge einer freiwilligen Selbstdeprivilegierung abschaffen können, bringt
aufgrund der neokolonialistischen Strukturen und, mehr noch,
aufgrund der unhaltbaren und unfreien Arbeitsbedingungen, die von extremen Abhängigkeitsverhältnissen geprägt sind
‚faktische Sklaven‘ oder auch ‚moderne Sklaven‘ hervor.
Wie im Intro des Handbuches angerissen, halten wir alle – ich, Sie, Du, wir – faktisch Sklaven.
Die BWL-Professorin Evi Hartmann dazu:
„Wie soll ich das sonst nennen, wenn jemand für 50 Cent am Tag, 14 Stunden lang bei einer Bullenhitze von 60 Grad, ein günstiges T-Shirt für mich näht? Wir alle halten Sklaven – ich eingeschlossen.“ (Utopia 2016)
Ja, wie soll man das anders nennen, als beim Namen?
Kathrin Hartmann (nicht Evi Hartmann!) hat dazu in ihrem Buch Die Grüne Lüge eine überaus unangenehme Zahl recherchiert:
„46 Millionen Menschen schuften heute als moderne Sklaven“ (2018, 17).
Ideen für eine nachhaltige Zukunft: Welche Einzelmaßnahme würde am meisten bringen?
Viele Menschen hätten gerne eine Antwort auf die Frage, was die eine Maßnahme wäre, die am meisten bringen würden für Nachhaltigkeit und Klima.
Dieser Frage ist das Project Drawdown seit 2013 auf den Grund gegangen.
Grundlegend gibt das Projekt folgende Empfehlung aus: 1. Reduce Sources | 2. Support Sinks | 3. Improve Society (vgl. 2020a, 11)
Des Weiteren listet das Project Drawdown die heute technologisch ausgereiften möglichen Reduzierungsmaßnahmen nach ihrem globalen CO2-Reduzierungspotential gemäß zwei Szenarien auf.
Szenario 2 (1,5°) ergibt folgende Top 10:
Onshore Wind Turbines = global 147,72 Gigatonnen CO2e-Ersparnis | Utility-Scale Solar Photovoltaics1 119,13 | Reduced Food Waste 94,56 | Plant-Rich Diets2 91,72 | Health and Education 85,42 | Tropical Forest Restoration 85,14 | Improved Clean Cookstoves 72, 65 | Distributed Solar Photovoltaics3 68,64 | Refrigerant Management 57,75 | Alternative Refrigerants 50,53 | Summe 1576, 47 (vgl. Drawdown 2020b)
1 Photovoltaik-Kraftwerke | 2 Klima-adäquate, gesunde Ernährung – vgl. Planetary Health Diet, S. 188. | 3 Photovoltaik auf Dächern etc.
Szenario 1 („deutlich unter 2°) ergibt folgende Top 10:
Wenn man die Punkte ‚Refrigerant Management‘ und ‚Alternative Refrigerants‘ zusammenzieht unter den Oberbegriff ‚Kühlkette‘, spielt dieser Aspekt ebenfalls ganz vorne mit bei den Szenarios.
Gleichwohl betonen die Produzent*innen dieser Listen, dass es die ‚silver bullet‘ bei einem komplexen Problem wie der Biodiversitäts-/Klimakrise nicht geben kann, sondern die Lösung eben in einer möglichst günstigen Kombination der verschiedenen Einsparpotenziale liegt (vgl. 2020a, 4).
Ideen für eine nachhaltige Zukunft: Backcasting – die Dinge vom Ende her denken
Den Blick über den Tellerrand wagen:
Wir denken meist nur über die unmittelbare Zukunft nach – alles andere wird als unrealistisch abgetan. Doch reiner Gegenwartsbezug allerdings ist ebenfalls gewissermaßen träumerisch.
Was uns fehlt, ist, zu wagen, die Dinge vom Ende her zu denken – das sog. Backcasting. Hier geht es darum, von der Zukunft her zu denken, d.h. ein erforderliches und/oder gewünschtes Ergebnis zu benennen und dann konkret die notwendigen Schritte einzuleiten.
Hierzu ist es hilfreich, via Ombudsfrauen und -männer, welche institutionell verankert die nachfolgenden Generationen vertreten, die ‚Zukunft‘ mit in Diskurse und in demokratische Prozesse einzubinden, d.h., „der langen Sicht einen Platz am Verhandlungstisch zu geben“ (Maja Göpel in Klimawoche 2020, Min 28).
Abschließend sollen hier noch zwei Hinweise erfolgen:
1. Ganz allgemein gefasst:
Soziale Gerechtigkeit kann auch von oben angepasst werden (vgl. Göpel 2020, 163).
2. Solch umfassende, nachhaltige Reformforderungen, wie sie auf den vorangegangenen Seiten vorschlagen und erörtert wurden, kommen nicht überall gut an. Doch basieren diese i.d.R. auf den Sustainable Development Goals und fordern daher nichts Außergewöhnliches ein.
Es ist hervorzuheben, dass es die von der Weltgemeinschaft beschlossenen SDGs nun mal gibt. Daher ist es moralisch vollkommen in Ordnung, sich auf deren Umsetzung/Einhaltung zu berufen.
Blickgewinkelt (2019): „Die Oodi Bibliothek in Helsinki: Eine Ode an die Gemeinschaft“. [Bog von Inka]. in: Blickgewinkelt.de, 24.2.2019, online unter https://blickgewinkelt.de/oodi-bibliothek-helsinki/ (Abrufdatum 25.6.2020)
Bregman, Rutger (2020): Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt.
Christides, Giorgos und Rapp, Tobias (2018): „Operation gelungen – Land stirbt.“ in: Der Spiegel, Nr. 33/11.8.2018, S. 89.
Dettmer, Markus u. Hesse, Martin (2019): „‚Täuschen, Betrügen, Lügen.‘ Thilo Bode prangert die Macht der Konzerne an, die seiner Meinungen nach die Politik beherrschen. Er sieht ein Versagen der Demokratie und setzt auf die Gegenwehr der Bürger“. in: Der Spiegel, Nr. 34, 18.8.2018, S. 6.
HA (2019): „Forscher für Rücksendegebühr im Onlinehandel“. in: Hamburger Abendblatt, 12.12.2019, S. 16.
Hamburg (2017): „Umsetzung der Sustainable Development Goals für Hamburg“. in: Hamburg.de, online unter https://www.hamburg.de/agenda2030/ (Abrufdatum 30.6.2020)
Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. München: Blessing.
Heuser, Jean (2019): „So sieht die Zukunft aus. Viele Deutsche fühlen sich vom Klimaschutz bedroht. Kein Wunder, meint der US-Vordenker Jeremy Rifkin: Ihnen fehlt eine kluge Erzählung“. in: Die Zeit, 47/14.11.2019, S. 24.
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Klimawoche (2020): „Corona und Klima: Was wir wirtschaftlich und gesellschaftlich verändern müssen“. in: Hamburger Klimawoche, 25.9.2020, online unter https://www.youtube.com/watch?v=jeNuHttfMRw (Abrufdatum 29.9.2020)
Strohmenger, Simon (2019): „Consul: Bürgerbeteiligungsplattform für digitale Demokratie. Interview mit Mehr Demokratie e.V.“. [Strohmeyer im Interview]. in: YouTube.com, 12.6.2019, online unter https://youtu.be/3Bxb28IePjQ (Abrufdatum 25.5.2020)
>> Definition ‚Parität‘: Gleichbehandlung, in gleichem Maße repräsentiert bzw. gleichberechtigt an Entscheidungen beteiligt >> Der folgende Abschnitt lässt notwendig vereinfachend LGBTQ-Aspekte außen vor. LGBTQ = Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer. Eigentlich bräuchte man entgegen der hier vorgeschlagenen Parität wesentlich differenziertere Quoten. Doch ist dieser Aspekt „kein Argument gegen die Abschaffung mancher Diskriminierungen, dass es noch andere gibt“ (Stokowski 2020).
„Feminismus ist… ‚die radikale Vorstellung, dass Frauen Menschen sind'“. Marie Scheer, 1986, zit. nach Solnit 2019, 211.
Was hat die Biodiversitäts- undKlimakrise mit Feminismus zu tun? Eine Menge.
Frauen sind von der Biodiversitäts- undKlimakrise stärker betroffen als Männer
Krisen verschärfen ohnehin bestehende gesellschaftliche Probleme und strukturelle Ungerechtigkeiten (vgl. Aspekt Zuerst trifft es immer die Armen, S. 625f.) – das gilt auch und insbesondere für die vielschichtige Biodiversitäts- und Klimakrise:
„Alle diese Ungerechtigkeiten verschärfen sich, je ärmer die Frauen sind und je weniger reich das Land, in dem sie leben. Entsprechend ist die Vulnerabilität [= Verletzlichkeit] [von Frauen] gegenüber der Klimakrise höher [als die von Männern]. Eine Akkumulation vieler struktureller Ungleichheiten führt im Zusammenspiel mit der Klimakrise dazu, dass eine ohnehin schon schlechte Ausgangslage zur sexistischen Klimakatastrophe wird“ (Neubauer/Repenning 2019, 197, vgl. auch UNFCC 2019).
Sehr wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass diese Vulnerabilität keineswegs (durch vorgeschobene „biologisch und kulturelle Geschlechterrollen“ (Baudriedl/Hackfort 2016, 95)) ‚naturgegeben‘ ist, sondern ihre Ursachen in „sozialer Ungleichheit entlang patriarchaler, kapitalistischer und postkolonialer Strukturen [hat]“ (ebd.).
Frauen prägen maßgeblich die kleinbäuerliche Agrarkultur des Globalen Südens, womit auch auf ihre tragende Rolle bei der Ernährungssicherheit sowie ihre Selbstbestimmung in der Familie hingewiesen ist. Erodierte/degenerierte Böden, Ernährungs-Unsicherheit, Wetterextreme u.ä. machen Frauen das Leben noch schwerer als ohnehin schon (vgl. Aspekt Frauen in der Globalen Agrarkultur, S. 622).
„Bereits 2015 nannte der südostafrikanische Staat Malawi Kinderehen als besonderes Risiko für Mädchen nach Katastrophen wie Überschwemmungen. Durch die Erderwärmung steigt das Hochwasserrisiko weltweit dramatisch. Auch in anderen Regionen führten Naturkatastrophen zu Gewalt gegen Frauen. Grund sind posttraumatische Belastungsstörungen, der Verlust von Lebensräumen und eine angespannte gesellschaftliche Lage … [So stieg, n]achdem der Taifun ‚Haiyan‘ 2013 Thailand traf, … der Menschenhandel dort um bis zu 30 Prozent an… Im pazifischen Inselstaat Vanuatu stieg die Anzahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt um 300 Prozent an, nachdem dort zwei tropische Wirbelstürme gewütet hatten“ (Wess 2020).
„Kurz: Frauen weltweit gehören zu den größten Verlierer*innen der Klimakrise und kaum jemand spricht darüber. Und wer sind, strukturell gesehen, die Gewinner?“ (Neubauer/Repenning 2019, 198).
Das bedeutet: Im Zeichen der sich mehr und mehr verschärfenden Biodiversitäts- und Klimakrise bedarf es noch dringender und nachdrücklicher als ohnehin des women empowerment, um hier im Sinne der Menschenrechte und der Klimagerechtigkeit weiter zu kommen.
Oxfam, ein internationaler Verbund verschiedener Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, arbeitet im Vorfeld der 2020er Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos heraus, dass Männer weltweit 50% mehr Vermögen besitzen als Frauen, aber Frauen ungleich mehr Arbeiten und dabei wesentlich mehr Sorgearbeit betreiben, auf deren Grundlage Männer ihre Vermögen erwirtschaften.
>> vgl. Zahlen im Abschnitt Klimagerechtigkeit (‚Climate Justice‘) – und der ‚Globale Süden‘, S. 638f.
Oxfam fordert daher, ein „humanes Wirtschaftssystem zu bauen, das feministisch ist und den 99 Prozent nutzt, nicht dem einen Prozent“ (Spiegel 2020a).
Dem schließe ich mich zu 100% an. Grundsätzlich – und darüber hinaus im Zusammenhang mit dem Thema dieses Buches, denn:
Parität, paritätische Entscheidungen und eine Reduzierung männlicher Dynamiken und Dominanz können zur Lösung der Biodiversitäts- undKlimakrise beitragen.
Sehen wir uns das Thema „Strukturelle Ungleichheit zwischen Frau und Mann“ im Folgenden einmal noch grundlegender an – wobei, eigentlich ist doch alles klar und eindeutig geregelt? Denn:
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Frauen und Männer sind gleichberechtigt.
Klingt doch prima. Steht so sowohl in der Menschenrechtscharta Art. 2 als auch im deutschen Grundgesetz Art. 3 Abs. 1, ergänzt um eine Durchsetzungsklausel als Staatsziel (Abs. 2).
Nur hat das – weltweit (s.o.) und auch in Deutschland – wenig mit der gesellschaftlichen Realität zu tun. Es mag anders und besser, d.h. weniger schlecht sein als bspw. vor 20 Jahren, aber die patriarchalen Strukturen stecken nach wie vor immer noch extrem tief in unserer Gesellschaft:
Letztlich dominieren Männer – auch in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts – immer noch die allermeisten Lebensbereiche – vor allem und insbesondere die Teilbereiche, die mit Macht, Ruhm und Reichtum verknüpft sind.
Ja, sicher, es ist einiges passiert zu Gunsten der Frauenrechte in den letzten hundert Jahren und auch in jüngerer und jüngster Zeit – aber im Ernst, wie weit sind wir aufs Ganze gesehen tatsächlich gekommen? Die Bilanz kann insgesamt m.E. nicht anders als als empörend bezeichnet werden, in Deutschland, in Europa – und global sowieso.
Bleiben wir mal in Deutschland:
Wie kann es sein, dass die strukturelle Ungerechtigkeit trotz des im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatzes immer noch so groß und in allen Lebensbereichen zu finden ist?
Warum klaffen Anspruch und Realität so weit auseinander, dass Frauen in Deutschland auch im Jahre 2020 bei vergleichbarer Arbeit „bis hinein ins Management von Unternehmen“ (Spiegel 2018) massiv benachteiligt werden auf Grund des Gender Pay Gap und im Schnitt 21% (ebd.) weniger und in der Vorstandsetage sogar „gut 30 Prozent weniger“ (Buchhorn 2017) verdienen?
Noch heftiger sieht es beim Lebenserwerbseinkommen (‚Gender Lifetime Ernings Gap‘) aus: Bezogen auf Deutschland verdienen Männer im Laufe ihres Lebens fast doppelt so viel wie Frauen (vgl. Schwarz 2020, s.a. Spiegel 2020b).
Das macht sich dann logischerweise auch bei der Rente deutlich bemerkbar. Finanzexpertin Heinrike von Platen konstatiert: „Altersarmut ist weiblich!“ (BUND 2020, 25).
>> Henrike von Platen ist nach Auskunft ihrer deutsch-, englisch- und spanischsprachigen Website Kosmopolitin, Wirtschaftsexpertin, Unternehmensberaterin, Fairpayistin, Publizistin und Kämpferin.
Wie kann das im Jahr 2020 immer noch so sein? So krass?
Eine Antwort darauf: Es gibt in allen gesellschaftlichen Bereichen viele Bremser – ich tippe: annähernd 50% der erwachsenen Bevölkerung, manche bremsen bewusst, andere unbewusst.
…mehr
Auf den Vorstoß, in „Konzernen mit mehr als 2.000 Arbeiternehmer und mindestens vier Vorstandsmitgliedern… jedenfalls eine dieser Position [verbindlich] mit einer Frau zu besetzen“ sprach die „Präsidentin des CDU-Wirtschaftsrats hat von ‚Gängelung der Wirtschaft‘…, die FDP sieht den Vorschlag ‚mehr als kritisch‘ und sagt, die Quote sei ‚ideologiegetrieben‘“ (Prantl 2020). Prantl weist dann sehr schön darauf hin, dass die „Frauenquote … ja nicht einfach die Quote ein[führt], sondern sie … eine bestehende Quote [durchbricht]: Sie macht Schluss damit, dass es seit ewigen Zeiten in Spitzenpositionen der Wirtschaft Männerquoten gibt, die bis zu 100 Prozent betragen.“
Die Bedeutung des Gender Pay Gap für die andauernde mangelnde Ungleichheit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
So fallen „[v]iele Paare… nach der Geburt eines Kindes in traditionelle Rollen zurück. … [Henrike von Platen:] Diese Rollenverteilung ist nicht immer das Ergebnis einer freien Entscheidung. Dahinter steckt meist schlichtes ökonomisches Kalkül“ (BUND 2020, 25).
Somit zementiert schon allein das Gender Pay Gap für sich genommen allzu oft die Rollenverteilung in Familien – und damit auch in der Gesellschaft.
Und hier geht es um noch viel mehr:
Wie kann es angehen, dass es nach wie vor eine „Pandemie der Gewalt“ (Solnit 2019, 39 – der zitierte Text ist vor Covid-19 entstanden) von Männern gegen Frauen gibt? Wie kann es sein, dass all diese Straftaten immer wieder als Einzelfälle gesehen werden (vgl. ebd., 57), dass diese Gewalt „ständig mit allem Möglichen erklärt [wird], außer mit dem Geschlecht, mit allem, außer dem, was das umfassendste Erklärungsmuster zu sein scheint?“ (ebd., 39).
„Gewalt hat keine Rasse, keine Klasse, keine Religion oder Nationalität, aber sie hat ein Geschlecht.“ (Rebecca Solnit, zitiert nach Urner 2018)
>> „Für Frauen zwischen fünfzehn und vierundvierzig Jahren ist die Gefahr, durch männliche Gewalt zu sterben oder verstümmelt zu werden, weltweit größer als durch Krebs, Malaria, Krieg oder Verkehrsunfälle zusammengenommen“ (Nicholas D. Kristof in Solnit 2019, 46).
Die Tatsache, dass Gewalt ein Geschlecht hat und weltweit nur ein Bruchteil der Gefängnisinsass*innen weiblich ist – ist das ‚gottgegeben‘ à la ‚So sind sie halt, die Männer‘? – oder könnte es sein, dass das zumindest auch und ein stückweit mit den patriarchalen Strukturen, mit der Geschlechterrollenverteilung zu tun hat?
Zurück zur Ausgangsfrage – wie kann es angehen, dass im Jahre 2020 die strukturelle Ungleichheit immer noch so groß ist?
Fakt ist, dass Männer sowohl in Deutschland als auch weltweit
die Entscheidungen wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Art
Vorstands-, CEO-, Chefetagen-Posten,
das kulturelle, sportliche, gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche Leben
etc.
dominieren.
Rether, Hagen (2018): „3sat Festival – Hagen Rether Liebe Update 2018 – Wir wundern uns /Ausschnitt 03.10.2018“ in: Youtube.de, online unter https://www.youtube.com/watch?v=7GcYDBaIQn8 (Abrufdatum 9.6.2020)
Hagen Rether: „Die DAX-Konzerne, die Vorstände sehen immer noch so aus wie das SED-Politbüro“
Hagen Rether 2018: „Ich habe neulich in der New York Times gelesen, die haben eine Studie rausgebracht es gibt in deutschen DAX-Vorständen mehr Männer die Thomas heißen als Frauen.“
Wo vorwiegend ‚Männer unter sich‘ Entscheidungen treffen, sind diese Entscheidungen auf deren Bedürfnisse zugeschnitten und somit männlich geprägt, d.h. konkret: von männlichen Dynamiken geprägt.
Wenn also vorwiegend Männer wirtschaftliche, unternehmerische, politische, gesellschaftliche Entscheidungen treffen, sind dies tendenziell Männerentscheidungen.
>> Und das spielt überall mit hinein – auch in Bereiche, auf die man vielleicht nicht ohne weiteres kommen würde: Selbst der öffentliche Verkehrsraum ist mehr auf die Bedürfnisse von Männern als von Frauen zugeschnitten. So bewegen sich mehr Frauen als Männer ohne Auto durch den öffentlichen Raum. Gendergerecht wäre daher eine weniger Auto-affine Politik, vgl. Aspekt Gender und Mobilität im Abschnitt Thema ‚Immer mehr Autos auf den Straßen in Deutschland‘, S. 308. Daneben ist festzuhalten, das Autofahren für Frauen tatsächlich gefährlicher, d.h. verletzungsintensiver ist als für Männer – aber nicht im Sinne un-fassbar sexistischer „Der siebte Sinn“-„Frau am Steuer“-ARD-TV-Sendungen von ca. 1975, sondern in der Hinsicht, dass Autos traditionell für Männer mit ihrem spezifischen durchschnittlichen Gewicht, ihren Körpergrößen und -maßen entwickelt und Crashtests mit auf diese Maße abgestimmten Dummies vorgenommen werden. Und das gilt nicht nur für längst vergangene Zeiten des ‚Siebten Sinn‘, sondern auch heute noch: „Seitenairbags, Nackenstützen, Gaspedale – alles ist normiert für einen sogenannten 50-Perzentil-Mann“ (Wolf 2019). Daher verwundert es nicht, dass 2022 eine „Studie systematische Benachteiligung [von] Frauen[sieht , die]… bei Verkehrsunfällen deutlich häufiger im Auto eingeklemmt [werden] als Männer“ (Spiegel 2022). Nachfolgend wird im gleichen Artikel Lauren Weekes vom Krankenhaus University Hospitals Plymouth zitiert: „Frauen haben zum Beispiel eine viel höhere Rate an Beckenverletzungen und es ist schwieriger, sich selbst aus einem Auto zu befreien, wenn man sich das Becken gebrochen hat.“ In einem übergeordneten Sinne geht es hier um das sog. Gender Data Gap, d.h. Daten aller Art berücksichtigen nicht, dass Frauen und Männer sich teilweise anders verhalten, andere Körpermaße haben und manchmal eine andere medizinische Versorgung benötigen: Daten sind männlich. „Die Welt werde von Männern für Männer designt, schreibt [die britische Journalistin und Feministin Caroline] Criado-Perez[, Autorin des Buches Unsichtbare Frauen]: ‚Das Fehlen der weiblichen Perspektive befördert eine unabsichtliche Verzerrung zugunsten der Männer, die sich selbst – oft ohne böse Absicht – als ‚geschlechterneutral‘ begreifen‘“ (Brinkmann 2020). – Und: „Die männliche Norm ist so tief verwurzelt, dass wir oft gar nicht merken, wie stark sie unseren Alltag und unser Denken prägt“ (zit. in Voigt 2020).
Es kann nicht sein, „Frauen als kohärente Gruppe mit kollektiven Interessen und gleichzeitig als Sonderfall zu thematisieren und Männer als Norm und Referenzgröße der Unterschiedlichkeit zu betrachten“ (Bauriedl/Hackfort 2015, 96).
Hier können Sie sich innerhalb von drei Minuten ein Bild über das Frauenbild der 1970er Jahre machen mit „Der Siebte Sinn“, einer straßenverkehrserzieherischen TV-Serie, die regelmäßig zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde: https://www.youtube.com/watch?v=xixym7vGUQ4 (Abrufdatum 26.6.2020)
>> Hier können Sie sich innerhalb von drei Minuten ein Bild über das Frauenbild der 1970er Jahre machen mit „Der Siebte Sinn“, einer straßenverkehrserzieherischen TV-Serie, die regelmäßig zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde: https://www.youtube.com/watch?v=xixym7vGUQ4 (Abrufdatum 26.6.2020)
Es sind folglich vorrangig männliche Dynamiken, die in der Vergangenheit und vielfach auch gegenwärtig wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entscheidungen prägten und prägen.
Und das alles bedeutet nicht weniger als, dass es vorwiegend männliche Dynamiken waren und sind, die den Planeten an den Rand des Abgrundes gebracht haben und bringen –
mit alle den Verhaltensweisen, die tendenziell und statistisch eher Männer zuzuschreiben sind, die
Konkurrenz | (Macht-)Kampf | Ruhmsucht | Narzissmus | Aggression | Gewalt | Krieg (!!!) | Platzhirschverhalten | Sexismus | Rechthaberei etc. pp.
befördern.
Wie sehen männliche Dynamiken aus? Was bedeutet dieses ‚Kerle unter sich‘?
Das kann jeder Mann erleben bei >‚Männerabenden‘, die definitiv anders ablaufen, als wenn Frauen anwesend wären oder > Mixed-Sportangeboten à la Feierabend-Volleyball, wo oftmals plötzlich ‚der Ehrgeiz ausbricht‘ und alles ganz, ganz ernst wird, wenn ausnahmsweise keine Frauen zugegen sind.
Gar nicht so unterschwellig macht sich das tatsächliche gesellschaftliche Geschlechterverhältnis (z.B. in Industrienationen) bemerkbar, wenn Männer das Bedürfnis verspüren, Frauen die Welt zu erklären, d.h. Mansplaining betreiben:
>> „Sicher, Menschen beiderlei Geschlechtes tun sich bei gesellschaftlichen Anlässen hervor, indem sie über Belanglosigkeiten und Verschwörungstheorien schwadronieren, aber das durch und durch provokative Selbstvertrauen der vollkommen Unwissenden ist meiner Erfahrung nach geschlechtsspezifisch. Männer erklären mir die Welt, mir und anderen Frauen, ob sie nun wissen, wovon sie reden, oder nicht. Manche Männer jedenfalls“ (Solnit 2019, 14).
>> „Dass fachfremde Männer mich (als promovierte Neurowissenschaftlerin) auch in meinem eigenen Fachbereich belehren wollen, scheint ihnen nicht aufzufallen“ (Urner 2018).
Touché?
Erläuterung des Begriffs ‚Mansplaining'
‚Mansplaining‘: zu Deutsch ‚Herrklären‘: „Wenn ein Mann einer Frau etwas erklärt, ist per se nichts [dagegen] einzuwenden. Mansplaining geschieht allerdings auf eine besserwisserische Art, ungefragt oder gegen den Willen der Frau. Es passiert in der unbegründeten Annahme des Mannes, sich besser in einem Metier auszukennen, und aus seinem Desinteresse daran, was sein Gegenüber weiß. Beim Mansplainen geschieht kein gleichberechtigter Wissensaustausch, sondern es entsteht eine bevormundende Kommunikationshierarchie“ (Kienzl 2020). Perspective Daily-Autorin Maren Urner erwähnt m.E. absolut zutreffend, dass es einen „Fluch mittelmäßiger Männer“ gibt, für die eine „Überlappung von Selbstüberschätzung und Ahnungslosigkeit“ charakteristisch sei. Wiebke Köhler verweist hier auf die KABA-Manager („Kompetentes Auftreten bei Ahnungslosigkeit“) (2019, 23). Zum Mansplaining past natürlich auch, dass Männer weniger darauf achten, was Frauen zu sagen haben – z.B. im Bundestag. Claudia Roth: „Frauen werden demonstrativ missachtet. Wenn eine Abgeordnete redet, egal aus welcher Fraktion, drehen sich viele Männer um, quatschen, hören nicht mehr zu, der Lärmpegel steigt“ (Zeit 2020).
Das Prinzip ‚überwiegend Männer treffen die maßgeblichen politischen/wirtschaftlichen Entscheidungen‘ hat sich in vielerlei Hinsicht – auch in Punkto ‚Klimakrise‘ bzw. ‚Bewahrung der Schöpfung‘ – nicht bewährt. So zeigen laut Maren Urner eine Reihe von Studien, dass jedwede Benachteiligung von Frauen keine gute Idee ist,
sind doch Parlamente mit Frauenquote kompetenter,
bewirken doch Frauen-geprägte Vorstände mehr Stabilität bei Banken,
sorgen doch Frauen für eine bessere Wirtschaft,
kooperieren doch – egal wo auf der Welt – Mädchen besser.1
Und selbst wenn das nicht so wäre, wäre die strukturelle Ungleichheit endlich unbedingt zu beenden.
Quellen zu (1)
1 Hier verweist Maren Urner (2018) auf die folgenden Studien:
Darüber hinaus ergibt sich die ökofeministische Perspektive, dass patriarchale Strukturen die Biodiversitäts- und Klimakrise mit verursacht haben, diese weiterhin befördern und die Lösung der dieser Krisen durch selbige Strukturen behindert und verlangsamt wird.
„The climate crisis is a man-made problem and must have a feminist solution.“ Mary Robinson, ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und erste Staatspräsidentin Islands
>> zit. in Tabary 2018. Das stimmt. Aber es sind weitere Faktoren eingewoben: „Die Klimakrise ist tief verwurzelt in historisch miteinander verwobenen Unterdrückungssystemen: Patriarchat, Rassismus, Kapitalismus und Kolonialismus“ (Cardoso et al. 2020).
Der Ökofeminismus geht davon aus, dass es dem Planeten und den Menschen besser ginge, hätten nicht weitgehend Männer bislang das Sagen gehabt.
Astrid Lindgren hat sich zwar nicht als Ökofeministin bezeichnet, nimmt aber latent in ihren Büchern mit den starken Mädchen-/Frauenfiguren und in ihren Briefen solche Positionen ein. Ihr Biograf Jens Andersen definiert Ökofeminismus wie folgt:
„Vereinfacht ausgedrückt vertritt der Ökofeminismus die kontrovers diskutierte Haltung, dass es einen Zusammenhang zwischen Unterdrückung der Frau durch das Patriarchat und dem mangelnden Willen ebendieses Patriarchats gibt, Natur und Umwelt zu schützen“ (Andersen 2017, 394).
Die Analyse der französischen Philosophin Émilie Hache lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
„Weil sich der Mensch und insbesondere der Mann als überlegen empfindet, nutzt er wahlweise die Umwelt, die Tiere oder auch die Frauen aus“ (zit. in Joeres 2020).
Die Wissenschaftlerin, soziale Aktivistin und Globalisierungskritikerin Vandana Shiva fügt hinzu:
Strukturell betrachtet gibt es in der Wirtschaft wie in der Kultur und auf dem Gebiet des Wissens einerseits ein Modell, in dem die Intelligenz der Natur und die der Frauen zusammengeführt werden – das ist Ökofeminismus –, und andererseits dasjenige, in dem die Männer und der Kapitalismus ihr Herrschaftssystem aufrechterhalten: das kapitalistische Patriarchat.
Rebecca Solnit formuliert es in ihrem Buch Wenn Männer mir die Welterklären so:
„[W]ir müssen uns noch von vielmehr befreien: vielleicht von einem System, das Konkurrenz und Rücksichtslosigkeit, kurzfristiges Denken und krassen Individualismus hochhält, einem System, das der Umweltzerstörung und grenzenlosem Konsum beste Dienste leistet – jenem Arrangement, das man Kapitalismus nennen kann. Es verkörpert den schlimmst-möglichen Machismo, während es das Gute und Schöne auf Erden zerstört“ (2019, 212).
Es ist an der Zeit, die Menschheit von allen – also Frauen und Männern gleichermaßen und gemeinsam – retten zu lassen: Die Menschheit braucht m.E. den Input von Frauen mehr und dringender denn je.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Der Gedanke, Frauen seien die besseren Klimaschützer*innen („powerful change agents“, vgl. Bauriedl/Hackfort 2015, 99) ist bereits gewissermaßen ein patriarchal geprägter Gedanke. Hiermit würden „Geschlechterrollen festgeschrieben und Lasten des Klimaschutzes explizit auf die Schultern von Frauen geladen“ (ebd.). Nein. In diesem Abschnitt geht es schlicht um positive Dynamiken einer geschlechtergerechten Welt.
In ökofeministischer Perspektive bedeutet das:
Wir werden die Biodiversitäts- und Klimakrise nur dann ‚by design‘ in den Griff bekommen, wenn wir gleichzeitig – in Deutschland wie überall auf der Welt – patriarchische Strukturen zugunsten einer feministisch und letztlich paritätisch geprägten und organisierten Gesellschaft aufbrechen.
„Diese konstruktive Auseinandersetzung mit den Klimawandelfolgen kapitalistisch geprägter Produktions- und Konsumptionsmuster rüttelt … immer auch an den Grundpfeilern patriarchaler Gesellschaftsstrukturen, Institutionen und Alltagspraktiken“ (Bauriedl/Hackfort 2015, 99).
Émilie Hache über die Arbeit französischer Ökofeminist*innen:
„Wir wollen diesen simplen Dualismus auflösen: Die künstliche Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, zwischen Frau und Mann, zwischen Menschen und der Erde.“
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt abgekommen sind: Wir sind Erde (vgl. S. 46 u. 699)
Mein Gedankengang dazu:
Weder Matriarchat noch Patriarchat…
Sind nur Männer in einem Raum, z.B. bei einer Geschäftsbesprechung, werden die Entscheidungen u.U. ganz anders aussehen, als wenn
statt dessen ausschließlich Frauen im Raum sind – oder
etwa gleich viele Frauen und Männer im Raum sind.
Es geht nicht darum, dass Frauen ‚die besseren Menschen‘ sein könnten.
Auch Frauen unter sich entwickeln zuweilen ungute Dynamiken – hier kommt oft das etwas klischeebehaftete Wort vom ‚Zickenkrieg‘ ins Spiel.
Also:
Männer unter sich sind dauerhaft keine gute Idee.
Frauen unter sich sind dauerhaft keine gute Idee.
Gemeinsam ergänzen sie sich und gleichen sich aus: Grob kann man von einem eher konkurrierenden Verhalten bei Männern und einem eher kooperierenden Verhalten bei Frauen ausgehen. Gemeinsam – und in dem diese Verhalten/Rollen interagieren – bilden sie die ‚Realität des Lebens‘ ab.
Es ist m.E. extrem wichtig und gerecht, dass alle Menschen – Frauen und Männer – in gleichem Maße repräsentiert und in diesem Sinne in gleichem Maße an den wesentlichen Entscheidungen beteiligt sind.
Und das bedeutet…
… weder Matriarchat noch Patriarchat, sondern:
Parität.
Konkret heißt das vorschlagsweise, in allen relevanten Entscheidungsgremien politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art ein paritätisches Geschlechterverhältnis von etwa 50:50 her- und sicher-zustellen mit einer pragmatischen Toleranz von +-10%, d.h., das Verhältnis kann also im Range von 40:60 oder 60:40 liegen: Einzuführen mit einer relativ kurzen Übergangszeit und der Klausel, dass ab einem bestimmten Jahr in der Zukunft derartige Gremien nur dann rechtsverbindliche Entscheidungen treffen können, wenn Parität gegeben ist. Ein Herauskaufen aus der Paritätsregel durch von der Institution billigend in Kauf genommene Strafzahlungen hat verunmöglicht zu sein.
Wichtig:
Das Paritätsprinzip ist keine Quote.
Gerade im politisch konservativen Feld lehnen gerade auch Frauen oftmals eine ‚Quote‘ ab – maßgeblich aufgrund der Befürchtung als ‚Quotenfrau‘ weder ernst genommen noch geachtet zu werden: Sie wollen es selbst schaffen. Verstehe ich. Verstehe ich sehr gut. Aber das wird dauern. Viel zu lange – gerade angesichts der umfassenden Klimakrise und der 7 Jahre, die wir mit Stand Anfang 2021 noch haben, um mit einer Wahrscheinlichkeit von 67% das 1,5 °C-Ziel zu erreichen (vgl. Abschnitt Intro S. 23).
Außerdem: Solche ‚Quoten‘ gehen i.d.R. nicht von 50:50, sondern von einem deutlich geringeren garantierten Frauenanteil aus: Hier sind Frauen weiterhin regelmäßig in der Minderheit. Um eine Quote dieser althergebrachten Art geht es hier nicht. Es geht um wirkliche Parität:
Wenn Frauen nicht mehr die Ausnahme, sondern zu 40 bis 60% überall vertreten sind, werden sich die Dynamiken sehr schnell von männlichen zu menschlichen Dynamiken entwickeln.
Wenn Frauen paritätisch vertreten sind, wird sich bald kein Mann mehr in der Form wie heute despektierliche Bemerkungen oder Blicke etc. leisten können: Er riskiert vielmehr als bisher, z.B. von seinen eigenen Geschlechtsgenossen gerüffelt zu werden.
Ein paritätisch besetztes Gremium wird andere Dynamiken aufweisen als ein männlich oder weibliche dominiertes. Andere Dynamiken und der paritätische Input von Frauen führen zu potenziell anderen und meines Erachtens i.d.R. auch besseren Entscheidungen. Und: Es sind allein schon deshalb bessere Entscheidungen, weil sie prinzipiell die Gesellschaft wirklichkeitsgetreuer abbilden und daher eine größere Legitimität besitzen.
Zur Realisierung bieten sich vielfach Doppelspitzen an, so wie die Grünen es uns seit einigen Jahren vormachen. In Frankreich gibt es schon seit 2000 ein – noch zu optimierendes – Paritätsgesetz, das unter Macron vermehrt Wirkung zeigt, wie die Politologin Helga Lukoschat ausführt:
„[B]ei den Wahlen zu den Départementsräten wurde ein sehr interessantes Verfahren entwickelt. Die Zahl der Wahlkreise wurde halbiert. Dafür musste in jedem ein sogenanntes Binôme antreten, ein Tandem aus Mann und Frau. Das Tandem mit den meisten Stimmen wird gewählt“ (Oestreich 2017).
>> Update 30.6.2020: Seit heute gilt in Brandenburg ein Paritätsgesetz, welches verfügt, dass „[d]ie Listenplätze aller Parteien … bei Landtagswahlen ab jetzt immer abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt werden“ (Stokowski 2020) – sodass ab sofort im Brandenburger Landtag etwa gleich viele Frauen und Männer vertreten sein werden.
In der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart passen sich Frauen in bislang traditionell männlich geprägten Umgebungen oft dem männlichen Verhalten und Geschäftsgebaren an – ein markantes Beispiel bietet hier m.E. Condoleezza Rice, die sich betont emotionslos-knallhart gebende ehemalige Außenministerin der USA von 2005 bis 2009.
Verständlicherweise haben viele Frauen kein Interesse auf diese ihrem Charakter oftmals nicht entsprechende Anpassung und auf dieses eher unangenehme, nach einer extra Portion Testosteron riechende Umfeld. (Das gilt nebenbei bemerkt m.E. auch für viele im Job kreuzunglückliche Männer.)
Das ist ein Grund, weshalb viele Frauen aktuell gar keine Lust haben, in Männer-dominierten Gremien zu sitzen – oder auch nur die entsprechende Ausbildung zu machen.
Ein weiterer Grund dürfte sein, dass ein Mensch, der weniger Geld als Andere für die gleiche Arbeit bezahlt bekommt, auch weniger nach einem solchen Posten streben wird.
Wenn Parität gegeben ist und auf diese Weise die männlichen Dynamiken nicht länger funktionieren, wird die genannte Anpassung an die dann so nicht mehr existierende ‚Männergeschäftswelt‘ nicht mehr in dieser Form – und zukünftig immer weniger ‚erforderlich‘ sein.Dementsprechend werden sich auch mehr Frauen vorstellen können, solche Positionen zu übernehmen bzw. sich entsprechend aus- und fortzubilden. (Seit 1996 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab 3 Jahren, der in skandalösem Ausmaß nicht wirklich umgesetzt ist und dringend auf 1,5 Jahre erweitert zu werden hat.)
Dies alles kann man hervorragend mit einer generellen Anpassung von Löhnen gemäß dem Prinzip ‚Gleicher Lohn für gleichartige Arbeit‘ verbinden, sodass neben dem hochzusetzenden Mindestlohn es künftig auch einen Maximallohn/eine Einkommensobergrenze geben sollte und insbesondere vormals traditionell von Frauen ausgefüllte soziale Berufe finanziell extrem aufgewertet werden.
Darüber hinaus rege ich im Sinne eines gleicheren und geschlechtergerechteren Deutschlands an,
nach dem Vorbild Islands mit seinem ‚Equal Pay Act‘ ein Gesetz einzuführen, welches Unternehmen mit mehr als 24 Mitarbeiter*innen auferlegt, die faire Bezahlung der Belegschaft zu dokumentieren (vgl. Spiegel 2018, Welt 2018) – Spekulationen und unangenehmes Nachfragen werden so überflüssig. (Übrigens auch für Männer, denen es in diesem Punkt genauso ergehen kann wie Frauen.) Ich denke, das kann jede Firma machen, unabhängig von der Zahl der Beschäftigten.
Steuererklärungen extrem zu vereinfachen und Steuerbescheide nach dem schwedischen oder gemäß norwegischem Vorbildtransparent zu machen, soll heißen, jede*r kann sich über den Steuerbescheid seiner/seines Nachbar*in kundig machen (vgl. Reise 2013 u. Hannemann 2020). Ich höre förmlich die lauten Einwände beim Schreiben dieses Absatzes und erwidere sofort: Nein, auch in Schweden ist die Gesellschaft deshalb nicht auseinandergeflogen.
Gender Mainstreaming, d.h. „die Verpflichtung, bei allen Entscheidungen die unterschiedlichen Auswirkungen auf Männer und Frauen in den Blick zu nehmen“ (BMFSFJ 2016), gesetzlich zu verankern.
>> Auch in Deutschland hat man einen ersten, winzigen Schritt gemacht, um das Gender Pay Gap zu schließen. Es könnte so einfach sein. Aber es ist wie folgt:
„Mit dem neuen ‚Entgelttransparenzgesetz‘ erhalten nun auch Arbeitnehmer in Deutschland die Möglichkeit, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wie viel Geld Kollegen in vergleichbaren Positionen verdienen. Das neue Gesetz gilt allerdings nur für Betriebe mit mehr als 200 Beschäftigten. Außerdem muss es mindestens sechs Kollegen des jeweils anderen Geschlechts geben, die einen ähnlichen Job haben wie der Antragsteller. Und die Firmen müssen nur Durchschnittsgehälter nennen“ (Spiegel 2018).
Da ist es ja schwieriger auszurechnen, ob man als Firma Auskunft zu geben hat, als die Auskunft zu geben.
Die Herstellung von Parität bedeutet einen großen Schritt nach vorne. Indes ist abschließend nochmals hervorzuheben, dass dieser gesellschaftliche Prozess nur eingebunden in eine Abkehr
von dem, was Vandava Shiva das ‚kapitalistische Patriarchat‘ nennt (vgl. S. 429) und
von der ‚Imperialen Lebensweise‘ (vgl. Brand/Wissen, S. 642),
funktionieren kann.
>> Amsterdam geht hier einen entscheidenden Schritt voran, in dem es künftig das globale Donut-Modell (vgl. 450) auf die eigene Stadt herunterbrechen will: Dazu wurde im April 2020 – inmitten der Covid-19-Krise – das Konzept Amsterdam City Doughnut, auf dessen Basis die Stadt eine sozial-ökologische Transformation vollziehen möchte – der Öffentlichkeit präsentiert; siehe https://www.kateraworth.com/2020/04/08/amsterdam-city-doughnut/ (Abrufdatum 28.8.2020).
Schlussgedanke: ‚Biodiversitäts-/Klimakrise und Gender‘
ist über das bisher Geschriebene hinaus auch in der Hinsicht ein relevantes Thema, als
dass es mehrheitlich Frauen sind, die sich für das Klima und gegen das Massenaussterben engagieren.
dass es vorwiegend – und das ist bedauerlicherweise weit mehr als ein Klischee – ‚alte weiße Männer‘ sind, die gegen dieses Engagement angehen und z.B. in den sog. ‚sozialen Medien‘ gegen engagierte (oft junge) Frauen hetzen und diese vielfach per Hatespeech bedrohen (vgl. Solnit 2019, 171f.).1
Hier geht es nur manchmal um Sachthemen.
Hier geht es allzu oft um Macht. Um Kontrolle. Es ist vielfach: Sexismus2.
Hier geht es vielfach um das „zwanghafte Bedürfnis, Äußerungen von Frauen abzutun, das so oft in genau die Inkohärenz und Hysterie umschlägt, die Frauen routinemäßig vorgehalten wird“ (Solnit 2019, 144).
Hier geht es um patriarchale Strukturen, d.h. um die alte, vornehmlich von Männern dominierte Welt, deren Vertreter ‚die Welt nicht mehr verstehen‘ und sich bedroht sehen.
Hier geht es also auch um die Frage, was sich ‚alte weiße Männer‘ von Frauen (die dann evtl. auch noch jünger sind) nicht sagen lassen wollen.
1 Auf den Punkt gebracht: „Hass ist keine Meinung.“ – Oberbürgermeisterin Eva Döhla der Stadt Hof (SZ 2020)
2 Luisa Neubauer: „Wir reden hier nicht über einen Konflikt zwischen mir und dem Hater, sondern über strukturellen Frauenhass, Sexismus und Misogynie, die überall und immer radikaler zum Ausdruck gebracht werden“ (zit. in taz 13.8.2020, 9). Misogynie „ist ein abstrakter Oberbegriff für soziokulturelle Einstellungsmuster der geringeren Relevanz bzw. Wertigkeit von Frauen oder der höheren Relevanz bzw. Wertigkeit von Männern“ (wikipedia 2020); medizinisch: krankhafter Hass von Männern gegenüber Frauen.
Quellen des Abschnitts Klima, Ökofeminismus und Parität'
Andersen, Jens (2017): Astrid Lindgren. Ihr Leben. Pantheon.
Bauriedl, Sybille u. Hackfort, Sarah K. (2015): „Geschlechtsspezifische Verwundbarkeit“. in: Wörterbuch Klimadebatte. transcript.
Shiva, Vandana (2019): „Ökofeminismus: Eine andere Welt ist möglich“. in: Perspective Daily, 16.1.2020, online unter https://perspective-daily.de/article/1095/9aaIcsw2(Abrufdatum 20.1.2020) [Auszug aus dem Buch Shiva, Vandana (2019): Eine andere Welt ist möglich. oekom.
Solnit, Rebecca (2019): Wenn Männer mir die Welt erklären. Hoffmann und Campe.
taz (2020): „Neubauer geht gegen Hater vor“. in: tageszeitung, 13.8.2020, S. 9.
UNFCC (2019): Introduction to gender and climate change. United Nations Framword Convention On Climate Change, online unter https://unfccc.int/gender (Abrufdatum 20.1.2020)
Urner, Maren (2018): „Was wir gewinnen, wenn mittelmäßige Männer den Mund halten“. in: Perspective Daily, 5.2.2018, online unter https://perspective-daily.de/article/455/WACDv0QG (Abrufdatum 20.1.2020) [paywall]
Die Biodiversitäts- undKlimakrise sowie die damit einhergehenden immer zahlreicheren und heftigeren Katastrophen kosten: VIEL Geld. Von Jahr zu Jahr mehr.
Es ist finanziell wesentlich günstiger, frühzeitig ein Feuer zu löschen, als ihm erst einmal eine Weile zuzusehen:
„Die Kosten, nicht zu handeln, werden um Potenzen größer sein. Die menschliche Ökonomie funktioniert nur auf Basis einer intakten Ökologie.“ (Schwägerl 2019)
Wenn also die Ökonomie nur auf Basis einer intakten Ökologie funktioniert, werden die hier herausgehobenen Kosten nicht mehr in Geld verrechenbar sein, weil es die Ökonomie so nicht mehr geben wird.
Hanno Charisius hebt in der SZ darauf ab, dass konkret CO₂-Vermeidung ökonomisch das Vernünftigste sei:
„Berechnungen zeigen auch, dass es billiger ist, Kohlendioxid zu vermeiden, als das Treibhausgas später wieder aus der Atmosphäre zu holen, etwa durch Aufforstung des Planeten. Politik, die solche Studien nicht berücksichtigt, ist nicht weitsichtiger als ein Schwarm Heuschrecken, der über einen Acker herfällt“ (2019).
In gleichem Sinne äußerte sich auch schon vor zu vielen Jahren der damalige EU-Kommissionspräsident José Barroso:
„Es ist billiger, den Planeten jetzt zu schützen, als ihn später zu reparieren.“ (2009)
>> EU-Kommissionspräsident José Barroso, Dezember 2009, zitiert in Bonner/Weiss 2017, 138.
Solch eine finanzielle Betrachtung des Klimaschutzes kann man auch ‚in den falschen Hals‘ bekommen. Die FAZ merkt zu Überlegungen, inwieweit sich „das Unterfangen [der Klimarettung] rechnet“ (Poli 2006) überaus zutreffend an, dass, [w]enn einem Land der Krieg erklärt wird, … sich die Angegriffenen nicht [fragen], ob sich die Verteidigung finanziell lohnt.
Barroso bezieht sich hier auf den Stern-Report von 2006, über den in der FAZ seinerzeit folgendes zu lesen war:
„Wenn Vorstellung und Selbsterhaltungstrieb versagen, muß der Taschenrechner ran. Jetzt kennen wir den Preis des Unberechenbaren: Es geht um 5.500 Milliarden Euro.“
Und dass er damit nicht übertreibt, zeigen dann Zahlen wie diese:
„[A]llein die Hurrikane in der Karibik haben [2017]… Schäden in der Höhe von 320 Milliarden Dollar verursacht“ (Welzer 2018).
„Die durch Unwetter verursachten Schäden für die US-Wirtschaft werden sich im kommenden Jahrzehnt auf jährlich mindestens 360 Milliarden Dollar summieren… Zu diesem Ergebnis kommt der ‚Universal Ecological Fund.‘ Die [NGO] macht vor allem den Verbrauch fossiler Brennstoffe für das Problem verantwortlich“ (Spiegel 2017).
„In den USA kostet die Bekämpfung der Waldbrände mittlerweile bereits über 3 Milliarden US-Dollar jährlich, 13-mal mehr als 1985. Laut US-Handelsministerium schlagen die indirekten Kosten mit weiteren 71 bis 348 Milliarden US-Dollar jährlich zu Buche (Maxton 2020, 41).
2020 wurden die vom Stern-Report berechneten ökonomischen Kosten – Stern ging von 5% der globalen Wirtschaftsleistung aus – nach oben korrigiert: „Ohne durchgreifende Klimapolitik wird die globale Wirtschaftsleistung im Jahr 2100 um sieben bis 14 Prozent niedriger sein, als sonst zu erwarten ist. In Ländern in den Tropen können es sogar mehr als 20 Prozent sein. Dabei sind die Folgen von zunehmenden Wetterextremen noch gar nicht eingerechnet“ (Wille).
Und das ist ja nur der Anfang.
Ab und zu wird darüber berichtet, dass eisfreie Meeres- und Landteile wirtschaftliche Vorteile bringen können. Das könnte lokal/regional auch durchaus tatsächlich der Fall sein. Bei einer solchen ‚frische Erdbeeren aus Grönland‘-Perspektive wird jedoch außer Acht gelassen, dass klimaverwüstete (!) Meeres- und Landteile nicht mehr für Fischerei, Ackerbau etc. pp. zur Verfügung stehen werden.
Wie soll man sich das logistisch vorstellen? Dass die Weltgemeinschaft mal eben sämtliche Küstenstädte in den beiden Polregionen neu baut? (vgl. S. 103)
Bleiben wir bei der Einpreisung der Umwelt- und Klimaschäden:
„Allein das Entweichen des Methans aus dem Permafrost der Ostsibirischen See würde Kosten in Höhe von 60 Billionen Dollar erzeugen, schätzen Forscher der Universität Rotterdam und Cambridge, was in etwa der Gesamtgröße der Weltwirtschaft im Jahr 2012 entspricht“ (Thelen 2019a, 87).
>> vgl. Abschnitt Kipppunkte des Klimas: Eisschilde, Permafrost & Co; Aspekt Permafrost, S. 106f.
„Wenn es die [zurzeit auf einem drei-bis-vier-Grad-Pfad befindliche1 Weltgemeinschaft schafft, die globale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, so Schätzungen der Weltbank, entstehen ab 2030 in den Entwicklungsländern jährliche Schäden von 400 Milliarden US-Dollar“ (Thelen 2019b).
Fakt ist, wir reden hier allein nur und ausschließlich über den potenziellen, kompletten Zusammenbruch der Weltwirtschaft.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 vgl. Abschnitt Konkrete politische Ziele, S. 448.
Das aus alledem erwachsene immense menschliche Leid ist in diesem Kapitel noch gar nicht eingegangen – um nicht zu schreiben: eingepreist.
Die Formel ‚Später wird teurer‘ klingt zunächst gut und logisch. Sie impliziert jedoch machbare Reparaturmaßnahmen – sie suggeriert, dass wir davon ausgehen hätten, dass der Planet schlimmstenfalls in einen Zustand gerät, der (weitgehend) reparierbar ist.
‚Später wird teurer‘ suggeriert die vorgebliche Reparierbarkeit des Angerichteten – und diese Grundannahme ist so nicht haltbar, weil ein Überschreiten der Kipppunkte eine Rückkehr zum vorherigen Zustand unmöglich macht.
Wir reden über die Existenzbedrohung der Zivilisation.
Und hier wird die Argumentation mit Geld unsinnvoll.
Das sieht auch Graeme Maxton so:
„Im Grunde genommen tut Geld hier nichts zur Sache. Wir haben ohnehin nur die Wahl zwischen a) radikalen Lösungen zugunsten einer nachhaltigeren Zukunft oder b) dem existenziellen Kollaps… Geld ist doch bloß ein menschliches Konstrukt. Es ist nicht real“ (2018, 109).
Hinzuzufügen ist, dass eine Währung – wenn überhaupt – nur so lange stabil und Geld und Besitz nur so lange relevant sind, solange die bestehende (Rechts-)Ordnung bzw. die Zivilisation aufrecht erhalten wird.
Es ist es definitiv wesentlich sinnvoller, für und nicht gegen die Zukunft zu arbeiten.
Ist es nicht ohnehin moralisch anmaßend und verwerflich, eine sich anbahnende Klimakatastrophe per finanzieller Kalkulation zu bewerten? Was also sollen solche Berechnungen? Gibt es einen Preis, den man zu bezahlen bereit wäre? Wer entscheidet darüber? Wer teilt diese Entscheidung den Betroffenen mit? Hat das jemals ein*e Entscheidungsträger*in durchdacht?
Treffender als Barrosos ‚Später wird teurer‘-Blickwinkel erscheint mir dieses Bild zu sein, welches 2020 in Le monde diplomatique gezeichnet wurde:
„Es ist wie bei einem mittellosen Kreditnehmer, der zur Tilgung seiner Schulden immer neue Kredite zu immer höheren Zinsen aufnimmt.“ (Descamps/Lebel 2020, 8)
Im Unterschied zu Barrosos‘ Satz schließt der hier genannte Gedanke den möglichen Zusammenbruch mit ein – denn irgendwann ist der erwähnte Kreditnehmer – oder eben die Kreditnehmerin – pleite, bankrott, zahlungsunfähig. Und damit innerhalb des bestehenden Systems – hier Geldsystems – aus eigener Kraft handlungsunfähig.
Aber blenden wir das mal aus, dass eine finanzielle Gegenüberstellung von einem ‚Weiter so‘ und der ‚Rettung der menschlichen Zivilisation‘ keinen Sinn macht – und begeben uns auf eine rein ökonomische Ebene:
Es macht ökonomisch grundsätzlichreichlich Sinn, in Klimaschutz zu investieren:
Klimaschutz ist ein gigantisches Zukunftsprojekt. Und das bedeutet globale Marktchancen für Innovationen und Weiterentwicklungen in Bereichen wie Gebäudedämmung und -sanierung, Energieeffizienz, Energiespeicher, neue Formen von Mobilität…
„Die notwendigen internationalen Anstrengungen zur Reduktion von Treibhausgasen führen zu neuen Märkten für klimafreundliche Güter und Dienstleistungen im In- und Ausland. Der Klimaschutz eröffnet damit erhebliche Möglichkeiten für die deutsche Wirtschaft“ (Kahlenborn et al. 2019).
Schon jetzt machen „Exporte dieser Klimaschutztechnologiegüter … mit gut 100 Mrd. Euro im Jahr 2013 9,4 Prozent der deutschen Warenexporte aus“ (ebd.).
„Insgesamt gehen gut 530.000 Beschäftigte [=Arbeitsplätze] auf die Nachfrage nach Gütern für den Klimaschutz zurück. Zusammen mit den Beschäftigten durch Klimaschutzdienstleistungen liegen die Beschäftigungswirkungen des Klimaschutzes damit bei rund 1 Million Personen. Werden wegfallende Arbeitsplätze in der Energieerzeugung aus fossilen Energieträgern mit eingerechnet, ergeben sich immer noch deutlich positive Netto-Beschäftigungseffekte der Energiewende“ (Kahlenborn et al. 2019).
Auch im Bereich ‚Automobilindustrie‘ ergeben sich durchaus Chancen: So rechnet eine Studie der European Climate Foundation (ECF), an der auch Vertreter*innen von Daimler, BMW und VW mitgewirkt haben, vor, dass bis 2030 durch den Umstieg auf Elektromobilität 145.000 Arbeitsplätze entstehen könnten – anders als pessimistischere Studien bezieht diese Studie andere Branchen mit ein – sowie die Tatsache, dass der benötigte Strom ja nicht wie das Öl aus Saudi Arabien etc. stammt, sondern in Deutschland hergestellt würde (Zeit 2017).
>> s.a. Abschnitt Thema ‚Autoindustrie‘, Aspekt Arbeitsplätze, S. 322f.
Apropos Arbeitsplätze:
Im günstigen Fall kann die Bundesrepublik Deutschland mittels eines investitionsorientierten Klimaschutzes sogar ‚Innovationsmotor‘ für die globale Klimawende werden, wovon sie zweifellos wirtschaftlich stark profitieren könnte.
Letztlich erscheint es m.E. geradezu fahrlässig, diese Zukunftsmärkte, die kommen müssen, nicht proaktiv zu besetzen.
So konstatiert dann auch das Umweltbundesamt:
„Neben der Verwirklichung umweltpolitischer Ziele bietet der Klimaschutz auch zahlreiche ökonomische Vorteile“ (ebd.).
Update Oktober 2019:
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Prognos AG kommt zu dem Ergebnis, dass in bestimmten Branchen wie Automobilbranche, Bergbau und konventionelle Energieerzeugung selbstredend Arbeitsplätze verloren gehen werden, aber „Reformen sich langfristig leicht positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken werden“ (Cwiertnia 2019). Interessant ist, dass diese Studie den Arbeitsmarkt modelliert für den Fall, dass Klimaziele von Paris erreicht werden würden. Demnach würden durch den ambitionierten Klimaschutz auch viele neue Jobs entstehen – allein in der Baubranche sei mit 20.000 neuen Arbeitsplätzen zu rechnen (vgl. ebd.).
>> Eine Liste mit Zahlen zu in Aussicht gestellten, zukunftsfähigen Arbeitsplätzen im Mobilitätsbereich siehe Ende des Aspektes Fazit: Verkehr & Mobilität: Der IST-Zustand des MIV, S. 334f.
Update Januar 2020:
Auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2020 wächst nunmehr u.a. angesichts der verheerenden Wald- und Buschbrände in Australien die Erkenntnis, dass ökologische Folgen der Ökonomie schaden:
„Die Tourismusbranche leidet, die Einkaufslaune der australischen Konsumenten sinkt und damit die Wachstumsaussichten Australiens. Die Notenbank des Landes könnte wegen der Waldbrände gezwungen sein, die Leitzinsen zu senken. Das gab es in der Finanzgeschichte so noch nie. Immer mehr Menschen sterben in Europa infolge von Hitzewellen, das – so zynisch kann Ökonomie sein – verringert auch die Zahl der vorhandenen Arbeitskräfte. Flutwellen zerstören Gebäude und wichtige Infrastruktur“ (Brinkmann 2020).
Fazit des Abschnitts Klimaschutz in ökonomischer Perspektive
Es gibt unvorstellbar große finanzielle Interessen, ausgediente Geschäftsmodelle zu verteidigen – und es gibt diverse innovative Geschäftsfelder, die ohne nationale und internationale gesetzliche Leitplanken bislang riskanter – aber mittelfristig Chancen-reicher – und vor allem zukunftsfähig sind.
Das alles bedeutet: Umweltschädigendes Verhalten, umweltschädigende Geschäftsmodelle und ebensolche Investments dürfen sich nicht mehr lohnen, damit sich die dekarbonisierte Wirtschaft – die ja die wahren Preise widerspiegelt bzw. die externen Kosten internalisiert, etablieren kann.
Quellen des Abschnitts Klimaschutz in ökonomischer Perspektive
Bonner, Stefan und Weiss, Anne (2017): Planet planlos. Sind wir zu doof die Welt zu retten? München: Knaur, 320 Seiten. (Das Buch ist im Mai 2019 als überarbeitete Neuausgabe unter dem Titel Generation Weltuntergang: Warum wir schon mitten im Klimawandel stecken, wie schlimm es wird und was wir jetzt tun müssen bei Droemer erschienen.)
Geld – so wie es derzeit ‚funktioniert‘ – zerstört die Welt.
Lobbyismus, Finanzialismus & die Klimakrise:
„Der Planet kann uns alle ernähren Doch er darf niemand gehör’n Ich weiß Geld kann nicht alles Aber mit Geld kann man alles Zerstör’n“ aus: Dota [Kehr]: „Keine Zeit“, 2020
Geld verhindert Klimaschutz
„So beziehen … klimaskeptische Denkfabriken und andere Lobbygruppen – der Soziologe Robert Brulle bezeichnet sie als ‚Klima-Gegenbewegung‘ – insgesamt über 900 Millionen Dollar jährlich.“ So spendete allein „ein Netzwerk anonymer amerikanischer Milliardäre zwischen 2002 und 2010 fast 120 Millionen Dollar an ‚Gruppen, die die Forschung zum Klimawandel in ein zweifelhaftes Licht rücken.‘“ (Klein 2015, 61)
Und weiter:
„[I]n den Vereinigten Staaten hat die Öl- und Gasindustrie im Jahr 2013 knapp 400.000 Dollar pro Tag [ausschließlich] in die Lobbyarbeit bei Kongress- und Regierungsmitgliedern gesteckt“ (ebd., 186).
Und dann sind da noch die Koch Brothers, Milliardäre und finanzielle Unterstützer der die Republikanische Partei rechts überholenden Protestbewegung Tea Party:
„Koch Family Foundations have spent $127,006,756 directly financing 92 groups that have attacked climate change science and policy solutions, from 1997-2017.“
>> Quelle: Greenpeace o.J., vgl. Greenpeace 2020, vgl. 3-Minuten-Video auf YouTube „The Koch Brothers & Their Amazing Climate Change Denial Machine“, online unter https://youtu.be/IaKm89eVhoE (Abrufdatum 20.6.2020)
Konsequenz:
Die Klima-Politik und die Berichterstattung würden – seit mittlerweile Jahrzehnten – ohne diese Beeinflussung gewissermaßen 900-Mio-Dollar-anders aussehen. Was dramatisch ist.
Naomi Klein erwähnt, dass der CEO von Exxon, Rex Tillerson, mit Stand 2015, für seine Arbeit über 100.000 US-$ erhielt. Pro Tag. (vgl. 2015, 140). 2017 wurde er vom 45. US-Präsidenten für etwa ein Jahr zum Außenminister befördert. Sein Rückzug war Exxon eine Abfindungssumme in der Höhe 180.000.000 US-$ wert (vgl. Zeit 2017).
Anders ausgedrückt:
In Umwelt- und Klimaschutz bzw. der Arbeit von NGOs [Nicht-Regierungs-Organisationen] steckt insgesamt in Relation extrem wenig Geld. Greenpeace, Fridays for Future & Co legen sich mit den mächtigsten Lobbys, den bestverdienenden Industrien der Welt und mit allen an, die Gewinnler*innen des fossilen Zeitalters (gewesen) sind.
Wenn ein neuzeitlicher Vergleich zur Bibelstelle ‚David gegen Goliat‘ (1. Sam 17) je gestimmt hat – dann dieser Fall – und es handelt sich hier um, und das ist leider keine Übertreibung – den Kampf um die Zukunft der Menschheit.
>> Never forget: Exxon und Shell wussten spätestens seit 1982 bzw. 1988 exakt, dass ihr Geschäftsmodell die Menschheit tödlich bedroht – siehe dazu Abschnitt Forschungshistorie Klimawandel, S. 160. >> siehe https://www.die-bibel.de/bibelstelle/1sa17/ (Abrufdatum 2.8.2020)
Aus den vorherigen Sachverhalten ableitend gilt m.E. daher:
Wo es um zu viel Geld, Ruhm und Macht geht, geht als erstes die Wahrheit (im Ölteich) baden.
Egal bei welchem Thema – wir sollten niemals auf diejenigen hören, die im extremen Maß Geld, Ruhm, Einfluss und Macht zu verlieren haben.
Gemessen am relativen finanziellen Input1 kann man es sogar so sehen, dass das Thema ‚Klimaschutz‘ von Umweltverbänden und Aktionisten durchaus relativ erfolgreich durchgesetzt wird.2
Nur nützt uns dieser relative Erfolg nichts, weil – symbolisch ausgedrückt – die Eisberge derzeit schneller schmelzen als Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden.
Ein Etappensieg wird nichts wert sein in der sich erwärmenden Welt.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 „Dass wir beim Klimaschutz scheitern ist kein Naturgesetz. Sie[, die fossilen Lobbyisten,] haben beispielsweise in Brüssel ein rund 10-mal so hohes Budget wie Umweltlobbyisten“ (Joeres 2020, 5).
2 Rammler spricht im Zusammenhang mit ungleich verteiltem Einfluss auf die Politik von ‚Asymmetrischem Pluralismus‘ (vgl. Rammler 2018, 119).
Naomi Klein sieht es so:
„Wir kommen nicht weiter, weil die Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Katastrophe zu verhindern – und die dem Großteile der Menschheit zugutekommen würden – eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellen, die unsere Wirtschaft, unseren politischen Prozess und unsere wichtigsten Medien im Würgegriff hat“ (2015, 30).
„Hier kommt nun also meine unbequeme Wahrheit: Ich glaube, dass diese beinharten Ideologen [der rechten Think Tanks etc.] … die eigentliche Bedeutung des Klimawandels besser verstehen als die meisten ‚Klimahysteriker‘ in der politischen Mitte, die immer noch so tun, als könnte es [nach jahrzehntelangem Nichtstun auch heute noch] eine schrittweise und schmerzlose Lösung für das Problem geben“ (ebd., 56). „Sie haben verstanden, dass sie, sobald sie die Existenz des Klimawandels anerkennen, die zentrale ideologische Schlacht unserer Tage verloren werden… Der Klimawandel bringt das ideologische Gerüst zum Einsturz, auf dem der heutige Konservatismus ruht“ (56-57). „Wie soll man noch stichhaltig gegen staatliche Intervention argumentieren, wenn die Bewohnbarkeit des Planeten von dieser Intervention abhängt?“ (59).
„They want to take away your hamburgers – this is what Stalin dreamt about but never achieved.“ online unter https://youtu.be/JDcro7dPqpA?t=229 (Abrufdatum 1.3.2021)
„They want to take away your hamburgers – this is what Stalin dreamt about but never achieved.“ – So ein Speaker der American Conservative Union auf der Conservative Political Action Conference (CPAC) 2019, über den ‚Green New Deal‘, ein mittlerweile parlamentarisch abgewiesener Vorschlag der US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez zur Bekämpfung der Klimakrise (vgl. CPAC 2019).
Daraus ist zu folgern, dass der Klimawandel eine kommunistische Verschwörung gegen Fastfood ist – also doch keine Erfindung der Chinesen, wie ich bisher gut unterrichteten Quellen des Weißen Hauses entnahm.
Schauen wir uns also einmal gezielt das Thema ‚Lobbyismus‘ an:
Was ist Lobbyismus?
Vielleicht finden Sie die Frage trivial, aber wir alle neigen dazu, auf selbigen z.B. bei Talkshows immer wieder reinzufallen. Daher ziehe ich das hier einmal klar:
Lobbyist*innen z.B. der alten Industriebranchen
sind Fachleute, deren Fach bzw. Expertise es ist, Positionen ihres Unternehmens bekanntzumachen und durchzusetzen.
argumentieren so, dass es für diejenigen, die sich nicht näher mit dem jeweiligen Thema befasst haben, logisch und i.d.R. für die/den Außenstehende*n als Vorteile bringend bzw. als alternativlos erscheint. Ein*e Lobbyist*in wird ihr/sein Unternehmen bzw. ihre/seine Branche stets als Teil der Lösung präsentieren.
verwenden lauter Vokabeln, die viele Menschen gerne hören: Sicherheit, Kontinuität, Fortschritt, Arbeitsplätze, Freiheit, Eigenverantwortlichkeit der mündigen Bürgerin bzw. des mündigen Bürgers.
stellen vermeintliche win win-Situationen dar, die nicht unbedingt solche sind. Sicher hingegen ist, dass es für das vertretende Unternehmen auf jeden Fall eine win-Situation bedeutet.
lassen ihre Lösungen und Vorschläge leicht erscheinen, weil die Probleme – pardon – mit Geld zugeschissen werden. Oft ist es nicht das eigene Geld. Die Botschaft lautet zudem meist, dass alles mehr oder weniger so bleiben kann wie es ist, was für viele Außenstehende eine bequeme und beruhigende Nachricht ist.
Die Lösungen und Vorschläge z.B. von Umweltorganisationen hingegen sind i.d.R. ganzheitlich, beziehen also die externen Kosten mit ein und erscheinen daher vielen Außenstehenden teurer – und auch unbequemer, weil sie i.d.R. mit Veränderungen verbunden sind.
diffamieren ihre Gegner*innen gewöhnlich damit, dass deren Positionen als romantisch und weltfremd oder als zu teuer, Arbeitsplätze-vernichtend und allgemein als wirtschaftsfeindlich verbrämt werden.
Die fünf allgemein üblichen Lobbyismus-Strategien sind mit dem Kürzel ‚P-L-U-R-V‘ umschrieben:
(Rosinenpickerei meint, dass Fakten aus dem Kontext herausgelöst werden und so herausgegriffen vermeintlich eine Argumentation stützen, aber im Gesamtzusammenhang schlicht falsch sind.)
Der Thinktank des Mercator Institut MCC macht hinsichtlich der „Begründungen der Bremser“ (Pötter 2020, 9) vier Kategorien aus…
Verantwortung umlenken. | Lösungen bevorzugen, die nichts Grundlegendes ändern. | Die Nachteile betonen. | Aufgeben. (vgl. Pötter 2020, 9)
Details
„Someone else should take actions first: redirect responsibility“ (Privatisierung von Klimaschutz; Relativierung von Emissionen einer Handlung/einer Branche; Wenn ich reduziere, wäre das ein Wettbewerbsnachteil) | „Disruptive change is not necessary: push non-transformative solutions“ (Die Technik wird’s richten; Wir haben schon ambitionierte Ziele; Brückentechnologien; „No sticks, just carrots“ = Verbote bringen nichts) | „Change will be disruptive: emphasize the downsides“ (Nur wenn wir eine perfekte Lösung haben, sollten wir Dinge ändern; Wir brauchen Fossile für die Entwicklung der Armen des Globalen Südens; Die Armen unserer eigenen Gesellschaft würden leiden); „It’s not possible to mitigate climate change: surrender“ (Es liege in der menschlichen Natur; in einer Demokratie sei eine so große Veränderung nicht möglich; „Doomism“ = es sei zu spät für alles, die Herausforderung zu groß) (zitiert und sinngemäß interpretiert nach MCC 2020, 2). (s.a. Aspekt vier grundlegende Argumentationslinien von Menschen, die über Klimaschutz und Nachhaltigkeit diskutieren, Fußnote auf S. 226)
Lobbyist*innen, Politiker*innen, Talkrunden, Wahlkampfreden etc. pp.:
Oft ist das, was nicht gesagt wird, wichtiger als das, was gesagt wird: Achten Sie auf das, was nicht gesagt wird.
Klimaschutz ist ein Menschenrecht. Öl zu verkaufen nicht.
Strategien der Lobbyist*innen der fossilen Industrien.
Nun, pointiert ausgedrückt und in a nutshell: Die Fossilen hatten von der überaus erfolgreichen Tabakindustrie gelernt – und münzten deren todbringende Strategien einfach auf das ‚schwarze Gold‘ um.
Das frühe, exakte Wissen der Fossilindustrie um die klimakritischen Folgen ihres Geschäftsmodells wurde nachfolgend umgehend zur intensiven Verteidigung des Geschäftsmodells um jedenPreis verwendet:
Man säte an systematisch Zweifel. Auch mit der Kraft der steten Wiederholung.
>> vgl. ausführlich dazu Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
„Die zentrale Taktik, die von konservativen Denkfabriken im Meinungskampf angewandt wird, ist die Produktion eines endlosen Flusses an Druckmaterial [u.a. von selbst aufgebauten Instituten, gesponserten Lehrstühlen und fachfremden und/oder gekauften Wissenschaftler*innen1, das von Büchern bis Leitartikeln reicht, aufbereitet zum Briefing von Politiker*innen und Journalist*innen, kombiniert mit regelmäßigen Auftritten von Sprecher*innen im Fernsehen und Radio“,
zitiert Friederike Otto eine Studie der Central Florida University (2019, 47). Und:
„Zwischen 1979 und 2001 kaufte der Ölriese [Exxon bei der New York Times] für jeden Donnerstag eine Anzeige zum ermäßigten Preis von jeweils 31.000 Dollar. Und was in den redaktionell aufgemachten Bekanntmachungen des Unternehmens [– sog. ‚Advertorials‘ –] zu lesen war, passte so gar nicht zu dem, was die eigenen Hauswissenschaftler*innen… in ihren Studien schrieben. Eine typische Anzeige aus dem Jahr 1997, kurz vor dem Klimagipfel in Kyoto, der die Industrieländer zum Klimaschutz verpflichten sollte, lautete: ‚Wissenschaftler*innen können nicht mit Sicherheit voraussagen, ob die Temperaturen ansteigen werden, wie stark und wo Veränderungen passieren werden. […] Lassen Sie uns die Entscheidung in Kyoto nicht überstürzen. Klimawandel ist komplex; die wissenschaftlichen Aussagen sind nicht schlüssig; die Auswirkungen für die Wirtschaft könnten verheerend sein‘“ (Otto 2019, 45-46, vgl. Rahmstorf 2019).
>> Offensichtlich gab es auch schon vor der internen 1982er Studie, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ, ein starkes Bewusstsein für die Situation: Sonst hätte man wohl keine Zeitungsanzeigen geschaltet, vgl. Aspekt Forschungs-Historie Klimawandel, S. 160.
„Der Konzern [Exxon/ExxonMobil] brachte sogar Präsident George W. Bush dazu, dem Kyoto-Protokoll den Rücken zu kehren, wie durchgesickerte Regierungsdokumente offenbarten. Wirtschaftsnobelpreisträger2 Paul Krugman nannte ExxonMobil vor einigen Jahren in der New York Times nicht ganz unzutreffend ‚einen Feind des Planeten‘“ (Otto 2019, 50-51).
Dieses systematische Zweifel-Säen wider besseres Wissen der fossilen Industrie könnte man wohl durchaus als die
1 Das Repertoire ist bekannt aus unendlichen Konflikten rund um die Tabakindustrie, vgl. Kreiß 2015, 2018 und Kopatz 2019, 25.
2 Der sog. ‚Wirtschaftsnobelpreis‘ ist kein echter Nobelpreis – den gibt es nur für die Bereiche Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und Frieden. Korrekt heißt der erst seit 1968 verliehene Wirtschaftsnobelpreis ‚Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften‘ und ist ein nachträglich eingeführter, dem Zeitgeist geschuldeter Wirtschaftspreis.
Indirekter Lobbyismus per universitärer Forschung
Forschung und Lehre sind frei. Ja, aber.
Traditionell ist Wissenschaft in Deutschland und in der EU so angelegt, dass der Staat Geld für die freie Forschung und Lehre zur Verfügung stellt. Soll heißen, die Universitäten entscheiden selbst, was sie mit dem durch den Staat zur Verfügung gestellten Geld machen, auf welche Schwerpunkte sie setzen, welche Fachbereiche und Lehrstühle sie haben, mit wem sie letztere besetzen. Und die/der so Besetzte hat wiederum freie Hand, in welchen Forschungsbereichen sie/er besonders intensiv tätig ist.
Doch die Frage, was beforscht wird und im Umkehrschluss, was nicht beforscht wird, ist in Deutschland spätestens seit den 2000er Jahren zunehmend äußeren Einflüssen ausgesetzt.
Zum einen steht Forschungsgeld Fachbereichen, Instituten und Lehrenden immer weniger ‚automatisch‘ zur Verfügung: Es hat vielmehr eingeworben zu werden – entweder via Antrag durch staatliche akademische Dienste wie z.B. den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) oder eben auch durch die Generierung von Forschungsaufträgen, die aus der Privatindustrie kommen. Bei von der Wirtschaft bzw. Industrie in Auftrag gegebenen Studien entscheidet übrigens i.d.R. die/der Auftraggeber*in über die Veröffentlichung oder Nicht-Veröffentlichung.
Zum anderen sind da heutzutage noch die vielen Lehrstühle, die nicht von der Universität oder Fachhochschule gestellt werden, sondern Stiftungsprofessuren sind – mit anderen Worten, der Arbeitsplatz wurde gestiftet von dritter Seite. Wenn also bspw. ein großer Süßwarenkonzern eine Stiftungsprofessur anregt und die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellt – und sich selbstverständlich offiziell aus allem Weiteren heraushält –, kann dennoch eine komplette Unabhängigkeit bei Vergabe der Professur und bei der nachfolgenden inhaltlichen Forschung – und sei es nur die Wahl der Themen – nicht immer 100%-ig gesichert werden – es bleibt eine Stelle ‚von Gnaden‘ des Süßwarenkonzerns: Warum sollte ein Unternehmen eine Stelle finanzieren, die dauerhaft gegen sie arbeitet? Kaum anzunehmen, dass ausgerechnet die/der Zucker-kritischste Forscher*in genau diese Stiftungsprofessur bekommt und dann eine hyperkritische Studie nach der anderen herausbringt.
Wir reden hier keineswegs über im eigentlichen Sinne industrienahe oder gar gekaufte Studien oder andere illegale Praktiken – die gibt es auch. Wir reden hier über eine legale, aber eben nicht unproblematische Praxis: Wenn die Industrie zunehmend in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr Stiftungsprofessuren und Forschungsaufträge vergibt – und manchmal sogar komplette, universitätsfremde Institute auf dem Unigelände mitbegründet, somit eine Seriosität suggeriert, die m.E. so nicht gegeben ist und das so gegründete Institut auf Jahre als Hauptträger sponsert1 – prägt die Industrie zweifellos mit, was beforscht wird und was nicht. Wenn also bspw. die Autoindustrie einen Auftrag nach dem anderen zum Thema „Optimierung von Dieselmotoren“ vergäbe, dann bedeutet das, dass das Thema intensiv beforscht würde, Studien veröffentlicht werden, u.U. eine dynamische Medienpräsenz generiert würde, das Personal und Forscher*innen in diesen Thema gebunden und spezialisiert würden, das Vorträge auf (inter-)nationalen Kongressen gehalten würden – und eben ein Beforschen eines alternativen Antriebsystems weniger Geld-befeuert würde und so u.U. zurückbliebe, obwohl in diesem Bereich frühere Forschungsergebnisse vielleicht ganz vielversprechend waren.
Nun könnte man sagen, dass ja auch Unternehmen die z.B. im Bereich ‚Erneuerbare Energien‘ ebenfalls die Möglichkeit haben, entsprechende Forschungsgelder zur Verfügung zu stellen – aber dazu sei schlicht auf die gigantischen finanziellen Polster der fossilen Wirtschaft hingewiesen (vgl. Aspekt David gegen Goliat, S. 400).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Hier bedarf es eines konkreten Beispiels: Die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann äußerte sich Anfang der 2010er Jahre über das in einer tiefen Krise befindliche Urheberrecht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass illegale [Hollywood-Kino-]Filmkopien: „Man brauche gar kein Urheberrecht. Sie sagt, es existiere ja auch kein Urheberrecht für Witze oder Kochrezepte, Dennoch bestehe auf der Welt kein Mangel an Witzen und Kochrezepten“ (zit. in Kohlenberg 2013, 15ff). Die Zeit weiter dazu: „Man kann es überraschend finden, dass die Wissenschaftlerin Hofmann sich so eindeutig auf die Seite derer stellt, die mit illegalen Filmkopien Geld verdienen. Allerdings nur für einen Moment. Bis man feststellt, dass Hofmann und die 26 weiteren Forscher des… Instituts nicht von der Humboldt-Universität bezahlt werden, obwohl sie ihre Räume in deren juristischer Fakultät bezogen haben. Sondern … von Google. Der Konzern ist derzeit der alleinige Geldgeber des Instituts, 4,5 Mio EURO hat er investiert für die ersten drei Jahre“ (ebd.). „Man kann sagen, ein Teil des Geldes, dass Google mit Raubkopien erwirtschaftet, fließt in wissenschaftliche Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass Raubkopien keine schlechte Sache sind“ (ebd.).
Der Medizinwissenschaftler Peter Sawicki schätzt, „dass nur die Hälfte aller Daten aus der medizinischen Forschung veröffentlicht wird“ (Becker 2019). Er schlägt vor, dass Forschungsaufträge ausschließlich von Behörden – und nicht (in seinem Fall) von Arzneimittelherstellern erteilt werden sollten (vgl. ebd.).
„Denn jetzt, wenn die pharmazeutische Industrie ein Institut beauftragt, dann wird dieses Institut beeinflusst werden, schon alleine durch den Wunsch, weiter Aufträge und weiteres Geld zu bekommen und ihre Angestellten weiter bezahlen zu können. Und es besteht die große Gefahr, und tatsächlich ist es in der Vergangenheit auch schon so gewesen, dass dieses Institut dann Gefälligkeitsstudien macht. Nicht richtig gelogen, aber so ein bisschen verzerrt.“
Wir können alles in allem davon ausgehen, dass die Forschung in Sachen alternativen Energien, Speichertechnologien, alternativen Antrieben, Recycling von Windenergieanlagen1 etc. weiter sein könnte, als sie es ist. Und das ist auch das Ergebnis der hier beschriebenen Abhängigkeitsmechanismen, hinter denen sich indirekter Lobbyismus‘ verbergen kann.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Nachdem nun viele Windkraftanlagen veralten, geht man hinsichtlich der Rotorblätter „ab 2024 … [von] maximal gut 70.000 Tonnen pro Jahr [aus]. Sie sind bislang jedoch schwer zu verwerten. In Deutschland besteht bislang eine einzige Verwertungsanlage für GFK/CFK-Abfälle“ (UBA 2019; GFK = Glasfaserverstärkte Kunststoffe; CFK = Carbonfaser-verstärkte Kunststoffe).
Abschließend ist anzumerken, dass die hier in den vorherigen Absätzen skizzierte Problematik auch dann entsteht bzw. entstehen kann, wenn z.B. Bill Gates‘ Stiftung, die 46,8 Mrd. US-Dollar schwere Bill & Melinda Gates Foundation und andere Menschen, die zu viel Geld haben, ihr Geld einsetzen, um Forschung betreiben zu lassen (vgl. wikipedia 2020). Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass Milliardäre ausschließlich altruistischen Motiven folgen, wenn sie z.B. Forschungsaufträge vergeben. Der Umkehrschluss, dass Staaten oder Behörden vollkommen neutral seien, trifft selbstredend auch nicht zu. Aber hier reden und entscheiden i.d.R. immerhin mehr Menschen mit, die nicht Privatunternehmen, sondern vielmehr Steuerzahler*innen und ggf. weiter zu optimierenden Transparenzgrundsätzen verpflichtet sind.
Update 30.5.2020:
In China hat die australische University of Queensland in Brisbane den 20-jährigen Studierenden Drew Pavlou „dafür, dass er Proteste, Pro-Hongkong-Proteste und [Proteste] für andere chinesische Minderheiten organisiert … [zu einem ‚disciplinary hearing‘ einbestellt und für zwei Jahre suspendiert]. Diese Uni[versität] ist stark finanziell abhängig von China“ (Ohlberg 2020, vgl. Guardian 2020).
Kontraproduktive Medienlogik
Fatal wirkt im Zusammenhang mit dem Themenfeld ‚Lobbyismus‘ auch die traditionelle Medienlogik, der zufolge stets auch die Gegenseite zu Wort kommen soll (‚balanced reporting‘). In dem Moment, wo in einem Themenfeld die Gegenseite bewusst lügt, manipuliert und behauptet, die Erde sei eine Scheibe, die Evolutionstheorie ein Schwindel und Rauchen der Gesundheit zuträglich, wird dieser an sich bewährte Medien-Mechanismus zu einem gewaltigen Problem. Das gilt umso mehr, wenn die Lüge den bisherigen für viele Menschen bequemen Status quo bedient. Womit wir mitten in der Klimakrise angekommen sind: Wenn also sich die Klimawissenschaft schon seit Jahrzehnten zu 97% über die wesentlichen Befunde einig war und trotzdem Klimawissenschaftsleugner*innen „selbst in renommierten Zeitungen wie der New York Times oder der Washington Post im untersuchten Zeitraum 40 Prozent der Zeilen [erhielten, wären lediglich] drei Prozent [angemessen] gewesen“ (Kopatz 2019, 26). Das bedeutet auch, dass Journalist*innen der Gesellschaft alles andere als einen Gefallen tun, wenn sie in jeder Talkshow etablierte Klimawissenschaftler*innen mit Klimawissenschaftsverweiger*innen diskutieren und die seriösen Wissenschaftler*innen in diesem Sinne stets bei null anfangen lassen: Es entsteht ein vollkommen falscher Eindruck – und zu den wesentlichen Punkten kommt man gar nicht. Allein durch die Bremswirkung hat am Ende der Sendung quasi automatisch die/der Lobbyist*in ‚gewonnen‘. So kommen wir nicht voran (vgl. Brüggemann 2019).
In diesem Sinne kommt der Kampf um Klimaschutz einem ‚Spiel auf Zeit‘ gleich. Die/der Lobbyist*in braucht bei diesem ‚Pokerspiel‘ nichts anderes zu machen als zu zweifeln, abzulenken, hinzuhalten und zu bremsen – während sich die ‚Guten‘ abstrampeln, Beweise vorbringen, nach Lösungen suchen, am ausgestreckten Arm verhungern und angeblich Panik schüren. Ein wahrhaft teuflisches Endspiel. Bei dem letztlich Alle verlieren würden. Und das, worum die/der Lobbyist*in letztlich spielt – Geld – würde sich irgendwann, kurz bevor die letzte Karte gespielt wird, in Nichts auflösen.
>> vgl. Chris de Burgh „Spanish Train“, 1975. In diesem Song spielen der Teufel und Gott Poker um einen mit Menschen vollbesetzten Zug, der zu entgleisen droht.
Hinsichtlich des Aspektes, dass Zeitungen/Medien selbst Teil des Lobbyismus sein können, sei hier nur kurz darauf verweisen, dass z.B.
„Australiens Bevölkerung zu einem Großteil News Corp ausgeliefert [ist], dem Medien-Imperium von Rupert Murdoch: Er be- und vertreibt Fernsehsender wie Skynews, landesweit erscheinende Boulevardzeitungen, mit dem ‚Australian‘ auch eine sogenannte seriöse Tageszeitung, dazu Regional- und Lokalzeitungen. In einigen Bundesstaaten gibt es ausschließlich Murdoch-Presseprodukte (Tagesschau 2020). „60 Prozent der australischen Tageszeitungen [gehören] zum klimapolitisch eindeutig positionierten Medienimperium von Rupert Murdoch“ (Deininger 2020, 3).
Gesetzesvorhaben und Lobbyismus
Ein weiterer Aspekt ist, dass wirtschaftsfreundliche Regierungen im Namen der Arbeitsplätze und Standortsicherungen Lobbyist*innen bzw. große Unternehmen bei Gesetzesvorhaben massiv einbinden. Natürlich sollte man im Gespräch miteinander sein, aber eben gleichmäßig mit allen Gesellschafts- und Interessengruppen und vor allem mit unabhängigen Expert*innen bzw. Wissenschaftler*innen – doch gibt es da ein eklatantes Ungleichgewicht dergestalt, dass von Fall zu Fall Unternehmen/Lobbyist*innen direkt an Gesetzestexten und Regulierungen mitwirken, bis in die Formulierungen hinein.
Annika Joeres nennt ein Beispiel:
„Als 2016 internationale Emissionsgrenzen für den Flugzeugbau festgelegt werden sollten, schickten Beamte der EU-Kommission ihren Entwurf immer wieder an die Firma Airbus mit der impliziten Frage, welche CO₂-Standards die Firma erreichen könne. Konzernmitarbeiter haben den Entwurf mehrfach kommentiert, Deadlines für CO₂-Grenzwerte gestrichen. Airbus hat also an den eigenen Auflagen mitgeschrieben. Wenn man den Mailverkehr liest, kommt es einem vor, als würden zwei alte Kumpel miteinander plaudern“ (2020).
Ein anderes, bekanntes Beispiel sind die Plagiatsvorwürfe gegen das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Der Plagiatsprüfer Stefan Weber kommt zu dem Schluss, dass
„ganze Kapitel aus einem Antrag des Glyphosat-Herstellers Monsanto abgeschrieben [wurden]“ (zit. in Römermann 2017), und zwar so, dass „wesentliche Angaben von Herstellern des umstrittenen Unkrautgifts wörtlich übernommen [wurden]. Es sei ‚offensichtlich, dass das BfR keine eigenständige Bewertung der zitierten Studien vorgenommen hat‘, erklärte Stefan Weber heute bei der Vorstellung eines von ihm erstellten Sachverständigengutachtens in Berlin. Über ‚zahlreiche Seiten hinweg‘ seien Textpassagen ‚praktisch wörtlich übernommen‘ worden… Das systematische Unterlassen von Quellenangaben und das gezielte Entfernen von Hinweisen auf die tatsächlichen Verfasser lasse sich ‚nur als bewusste Verschleierung ihrer Herkunft deuten‘“ (Ärzteblatt 2017).
Der Verweis, es sei üblich „in solchen Bewertungsverfahren Textpassagen nach kritischer Prüfung auch zu übernehmen“ (Römermann 2017), ist nach Ansicht Stefan Webers, der ich mich explizit anschließe, nicht statthaft, denn dann „muss [man] ja auch die kritische Prüfung … dokumentieren. Und die kritische Prüfung ist ja nicht damit dokumentiert, dass ich etwas mit ‚copy pasted‘ übernehme“ (Weber zit. in Römermann 2017).
Freihandelsabkommen und Investitionsschutz vs. Klimaschutz
Freihandelsabkommen sind aufgrund der Tatsache, dass sie die Ökologie (quasi) nicht mit in das Regelwerk einbeziehen, letztlich die Gegenspieler, die Antagonisten zu Klimapolitik im Allgemeinen und zum Pariser Klimaabkommen im Besonderen:
Das Pariser Abkommen ist völkerrechtlich absolut verbindlich. Indes bedeutet dies bedauerlicherweise eine in erster Linie moralische Verpflichtung – konkrete Sanktionen bei Verstößen von Staaten gegen die Vereinbarungen oder bei Nicht-Einhaltung von Reduktionszusagen gibt es nicht.
„Die Verpflichtungen … funktionierten praktisch alle nach dem Prinzip von Treu und Glauben… Die durch Handelsabkommen eingegangenen Verpflichtungen hingegen wurden einem ziemlich rigorosen Schiedsgerichtsverfahren unterstellt, und Regierungen landeten bei Verstößen rasch vor einem Handelsgericht, das oftmals harte [und finanziell hohe] Strafen verhängte“ (Klein 2015, 100).
In einem Satz: (Frei-)Handelsrecht schlägt Klimaschutz(-recht).
Freihandelsabkommen und die sog. Investor-Staats-Schiedsgerichtsbarkeit
Zu unbemerkt von der globalen Bevölkerung haben die Befürworter*innen des Neoliberalismus aus Politik und Wirtschaft mit einem wesentlichen und langjährig geltenden Prinzip gebrochen:
Rechtsstreitigkeiten sind vor ordentlichen Gerichten auszutragen auf Basis der Rechtsinstitute, die in dem Staat gelten, in dem geklagt wird. Das schließt Klagen von Privatpersonen und Unternehmen gegen ebendiese Staaten ein.
Die Begrenzungen von Rechtsnormen auf Territorien geraten in der Tat in Zeiten der Globalisierung im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen – wodurch tatsächlich Handelshemmnisse entstehen können.
Um hier Abhilfe zu schaffen, verließ man sich seit Mitte der 1990er Jahre auf die Welthandelsorganisation (Word Trade Organisation, WTO), bzw. auf die entsprechenden Abkommen, die diese Dachorganisation betreut, vor allem das ‚Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen‘ (GATT1), das ‚Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen‘ (GATS) und das ‚Abkommen über den Schutz geistigen Eigentums‘ (TRIPS).
Ergänzend bzw. darüber hinausgehend gibt es die Freihandelsabkommen,
darunter CETA2 (sprich ‚Sita‘ mit scharfem ‚s‘), das bis auf weiteres abgesagte TTIP, das unlängst erneuerte NAFTA sowie das 2019 in Kraft getretene JEFTA zwischen Japan und der EU.
die über die Regeln der WTO hinausgehen, die deshalb auch WTO plus-Abkommen genannt werden – und die im Unterschied zu den nahezu global geltenden WTO-Regularien nur in einigen Regionen der Welt gültig sind.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 GATT = General Agreement on Tariffs and Trade (Tariffs = Zoll[tarife]) | GATS = General Agreement on Trade in Services | TRIPS = Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights
2 CETA = Comprehensive [d.h. Umfassendes] Economic and Trade Agreement = Canada-EU Trade Agreement | TTIP = Transatlantic Trade and Investment Partnership | NAFTA = North American Free Trade Agreement | JEFTA = Japan-EU Free Trade Agreement
Stärker als in früheren Abkommen ist in den neuen Freihandelsabkommen inkl. GATT/WTO die folgende Idee enthalten:
„[D]ie Grundregel der [Frei-]Handelsgesetze lautet, dass heimische Produkte gegenüber ausländischen nicht bevorzugt werden dürfen“ (Klein 2015, 111).
Das bedeutet, dass jeglicher Protektionismus zugunsten lokaler, regionaler und nationaler Interessen zu unterbleiben hat, damit der internationale Wettbewerb gemäß neoliberaler Lesart frei und ungehindert sowie in diesem Sinne ‚gerecht‘ ablaufen kann.
Zur Wahrung von internationalen Konzerninteressen wurden (schon für GATT & Co) neue Schlichtungsverfahren entwickelt, die übernational sind: Ein Mitgliedsstaat eines Freihandelsabkommens kann auf Basis des Vertragstextes des Freihandelsabkommens von einem Konzern verklagt werden.
Nun hätte man so etwas durch im Zuge der Vereinbarung des jeweiligen Freihandelsabkommens zu vereinheitlichte Gesetzesgrundlagen regeln und somit eine ordentliche Gerichtsbarkeit bewahren können.
Stattdessen schleifte man den Grundsatz, dass Rechtsstreitigkeiten vor ordentlichen Gerichten stattzufinden haben und ersetzte die ordentliche Gerichtsbarkeit durch eine Investor-Staats-Schiedsgerichtsbarkeit (Investor-state dispute settlement, kurz: ISDS), d.h. durch Schlichtungsverfahrenvorintransparenten, hinter geschlossenen Türen agierenden, kommerziellenprivatenSchiedsgerichten.
Mit dem klassischen Verständnis demokratischer Rechtsstaatlichkeit und nationaler Souveränität haben solche Schlichtungsverfahren denkbar wenig zu tun:
Staaten können von einem außerhalb des Staates agierenden Unternehmen für ein Investitionsschiedsverfahren (Investor-state dispute settlement) vor private Schiedsgerichte ‚gezerrt‘ werden.
Für private Schiedsgerichte sind nationale Gesetze und die sonst überall erfolgende Abwägung zwischen Rechtsgütern vollkommen unerheblich (vgl. Umweltinstitut o.J., 8).
Es ist ein einseitiges Klagesystem, d.h. Unternehmen können Staaten verklagen – aber nicht umgekehrt (vgl. ebd.).
„Ist ein Urteil ergangen, kann keine Berufung dagegen eingelegt werden“ (Endres/Koschnitzke 2014).
Das dort ergehende Urteil ist rechtlich faktisch bindend – notfalls wird das Geld international in einem anderen Staat von einem anderem Gericht eingezogen, dem das Urteil zur Zwangsvollstreckung vorlegt wird.1
„Die Schiedsgerichte bestehen aus drei Personen, [die keine Richter*innen zu sein brauchen,] von denen je eine durch den klagenden Konzern, eine vom beklagten Staat und die dritte in gemeinsamem Einvernehmen bestimmt wird“ (Umweltinstitut o.J., 8).
Es ist ein äußerst kleiner Kreis von Schiedsrichter*innen mit Grundvergütungen zzgl. Tagessätzen von 3.000 US-$ (vgl. Lobbycontrol 2016, 16) und einem ebenso kleinen Kreis von Kanzleien, die hier tätig sind: „Five elite law firms have been involved in nearly half of all known ECT investor lawsuits“ (ECDS 2020; ECT = Energy Charter Treaty = Energiecharta-Vertrag).
Derartige Prozesse werden mehr und mehr von Investor*innen („investment funds“/„third party funders“) finanziert. Entsprechend US-amerikanischen Gepflogenheiten sind für den Fall des Prozessgewinns Gewinnbeteiligungen üblich (vgl. ECDS 2020).
Hier wird ein mühsam über Jahrhunderte erkämpftes im europäischen Sinne rechtsstaatliches Grundprinzip ordentlicher Gerichtsbarkeit aufgegeben.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Dazu findet sich der folgende Hinweis auf der Website des Justizministeriums: „Schiedssprüche müssen von einem deutschen Gericht zur Zwangsvollstreckung zugelassen werden, wenn sie hier vollstreckt werden sollen. Für ausländische Schiedssprüche sind die Vollstreckungsvoraussetzungen in dem New Yorker UN-Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10.06.1958 (BGBl. 1961 II S. 123) oder dem Genfer Europäischen Übereinkommen über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit vom 21.04.1961 (BGBl. 1964 II S. 425) enthalten“ (BMJV 2020).
Zu den Standards einer ordentlichen Gerichtsbarkeit gehört die Neutralität der Richter*innen – ihr Gehalt hängt nicht an der Entscheidung. Im Interesse der an o.g. Schlichtungsverfahren beteiligten Schiedsrichter*innen, Kanzleien und Prozessfinanzierer*innen liegt hingegen definitiv, dass es sich für Unternehmen auch weiterhin lohnt, zu klagen. Tagessätze können Prozesse verlängern bzw. verteuern. Und Gewinnbeteiligungen im Falle eines Sieges tun ihr übriges.
Freihandelsabkommen und der sog. Investitionsschutz für Unternehmen
Doch so richtig an Schärfe gewinnt dieser Verlust an Rechtsstaatlichkeit erst durch die in Freihandelsabkommen i.d.R. festgeschriebenen Investitionsschutzklauseln.
Diese besagen, dass Konzerne von Staaten dafür finanziell kompensiert zu werden haben, wenn die Voraussetzungen, unter denen investiert wurde, sich ändern und somit aus Unternehmenssicht von einem mehr oder weniger spekulativen, entgangenen zukünftigen Gewinn auszugehen ist.
Auf Klima- und Umweltschutz bezogen bedeutet das, dass jede klimabewahrende lokale, regionale und nationale Gesetzesänderung potenziell als Investitions-schädigend bzw. als ‚indirekte Enteignung‘ angesehen werden kann. Auf diese Weise werden Klimaschutz und Wirtschaft gegeneinander ausgespielt.
Damit ist im Grunde eine optimal-risikolose Geldverdienmaschine entstanden: Man investiert – und entweder man verdient mit den Früchten der Investition – oder man wird mit i.d.R. lohnendem Schadensersatz kompensiert.
Dieses Investitionsschutz-System kann zuweilen überaus irrationale und m.E. unethische Züge annehmen:
So wehrte sich Philip Morris jahrelang zwischen 2009 und 2016 per Schiedsgericht gegen Uruguays Maßnahmen gegen das Rauchen (vgl. Nadakavukaren Schefer 2017) – am Schluss erfolglos.
In Mexiko – dem einstigen Maisselbstversorger – führt die massive, aufgrund des Freihandelsabkommens NAFTA zollfreie Einfuhr von billigem und gegenüber nationalen Mais- und Zuckerprodukten konkurrenzlos günstigen Maissirup (High-Fructose Corn Syrup, HFCS) sowie allgemein der Import übermäßig kalorienhaltiger Fertignahrungsmitteln aus den USA (vgl. Vigna 2008 u. Viciano 2017) zur Fettleibigkeit und Diabetes mellitus-Erkrankung weiter Teile der Bevölkerung und auch insbesondere von Kindern und Jugendlichen.
Ab 2001 erhob Mexiko eine „tax of 20% on any drink which used HFCS as a sweetener“ (Whitsitt 2009a).
Anfang 2008 gab ein NAFTA-Schiedsgericht dem US-Unternehmen Corn Products International Inc. (CPI) recht, welches Mexiko aufgrund jener o.g. Steuer auf entgangenen Gewinn verklagt hatte.
„On 18 August 2009, … the NAFTA tribunal issued its damages award ordering Mexico to pay CPI damages in the amount of US$58.386 million“ (Whitsitt 2009b, Urteil s. Worldbank 2001; gemeint sind 58,385 Mio US-$).
Gerade hinsichtlich der Dringlichkeit und der hohen Anforderungen beim Klima- und Umweltschutz sind solche Investitionsschutzklauseln kontraproduktiv.
Im Fall Rockhopper vs. Italien klagt Rockhopper auf Schadensersatz in der Höhe von bis zu 300 Mio US-$, weil die Investitionen für Probebohrungen in der Höhe von 40 bis 50 Mio US-$ aufgrund von Umweltbedenken des italienischen Staates nicht zum erhofften, großen Geschäft führten (vgl. ECDS 2020, vgl. Attac 2019).
Naomi Klein zeigt auf, dass „Ökoenergie-Programme … [Anfang der 2010er] zunehmend aufgrund internationaler Handelsabkommen unter Beschuss kamen, und zwar vor allem wegen der Vorschriften der Welthandelsorganisation (WTO). Zum Beispiel gingen die Vereinigten Staaten 2010 gegen ein chinesisches Programm zur Förderung von Windenergie vor, weil es Vorschriften zum lokalen Wertschöpfungsanteil enthielt, die man als protektionistisch betrachtete. China wiederum reichte 2012 eine Beschwerde gegen verschiedene Einspeisevergütungen in der Europäischen Union ein… Washington wiederum… Indien will nicht zurückstehen…“ (2015, 85-86).
Klein greift ein Beispiel der Solarbranche auf, die auch darauf hinweist, wie China sich zum Produzenten Nr. 1 für Solarpanele ‚gemausert‘ hat:
„2010 erschien die Entscheidung, die erste nordamerikanische Photovoltaik-Produktionsfabrik des Unternehmens [Silfab] in Ontario [in Kanada] zu eröffnen, durchaus sinnvoll… Der Plan wurde von Energieexperten [und Politiker*innen] in aller Welt gelobt… Das Gesetz sah eine Einspeisevergütung vor… [und] enthielt … Bestimmungen, die dafür sorgten, dass als Anbieter nicht nur Konzerne zum Zug kamen, sondern dass Kommunen, Kooperativen und Gemeinden in den Markt für die Erneuerbaren einsteigen und von den Preisgarantien profitieren konnten. Der Haken war, dass die Energielieferanten nur in den Genuss dieser Vorteile kamen, wenn ein Mindestanteil ihrer Arbeitskräfte und Materialien aus Ontario stammte…, um den dahinsiechenden industriellen Sektor der Provinz wiederzubeleben… [Was hervorragend gelang, sodass hier i]m Jahr 2014 … Schätzungen zufolge 31.000 Arbeitsplätze entstanden [waren, doch dann] verkündeten erst Japan, dann die Europäische Union, ihrer Meinung nach stelle die Forderung eines lokalen Wertschöpfungsanteils einen Verstoß gegen die WTO-Verträge dar… Die Welthandelsorganisation… entschied gegen Kanada und erklärte die Bestimmungen zum lokalen Wertschöpfungsanteil für illegal“ (2015, 88-90).
Dafür hätte es wohl gar keines Prozesses bedurft, denn die Regeln sind kaum falsch zu verstehen:
„Eine der Kernklauseln fast aller Freihandelsabkommen betrifft die sogenannte ‚Inländerbehandlung‘, die von Regierungen fordert, keinen Unterschied zwischen Gütern zu machen, die von einheimischen Firmen, und solchen, die von ausländischen Formen jenseits ihrer Grenzen produziert werden. Tatsächlich stellt die Bevorzugung der einheimischen Industrie eine illegale ‚Diskriminierung‘ dar“ (ebd., 91).
Die neoliberale Lesart solcher Regeln ist, dass über den freien, ‚gerechten‘ Markt die Energiewende besonders schnell und umfassend umzusetzen ist.
„Das größte Problem bei dieser Argumentation ist die Vorstellung, dass es überhaupt einen freien Energiemarkt geben würde, der vor Verzerrung geschützt werden kann“ (ebd., 92).
Nichts könnte falscher sein angesichts der weltweiten Subventionen von fossilen Energien bzw. Branchen – Naomi Klein nennt hier die Dimension von 775 Mrd. bis 1 Billion US-Dollar (vgl. ebd., s.a. Aspekt Subventionen abbauen, S. 473). Und die Fossilen nutzen die Externalisierung ihrer Kosten per Atmosphärendeponie, was den Wettbewerb weiter verzerrt (vgl. ebd.).
Kaum notwendig zu erwähnen: Damit war es aus mit dem kleinen Wirtschaftswunder von Ontario.
Und was China betrifft, ist festzuhalten: Wenn man die/der günstigste ist, braucht man andere Player nicht berücksichtigen, d.h. es bedarf keines Protektionismus‘ – bzw. der Preis sorgt für den notwendigen Protektionismus.
Naomi Klein folgert:
„Die derzeitigen Handels- und Investitionsvorschriften geben ausländischen Konzernen … rechtliche Mittel in die Hand, mit denen so gut wie jeder Versuch von Seiten des Staates bekämpft werden kann, den Abbau fossiler Brennstoffe einzuschränken“ (2015, 432).
Wie dieser Mechanismus ‚funktioniert‘, kann man z.B. anhand des Energiecharta-Vertrags (ECT) festmachen, einem der weniger allgemein bekannten Freihandelsabkommen:
„Dieses 1998 in Kraft getretene Abkommen, das einen ‚freien‘ internationalen Energiemarkt mit 53 Mitgliedsstaaten schafft, wird seit November 2017 neu verhandelt. Auf der Basis dieses Abkommens können private Unternehmen jeden Staat, der ihren Interessen zuwiderlaufende Entscheidungen trifft, vor einem Schiedsgericht verklagen, das mit sehr weitreichenden Befugnissen ausgestattet ist – so geschehen etwa beim Atomausstieg in Deutschland, einem Moratorium für Offshore-Bohrungen in Italien oder der Schließung von Kohlekraftwerken in den Niederlanden. Bis Ende März [2020] waren mindestens 129 Fälle Gegenstand eines solchen Schlichtungsverfahrens. Staaten wurden dabei zu Zahlungen im Gesamtwert von umgerechnet mehr als 46 Milliarden Euro verurteilt. Im vergangenen Dezember haben 278 Gewerkschaften und Vereine die Europäische Union zum Ausstieg aus diesem Vertrag aufgefordert, weil er mit der Umsetzung des Pariser Klimaabkommens unvereinbar ist“ (Descamps/Leber 2020, 8, vgl. ECDS 2020).
>> Daneben gibt es selbstredend auch eine Reihe von Klagen gegen Unternehmen und gegen Staaten, die auf mehr Klimaschutz insistieren, siehe dazu Abschnitt Klimaschäden vor Gericht: Gerichtsprozesse als Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise, S. 657ff.
Hochproblematisch ist, dass
diese drohenden Klagen vielleicht nicht den Handel schädigen, aber u.U. verzögern/verhindern, dass Unternehmen und Staaten zugunsten der Klimakrise insHandeln kommen.
bereits die bloße Klageandrohung auf Schadensersatz bereits entscheidenden Einfluss auf Gesetzgebungen eigentlich souveräner Staaten haben kann.
finanzielle Ressourcen von Staaten in Gerichts- und Urteilskosten an anderen Stellen fehlen können. Das mag bei einer Handvoll Verfahren kein Argument darstellen, doch allein Argentinien wurde bereits 52 Mal vor internationalen Schiedsgerichten verklagt (vgl. Endres/Koschnitzke 2014).
weiterhin und in diversen Regionen der Welt eine Reihe weiterer Freihandelsabkommen in Vorbereitung sind mit ebensolchen Schiedsgerichtsbarkeiten und Investitionsschutzklauseln.
Investitionsschutzklauseln Pseudo-Investitionen fördern, also Investitionen, die teilweise oder ausschließlich getätigt wurden, um Schadensersatz zu fordern.
Zwar kann ein Land unilateral z.B. aus ECT austreten. Doch verfügt die sog. ‚Zombie-Klausel‘, gemäß der für alle Investitionen, die vor Austritt erfolgten, weiterhin für einen Zeitraum von 20 Jahren Klagen möglich sind (vgl. Umweltinstitut o.J., 13).
Geschäftsmodell ‚Entschädigung‘
Vattenfall hat 2016 „sämtliche[] Braunkohletagebaue und -kraftwerke in der Lausitz … an den tschechischen Investor EPH [(Energetický a Průmyslový Holding) verkauft]“ (Meier 2016). Der BUND-Landesgeschäftsführer von Brandenburg, Axel Kruschat, stellte seinerzeit dazu fest: „Vattenfall wollte mit Stromverkauf Geld verdienen. Das funktioniert jetzt nicht mehr. EPH hingegen spekuliert nur. Die Firma setzt darauf, … sich die Schließung der Kraftwerke versilbern zu lassen. Das sind genehmigte Kraftwerke und es gibt keinen CO2-Grenzwert. Solange diese Kraftwerke funktionieren, können sie im Prinzip laufen. Wenn die Bundesregierung will, dass diese Kraftwerke CO2 einsparen, müssen sie abgeschaltet werden. Es müsste dann eine Entschädigung geben. Auf diese Entschädigung zu spekulieren ist das Geschäftsmodell von EPH“ (zit. in Meier 2016).
Nun, das scheint ganz gut ‚funktioniert‘ zu haben, der Spiegel spiegelt ungewöhnlich kritiklos die Worte des Finanzministers Olaf Scholz wider:
„Durch den geplanten Ausstieg aus der Kohle-Stromgewinnung werden Konzerne wie RWE, EnBW, Uniper und der tschechische Versorger EPH mit seinen ostdeutschen Gesellschaften Leag und Mibrag ihre Anlagen früher schließen müssen und daher weniger daran verdienen können als geplant. Das soll nun von staatlicher Seite ausgeglichen werden“ (2020).
„Im Rahmen des Kohleausstiegs wurden der LEAG bzw. dem Mutterkonzern EPH 1,75 Milliarden Euro an Schadensersatz für ‚entgangene Gewinne in der Zukunft‘ angekündigt“ (BVB 2020).
…mehr
Gleichzeitig sind die 1,7 Mrd. Euro, die (der zu 100% staatliche schwedische Konzern) Vattenfall an EPH für die spätere Renaturierung des Tagebaue überwiesen hat, nach Angaben von Greenpeace „in den Büchern der LEAG nicht auffindbar“ (Greenpeace 2019, Stand: 7.1.2019, vgl. Greenpeace 2018). Gleichwohl ist nach derzeitigem Stand von der o.g. Entschädigungssumme für EPH auszugehen. Offen bleibt, weshalb man hier nicht stringenter vorgeht und Transparenz auferlegt – und ob dies am Ende des Tagebaus einer von den vielen Fällen sein wird, in dem die Gewinne privatisiert und die Schäden vergesellschaftet werden.
Wieso ‚funktioniert‘ das? Man könnte doch durchaus darüber nachdenken, ob die „vorsätzliche Spekulation auf Entschädigungen“ nicht vielmehr sittenwidrig ist und die gegenständlichen Verträge unwirksam werden und entsprechende Forderungen folglich ins Leere zu gehen haben.
Meines Erachtens ist jede derzeit geplante und im Bau befindliche Ölplattform, jedes größere oder langfristigere Investment in fossile Energien mindestens teilweise auf der Idee des Geschäftsmodells ‚Entschädigung‘ aufgebaut oder selbiges zur alternativen Refinanzierung vorgesehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Richter*innen, die sich künftig vermehrt mit solchen Vorgängen zu beschäftigen haben, ab einem bestimmten Zeitpunkt – man könnte diesen anhand der Ausführungen des Pariser Abkommens errechnen und möglicherweise liegt er schon jetzt in der Vergangenheit – keine Schadensersatze mehr zulassen. In dem Moment, in dem ein derartiges höchstrichterliches Urteil in einem G7-Staat ergeht, bricht die fossile Industrie, wie wir sie kennen, mutmaßlich in sich zusammen. Ein solcher Schnitt wäre schmerzhaft aber Türen öffnend.
Pointierter ausgedrückt: Wer heute ein Ölplattform baut, macht sich im Grunde lächerlich, wenn er für deren Stilllegung Schadensersatz haben will.
Freihandelsabkommen und der Globale Süden
Regeln bevorzugen i.d.R. diejenigen, die sie aufgestellt haben,…
…sodass die oft nicht aufgeworfene wichtige Frage lautet, wem Freihandelsabkommen eigentlich vorderhand nützen, einerseits trivial ist, aber andererseits dennoch unbedingt gestellt zu werden hat:
So
„kann es sehr sinnvoll sein, gezielt auf Protektionismus zu setzen. Dies gilt vor allem für Entwicklungsländer, die den technologischen Abstand zu den Marktführern aufholen wollen… [– so haben es in der Frühzeit der Industrialisierung auch die Entwicklungsländer Deutschland, Frankreich und die USA gemacht.] Die heutigen Entwicklungsländer haben es allerdings ungleich schwerer, die technologische Kluft zu überwinden…: Durch den technologischen Fortschritt steigt die Mindestgröße, die eine Fabrik haben muss, stetig. Selbst große Länder wie Argentinien sind längst zu klein, um eine eigene Autofabrik aufzumachen. … Kleinere Entwicklungsländer können diesen Weg nicht mehr gehen – und befinden sich in einer Falle. Sie sind auf den weltweiten Freihandel angewiesen, damit sie für ihre Produkte einen hinreichend großen Markt finden. Gleichzeitig begünstigt aber genau dieser Freihandel vor allem die etablierten Industrieländer, die technologisch überlegen sind und daher Konkurrenz nicht fürchten müssen“ (Hermann 2019, 62).
Sicher gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Argumente. Im Ergebnis machen allzu freie, d.h. deregulierte Freihandelsabkommen durch die konkurrenzlos billigen Produkte der Industrienationen – wie zum Beispiel Fleisch – die heimischen Märkte des Globalen Südens kaputt. Das bedeutet z.B. bezogen auf Deutschland, dass das die deutsche Wirtschaftpolitik die deutsche Entwicklungspolitik komplett konterkariert.
>> vgl. Abschnitt Landwirtschaft global: Der destruktive Kreislauf rund um die Fleischindustrie, S. 593ff.
Fazit: Freihandelsabkommen nützen eher den ‚Großen‘ und schaden tendenziell den ‚Kleinen‘, indem sie sie kleinhalten, weil der Vorsprung der ‚Großen‘ einfach uneinholbar ist.
Wenn Sie als Besitzer*in einer kleinen Manufaktur in Afrika bei einem Großkonzern in Europa anrufen und über eine künftige Geschäftsbeziehung verhandeln möchten innerhalb bestimmter (Freihandels-)Regeln, die die Industrienationen formuliert haben und die teilweise an den Gesetzen ihres Landes vorbeigehen, dann haben Sie keine gute Verhandlungsposition, und das gilt umso mehr, wenn ihre Mitmenschen Hunger haben. So simpel ist es eigentlich.
Zusammengenommen bedeutet das, dass Freihandelsabkommen letztlich und vor allem eine Variante der neokolonialistischen Weltordnung darstellen bzw. selbige auch im 21. Jahrhundert weiterhin festzurren.
Noch ein Freihandelsabkommen: Das EU-Mercosur-Abkommen
Aktuellste Variante der Freihandelsabkommen mit (neo-)kolonialistischem Beigeschmack ist das bereits seit 20 Jahren verhandelte und 2019 unterschriebene, aber noch nicht ratifizierte1 ‚Assoziationsabkommen‘ mit der südamerikanischen Zollunion Mercosur, das EU-Mercosur2-Abkommen, welches gemäß Greenpeace und 57 weiteren unterzeichnenden NGOs mit den Sachverhalten ‚Abholzung des Amazonasregenwaldes‘, ‚Fleischexporte‘, ‚Soja- und Zuckerrohranbau‘, [‚Biokraftstoffe‘,] ‚Verschärfung der Klimakrise‘, ‚Zunahme von Menschenrechtsverletzungen‘, ‚Absatzförderung für besonders klimaschädliche Autos‘[, die in Deutschland künftig weniger abgesetzt werden können und deshalb bevorzugt in den Export gehen sollen], ‚Gentechnik- und Pestizideinsatz‘ sowie ‚Gewässerverschmutzung‘ konnotiert ist (vgl. 2020).
Zusammenfassend enthält dieses Abkommen in seiner derzeitigen Form vereinfacht ausgedrückt offensichtlich all das, was Präsidenten wie Bolsonaro klasse finden und all das, was diese Welt definitiv nicht braucht.
>> s.a. Aspekt Glyphosat und Mercosur, S. 569.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Österreich und die Niederlande haben die Ratifizierung von ‚EU-Mercosur‘ abgelehnt, vgl. Longin 2020, 8.
2 Mitgliedsstaaten der Zollunion ‚Mercado Común del Sur‘ (Gemeinsamer Markt des Südens): Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay
Daran wollen wir die EU und explizit Macron messen:
Je l’ai dit, le répète: on ne signera plus d’accords avec des puissances qui ne respectent pas l’Accord de Paris sur le climat.
I repeat: We will not sign trade agreements with countries not honoring the Paris Agreement on climate action.
Ich wiederhole: Wir werden keine Handelsabkommen mit Ländern schließen, die das Pariser Klimaschutzabkommen nicht respektieren.
Emmanuel Macron, Januar 2020
Fazit ‚Freihandelsabkommen und Investitionsschutz vs. Klimaschutz‘
Freihandelsabkommen haben die Potenz, Klimaschutz weitgehend zu sabotieren und unmöglich zu machen sowie den IST-Zustand zugunsten einiger Global Player und ihrer Aktionär*innen zu zementieren. Andererseits zeigt sich z.B. in Covid-19-Zeiten, wie schnell Regulierungen der Realität angepasst oder sogar verworfen werden, wenn unbedingt erforderlich. Insofern könnte es sein, dass Freihandelsabkommen schneller nur noch bedrucktes Papier sind, als deren Verfechter*innen glauben mögen. Die Frage ist, ob es dann nicht schon zu spät ist. Letztlich könnten das Beharren auf den Freihandelsabkommen und die dazugehörigen internationalen, politischen und juristischen Auseinandersetzungen die Menschheit genau die Zeit kosten, die die Menschheit gebraucht hätte, um die ganz große Katastrophe zu verhindern.
Thunberg/Neubauer et al. formulieren es in ihrem von mehr als 125.000 Menschen unterschriebenen (Stand 26.8.2020) offenen Brief an die EU im Juli 2020 so:
„Wenn wir eine Klimakatastrophe verhindern sollen, müssen wir es möglich machen, Verträge aufzulösen und bestehende Geschäfte und Vereinbarungen über Bord zu werfen, und zwar in einem Ausmaß, das wir uns heute nicht einmal im Ansatz vorstellen können. Und diese Art des Handelns ist politisch, wirtschaftlich und rechtlich nicht möglich innerhalb des heutigen Systems“ (übersetzt zit. in Blome 2020; vgl. Thunberg/Neubauer et al. 2020).
Geld … ist – so wie es derzeit ‚funktioniert‘ – ein weltweiter Virus, der den Menschen mit flackernden Dollarzeichen in den Augen erbarmungslos alles zerstören lässt und erst mit dem Ableben des Wirtes ‚Spezies Mensch‘ selbst stirbt.
Wir könnten aber auch die Funktionsweise des von uns erschaffenen anthropogenen Geldes ändern. Wir haben die Spielregeln entworfen – wir können sie ändern.
Quellen des Abschnitts Geld regiert die Welt? – Tödlicher Lobbyismus, Medienlogik, Freihandelsabkommen
Descamps, Phillipe und Lebel, Thierry (2020): „Corona-Schock und Klimapolitik“. in: Le Monde diplomatique. [Deutsche Ausgabe]. Mai 2020, S. 1 u. 8.
Deininger, Roman (2020): „War was? Australien rappelt sich gerade wieder auf nach diesem Sommer des Feuers. Aber wer glaubt, dass das Land sich verändert hat, kennt es nicht“. in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 44, 22./23.2.2020, S. 3.
Hermann, Ulrike (2019): „Zum Freihandel gezwungen“. in: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 62-63.
Joeres, Annika (2020): „‚Wir müssen unsere Gegner kennen‘“. [Jutta Dittmann und Lara Eckstein interviewen Susanne Götze und Annika Joeres]. in: tageszeitung, 26.6.2020, S. 5.
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer. (Der Originaltitel ist besser gewählt: This Changes Everything: Capitalism vs. Climate.
… zurück zu Aspekt ‚Berichterstattung würde 900.000 Mio-Dollar anders aussehen‘:
Nun ist es so, dass vielen Menschen nicht ganz unsympathisch ist, was Lobbyist*innenen uns auftischen: Denn die sprechen natürlich alles in allem von einem bequemen ‚weiter so‘:
Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen.
Wir alle haben unsere Unschärfen und haben Gedanken(-muster) qua Erziehung, Erfahrungen, Sozialisation, Gesellschaft und Medien übernommen ohne sie zu hinterfragen1 – und diese sind als Glaubenssätze tief in unserem Hirn eingefräst. Das macht die so verankerten Dinge aber nicht notwendig wahr und richtig.
Details: Erläuterungen zu (1)
1Noch schlimmer: Sie sind da, ohne das es uns wirklich bewusst ist, ohne dass wir sie fassen können – sodass es schwierig ist, sie zu reflektieren. Kaum haben wir sie hinterfragt, haben sie sich am nächsten Tag u.U. schon wieder breit gemacht in unserem Kopf. Da hilft nur intensive Arbeit an den Glaubenssätzen… s.a. Aspekt Hans Roslings Grunderfahrung im Handbuch auf S. 382.
TINA – There is no alternative??? TAALOA – There are always lots of alternatives!!! | Foto: unsplash/Christian Wiediger
Wachstum – ein Naturgesetz? Du kannst Dir eine Welt nicht ohne Wachstum vorstellen? Bedeutet das automatisch, dass Wachstum per se (immer) richtig ist?
Und Kuchen ohne Eier geht nicht? Oops, Du bist nicht auf dem neuesten Stand. Das geht. Sehr gut.
Du kannst ohne Fleisch nicht leben? Nur weil Du es seit Deiner Kindheit nicht anders kennst, ist es auch wahr? – Kann es sein, dass Du nur nicht über den Tellerrand Deiner Gewohnheiten schauen magst? Ist eine solche gedankliche Unflexibilität nicht eher ein bisschen peinlich?
Ein Leben ohne Auto ist für Dich Städter*in nicht vorstellbar? Schau Dir die jungen Stadtbewohner*innen an – diese nehmen ein eigenes Auto oftmals eher als ‚Klotz am Bein‘ wahr. ‚Zugang statt Besitz‘ lautet die Formel – und schon ist man ein aufmerksamkeitsintensives Ding los, dass 23 Stunden ungenutzt vor der Tür steht (vgl. S. 296).
Der Mensch ist im Grunde schlecht? Quatsch. Die überwältigende Mehrheit der Menschen muss ‚im Grunde gut‘ sein: Andernfalls wäre schlicht keine zivile Gesellschaft lebensfähig. Es gäbe keine.
Zwei Punkte – das negative Menschenbild und das Wachstumsdogma – möchte ich im Folgenden noch einmal gezielt herausgreifen und ‚unter die Lupe‘ nehmen:
Glaubenssatz ‚Der Mensch ist im Grunde schlecht‘
Diese Grundannahme über das Leben bzw. über den Menschen, d.h. unser negatives Menschenbild, ist m.E. gerade in Deutschland äußerst tief verankert.
Das führt im Zusammenhang mit der Klimakrise und dem sechsten Massenaussterben zu einem grundlegenden Problem:
Ist man davon überzeugt, dass der Mensch unverrückbar selbstsüchtig und gierig ist, geht man mutmaßlich auch davon aus, dass HöherSchnellerWeiter, Turbokapitalismus, Umweltzerstörung unvermeidbar sind – und eine entsprechende Veränderung per se unmöglich ist.
Wäre der Glaubenssatz, der Mensch sei ‚im Grunde schlecht‘ allumfassend richtig, würde dies ein bedenkliches Licht auf die Möglichkeiten werfen, der Klimakrise und sechstes Massenaussterben mittels einer sozial-ökologischen Transformation zu begegnen.
Der niederländische Autor, Aktivist und Historiker Rutger Bregman hält zu diesem negativen Menschenbild fest:
„Dass Menschen von Natur aus egoistisch, panisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos. Der Biologe Frans de Waal spricht … von einer ‚Fassadentheorie‘. Die Zivilisation wäre demnach eine dünne Fassade, die beim geringsten Anlass einstürzen würde.“ (Bregman 2020a, 21)
Im Folgenden ist daher die Stichhaltigkeit der Fassadentheorie bzw. des negativen Menschenbildes umfassend zu prüfen entlang der Ausführungen und Untersuchungen von Rutger Bregman (Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit, 2020),Sebastian Junger (Tribe –Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit, 2017), Hans Rosling (Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, 2018) sowie von Yuval Noah Harari (Eine kurze Geschichte der Menschheit, 2015) und Hartmut Rosa („Bedürfnis nach ‚Resonanz‘“, 2016).
1. Menschen sind im Grunde gut, neigen aber zu einem negativen Weltbild.
Bregman hinterfragt in seinem beindruckenden und überaus aufwändig recherchierten Buch Im Grunde gut (2020a) das weit verbreitete negative Menschenbild, in dem er die wesentlichen Studien der Nachkriegszeit der zu diesem Zeitpunkt noch sehr jungen wissenschaftlichen Disziplin der Sozialpsychologie untersucht. Diese prägten seither maßgeblich das Menschenbild der Menschen der westlichen Industrienationen. Subtext dieser damaligen Forschungen war stets die Fragestellung „Wie konnte es zu Auschwitz kommen?“ (vgl. 187). Bregman hat diese weit wirkenden Studien jetzt auf Basis der der nunmehr geöffneten Studien-Archive erneut analysiert und auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Tatsächlich kommt er für jede einzelne dieser Studien zu dem Schluss, dass diese entweder manipuliert waren (vgl. 174), eine Fälschung darstellen (vgl. 176) oder im Versuchsaufbau inadäquat gewesen sind – und daher gar nicht das maßen, was sie vorgaben zu messen (vgl. 200)1. Im Ergebnis folgt aus diesen Studien etwas ganz anderes, wie der Psychologe Don Mixon erklärt: „Menschen sind bereit, sehr weit zugehen und schwer zu leiden, um Gutes zu tun“ (196). Bregman fügt hinzu, dass das Böse „sich immer als das Gute tarnen“ (ebd.) muss, d.h. Täter*innen z.B. in Diktaturen sind– oftmals – „davon überzeugt, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte [stehen]“ (199).
Details: Erläuterungen zu (1)
Auch die Broken Windows– sowie die Zero Tolerance-Theorie entlarvt Bregman als unwahre Varianten der Fassadentheorie, vgl. 2015, 366, 372.
Den allermeisten Menschen ist zudem eine „natürliche Abneigung gegen Gewalt“ (248) gemein. Würden heutige Menschen ihr tierisches Mittagessen persönlich schlachten müssen, die Welt wäre eine andere – und reich an Vegetarier*innen (vgl. 246). Auch Mobbingwohnt dem Menschen nicht per se inne und tritt i.d.R. nur unter durchaus vermeidbaren Vorbedingungen auf (vgl. 320). Des Weiteren hebt Bregman hervor, dass in Kriegen viele Soldaten gar nicht bzw. viel weniger schießen, als oberflächlich betrachtet zu erwarten wäre (vgl. 103, 106) und Kriegshandlungen oftmals nicht nüchtern ablaufen. Beispielsweise hatten „die Deutschen 1940 [vor dem Angriff auf Paris]… 35 Millionen Methamphetamin-Tabletten genommen… auch bekannt als Crystal Meth, eine Droge, die extrem aggressiv machen kann“ (247). Für eine im wahrsten Sinne gezielte Ausbildung zur Soldatin bzw. zum Soldaten bedarf es daher einer umfassenden Enthemmung, um auf Menschen zu schießen (vgl. 247).
Dass wir (tendenziell) ein negatives Menschenbild besitzen, hat viel damit zu tun, dass wir evolutionsbedingt „sensibler für das Böse als für das Gute“ (32) (sog. negativity bias) sind. Schlechte Erfahrungen bleiben i.d.R. länger und emotionaler in Erinnerung als gute. Das alte Journalisten-Bon-Mot Bad news are good news ist folglich wahr: Bad news sindmit mehr Gefühlen verknüpft, also aufregender und in diesem Sinne interessanter und führen potenziell zu mehr Zeitungsverkäufen.
„Das Gute im Menschen findet in der Zwischenzeit keinen Platz in der Berichterstattung. Denn das Gute ist alltäglich“ (33).
Zeitungen und Nachrichten bilden folglich nicht einmal ansatzweise die Realität ab1. Während es um 1815 möglicherweise Wochen, Monate oder gar Jahre gedauert hat, bis man in einem Dorf im Hunsrück vom Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora2 gehört hat, obwohl die Hunsrücker Ernten im „Jahr ohne Sommer“ aufgrund der Vulkanasche- und Feinstaub-bedingten geringeren Sonneneinstrahlung miserabel waren (vgl. Die andere Heimat von Edgar Reitz, 2013), erfahren wir heute quasi in Echtzeit von den jeweils schlimmsten bzw. emotionalsten Nachrichten weltweit, die mit unseren eigenen Lebensumständen i.d.R. nicht das geringste zu tun haben, uns aber gleichwohl beschäftigen und prägen. Wir sind oft weit besser über Ereignisse in den USA informiert als über Neuigkeiten unseres eigenen Stadtteils.3 Wer sich also morgens als erstes ‚Die Zeitung‘ reinzieht, ist bereits vor dem Frühstück gewissermaßen mit einer Negativität aufgeladen, die realitätsfern ist.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Rosling erwähnt, dass „über einen Zeitraum von zwei Wochen … 31 Menschen an der Schweinegrippe gestorben [waren], und eine Mediensuche in Google ergab 253.442 Artikel über die Krankheit. Das waren 8.176 Artikel pro Todesfall. Im gleichen Zeitraum… waren … etwa 63.066 Menschen an Tuberkulose (TB) gestorben“ (2018, 166). Kaum notwendig zu erwähnen, dass die TB-Opfer fast alle im Globalen Süden starben.
2 5. bis 10. April 1815, größter Vulkanausbruch „in den vorangegangenen 5000 Jahren, also in dem Zeitraum, für den wir schriftliche Quellen besitzen“ (Behringer 2020). „Erst ein halbes Jahr später, am 20. Februar 1817, stieß … [der weimarische Bergbauminister Johann Wolfgang von Goethe] im Morgenblatt für gebildete Stände auf einen Bericht über den Ausbruch des Vulkans“ (ebd., Hervorhebung Behringer). „Einen Zusammenhang zu seinem missglückten Sommer, zur Abkühlung, zum Dauerregen und zu den Missernten des Jahres 1816 stellten jedoch weder er noch die Kommentatoren der Zeitschrift her“ (ebd.). Nachfolgend stellt Behringer die massiven Folgen hinsichtlich Armut, Demographie, Migration, weltweite Gesundheit heraus.
3 Aber haben Sie auch mitbekommen, dass es zeitgleich mit den südöstlichen Waldbränden im Norden Australiens massive Starkregenfälle gab; dass die Menschen in Ostafrika „Ende 2019 die stärksten Regenfälle seit 40 Jahren“ erleben mussten und dass seit Juni 2020 „[d]as Jangtse-Gebiet… unter einer der schlimmsten Flutkatastrophen seit Jahrzehnten litt [und mit Stand Ende September]… [m]ehr als vier Millionen Menschen evakuiert wurden[?]“ (Schlak 2020, 34). Wenn Sie das wussten, sind Sie ganz vorn mit dabei – aber ich schätze, dass Sie dazu weniger wissen, als wenn ein Hurricane New Orleans erreichte.
Die Realität hingegen ist, dass in Notsituationen, wie z.B. zur Zeit des Hurricanes ‚Katrina‘ in New Orleans 2005 „dasBeste im Menschen zum Vorschein [kommt]“ (23): „[E]gal wie viel geplündert wird… es verblasst immer im Vergleich zu dem weitverbreiteten Altruismus, der zu einem großzügigen und umfangreichen Geben und Teilen von Gütern und Diensten führt“ (ebd.). Und worüber berichten die Zeitungen? Genau. Und im Falle von New Orleans schrieben sie darüber hinaus über lauter grauenvolle Dinge, deren spätere Überprüfung ergab, dass sie allesamt Fake News1 waren (vgl. 22).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 „Die Menge Energie, die nötig ist, um Bullshit zu widerlegen, ist zehnmal so groß wie die Energie, die nötig ist, um ihn zu produzieren“, so der IT-Spezialist Alberto Brandolini. Er bezieht sich eigentlich auf Softwareentwicklung, doch kann das Bonmot getrost auf Fake News, schlechte Statistiken und Zahlen angewendet werden. Die Zeit merkt dazu an: „Und als ‚Brandolinis Gesetz‘ hat es das Bullshit-Asymetrie-Prinzip bis in die Wissenschaftszeitschrift Nature geschafft“ (Kara 2018, 33).
Journalist*innen hatten und haben bei der Auswahl bevorzugt negativer Nachrichten z.B. durch die (Nicht-)Berichterstattung direkten und dabei überaus anhaltenden Einfluss auf unser aller Menschenbild. Bregman führt aus:
„Ich vertiefte mich in die akademische Literatur und stieß bald auf ein Muster: Wenn ein Wissenschaftler den Menschen als mordsüchtigen Affen darstellte, wurde diese Studie meist von Journalisten aufgegriffen. Aber wenn ein Kollege die Gewalttätigkeit des Menschen relativierte, fand das kaum Aufmerksamkeit“ (109).
Unser negatives Menschenbild prägt auch die Art, wie mit Straftäter*innen umgegangen wird – und sorgt dafür, dass es unserer Intuition widerspricht, Insass*innen von Gefängnissen sehr gute Lebensbedingungen zu bieten. Doch zeigt diese in Norwegen gelebte positive Praxis, dass es aufgrund einer ungleich niedrigeren Rückfallquote z.B. in Relation zu den USA ethisch, finanziell und gesamtgesellschaftlich viel Sinn macht, entsprechend vorzugehen (vgl. S. 360 u. Michael Moore, Doku Where To Invade Next, 2015).
Mit der Herausstellung, dass unser Weltbild viel zu negativ und daher realitätsfern ausfällt, schließt Bregman an die Studien von Hans Rosling (s.a. S. 613ff.) an, der in seinem Buch Factfulness – wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist (2018) nachweist, dass Menschen nicht nur ein immer wieder viel zu negatives Bild vom Weltgeschehen haben, sondern darüber hinaus sogar nach Beweis des Gegenteils an diesem Welt- und Menschenbild irrational-beharrlich festhalten:
„Selbst unmittelbar nach meinen Präsentationen hörte ich, wie Leute Ansichten über Armut und Bevölkerungswachstum äußerten, die ich soeben mit Fakten wiederlegt hatte“ (2018, 22).
Das Erstaunen über den irrational-beharrenden Wesenszug des Menschen zieht sich durch Roslings gesamtes 400-seitiges Buch.
Zu alledem passt auch, dass die meisten Menschen nur schwerlich in der Lage sind, positive Utopien gedanklich zu entwickeln, während Dystopien das verkaufsfördernde Salz in der Suppe eines jeden Hollywood-Blockbusters vom Schlage Armageddon (1998, mit Bruce Willis) sind.
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa bemerkt dazu:
„Das Erstaunlichste unserer modernen Gesellschaft ist, dass es uns viel leichter fällt, uns das Ende der Welt auszumalen als eine Alternative zu unserem herrschenden ökonomischen, politischen und kulturellen System“ (zit. in Opitz 2012, 253).
Zwischenfazit: Die das Menschenbild bis heute maßgeblich prägenden Studien der Nachkriegszeit haben keine Gültigkeit. Menschen wollen auf der guten Seite stehen, neigen aber dazu, die (Mit-)Welt negativer zu sehen als sie ist. Letzteres ist evolutionsgeschichtlich zu erklären.
Zur genaueren Beantwortung der Frage, ob der Mensch an sich eher gut oder schlecht ist, ist ein erweiterter Blick in eben jene Evolutionsgeschichte der Menschheit zu werfen:
2. Evolutionsgeschichte des Menschen: Survival of the friendliest
Der Mensch stammt bekanntermaßen vom Affen ab – was ihn von letzterem abhob, beschreibt der Autor, Journalist und Dokumentarfilmer Sebastian Junger in seinem 2017 veröffentlichten Buch Tribe. Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit:
„Zwei der Verhaltensweisen, die nur den [verschiedenen] frühen Menschen eigen waren, sind das systematische Teilen von Nahrung und die altruistische Verteidigung der Gruppe. Andere Primaten verhielten sich kaum so, aber die Hominiden taten es, und dieses Verhalten half, sie auf einen evolutionären Weg zu bringen, der die moderne Welt schuf. Die frühste und grundlegende Definition von Gemeinschaft – von Stamm – wäre damit: die Gruppe Menschen, die zu ernähren und zu verteidigen man helfen würde“ (142).
Bregman arbeitet ergänzend heraus, was den Homo Sapiens von (fast) allen Primaten sowie von den weiteren Vertretern der Gattung ‚Homo‘, darunter der Neandertaler (Homo neanderthalensis), unterscheidet: Weniger seine Hirnleistung o.ä. (vgl. 2020a, 75) – sondern: seine soziale Kompetenz.
„Wir waren dümmer, aber besser miteinander vernetzt“ (Bregman 92).
Der Historiker Yuval Noah Harari fügt dem hinzu:
„Wenn der Homo sapiens die Welt eroberte, dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache“ (2015, 31)1 –
die äußerst komplexe soziale Interaktionen ermöglicht.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 … und aufgrund der wohl nur beim Homo sapiens so bestehenden erzählerischen Fähigkeiten, dank der man in großen Gruppen effektiv zusammenarbeiten konnte (vgl. Harari 2015, 51).
Der russische Forscher und Genetiker Dmitri Beljajew geht über die grundlegende Abstammung von Affen hinausgehend davon aus, dass
„wir domestizierte Affen sind. Mit anderen Worten, er[, d.h. Beljajew] nahm an, dass die freundlichsten Menschen in Zehntausenden von Jahren die meisten Nachkommen gezeugt hatten: The survival of the friendliest“ (Bregman 2020a, 85).
Analog zur Haustierwerdung z.B. des Wolfes seien uns dabei Stresshormone und somit viel Aggressionspotenzial z.B. gegenüber unseresgleichen abhanden gekommen.
„Ein Jahrhundert zuvor hatte Charles Darwin bereits festgestellt, dass domestizierte Tiere – Schweine, Kaninchen, Schafe – erstaunliche[, visuell erkennbare] Ähnlichkeiten aufweisen. Sie sind etwas kleiner als ihre wilden Vorfahren. Sie haben kleinere Gehirne und Zähne… Und vielleicht das Auffälligste: Sie behalten auch nach ihrer Kindheit ein jugendliches Aussehen“ (81).
Außerdem geht man heute davon aus, dass domestizierte Tiere trotz kleinerer Gehirne intelligenter und klüger sind als ihre wilden Verwandten (vgl. 89).
Auf diese Weise – namentlich aufgrund seiner sozialen Intelligenz – konnte sich der Homo sapiens – Bregman nennt ihn nun folgerichtig „Homo puppy“ (vgl. 86f.) – mit eben diesen – vor allem kommunikativen – Eigenschaften durchsetzen gegen andere menschliche und tierische Spezies, woraus der Schluss zu ziehen ist:
„Kampf und Konkurrenz spielen eine klare Rolle in der Entwicklung des Lebens, aber jeder Erstsemesterbiologe lernt heutzutage, dass Zusammenarbeit viel ausschlaggebender ist“ (94).
Schade, dass dies nicht – am besten gleich in der Orientierungseinheit – auch Studierenden der ökonomischen Fachrichtungen à la BWL beigebracht wird.
>> Zur u.a. auch von Michael Kopatz erhobenen Forderung, Studierende der Betriebswirtschaftslehre etc. auch mit Wirtschaftsmodellen und -theorien außerhalb der Wachstumslogik vertraut zu machen siehe Abschnitt Ideen für eine nachhaltige Zukunft, S. 499.
Die Wirtschaftswissenschaften stützen ihre stark von der Fassadentheorie geprägten Theorien auf die Annahme, der Mensch sei ein Homo oeconomicus. Es wurde – so Bregman – allerdings erst um das Jahr 2000
„untersucht, ob es überhaupt einen ‚Homo oeconomicus‘ gab… Sie führten auf der Suche nach jemandem, der dem egoistischen Menschenbild entsprach, dem die Wirtschaftswissenschaftler seit Jahrzehnten anhängen, allerlei Tests mit Bauern, Nomaden, Jägern und Sammlern durch. Ohne Ergebnis. Immer wieder verhielten sich die Menschen sozial und grundgut… [Schließlich fand man das gesuchte Wesen doch:] Als Homo oeconomicus erwies sich nämlich der Schimpanse“ (35)1.
„Menschen [hingegen] tun ständig seltsame Dinge, die nicht ins behavioristische Menschenbild2 passen“ (296).
Man denke hier an Hobbys, Freiwilligenarbeit, Aktivismus, Zivilcourage oder körperliche Anstrengungen wie bspw. Bergsteigen.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Hier merkt Harari sehr schön an, dass Menschen ein einmaliges Erzähl- und Vorstellungsvermögen haben: „Das Einmalige ist, dass wir uns über Dinge austauschen können, die es gar nicht gibt. Soweit wir wissen, kann nur der Sapiens über Möglichkeiten spekulieren und Geschichten erfinden. … Einen Affen würden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringen, Ihnen einen Banane abzugeben, indem Sie ihm einen Affenhimmel ausmalen und grenzenlose Bananenschätze nach dem Tod versprechen“ (2015, 37).
2 Vereinfacht ausgedrückt ist hier gemeint, das Menschen gemäß dem Behaviorismus lernen und bestrebt sind nur Dinge zu machen, die Ihnen unmittelbare z.B. geldliche Vorteile bringen.
Auch Richard David Precht hebt hervor, dass es keineswegs Teil der biologischen Natur des Menschen ist, „bei allem, was sie herstellen, stets das Ziel verfolgen, ihr Geld zu vermehren, … Wäre dies so, hätte die Menschheit bis in die Renaissance weitgehend gegen ihre eigene Natur gelebt und täte es in manchen Teilen der Welt, etwa im Ituri-Urwald, bei den Massai oder den Mangyan auf den Philippinen noch heute“ (2018, 19).
Der Mensch ist also aus einer Survival of the friendliest-Evolution1 hervorgegangen – und war längste Zeit seiner irdischen Existenz Jäger*in und Sammler*in. Schon der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ging davon aus, dass der Mensch als Wildbeuter ein bezogen auf Mitmenschen überaus friedliches Wesen aufwies und „wir von innen heraus gut seien“ (Bregman 2020a, 64), uns jedoch die Zivilisation, d.h. die sog. Landwirtschaftliche Revolution verdorben habe (vgl. ebd., s.a. Harari 2015, 101ff.).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Durch die Abwandlung von Darwins Formulierung „Survival of the fittest“ als „survival of the friendliest“ deutet Bregman an, worin der Unterschied zwischen der Evolution des Menschen und der weiteren Tierwelt besteht. Die Darwin’sche Formulierung „Survival of the fittest“ bedeutet übrigens „Überleben des der Umwelt am besten Angepassten“. Die sozialdarwinistische Auslegung, der zufolge der Stärkste gewinne (und daraus ein ‚Recht des Stärkeren‘ abzuleiten sei), ist eine folgenreiche, aber falsche Auslegung (vgl. Neffe 2008). Man denke hier das klassische Beispiel eines Pflanzenhalms, der sich steif und starr Windböen aussetzt und irgendwann bricht, während ein besser an den Lebensbedingungen angepasster Pflanzenhalm sich flexibel dem Wind beugt, um sich dann, nach Abflauen des Windes, wieder aufzurichten und der Sonne entgegenzustrecken.
In der Tat ist es äußerst zweifelhaft, ob sich der Mensch seinerzeit einen Gefallen damit getan hat, sesshaft zu werden:
Bregman zeigt, dass die historisch ersten Kriege erst in dem Zeitraum zu verzeichnen sind, als Menschen ihr Dasein als Jäger*innen und Sammler*innen aufgaben und sesshaft wurden: „Zehntausende Jahre sind wir als Nomaden über die Erde gezogen und Konflikten aus dem Weg gegangen“ (226, vgl. 116). „Höhlenmaler begannen [im Unterschied zu vorher], Bilder von Bogenschützen zu zeichnen, die einander angriffen“ (124). „Mit dem Aufkommen der ersten großen Siedlungen begann sich das religiöse Leben radikal zu verändern. Zum ersten Mal glaubten die Menschen an mächtige und rachsüchtige Götter“ (130). Und: „Mit der Erfindung des Privateigentums und der Landwirtschaft ging die Zeit des Proto-Feminismus zu Ende… Das Patriachat war geboren“ (127-128) sowie allgemein profundere Herrschaftsstrukturen. Ergo: „Was wir heutzutage ‚Meilensteine der Zivilisation‘ nennen – die Erfindung von Geld, Schrift und Rechtsprechung –, waren ursprünglich Meilensteine der Unterdrückung“ (133).
Diese Beschreibungen legen nahe, dass wir Menschen mit den Folgen der landwirtschaftlichen Revolutionen nicht gut umgehen konnten und können. Gerne würden wir die Dinge dennoch positiv gestalten, weshalb wir in Gruppenprozessen – normalerweise – „die bescheidensten und freundlichsten Typen zum Anführer wählen“ (255).
Für solche Hierarchien sind wir Menschen jedoch nur bedingt geeignet, weshalb es passieren kann, dass, „sobald diese Führer an der Spitze stehen, … ihnen die Macht zu Kopfe steigt“ (ebd.).
Bregman hält dazu fest:
„Machtgefühle [stören] einen mentalen Prozess…, den Wissenschaftler auch als ‚Spiegelung‘ bezeichnen, einen Prozess, der eine wichtige Rolle bei der Empathie spielt. Normalerweise ist der Mensch ein sich durch und durch spiegelndes Wesen. Wenn jemand lacht, lachen wir ebenfalls. Wenn jemand gähnt, gähnen wir mit. Aber die Mächtigen spiegeln seltener. Es ist, als wären sie nicht mehr mit anderen Menschen verbunden. Als wäre der Stecker gezogen“ (253-254).
Daneben gibt es die elite panic, die „entsteht, weil die Machthaber die Menschheit für ihr eigenes Ebenbild halten“ (Rebecca Solnit zit. in Bregman 2020a, 24).
Macht ist nichts, was dem Menschen ureigen ist, denn eigentlich möchte er Teil der Gemeinschaft sein.
…mehr
Und weil er eigentlich Teil der Gemeinschaft ist bzw. sein möchte, fällt es ihm auch schwer auszuscheren und „gegen die Gruppe aufzutreten“ (Bregman 2020a, 290). Das ist sozusagen eine Art Machtanmaßung, ohne diese zu besitzen – und weil man diesen Status nicht hat, kann man sich auch kaum abgrenzen, zumal man es sich ja nicht verscherzen möchte.
Macht vereinzelt, isoliert – und entmenschlicht daher. So stellte bereits Astrid Lindgren äußerst treffend fest:
„Macht zu haben und sie nicht zu missbrauchen, ist wohl das Schwerste, was es im Leben gibt“ (zit. in Deggerich 2002).
Umgekehrt üben Macht, Berühmtheit und Geld auf manche Menschen eine merkwürdige Anziehungskraft aus.
Ernsthaft. Bitte gebt dem nicht nach.
Wer auf großem Fuß lebt, tritt mit dem selbigen den Planeten in den Allerwertesten.
Es bedarf hier eines radikalen Aufmerksamkeitsentzugs – und evtl. eines Überdenkens der eigenen psychischen Befindlichkeit…
Könnten wir bitte aufhören, Menschen für ihr Vielfliegertum, Managergehabe und für ihre Protzerei zu bewundern?1
Details: Erläuterungen zu (1)
Gehen wir hier mal tief ins Detail: Der Tourismusforscher Stephan Gössling hat 2019 für das Jahr 2017 das Flugreiseverhalten von zehn Prominenten, darunter Bill Gates (59 Flüge mit 356 Flugstunden=1.629,4 t CO2, d.h. Bill Gates war 2017 rechnerisch täglich eine Stunde lang ‚über den Wolken‘ bzw. 14 Tage lang gar nicht auf dem Boden), Mark Zuckerberg (44|110|485,1), André Schürrle (36|86|18,3), Jennifer (Lopez 77|233|1.051,0) und Paris Hilton (68|286|1.261,3) (vgl. S. 9 u. 12) akribisch untersucht. Die/der durchschnittliche US-Amerikaner*in verbraucht 17,1t CO2 pro Jahr (vgl. S. 72), ein*e Deutsche*r 11,17t, ein*e Nigerianer*in 0,08396t – der weltweite Durchschnittsverbrauch liegt bei etwa 5t. Das bedeutet, dass Bill Gates allein aufgrund seines ‚Flugverhaltens‘ – seine sonstigen ‚CO2-Lebenshaltungskosten‘, die auch nicht soooo niedrig sein werden, nicht eingerechnet, für den Planeten eine etwa 100x stärkere Belastung darstellt als Durchschnittsamerikaner*innen hinsichtlich ihres gesamten Lebensstils. Bezogen auf Deutschland = Faktor 133, auf Nigeria = 19.057, auf den globalen Durchschnitt = 320. Bill Gates nimmt sich heraus, fast 20.000 Mal so viel CO2 per Flugzeug in die Luft zu jagen wie ein(e) durchschnittliche*r Nigerianer*in per Lebensstil. Stephan Gössling setzt den globalen Durchschnittswert für ‚jährliche CO2-Emissionen pro Kopf aufgrund Fliegens‘ auf 0,1 t (vgl. Hutsteiner 2019). Daraus ergibt sich, dass Bill Gates 16.000 Mal mehr CO2 durch Fliegen verursacht als der Durchschnittsmensch. Auf das 1,5 °C-Ziel (67%) bezogen steht jedem Menschen am 3.6.2020 gegen 12 Uhr mittags noch ein Gesamtbudget von 40,8 t zur Verfügung – nicht für ein Jahr, sondern für die gesamte Zukunft (vgl. Handbuch S. 72). Mr. Gates beansprucht folglich das Lebens-CO2-Restbudget von rechnerisch 39,95 Menschen. Mit welchem Recht? Auch für die anderen hier genannten Promis und viele, viele weitere Vielflieger*innen und Privatjetter*innen ergeben sich logischerweise groteske Werte für eine solche Statistik. Was für eine Gegenleistung erbringt Paris Hilton für diese Erdbelastung? Nun, in meinen Augen: Keine. In den Augen von zusammengenommen 175 Millionen Instagram-Followern der 10 hier analysierten Promis (vgl. Gössling 2019, 13) mag das anders aussehen – für viele dieser oft jüngeren Follower*innen handelt es sich hier mindestens teilweise um Rollenvorbilder: „Followers, and in particular younger people, may embrace frequent flier identities as a social norm established by celebrities. This would primarily include positive associations with flight, specifically when following the ‚carbon boomer’ celebrity type“ (ebd.). Diese Art von Hybris führt auch zu merkwürdigen Begebenheiten wie z.B., dass der Bayern-Spieler Corentin Tolisso seinen Tätowierer im Januar 2021 (nebenbei bemerkt: mitten im Corona-Lockdown) aus Spanien einfliegen lässt (vgl. Kilchenstein 2021) und Christiano Ronaldo einen Monat später „seine Katze per Privatjet zum Tierarzt [schickt]“ (Spiegel 2021). Wie sollte man das angesichts der Weltlage und der bedrohten planetaren Grenzen anders bezeichnen als als lebensverachtend?
Zwischenfazit: Der Mensch ist Mensch geworden, weil er sich vernetzt, für seine Gruppe einsteht1 und auch Dinge macht, die ihm keinen unmittelbaren persönlichen Vorteil erbringen. Als er sesshaft wurde, nahmen Konflikte in allen Bereichen zu, weil er nun ein Leben führte, für das er qua Evolution nicht vorgesehen war: Vermehrt kamen Besitz, Macht, Hierarchie, Ungleichheit, Patriachat, Abgrenzung und Egoismus ins Spiel. Und damit vermehrt auch der abwärtsgerichtete soziale Vergleich, wie der Kognitionspsychologe Christian Stöcker feststellt: „Der ganze Kapitalismus von heute funktioniert nur, weil abwärtsgerichteter sozialer Vergleich – mein Erfolg, dein Misserfolg – ein so effektiver Motivator ist“ (2016).2
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Die Bildung einer Gruppe setzt – so wie der Mensch es handhabt – i.d.R. auch eine Abgrenzung nach außen voraus, um der Gruppe eine eigene Identität zu verleihen, sie zu definieren, zu stabilisieren bzw. stabil zu halten. Harari führt dazu über Fremdenfeindlichkeit hinausgehend aus, dass „[d]er Homo sapiens … nicht gerade für seine Toleranz bekannt [ist]. In der Geschichte der Art reichte oft schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe, Dialekt oder Religion, damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete (2015, 29).
2 Dieser Prozess mündet schnell in Verachtung – eine „Methode der Selbstwertsteigerung“ (Stöcker 2016), die, so möchte ich hinzufügen, besonders dort zum Einsatz kommt, wo eigentlich Unsicherheit, mangelndes Selbstmitgefühl (vgl. Neff 2012) und Selbstentfremdung dominiert.
3. Menschen sind soziale Wesen – und wollen vor allem eines: Sinnstiftung.
Wenn man die Fassadentheorie unter dem Aspekt ‚angeblicher Egoismus des Menschen‘ betrachtet sowie die Punkte „Zusammenarbeit/Kooperation statt Konkurrenz“ und „in Notsituationen kommt das Beste zum Vorschein“ zusammennimmt, landet man unweigerlich erneut bei Sebastian Jungers Buch Tribe. Auf ganz andere Weise als Bronnie Wares 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen (2011)1 zeigt Junger auf, was Menschen eigentlich wichtig ist und was sie/er (abseits der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlaf, Sicherheit etc.) zum Wohlfühlen benötigt:
6 min – Der Kurzfilm EL EMPLEO / THE EMPLOYMENT (2008) zeigt sehr beeindruckend, wie das Leben eher nicht laufen sollte… siehe https://youtu.be/cxUuU1jwMgM (Abrufdatum 21.2.2021)
Die „Theorie der Selbstdetermination… besagt, das der Mensch dreier grundlegender Voraussetzungen bedarf, um zufrieden zu sein: Er muss das Gefühl haben, seine Arbeit kompetent verrichten zu können, sein Leben muss ihm authentisch erscheinen, und er braucht das Empfinden, mit anderen Menschen in Verbindung zu stehen. Diese Werte gelten als ‚intrinsisch‘, was menschliches Glück betrifft, und wiegen weitaus schwerer als ‚extrinsische‘ Werte wie Schönheit, Geld oder Status“ (Junger 2017, 44).
Menschen fühlen sich intensiv mit anderen Menschen verbunden, wenn sie sich von ihnen ‚gesehen‘ fühlen – das ist Sinnstiftung pur: Menschen wollen gebraucht werden bzw. sich als nützlich empfinden, für andere Menschen da sein, d.h. für die Gemeinschaft. Dann wissen sie, wofür sie leben.2
>> vgl. Aspekt ‚Dana Meadows lehrte uns: ‚Menschen brauchen keine riesigen Autos; sie brauchen Respekt‘, S. 442 im Abschnitt Wir müssen ran an unser ökonomisches System, S. 438.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Harald Welzer weist darauf hin, dass „[d]as metaphysische Programm der Moderne … in der Überwindung von Endlichkeit [besteht], ihre Wirtschaftsform ist der säkulare Versuch der Überwindung des Todes“ (2016, 208), weshalb er total ausgeblendet wird, ausgeblendet werden muss, denn, wenn es ans eigene Sterben geht oder Schicksalsschläge passieren, „spielen die [weltlichen] Dinge, die kurz vorher noch enorm wichtig erschienen… so gar keine Rolle mehr“ (ebd. 209), sodass also Konsumismus in einer Gesellschaft, die den Tod weniger stark negiert, eigentlich keinen Sinn machen würde.
2 Hinzu tritt die sog. Generativität – das sinnstiftende Bedürfnis, „sich in einen größeren Zusammenhang eingebunden zu fühlen“ (Schnabel 2018, 192) und „etwas an andere Generationen weiterzugeben und zum ‚großen Ganzen‘ beizutragen“ (ebd.), vgl. Abschnitt EinseitigeKündigung des Generationenvertrages, S. 232).
Doch die moderne Ellbogen-Leistungsgesellschaft steht dem diametral entgehen – und es gibt immer weniger Lebensbereiche, in denen Gemeinschaft im Vordergrund steht.
Sebastian Junger pointiert:
Menschen möchten dem o.g. „Gefühl der Nutzlosigkeit“ entgehen, sodass 13 Mio Views kein Zufalls sind, siehe Julia Engelmann: One Day/Reckoning Text (Eines Tages Baby…) beim „5. Bielefelder Hörsaal-Slam“, Campus TV 2013, online unter https://youtu.be/DoxqZWvt7g8 (Abrufdatum 21.2.2021) (Länge: 6 min)
„Die moderne Gesellschaft hat die Kunst perfektioniert, den Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben“ (Junger 2017, 19)1.
Mit entsprechenden Konsequenzen:
„Wo Wohlstand und Urbanisierung einer Gesellschaft zunehmen, steigen Depressions- und Selbstmordraten in der Regel eher, als dass sie sinken“ (41).2
„Laut einer Untersuchung durch die Weltgesundheitsorganisation WHO leiden die Menschen in reichen Ländern achtmal so oft an Depressionen wie die in ärmeren Ländern“ (42).
Entgegen unserem intuitiven Gefühl kann in Krisen- und Kriegszeiten die Anzahl der psychischen Erkrankungen und Suizide sinken:
„Vor dem [Zweiten Welt-]Krieg wurde [in Großbritannien] vier Millionen Menschen der psychische Zusammenbruch prognostiziert, aber obwohl der ‚Blitz‘ anhielt, registrierten die psychiatrischen Kliniken im ganzen Land sinkende Aufnahmezahlen. … Psychiater beobachteten irritiert, dass Langzeitpatienten erlebten, wie ihre Symptome während der Zeit starker Luftangriffe abklangen. Die Anzahl freiwilliger Selbsteinweisungen in die Psychiatrie nahm auffällig ab, und sogar Epileptiker berichteten, dass ihre Anfälle seltener wurden. ‚In Friedenszeiten chronisch neurotische Menschen fahren jetzt Krankenwagen‘, bemerkte ein Arzt“ (73-74).
„‚Wenn Menschen sich aktiv für eine Sache engagieren, sehen sie mehr Sinn in ihrem Leben… und daraus resultiert die Besserung ihrer mentalen Gesundheit‘, schrieb [der irische Psychologe H.A.] Lyons 1979 im Journal of Psychosomatic Research“ (75)3.
Doch steht und fällt diese Aussage eben mit dem ‚gefühlten Sinn‘ bzw. dem nicht gefühlten Sinn. Und zwischen ‚destruktiver Krise‘ und ‚das füreinander Einstehen in einer Krise‘ liegt ein schmaler Grad. Bezogen auf die Folgen der derzeitigen Corona-Krise hält die Psychologin Tanja Michael in der SZ fest: „Von früheren Krisen wie der Deepwater-Horizon-Ölkatastrophe wissen wir aber: Viele Menschen werden danach sehr erschöpft sein, weil sie jetzt bis an ihre Grenzen und darüber hinaus gearbeitet haben. Viele Menschen werden in dieser Zeit häusliche Gewalt erlebt haben. Und es werden mehr Menschen an psychischen Störungen erkrankt sein.“
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Dies gilt allgemein – und auch explizit für allzu viele Jobs, die so öde bzw. frustrierend sind, dass viele Menschen den Job ausschließlich als Mittel zum Zweck, d.h. zum Zweck der Geldbeschaffung z.B. für Kompensationen in der Freizeit ansehen.
2 Über die USA der 1950er Jahre schreibt Jörg-Uwe Albig: „Freigiebig verteilte Kredite lassen auch den Familien mit klammen Geldbörsen keine Ausrede mehr, sich vor dem Konsumwettlauf mit dem Nachbarn zu drücken… Der Überbietungskrieg der Konsumenten nimmt solche Ausmaße an, dass Kritiker die Vorstadt als ‚Ulcerville‘, als ‚Magengeschwürstadt‘, beschreiben – und selbst der Ärzteverband [in den 1950er Jahren] mit strengen Worten vor dem Stress des Kaufwettbewerbs warnt. Beruhigungsmittel werden nun zu Massendrogen: 1957 schreiben [US-]Amerikas Ärzte fast 40 Millionen Rezepte für Tranquilizer aus“ (2020, 63).
3 In dem populärpsychologischen Klassiker Sorge Dich nicht – lebe! (1948)vonDale Carnegie (1888-1955) wird der Arzt u. Psychologe Alfred Adler (1870-1937) zitiert, der seinen Patient*innen riet: „Sie können in vierzehn Tagen geheilt sein, wenn Sie folgenden Rat beherzigen: Bemühen Sie sich jeden Tag herauszufinden, wie Sie jemand eine Freude machen können“ (2009, 217).
15 min – Was macht eigentlich ein gutes Leben aus? Robert Waldinger spricht in seinem TEDtalk über eine 75 Jahre laufende Langzeitstudie, die hier wesentliche Erkenntnisse hervorgebracht hat, online unter https://youtu.be/q-7zAkwAOYg (Abrufdatum 23.2.2021)
Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet das Urbedürfnis des Menschen, welches Junger in Tribe beschreibt, als das Bedürfnis nach ‚Resonanz‘: Auch er sieht Konsum, dem immer etwas Passives anhaftet, als bequemes und psychologisch letztlich nicht ausreichendes Surrogat für das aktive, sinnstiftende In-der-Welt-sein, bzw. Mit-der-Welt-Verbundensein: „Der Massenkonsum war das Heilsversprechen der nivellierten Mittelstandsgesellschaft und später einer globalisierten Klasse von Käufern. Was wirklich fehle zum Glück, so Rosa, sei eine antwortende Welt. Resonanzerfahrungen macht der Mensch beim Essen, beim Lachen, beim Lieben“ (Kern 2019): „‚Wenn Beschleunigung das Problem ist, ist Resonanz vielleicht die Lösung‘“ (ebd.), konstatiert Rosa.
Umweltpsychologe Gerhard Reese weist in diesem Zusammenhang auf eine mögliche Sicht auf die Welt:
„Es gibt einen Ansatz, der nennt sich … ‚Globale Identität‘ oder ‚Identifikation mit der gesamten Menschheit‘ – und der Ansatz geht davon aus, dass, wenn wir es schaffen uns quasi mit der gesamten Menschheit als Gruppe zu sehen und mit dieser Gruppe zu identifizieren und dann durch diese Identifikation erleben, dass alle Menschen die gleichen Rechte, die gleichen Pflichten, den gleichen Wert haben, dass diese Identifikation uns motiviert uns eher klimaschützend zu verhalten“ (2020).
Junger ergänzt:
„Katastrophen… bringen eine ‚Leidensgemeinschaft‘ hervor, welche den Individuen ermöglicht, eine ungeheuer beruhigende Verbindung zu anderen zu erfahren. Wenn Menschen angesichts einer existenziellen Bedrohung zusammenkommen, verwischen sich… zeitweilig die Klassenunterschiede…, Einkommensunterschiede … [und] Rassenzugehörigkeit spielt keine Rolle. Individuen werden allein danach eingeschätzt, was sie für die Gruppe zu tun bereit sind“ (Junger 2017, 80).
In abgespeckter Form kann diesen inneren Prozess jede*r erleben durch ein plötzliches Abweichen von der alltäglichen Routine, etwa durch ein schweres Gewitter, das man mit bislang unbekannten Menschen z.B. unter einem Hausvordach erlebt. Umgehend entsteht eine Verbundenheit, Gemeinschaft und Verbindlichkeit, die sich unter alltäglichen Umständen unter diesen zusammengewürfelten Menschen mutmaßlich nie entwickelt hätte. Und schon ist das Leben gefühlt: sinnvoll.
In Alltagszeiten der Stabilität einer modernen Leistungsgesellschaft hingegen suchen viele Menschen im Außen, was sie nach übereinstimmender Auffassung von Psycholog*innen, Philosoph*innen etc. nur im Innen finden können. Um diesem Gefühl der erschöpften Nutzlosigkeit zu entgehen, um sich selbst in der Vereinzelung dennoch zu spüren, lässt sich der Mensch (meist) unbewusst eine Menge einfallen: Materialismus1, Konsum, Reisen, Challenges, die Sucht nach Ruhm und Geld… aber eigentlich sind das nur Surrogate.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Der US-amerikanische Psychologe Tim Kassler hat „herausgefunden, dass Materialismus sowohl Ausdruck als auch Ursache von Unsicherheit und Unzufriedenheit ist. Das ist so, weil er primär die extrinsische – also von außen kommende [und inhaltlich/zeitlich weniger wirkstarke] – Motivation und Rückbestätigung von Menschen anspricht… [M]it der wachsenden materiellen Orientierung [wächst] auch die individuelle Anspannung sowie die Tendenz zu Depressionen“ (zit. in Göpel 2020, 131-132).
Anselm Grün: „Wer nur um sich und seine Bedürfnisse kreist, der ist nicht zufrieden. Aber er sieht den Grund seiner Unzufriedenheit nicht in sich selbst, sondern in den äußeren Umständen“ (2019, 42).
…mehr
Und weiter: „Man projiziert dann die eigene Unzufriedenheit auf die anderen und erwartet von ihnen, dass es einem selbst gut geht“ (Grün 2019, 55).
Surrogate für Gemeinschaft… Junger bringt hier ein prägnantes historisches Beispiel ein: Er weist darauf hin, dass bei der erobernden Besiedlung Nordamerikas durch Europäer*innen das Leben der dortigen indigenen Völker offenbar eine ungeheure Anziehungskraft auf viele US-Einwander*innen besaß:
„‚Tausende Europäer leben bei den Indianern, und es gibt nicht ein einziges Beispiel für einen Ureinwohner, der freiwillig Europäer geworden ist‘, beklagte ein französischer Emigrant namens Hector de Crèvecoeur im Jahr 1782. ‚Der soziale Zusammenhalt der Indianer muss etwas einzigartig Faszinierendes gehabt haben, das bei Weitem alles übertraf, dessen wir uns rühmen können‘“ (31).
„Schon 1612 wurde von spanischen Behörden mit Verblüffung festgestellt, dass vierzig oder fünfzig Einwohner Virginias in Indianerstämme eingeheiratet hatten und selbst englische Frauen sich unverhohlen mit Ureinwohnern abgaben. Zu diesem Zeitpunkt lebten Weiße erst seit wenigen Jahren in Virginia, und viele von denen die sich den Indianern anschlossen, waren wohl in England geboren und aufgewachsen…: Es handelte sich um Söhne und Töchter Europas“ (32).
Soldat*innen in Krisengebieten und Kriegen widerfahren neben schlimmen Erlebnissen auch außergewöhnliche Sinnerfahrungen bezogen auf die Gemeinschaft unter den Mitkämpfer*innen.
„Soldaten erleben dieses [dem Menschen evolutionsgeschichtlich eigene] stammesspezifische Denken1 im Krieg, aber wenn sie nach Hause kommen, merken sie, dass der wahre Stamm, für den sie gekämpft haben, nicht ihr Land war, sondern ihre Einheit [und vermissen den Krieg, wenn er vorüber ist (vgl. 121)]. Es ergibt absolut keinen Sinn, Opfer für eine Gruppe zu bringen, die selbst nicht willens ist, etwas zu opfern“ (142).2
Womit kriegsbedingte Posttraumata nicht ausschließlich auf unmittelbare Kampfhandlungserfahrungen o.ä. zurückzuführen sind, sondern eben auch auf das nachfolgende Nicht-Zugehörigkeitsgefühl in der Zivilgesellschaft (vgl. 120f.).
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Diesen Widerspruch zwischen Jungers und Bregmans Ausführungen konnte auch ich nicht lösen: Bregman bemerkt über sein Buch: „Das ist das große Paradoxon meines Buches: Auf der einen Seite haben wir uns dazu entwickelt, freundlich zu sein und zusammenzuarbeiten, aber diese Fähigkeit hat auch eine dunkle Seite. Unser Gruppendasein kann sich in ein Stammesverhalten verwandeln, und dann können wir anfangen, im Namen der Kameradschaft und Loyalität schreckliche Dinge zu tun“ (2020b).
2 Hier fragt sich, wie sich die Menschen hinter Fridays for Future fühlen/verhalten werden, falls sich – hoffentlich nicht – herausstellen sollte, dass das Establishment auch längerfristig immun gegen Veränderung ist? Und die jungen Menschen damit ‚ans Messer geliefert‘ werden?
Zwischenfazit: Menschen suchen Sinnstiftung und finden sie evolutionär gesehen bei ihren Mitmenschen in der Gemeinschaft. Wo diese nicht funktioniert erfolgt der Griff zu Surrogaten z.B. in Form von Materiellem/Konsum, was aber einen unzureichenden Ersatz darstellt und deshalb nur vorübergehend Zufriedenheit schafft.
All diese Aspekte von Punkt 1 bis 3 zusammenfassend folgt, dass der Mensch
im Grunde gut ist,
eine natürliche Abneigung gegen Gewalt hat,
sich in Krisensituationen i.d.R. grundgut verhält,
aufgrund des negativity bias dazu neigt, die Welt zu düsterer zu sehen als sie ist, sich deshalb durch negative Zeitungsschlagzeilen bestätigt fühlt und sich leichter in Dystopien als in Utopien hineindenkt,
ein tiefsoziales Wesen ist, das auf Vernetzung, Kommunikation und Gemeinschaft angewiesen ist,
die Erteilung von Macht ihn mental tendenziell von seinen eigenen Bedürfnissen als tiefsozialem Wesen entfremdet,
das Gefühl des Gebrauchtwerdens als sinnstiftend erlebt,
Materielles eher als einen Ersatz für die eigentlichen Bedürfnisse nutzt, weshalb Materielles/Konsum i.d.R. nur kurzfristig Zufriedenheit schafft.
Und jetzt kommt die ‚bittere Pille‘, denn nach Bregman ist davon auszugehen, dass „[u]nser negatives Menschenbild … ein Nocebo“ (27) ist:
„Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grunde nicht gut [und nicht sozial sind] sind, werden wir uns gegenseitig auch dementsprechend behandeln“ (ebd.).
In anderen Worten: Weil wir Menschen (tendenziell) dieses negative Menschenbild haben, erwarten wir (tendenziell) nichts anderes von Mitmenschen und Gesellschaft – und handeln in dieser Erwartungshaltung (tendenziell und) prophylaktisch negativer als es notwendig wäre. Womit unsere Gesellschaft entsprechend geprägt wird.
Details: Begriff 'Nocebo'
Nocebo ist die negative Variante des Placebo-Effekts: Wenn wir in Erwartung von Nebenwirkungen eines Medikaments diese wirklich entwickeln und spüren. Allgemeiner gesagt ist ein Nocebo die Bestätigung einer negativen Erwartungshaltung, eine negative self-fulfilling prophecy (vgl. Abschnitt Windkraft, Aspekt Infraschall in Deutschland, S. 537).
Aber das bedeutet auch:
„Sobald wir glauben, dass die meisten Menschen gut sind, ändert sich … alles“ (Bregman 415).
„Ich gehe wie Rutger Bregman davon aus, dass Menschen einen guten Kern haben. Die Frage ist: Können wir den ausleben oder wird er permanent von außen attackiert?“ (Armin Steuernagel in Fuchs 2022)
Schlussgedanken:
Es gibt immer den einen Deppen. Es ist sehr wertvoll, sich klarzumachen, dass es allzu oft diesen Einen gibt, aber er eben nur der Eine ist, der sich daneben benimmt. Dass wir von den Vielen, die sich angemessen verhalten eben deshalb kaum etwas mitbekommen. Das befreit uns von dem Gedanken, dass die Welt voll ‚Schlechtigkeit‘ ist.
Wenn also ein negatives Menschenbild gemeinhin als realistisch gilt, wird das Gegenteil als unrealistisch – und provokant – angesehen: Wer ein positives Menschenbild vermittelt, betritt vermintes Terrain – und wird umgehend als naiv und als Gutmensch (vgl. Handbuch S. 215)1 verunglimpft. „Für jedes menschenfeindliche Argument, das man für ungültig erklärt, kriegt man zwei zurück … Wer sich für den Menschen einsetzt, tritt auch gegen die Mächtigen der Erde an“ (Bregman 2020a, 37).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Harald Welzer wehrt sich gegen die „Komfortzone des Einverstandensein“ (2016, 133), gegen das „dumpfe Einverstandensein“ (ebd. 17), in dem er feststellt, die herabsetzende Bezeichnungen wie ‚Gutmensch‘ „doch nur die Invektiven[, d.h. Beleidigungen] der mit allem Einverstandenen gegen die, die ihnen am eigenen Beispiel demonstrieren, dass es keinen, aber auch nicht den geringsten Grund gibt, stolz noch auf die eigene soziale Impotenz zu sein. Schließlich sind die so Apostrophierten ja Menschen, die für etwas eintreten, und dagegen kann man ja nur sein, weil das die eigene Lethargie in Frage stellt“ (ebd.) (s.a. Fußnote S. 215).
Ergo: Was haben die vorangegangen Ausführungen mit der Biodiversitäts- undKlimakrise zu tun?
Eine Menge.
Weil auf Basis eines positiven Menschenbildes inkl. der Erkenntnis, dass der Mensch ein zutiefst soziales Wesen mit dem Bedürfnis nach Sinnstiftung und Gemeinschaft statt nach Ellbogen und Materialismus ist, Veränderungen wesentlich leichter möglich sind.
Anders ausgedrückt:
Zurückkommend auf die Ausgangsüberlegung
„Wäre die Fassadentheorie allumfassend korrekt und der Glaubenssatz, der Mensch sei ‚im Grunde schlecht‘ insgesamt richtig, würde dies ein bedenkliches Licht auf die Möglichkeiten, der Klimakrise und sechstes Massenaussterben mittels einer sozial-ökologischen Transformation zu begegnen werfen.“
ist festzuhalten, dass der Befund, dass der Mensch ‚im Grunde gut‘ ist die Umsetzung einer sozial-ökologischen Transformation nicht nur grundsätzlich leichter und realistischer erscheinen lässt, sondern darüber hinaus dazu beitragen könnte, dass mehr Menschen das Leben als sinnstiftend erleben und umgekehrt weniger bspw. materielle Surrogate vonnöten sind, was hinsichtlich Ressourcenverbrauch, Klimaschutz und Klimagerechtigkeit eine verdammt gute Nachricht ist.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Definition ‚Glaubenssatz‘ s. Fußnote auf S. 227. Wie tief viele von uns Bürger*innen gedanklich in das derzeitige Wirtschaftsmodell verstrickt sind, wird m.E. deutlich, wenn wir uns klar machen, dass das einzige Business, welches während des Covid-19-Lockdowns i.d.R. keine Kürzungen hinzunehmen hatte, das Miet- bzw. Schuldenwesen war. Zu keiner Zeit wurde (abseits von einigen Global Playern, die hier nicht gemeint sind) in der deutschen Gesellschaft grundlegend die Frage gestellt, ob es wirklich angemessen ist, dass quasi alle Bürger*innen und Unternehmer*innen Einbußen im laufenden Geschäft haben, aber die Mieten für Ladengeschäfte, die nicht mehr wirtschaften konnten, ohne Lastenverteilung auf den Cent genau weiterzuzahlen waren.
Aber kommen wir noch einmal konkret zum wahrscheinlich stärksten Glaubenssatz1unserer Zeit, d.h. zur
‚Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang‘
Hört man hochrangigen Managern in Florian Opitz‘ Doku ‚System Error – Wie endet der Kapitalismus?‘ von 2018 zu,
Markus Kerber, Hauptgeschäftsführer BDI 2011-2017:
„Ich halte das [=Wachstum] für ähnlich unabänderbar wie die Schwerkraft“ (ca. Min 6)
Andreas Gruber, der „120-Milliarden-Mann“1, Allianz:
„Ich möchte mir eine Welt ohne Wachstum nicht vorstellen.“ (Min 30)
Tarek Mashhour, Leiter Produktionsstrategie Audi:
„Wachstum ist ein Naturgesetz – und dem Naturgesetz können wir uns nicht verschließen.“ (Min 68)
Anthony Scaramucci, Ex-Berater des 2020 amtierenden US-amerikanischen Präsidenten:
„Es gibt heute diese Vorstellung in diesen elitären Akademikerkreisen, dass wir nicht weiter wachsen werden. Das ist einfach falsch. 5.500 Jahre Menschheitsgeschichte zeigen doch, dass wir Menschen enorm wissbegierig und erfindungsreich sind… Wir werden Asteroiden aus dem All holen, die voller Platin sind… (ab Min 86).
bekommt man einen profunden Eindruck, wie tief der Glaube an das ‚ewige‘ Wachstum gerade auch bei Menschen, die sich quasi täglich mit selbigem beschäftigen, verankert ist – es trägt religiöse Züge.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 So lautete 2007 eine Überschrift eines Artikels über Gruber im Handelsblatt.
ca. 5 min: Harald Lesch: Der Backfire-Effekt: Glaubenstatsachen ist mit Fakten nur schwer zu begegnen, https://youtu.be/OQem_nMk65I (Abrufdatum 1.8.2022)
Harald Welzer:
Man „braucht gar nicht eigens zu begründen, wofür Wachstum ausgerechnet im Angesicht umfassender Knappheit taugen soll – es ist eben längst zu einer fraglosen Glaubenstatsache geworfen, das Wachstum, und Gläubige argumentieren nicht“ (2016, 58).
Graeme Maxton:
„Die Wirtschaftslehre ist keine Naturwissenschaft, auch wenn manche Experten sich das wünschen würden. Sie ist ein Glaubenssystem, eher wie eine Religion, aber ohne die philosophischen Grundpfeiler. … Doch so, wie die meisten Menschen früher alles glaubten, was in der Bibel stand, glauben die meisten Menschen heute an viele Ideen der modernen Wirtschaftslehre“ (2020, 54).
Spannend ist, dass – „[s]o wichtig Wachstum heute daherkommt[, es a]ls ökonomisches Konzept historisch verblüffend neu [ist]. Zum ersten Mal prominent wird es in der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise in den 1930er“ (Welzer 2016, 59).
42 min – Harald Welzer über Wachstum und Stillstand im SPIEGEL-Podcast »Klimabericht« | 19.10.2021, online unter https://youtu.be/e0ji49dQz0w (Abrufdatum 26.11.2021)
Harald Welzer schlägt vor, die Vokabel durch die Umschreibung „gesteigerter Verbrauch“ zu ersetzen:
„Man stelle sich nur mal vor, der Koalitionsvertrag, den wir bald sehen werden, beginnt mit der Aussage: ‚Wir werden für gesteigerten Verbrauch sorgen.‘ Klingt gleich ganz anders, oder? Dann wäre bestimmt ein anderes Bewusstsein dafür da, was diese wohlklingenden Wachstumsbeschwörungen in Wahrheit immer bedeuten. Vor allem für die Umwelt“ (2021).
Interessanterweise entlarven Kinder ‚ewiges Wachstum‘ meistens sofort als ‚Quatsch mit Soße‘ – Erwachsene brauchen da i.d.R. sehr viel länger, dabei hat es der US-amerikanische Ökonom Kenneth E. Boulding schon vor Jahrzehnten auf den Punkt gebracht:
Way Of Capitalism – Eigenes Foto einer Nische zwischen zwei Häusern in Hamburg | handbuch-klimakrise.de
„Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum kann andauernd weitergehen in einer endlichen Welt, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“
Kenneth E. Boulding (1910-1993), US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler („Anyone who believes exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist.”)
Moderner – und beeindruckend einfach – drückt sich hier der Club of Rome aus:
„Dass die Wirtschaft ein Subsystem der Ökosphäre ist, scheint zu offensichtlich, um es extra zu betonen.“ (Weizsäcker et al. 2017, 110)
Tim Jackson:
„Es herrscht fast so etwas wie eine kollektive Schizophrenie. Einerseits starrt uns das Offensichtliche quasi ins Gesicht. Das ist etwas, dass sogar meine Kinder oder Schulkinder verstehen können: Man kann in einem begrenzten Raum nicht ewig weiterwachsen. Die einzigen natürlichen oder biologischen Systeme, die das tun, bringen am Ende ihren Wirt um“ (zit. in Opitz 2018, ab Min 82).
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung jedenfalls – unverdächtig, linke Parolen auszugeben – hat schon 2006 in Nachlese des Stern-Reports (vgl. S. 161) klargemacht, dass das Medium FAZ weder ‚verrückt‘ noch ‚Ökonom‘ ist:
„Entscheidungsträger, die jetzt noch Wachstum als das oberste Ziel vorgeben, sollten als Selbstmordattentäter betrachtet werden“ (Paoli 2006).
Dabei ist es durchaus korrekt, dass es – wie sich der Massachusetts Institute of Technology-Ökonom Andrew McAfee ausdrückt – die Menschen (vornehmlich in den Industrienationen) vermehrt gelingt „mit weniger Ressourcen mehr Wohlstand zu schaffen“ (Heuser/Pletter 2020, 21)1. Aber wir belassen es eben nicht bei den weniger Ressourcen, weshalb es eben nur eine relative, aber keine absolute Entkopplung gibt, vgl. auch Aspekt Rebound-Effekt, S. 257.
Hinzu kommt, dass die (zu) vielen derzeit verbrauchten Ressourcen von sehr wenigen Menschen verbraucht werden.
Doch genau dieses Weniger einer absoluten Entkopplung benötigen wir, wenn es weitergehen soll für uns auf diesem schönen Planeten. Weil wir absolut zu viele Ressourcen verbrauchen.
Details: Erläuterungen zu (1)
„Zur Wahrheit gehört, dass die Daten zum sinkenden Ressourcenverbrauch bislang nur die wohlhabenden Nationen betreffen. Global betrachtet, ist der Verbrauch von Mineralien und von Öl, Gas und Kohle in den vergangenen zwei Jahrzehnten weiter kräftig gestiegen“ (Heuser/Pletter 2020,21). Womit klar ist, dass die Diskussion müßig ist, ob es eine absolute Entkopplung geben könnte – angesichts der teils überschrittenen planetaren Grenzen brauchen wir da gar nicht mehr weiter drüber nachzudenken: Wir brauchen jetzt, sofort und eigentlich noch heute ein klares Weniger, um die planetaren Grenzen einzuhalten; vgl. Aspekt Earth Overshoot Day, S. 450f.
… eigentlich trivial.
Fassen wir das Thema ‚ewiges weltweites Wachstum‘ doch mal in einen Dreisatz:
Wir haben endliche Ressourcen auf der Welt, die sich nur über lange Zeiträume langsam – und nur teilweise – regenerieren.
Wachstum basiert auf Ressourcen. Nicht nur auf physischen Ressourcen, aber definitiv zu einem guten Teil auf physischen Ressourcen.
Daher ist ein weitgehend, dauerhaft und global von Ressourcen absolut entkoppeltes Wachstum – auch wenn Herr Lindner das anders sieht – aufs Ganze gesehen nicht möglich.
Doch die Betriebswirtschaftlehre – „souveräne[r] Verächter des Wirklichen“ (Welzer 2016, 51) – geht genau davon grundlegend aus.
Der Redaktionsleiter von Bloomberg News London, Simon Kennedy, erklärt explizit:
„Den [ökonomischen] Lehrbüchern nach gibt es keine Grenzen des Wachstums“ (zit. in Opitz 2018, Min 44).
Franz Alt hält nicht so viel vom althergebrachten Curriculum der Betriebswirtschaftslehre:
„Gegenüber dieser Irrsinns-Ökonomie ist die Theologie beinahe eine exakte Wissenschaft“ (2020, 99) und schließt noch ein Zitat von Hans Joachim Schellnhuber an: „Wenn ich mit einem Ökonomen spreche, das ist für eine Physiker die Höchststrafe…“ (ebd.).
Luisa Neubauer und Philip Repenning stellen fest:
„Je höher das BIP [Bruttoinlandsprodukt], desto mehr Treibhausgase emittiert es, statistisch betrachtet. … Auch wenn es immer mehr Ländern gelingt, das Wachstum ihres BIPs vom Wachstum der Emissionen relativ [!] zu entkoppeln – der globale Trend ist eindeutig: Je höher der materielle Wohlstand und damit das BIP, desto größer ist dessen CO2-Fußabdruck“ (2019, 169).
Maja Göpel pointiert:
„Wirtschaftwachstum in seiner heutigen Form heißt Klimawandel. Und mehr Wirtschaftswachstum heißt noch mehr Klimawandel“ (2020, 76-77).
Manfred Folkers:
Gewissermaßen „sind Vermehrung, Gewinn und Maximierung Illusionen, die ausblenden, dass diese Phänomene an anderer Stelle gleichzeitig zu Verminderung, Verlust und Dezimierung führen“ (Folkers/Paech 2020, 94).
Naomi Klein bemerkt dazu:
„[D]as Klima der Erde so zu verändern, dass chaotische, katastrophale Zustände eintreten, ist leichter zu akzeptieren als die Aussicht, die fundamentale, wachstumsgestützte, profitorientierte Logik des Kapitalismus aufzugeben“ (2015, 114).
Was in diesem Wachstums-Gedankenuniversum aus dem Blick geraten ist und vollkommen verdrängt wurde:
Wirtschaft, Kapital und Besitz unterliegen der Sozialbindung. Geld hat eine dienende Funktion.
Schaut man jedoch auf die ‚Kollateralschäden‘ des unhinterfragten Wachstumsdogmas (vgl. das gesamte Handbuch), drängt sich der Eindruck auf, es handele sich um einen Selbstzweck, um ein Wachstum um des Wachstums willen.
Dabei ist hervorzuheben, dass Wachstum per se erst einmal nichts Schlechtes ist. Wir brauchen es sogar:
Im Sinne der Klimagerechtigkeit (‚Climate Justice‘) ist noch in vielen Regionen des Globalen Südens Wachstum notwendig, damit die dort lebenden Menschen (endlich!) ein menschenwürdiges Leben erlangen können.
Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes:
„[I]n in der ganzen Welt [gibt es] Menschen, deren Einkommen und damit auch die Konsumkraft noch steigen sollten. Das gilt ganz besonders für die Ärmeren im globalen Süden, die mit weniger als drei Dollar am Tag auskommen müssen. Wachstum komplett zu stoppen geht nicht“ (2020, 33).
„Ich habe nie gesagt, dass wir kein Wirtschaftswachstum haben können. Ich habe nur kritisiert, dass sich die Machthaber darauf und auf Geld konzentrieren, anstatt über das menschliche Leben und das Ökosystem zu sprechen.“ Greta Thunberg (zit. in Urisman Otto 2019, 9)
Tim Jackson:
„[E]s ist wichtig zu betonen, dass einige Gesellschaften es auch heute noch brauchen. Sie brauchen dieses Wachstum, brauchen Nahrung, Kleidung, Wohnraum. Länder, in denen arme und unterernährte Menschen täglich von Weniger leben, als wir für einen Cappuccino ausgeben. Da ist Wachstum sinnvoll“ (zit. in Opitz 2018, Min 9).
Aber hier in Deutschland?Noch mehr Wachstum? Immer, immer weiter? Dann müssen wir noch mehr Überfluss leben, noch mehr Überflüssiges kaufen, damit der Konsummotor brummt.
Wollten wir nicht weniger…?
Der Club of Rome folgert im Jahr 2017:
„Die Menschheit steht vor nichts anderem als der Schaffung eines neuen Denken und einer neuen Philosophie, da die alte Wachstumsphilosophie nachweislich falsch ist.1
Es müssen zwei unterschiedliche Entkopplungsaufgaben verfolgt werden: Entkopplung der Produktion von Naturverbrauch… und Entkopplung der Zufriedenheit der menschlichen Bedürfnisse vom Imperativ zu immer mehr Konsum.“
(Weizsäcker et al. 2017, 121) (bezieht sich auf Maja Göpel (2016): The Great Mindshift. Berlin: Springer, 20-21)
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Diese deutlichen Worte werden vom Club of Rome – und auch von Weizsäcker – durchaus widersprüchlich durch die Idee eines Faktor Fünf relativiert. Einem gleichnamigen Club of Rome-Bericht zufolge sei „in den vier ressourcenintensivsten Branchen – Bauwesen, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft – eine fünffache Steigerung der Ressourcenproduktivität möglich“ (Weizsäcker et al. 2017, 171). Das Problem besteht in der dahinterliegenden Technologie-affinen Grundthese, dass eine weitgehende Entkopplung von Wachstum und Ressourcennutzung möglich sei – womit m.E. der Fokus auf ein „Weniger“ unterbleibt. Hinzu kommt, dass Faktor Fünf lediglich eine Idee, Annahme und These ist: In Berechnungen für Pläne und Maßnahmen kann man jedoch nur bestehende, d.h. unmittelbar jetzt zur Verfügung stehende und nicht etwa potenziell-irgendwann nutzbare Technologien einbeziehen.
‚Weniger ist mehr‘ in dieser ‚Welt des Zuviels‘:
Individuell:
Mal ernsthaft, was brauchen wir wirklich, um ein gutes Leben zu führen?
Wie viel brauchen wir von dem Mist der in unseren Wohnungen und Kellern vor sich hinvegetiert?
Wie viele Dinge schaffen wir an, weil andere sie haben, weil es zum guten Ton gehört, weil wir mithalten wollen?
Was sind diese Dinge am Ende – am Ende Deines Lebens – wert?
Gesellschaftlich:
Denken wirden Bauboom,
den Flächenverbrauch durch Neubausiedlungen,
die Trinkwasserverseuchung durch Export-orientierte Massentierhaltung, die immer noch zunehmenden Autozulassungen pro Jahr –
den vermeintlichen ‚Wachstumszwang‘mal zu Ende – und zwar konsequent:
Dann wäre Deutschland irgendwann eine einzige zersiedelte versiegelte zuasphaltierte Stadt im Dauerstau, die unendlichen Häuserzeilen nur unterbrochen von Massentierställen.
Am Swimmingpool dieses sog. Traumhauses liegt nicht notwendigerweise ein zufriedener Mensch. Zumal dieser Mensch mutmaßlich gar keine Zeit hat, um am Pool zu liegen, sondern damit beschäftigt ist noch mehr Geld ranzuschaffen… für einen zweiten Pool? – Es wird nie genug sein. Konsumismus kennt keinen „Maximalzustand“.
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass es für Konsumismus eigentlich keine wirkliche innere Obergrenze, kein definitives ‚Genug‘ gibt, sondern es eher den Charakter einer Immer-mehr-Spirale hat? Deshalb spricht Welzer von „chronischer Bedürfnisinkontinenz“ (2016, 39). Der griechische Philosoph Epikur von Samos formulierte es so: „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug“ (zit. in Grün 2019, 34). Anselm Grün: „Die Weisen aller Religionen und Kulturen sprechen davon, dass wir mit Wenigem zufrieden sein sollen. Darin besteht die Kunst des Lebens… Ich bin vielmehr zufrieden, weil ich vieles nicht brauche. Die Zufriedenheit ist also ein Kennzeichen innerer Freiheit“ (2019, 23). Schon der chinesische Philosoph Lao Tse stellte fest: „Wenn Du erkennst, dass es dir an nichts fehlt, gehört die die ganze Welt“ (zit. in Grün 2019, 30), frei übersetzt ins Deutsche in Form des Sprichwortes „Froh zu sein bedarf es wenig und wer froh ist, ist ein König“.
Noch einmal zum Thema ‚Wachstum und Climate Justice‘:
Dem Globalen Süden und „Afrika Entwicklungschancen einzuräumen heißt, dass sich die Industrie- und Schwellenländer noch viel mehr um Ressourcensparsamkeit kümmern müssen“ (Demograf Reiner Klingholz in: Schmundt 2019, 113).
Anders ausgedrückt:
Die Industrieländer müssen sich viel mehr als bisher und viel mehr als bislang absehbar um ihre CO₂-Einsparungen kümmern, um dem Globalen Süden Chancen zu eröffnen und Wachstum zu ermöglichen – in eigenem Interesse.
…mehr
In solchen Zusammenhängen wird des Öfteren gesagt/geschrieben, die gesamte Menschheit, ob reich, arm, im Norden oder Süden wohnend, sitze im gleichen Boot. Die Sozialwissenschaftlerin Imeh Ituen mag dem m.E. zu Recht nicht folgen: „Ich finde, das Bild passt nicht. Es ist doch so, dass die reichen Länder des Nordens die Klimakrise größtenteils verursacht haben, die Hauptleidtragenden leben aber im Süden. … [N]eulich[,] auf einem Podium… fiel der Vergleich, wir säßen schon alle in einem Boot, aber das Boot habe halt verschiedene Etagen. Die ganz unten haben schlechtere Chancen, wenn das Boot sinkt. Aber selbst dieses Boot kann ich mir nicht vorstellen. Wie viele Stockwerke soll das denn haben? Nein, das Bild passt nicht, auf dieser Welt sitzen nicht alle im selben Boot“ (zit. in Schwarz 2020, 9). Die taz bringt es am 25.9.2020 auf Seite 1 auf den Punkt: „Alle im selben Sturm, aber nicht im selben Boot: In welchem Boot wir sind, bestimmt wann wir untergehen.“
Im Namen der Freiheit brauchen wir: Grenzen.
Kinder brauchen Grenzen. | Erwachsene ‚Kinder‘ brauchen Grenzen. | Erwachsene brauchen Grenzen. | Gesellschaften brauchen Grenzen. | Wirtschaft braucht Grenzen. | Die Natur setzt Grenzen. | Die wir ignorieren können, bis zu einem gewissen Grad. | Doch irgendwann meldet sich die Natur lauter und lauter. | Und irgendwann wird sie ggf. die sich schlecht benehmenden ‚Gäste des Planeten‘ einfach rausschmeißen.
>> vgl. Abschnitt Wir sind Erde, S. 46f. u. S. 699.
Das Schlusswort dieses Abschnitts überlasse ich dem Club of Rome:
„Im Angesicht der grausigen Gefahren ist es einfach nicht akzeptabel, dass Selbstsucht und Gier weiterhin positive soziale Wertschätzung als angebliche Triebkräfte des Fortschritts genießen. Fortschritt kann sehr wohl auch in einer Zivilisation gedeihen, die Solidarität, Demut und Respekt für Mutter Erde und künftige Generationen verlangt“ (Weizsäcker et al. 2017, 132).
Quellen des Abschnitts Glaubenssätze dechiffriert: Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen
Albig, Jörg-Uwe (2020): „Die Zeit des schwarzen Goldes“. in: Geo, 7/2020, S. 58-75.
Heuser, Uwe Jean u. Pletter, Roman (2020): „Maßloser Wohlstand“. in: Die Zeit, Nr. 34/13.8.2020, S. 21-22.
Hutsteiner, Ruth (2919): „Fliegen: So viel CO2 verursachen Promis“. in: Science.orf.at, 29.10.2019, online unter https://science.orf.at/v2/stories/2993623/ (Abrufdatum 3.6.2020)
Junger, Sebastian (2017): Tribe –Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit. Blessing.
Kara, Stefanie (2018): „Die Infomüll-Abfuhr“. in: Die Zeit, Nr. 40/3.12.2018, S. 33.
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2017): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Politik trägt Verantwortung. Wir brauchen eine Politik, die uns vor uns selber schützt.
Wo man auch hinschaut:
Inmitten der Biodiversitäts- undKlimakrise geht es zu wie im Sandkasten:
Jeder zeigt mit dem Finger auf „die Anderen“1: Politik >> Bürger*innen >> Wirtschaft >> Andere Länder… und dann Rolle rückwärts und das Ganze noch einmal: „Sollen die doch Anderen anfangen…“
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Welzer konstatiert hier einen erheblichen Mangel an Selbstreflektion: „Wenn ich vor allem die Schäden im Blick habe, die [z.B.] Fischereiunternehmen … anrichten, gerät ja schnell aus dem Blick, dass die Fische für einen Markt gefangen … werden, auf dem ich selber auftrete. Diese Form der Betrachtung hat den Vorteil, dass ich Probleme immer genau dort identifizieren kann, wo ich nicht bin, weshalb ich elegant Forderungen nach dem Abbau von Missständen erheben kann, ohne meine eigene Position ins Spiel zu bringen“ (2016, 103).
Das ist eine: Abwärtsspirale ins Aus.
Sandkasten Nr. 1: Sandkastenspiele im politischen Kindergarten Deutschland
1) Sandkastenspiele im politischen Kindergarten Deutschland
Politik schiebt Verantwortung an Bürger*innen ab. Hier macht sie sich zum Komplizen von Lobbyist*innen, die auf gleiche Weise argumentieren…
… nämlich in etwa so:
„Zucker in unseren Produkten ist nicht das Problem. Wer als mündige*r, freie*r Bürger*in zu viel von unseren Produkten isst, handelt unverantwortlich. Es ist auch schädlich zu viele Äpfel zu essen.“
„Billiges Fleisch gibt es, weil die Bürger*innen es kaufen und es somit gewollt ist – wir Politiker*innen können nur an die Vernunft der Bürger*innen appellieren.“
Blablabla.
Was ist ein*e Lobbyist*in, die/der für (gesundheits-)schädliche Großkonzernlogiken eintritt? Ein*e Handlanger*in, die/der für wenig Geld ihre/seine Seele verkauft.
>> s.a. Aspekt Chancen und Grenzen des eigenen Handelns, S. 171ff.
Politik und Wirtschaft suggerieren, es wäre ein Problem, das wir als ‚mündige Bürger*innen‘ und Individuen verantworten und lösen könnten. Die Politik entlastet sich, indem sie behauptet:
„Wir können nicht gegen die Bürger*innen regieren“ heißt es da – und es ist viel von Freiheit, von individuellen Kauf-/Konsumentscheidungen und von Bildung die Rede…
>> vgl. Aspekt Das Bonmot von den Verboten, S. 235f.
Mit anderen Worten: Demokratie bedeutet in Deutschland, dass man sich totrauchen1, tottrinken und krankessen darf – und einiges mehr. Natürlich gibt es Eigenverantwortung. Diese zu betonen rechtfertigt aber keineswegs
Plakatwerbung für Dinge, die erwiesenermaßen Krebs oder Leberzirrhose verursachen;
definitiv schädliche Nahrungsmittel, die nur dann einigermaßen in Ordnung sind, wenn man sie nur selten konsumiert – wovon aber die Fertignahrungsmittelindustrie nicht ‚leben‘ könnte2.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Bertolt Brecht, 1942: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“
2 Es liegt auf der Hand, dass Fertignahrungsmittelindustrie keinen Gewinn machen könnte, würde sie andere, weniger ‚fertige‘ Produkte herstellen. Daher ist die Warnung vor den eigenen Produkten purer Zynismus.
Selbstverständlich sollten wir Bürger*innen uns eigenverantwortlich – und nicht wie Idioten aufführen, nur weil irgendwas erlaubt und legal ist.
Aber generell ist diese Ansicht von Politiker*innen einfach Bullshit. Und bequem. Verlogen. Lobbyist*innen-freundlich. Gesundheitsschädlich. Umweltschädlich. Und im Falle der Klimakrise und des sechsten Massenaussterbens: Gemeingefährlich.
„Zum Amt von Politiker*innen gehört … eine Pflicht der Macht.“
>> Neubauer/Repenning 2019, 108 in Bezug auf Hans Jonas‘ Buch Das Prinzip Verantwortung
Politik ist dafür da, den Bürger*innen den gesetzlichen Rahmen zu bieten, der ein zukunftsfähiges Zusammenleben möglich macht.
Und wenn sie, die Politik, sich dafür mit den Bürger*innen (und/oder mit der Wirtschaft) anlegen muss, dann ist genau das ihr Job.
Helmut Schmidt hat auch nicht jede*n Bürger*in individuell befragt, ob er dem Nato-Doppelbeschluss zustimmen soll.
Politik hat dort einzugreifen und zu regulieren, wo „[d]ie Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ zu gesamtgesellschaftlich unerwünschten Ergebnissen führt.
…mehr
„Tyranny of small decisions“ nach Alfred E. Kahn (1917-2010). Der Ökonom wies darauf hin, dass für den Einzelnen durchaus vernünftige persönliche Entscheidungen – z.B. das Auto zu nehmen – bei Nicht-Regulierung in der Summe zu einem Marktversagen, d.h. der gesellschaftlich unerwünschten Konsequenz, dass die entsprechende Bahnlinie geschlossen wird, führen können (vgl. wikipedia 2020). Womit ein weiteres Mal auf die Tragedy of the Commons verwiesen ist: Alles Gemeingut hat stark reguliert zu sein, um existieren zu können, vgl. Aspekt Allmende in Fußnote auf S. 637.
Auch John Maynard Keynes stellte 1926 in einer Rede an der Berliner Universität fest:
„Die wichtigsten Agenda [sic!] des Staates betreffen nicht die Tätigkeiten, die bereits von Privatpersonen geleistet werden, sondern jene Funktionen, die über den Wirkungskreis des Individuums hinausgehen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft“ (2011, 47, vgl. Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler 2019).
Und da es hier eben genau um die Entscheidungen geht, die Individuen so nicht treffen würden, haben wir per se mit Reibungspunkten zu rechnen. Ihnen auszuweichen, bedeutet Politikversagen.
Wenn sich die/der Eine oder Andere in diesem Handbuch aufgrund einiger Passagen auf den Schlips getreten fühlt, die/der möge in sich hineinfühlen, ob sie/er sich vielleicht zu recht getroffen fühlt.
Es ist von meiner Seite zu keiner Zeit persönlich gemeint: Es ist Aufgabe der Politik, der Politiker*innen, Dinge zu ändern.
Bürger*innen, Unternehmer*innen, Landwirt*innen, Urlauber*innen richten sich innerhalb des gesellschaftlich-gesetzlich-politisch gesetzten Rahmens ein. Das ist vielleicht nicht immer schön und toll, und man kann die Menschen damit auch nicht von sichtlich illegitimen Dingen freisprechen, aber viele Menschen sind einfach auch gefangen im Hamsterrad und haben eben nur das persönliche Vermögen und/oder die Kraft, innerhalb des Systems zu agieren. Und das ist ok.
Es ist und bleibt Aufgabe der Politik und damit der Politiker*innen, den notwendigen Ausgleich zwischen Interessen, Bedürfnissen unter besonderer Berücksichtigung von Zukunftsfähigkeit zu schaffen. Und deshalb sehe ich das Versagen vor allem hier.
Anders ausgedrückt:
Die Kohl’sche Politik, die als Merkel’sche Politik fortgesetzt wird, ist eine passive Politik des ‚die Fahne in den Wind‘ haltens.
Die Windrichtung wird von der zu einer Wähler*innen-Mehrheit aufsummierten ‚Tyrannei der kleinen Entscheidungen‘ von Bürger*innen bestimmt – das muss schiefgehen.
Kein Wunder, dass sowohl Privatpersonen als auch Unternehmer*innen immer wieder nach Regulierungen rufen, die ihnen auferlegen würden, was sie selbst nicht hinbekommen (können).
Diese besondere Aufgabe/Verantwortung der Politik erkannte 1933 auch schon Franklin D. Roosevelt im Rahmen des New Deal nach der Weltwirtschaftkrise:
„The unfair ten per cent could produce goods so cheaply that the fair ninety per cent would be compelled to meet the unfair conditions. Here is where government comes in. Government ought to have the right and will have the right, after surveying and planning for an industry to prevent, with the assistance of the overwhelming majority of that industry, unfair practice and to enforce this agreement by the authority of government“ (Teaching American History o.J.).
Eine Regierung hat zu regieren und nicht zu reagieren: Das ist ein entscheidendes Missverständnis von (deutscher) Politik seit 40 Jahren – seit dem Amtsantritt von Helmut Kohl im Jahre 1982.
…mehr
Das sieht auch Precht so: „Politik in Deutschland [besteht] seit Jahrzehnten darin …, größere Veränderungen zu vermeiden … [D]ie Menschen [leben] bei uns in einer Diktatur der Gründe über die Ziele. Der Triumph der Taktik über die Strategie hat unser Land gelähmt“ (2018, 44).
„Man kann nicht gegen die Bürger*innen regieren“ ist also ein weitverbreiteter Glaubenssatz (Definition siehe Fußnote auf S. 227.) von Politiker*innen, die verdrängen, dass eigentlich der ‚Primat der Politik‘ zu gelten hat. Nun, natürlich kann man in einer Demokratie zeitlich bzw. vom Umfang her nur begrenzt gegen Bürger*innen regieren… aber:
Hilfreich wäre es, die Bürger*innen angemessen darüber zu informieren, wie die politische, gesellschaftliche, soziale, wirtschaftliche, finanzielle, die umweltliche, klimapolitische Lage ist, dann werden auch mehr Maßnahmen umsetzbar sein als ohne.
Und das passiert nicht. Nicht einmal ansatzweise.
>> vgl. Aspekt ‚reinen Wein einschenken‘ und Wettbewerbsausrufung im einleitenden Abschnitt Intro, S. 27.
Warum bleiben hochrangige Politiker*innen derart diffus in ihren Aussagen zur Klimakrise? (Und unterschlagen zudem den anderen Teil der Doppelkrise – das sechste Massenaussterben?)
Viele Politiker*innen haben m.E. die Klimakrise in ihrer Tragweite noch nicht verstanden (vgl. Vorwort S.18).
Ein Grund könnte sein, dass niemand die ‚Prügel‘ einstecken würde, die ohne eine ‚Idee von Zukunft‘ unweigerlich folgen würden.
Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass eine solche Nachricht einer Gewinnwarnung gleichkäme.
Interessant ist diesem Zusammenhang ein Statement von LaToya Cantrell, demokratische Bürgermeisterin von New Orleans:
„Der Klimawandel ist unser Alltag… Weshalb unsere Stadt stärker ist denn je… Ich glaube nicht an das Märchen, dass man New Orleans aufgeben muss. Wenn das stimmen würde, könnte man bald nirgends mehr wohnen“ (zit. in Pitzke 2018).
Stellen wir uns mal vor, die Bürgermeisterin würde stattdessen Zweifel an der künftigen Bewohnbarkeit von New Orleans äußern. Wer investiert dann noch in New Orleans?
Und stellen wir uns mal vor, ein*e Politiker*in würde in diesen Tagen die Analyse dieses Handbuches, der zufolge der Luftfahrt-Massentourismus so nicht mehr haltbar ist (vgl. S.269), öffentlich teilen?
Doch ist auch die Frage aufzuwerfen: Ab welchem Zeitpunkt wird aus Zweckoptimismus grobe Fahrlässigkeit?
Update April 2020:
Interessanterweise zeigt sich Politik in Zeiten der Covid-19-Krise durchaus handlungsstark; angebliche Sachzwänge, die vorher zu jahrzehntelanger Passivität, Inaktivität und fehlendem Blick über den Tellerrand nötigten, scheinen ins Nichts aufgelöst. – „[W]ir erleben eine historische Erfahrung kollektiver politischer Selbstwirksamkeit“ (Rosa 2020). – Nunmehr ist die Politik bzw. die Regierung durchaus bereit ‚gegen‘ die Bürger*innen bzw. deren Bequemlichkeit zu regieren. Das ist an sich eine gute Nachricht. Der Spiegel stellt hier die berechtigte Frage:
„Wie will eine Kanzlerin, wie wollen Präsidenten und Premierministerinnen, die ganze Völker unter Hausarrest stellen können, den Bürgerinnen und Bürgern künftig erklären, dass sie ein schnelles Verbot von Plastiktüten leider, leider nicht hinbekommen? Dass es unmöglich sei, schärfere Grenzwerte für dieses oder jenes Gift durchzusetzen? Wer soll künftig noch daran glauben, dass es keine einfache Handhabe gäbe gegen industrielle Tierquälerei, gegen Pestizide, gegen Lärm, schlechte Luft, schlechtes Essen? Wer wird Politiker wiederwählen, die jetzt beim Klimaschutz nicht liefern?“ (Fichtner 2020, 12).
>> Apropos Plastiktüten: Sooo schwer scheint das gar nicht zu sein. So verweisen Asendorpf et al. darauf, dass mit Stand 2018 über 40 Staaten Plastiktüten verboten oder mit einer Steuer belegt haben (vgl. 2018).
Also:
Auf die Lobbyist*innen sollten wir lieber nicht warten, bis sie verstehen, dass man auf einem toten Planeten kein Geld verdienen kann.
Die Politik tut sich schwer.
Individuelles Handeln rettet nicht die Welt –
Wie also soll es gehen?
Antwort: Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte: Es geht darum…
…das eine zu tun, ohne das andere sein zu lassen.
„Es geht darum, sich nicht wie ein Arsch zu verhalten und gleichzeitig der Politik in denselben zu treten.“
Marc Pendzich zugeschrieben, 2019
Etwas vornehmer ausgedrückt:
Wir brauchen, wie beim Rauchverbot, bei der Anschnallpflicht und dem weltweiten FCKW-Verbot eine Politik, die uns in der Biodiversitäts- undKlimakrise vor uns selber schützt.
Und eine Politik, die Zukunftsorientierung bietet, die ein Narrativ entwickelt, wie es weitergehen kann und soll, kann durchaus auf Unterstützung der Bürger*innen setzen.
„Nach den zwei drängendsten Herausforderungen gefragt, [zählen laut der Studie ‚Umweltbewusstsein in Deutschland 2016‘ des Umweltministeriums f]ür jede und jeden Fünften in Deutschland zählen Umwelt- und Klimaschutz zu den wichtigsten Problemen, denen sich unser Land derzeit gegenübersieht“ (UBA 2018).
Konkret steht das Thema nach den beiden Überthemen ‚Migration‘ (2016!) und ‚Kriminalität/Sicherheit‘ an dritter Stelle teilweise sehr weit vor den anderen ‚Klassikern‘ wie soziale Gerechtigkeit, Wirtschaft, Rente, Arbeitsmarkt und Bildung (vgl. ebd.).
Das UBA hebt explizit hervor:
Auch in Krisenzeiten bleibt das Umweltbewusstsein stabil im Mittelfeld der Problemwahrnehmung (vgl. ebd.).
Der Spiegel sieht diese Analyse bestätigt durch die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfahlen im Corona-September 2020, aus dem „[d]ie Grünen … als drittstärkste und größter Wahlgewinner hervor[gegangen sind und] … ihr Wahlergebnis gast verdoppeln [konnten]“ (Stukenberg 2020).
Geht es also wirklich um die Vermeidung jeglicher Verbote? Oder geht es nicht doch eher um Gerechtigkeit? – M.E. wissen wir alle (mindestens intuitiv), dass es mit dem HöherSchnellerWeiter nicht so weiter gehen kann.
In Wirklichkeit geht nach meiner Wahrnehmung vor allem darum, dass die Meisten keine Lust haben als vermeintlich ‚Einzige*r‘ der ‚Dumme zu sein‘, die/der das Fliegen unterlässt, keinen SUV kauft, nachhaltig einkauft etc. pp.
Wenn aber sich die/der Nachbar*in aufgrund von Ordnungsrecht o.ä. ökologisch angemessen zu verhalten hat, dann ist es plötzlich selbstverständlich, auch persönlich ökologisch zu handeln.
Menschen sind merkwürdig in diesem Punkt – aber so ist es.
Besser wir beziehen diese Merkwürdigkeiten des Menschen – die Funktionsweise seiner Psyche – mit ein in unsere Erwägungen.
„Wenn es um nachhaltiges Verhalten gehe, zeige der typische Deutsche dabei eine klare Tendenz, sagt [der Psychologe Stephan] Grünewald. ‚Die Menschen befinden sich in einem Konflikt: Sie wollen die Umwelt schonen, aber Plastiktüten sind ja so praktisch.‘ Am einfachsten ließe sich dieser innere Zwist auflösen, indem sie zu Verhaltensänderungen gezwungen würden. ‚Und deshalb wünschen die Menschen Verbote, damit sie sich nicht selbst disziplinieren müssen“ (Hage et al. 2019, 17).
„Die Naturbewusstseinsstudie der Bundesregierung hat ermittelt, das sich eine überwältigende Mehrheit der Bundesbürger strengere Regeln und Gesetz für die Landwirtschaft wünscht“ (Kopatz 2016, 91. vgl. Bundesamt für Naturschutz (2016): Naturbewusstseinsstudie 2015. Bonn.).
„Bei jungen Menschen zwischen 14 und 17 Jahren sind sogar mehr als 90 Prozent dafür die Städte für Fußgänger, Radfahrer und den Nahverkehr umzugestalten“ (vgl. UBA 2015, 237).
2) Sandkastenspiele im politischen Kindergarten Welt
Sandkasten Nr. 2: Sandkastenspiele im politischen Kindergarten Welt
Was im Spiel zwischen Bürger*innen, Wirtschaft und Politik innerhalb eines Staates im kleinen Maßstab gilt, gilt auf gleiche Weise auch im großen Maßstab für das Verhältnis und die Umgehensweise der Staaten untereinander.
Auch hier kann man nicht warten, bis der letzte Staat im Sandkasten ‚Erde‘ konstruktiv ‚mitspielt‘.
Es ist ganz simpel: Einfach anfangen und davon ausgehen, dass die anderen (aufgrund des größer werdenden Drucks aus allen Richtungen) dazu kommen und irgendwann die Frage stellen: ‚Darf ich mitspielen?‘
Und, wer hat in diesem Fall die Regeln bestimmt?
Die, die das Spiel begonnen und zuerst miteinander gespielt haben. Und nicht die, die später dazu gekommen sind. Die passen sich an. Weil sie mitspielen wollen.
Dezember 2019:
Schauen wir mal, was in den nächsten Monaten und Jahren im Sandkasten ‚EU‘ passiert, ob Polen beim im Dezember 2019 von Ursula von der Leyen als „Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“ (vgl. Tagesschau 2019) ausgerufenen ‚European Green Deal‘ nicht doch irgendwann lieber mitspielen möchte1.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 … und da tut sich was: „Noch im … Dezember wollte sich Polen als einziges EU-Land nicht zur Klimaneutralität für 2050 bekennen. Die Coronakrise und mehr Druck durch die EU-Kommission haben [im Herbst 2020] zum Umdenken geführt. Regierung und Bergarbeitergewerkschaft einigten sich … auf ein Ausstiegsdatum. Bis 2049 sollen Polens Kohleminen schließen“ (Kern 2020).
Quellen des Abschnitts Politik trägt Verantwortung. Wir brauchen eine Politik, die uns vor uns selber schützt
Brecht, Bertolt (1942): Me-ti. Buch der Wendungen. Suhrkamp.
Fichtner, Ullrich (2020): „Corona-Pandemie: Warum unsere Welt nach der Krise eine bessere sein könnte“. in: Der Spiegel, 17/2020, S. 8-15.
Hage, Simon et. al. (2019): „Die Weltverbesserer. Nachhaltigkeit: Viele Deutsche versuchen, den Klimawandel zu bremsen. Sie kaufen bewusster ein, fahren mehr Rad, reduzieren Müll. Allein können sie das Problem nicht lösen – aber sie zwingen Politik und Wirtschaft zum Handeln“. in: Der Spiegel Nr. 29/13.7.2019, S. 17.
Keynes, John Maynard (2011): Das Ende Des Laissez-faire: Ideen Zur Verbindung Von Privat- und Gemeinwirtschaft. Drucker und Humblot.
Köhler, Horst (2019): „Zu einer vorausschauenden Ordnungspolitik die wir brauchen gehören für mich aber auch Anreize, Terminsetzungen, und wo nötig auch Verbote. … Der große [Ökonom] John Maynard Keynes hat das einmal [1926] so gesagt: ‚Es ist am Staat, die Entscheidungen zu treffen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft‘“. [Grundsatzrede]. in: Future Sustainability Congress, 19.11.2019, online unter https://youtu.be/cDoRsafiJKQ (Abrufdatum 23.6.2020)
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
„etwa 24% der energiebedingten globalen CO₂-Emissionen… 95% davon stammen aus dem Straßenverkehr“ (Rammler 2017, 70-71).
„In Deutschland liegt der Anteil des Verkehrs bei fast 20 Prozent der Emissionen [Europa fast 30%]. Rund 95 Prozent davon verursachen Pkw und Lkw“ (Zimmer 2019).
„Ein Drittel aller EU-Klimagase entsteht beim Transport, mehr als in allen anderen Wirtschaftsbereichen“ (Groll/Primova 2019).
Der Verkehrssektor ist der einzige Bereich, in dem Deutschland in Sachen Minderung von Treibhausgasen keinen einzigen Schritt vorangekommen ist – im Unterschied zu den Sektoren Energie -38%, Industrie -34%, GHD -50%, Haushalte -31%, vgl. Aspekt CO₂-Emissionen in Deutschland, aufgegliedert nach Sektoren, S. 79.
Der Verkehrssektor ist der Bereich, in den die meisten umweltschädlichen Subventionen, konkret die Hälfte aller umweltschädlichen Subventionen von 28,641 Mio Euro (von insgesamt 57,079 Mio Euro) fließen; aufgesplittet in folgende Subbereiche:
Energiesteuervergünstigung für Dieselkraftstoff = 7.353 Mio | Entfernungspauschale = 5.100 | Energiesteuerbefreiung des Kerosins = 7.083 | Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge = 4.763 | Energiesteuerbefreiung der Binnenschifffahrt = 170 | Energiesteuerbegünstigung von Arbeitsmaschinen und Fahrzeugen, die ausschließlich dem Güterumschlag in Seehäfen dienen = 25 | Pauschale Besteuerung privat genutzter Dienstwagen min. 3.100 | Biokraftstoffe = 1.047
(Zahlen von 2016, UBA 2016; teilweise neue Zahlen präsentiert Wüpper 2018, 124: Dieselprivileg = rund 8,2 Mrd. Euro, Dienstwagenprivileg = mind. 3,5 Mrd. Euro vgl. Handbuch S. 340)
Nicht verwunderlich angesichts dieser Zahlen und der bisherigen Politik des deutschen Verkehrsministeriums stellt das Umweltbundesamt (UBA)1 eine „enorme Klimaschutzlücke für den Verkehr“ (Tartler 2019) fest – und fordert, weit über das ‚Klimapaket‘ hinausgehend, dass „[a]lle Privilegien etwa für Dienstwagen und Dieselkraftstoffe … wegfallen [müssten]“ (Bauchmüller 2019) – an gleicher Stelle heißt es, dass auch die Pendlerpauschale abgeschafft werden müsse.2 Und: „Außerdem müsste die Maut für Lkw stark steigen… [und] auf Autobahnen rasch ein [CO2-reduzierendes] Tempolimit von 120 Stundenkilometern eingeführt werden“ (Handelsblatt 2019).
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Umweltbundesamt: Der Bundesregierung zuarbeitende wissenschaftliche Behörde – nicht zu verwechseln mit dem Umweltministerium: Das UBA ist eine äußerst fundierte Quelle rund um Umwelt- und Klimaschutz: https://www.umweltbundesamt.de/
2 Stattdessen wurde sie im Rahmen des ‚Klimapakets‘ ab dem 21. Entfernungskilometer von 30 auf 35 Cent erhöht – als Ausgleich für steigende Benzinkosten in Folge des CO2-Preises (vgl. Zeit 2019). Da hätte es intelligentere, weiterführende und sozialere Lösungen gegeben, die nicht einseitig lange Fahrtwege begünstigt und weitaus größere Teil der Bevölkerung erreicht hätten. Die Reform der Pendlerpauschale „hilft … vor allem höheren Einkommensgruppen. Da sie mehr verdienen, haben sie auch einen höheren Steuersatz und profitieren deshalb mehr von den Steuererleichterungen für Pendler“ (Tagesschau 17.10.2019).
„‚Nach unseren Abschätzungen bleibt eine Klimaschutzlücke von 20 bis 30 Millionen Tonnen Treibhausgasen‘, sagt Behördenchefin Maria Krautzberger. Das Verkehrsministerium tue häufig so, als sei es unmodern und rückwärtsgewandt, ökologische Folgen in Preisen auszudrücken, kritisierte Krautzberger. ‚In Wirklichkeit scheut es sich, diese unpopulären Maßnahmen einzuführen‘“ (ebd. 2019).
Es steht Maria Krautzberger nicht zu, in diesem Zusammenhang Thema ‚Lobbyismus‘ einzubringen. Das wurde hiermit nachgeholt.
Vorweg:
Alle folgenden Ausführungen beziehen sich vorrangig auf städtische Straßenverkehre unter Einbezug der Tatsache, dass der ÖPNV und die Fernbahn – wie sie aktuell aufgestellt sind – meistens zu wenig dazu beitragen können, um den Besitz eines Pkw in ländlicher Umgebung vermeiden zu können. Aber das kann man ja ändern.
>> s.a. Abschnitt Ländliche Gebiete in modernen Verkehrskonzepten mitdenken, S. 344.
Groll, Stefanie u. Primova, Radostina (2019): „EU-Verkehrspolitik: Wettbewerb mit Infrastruktur“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 45, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Zimmer, Wiebke (2019): „Die schwere Last Verkehr“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 26, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Wir sind Bewegungstiere – keine Sitztiere.
Der IST-Zustand
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Flächenverbrauch‘
Derzeitige Aufteilung des ‚ruhenden‘ öffentlichen Raums nach Rammler (2017, 60):
92% = Parkplätze für Autos (1 parkendes Auto benötigt etwa 12 qm Fläche)
und:
75 Menschen nutzen 50 Pkw und könnten alle in einem Bus fahren. Autos stehen täglich 23 Stunden rum – wollen wir in der Stadt: Parkplätze – oder: Plätze und Parks? Wir brauchen unversiegelten Raum in den sich klimabedingt aufheizenden Städten. Und lebenswerte Plätze für gemeinschaftsorientierte Menschen, die nicht mehr Vollzeit arbeiten, vgl. Marc Pendzich: Pecha Kucha „’Wohlstand‘ neu gedacht: Gemeinwohl & soziales Miteinander statt HöherSchnellerWeiter“, gehalten bei der Veranstaltung „Jedes Zehntel Grad, jede Art zählt: Die globale Umweltkrise als Chance“ des Zukunftsrat Hamburg, 16.02.2021 – https://youtu.be/GA4RImiZQsU (Abrufdatum 17.02.2021)
Autos stehen 23 Stunden still – oftmals im öffentlichen Raum.
Pro Tag benötigen Autofahrer*innen 2-5 Stellplätze. (bis hier Rammler 2017, 60)
„[V]iele Millionen Kfz-Stellplätze werden vorgehalten, weil das Fahrzeug immer irgendwo parken muss“ (Kopatz 2019, 78).
„[D]ie Pkw-Dichte [ist] in Deutschland allein im vergangenen Jahrzehnt um 13 Prozent gestiegen… Auf tausend Einwohner kommen 575 Autos“ (Pinzler 2020, 2).
Man geht davon aus, „dass über 30 Prozent des innerstädtischen Straßenverkehrs durch Parksuchverkehre verursacht wird“ (Rammler 2017, 60)1x. „Durchschnittlich 62 Stunden im Jahr suchen Berliner Autofahrer nach einem Parkplatz“ (Pinzler 2020, 2).
„Bezogen auf die EU-152 werden hinsichtlich des Parkens im öffentlichen Raum „nur 23 Prozent der Kosten durch die Benutzer ausgeglichen …, während die verbleibenden 77 Prozent der Kosten von der öffentlichen Hand getragen werden… Alle Stadtbewohner, ob Autobesitzer oder nicht, zahlen für das Privileg des Parkens im öffentlichen Raum“ (ebd., 62).
Katja Täubert fügt letzterem hinzu, dass die 12 qm des abendlichen Parkplatzes als Wohnraum monatlich 147 Euro kosten würden, ein Anwohnerparkschein in Berlin jedoch lediglich 10,40 Euro3 zu Buche schlägt – den Rest zahlen auch diejenigen, die nie einen Parkplatz benötigen (vgl. Täubert 2019, 25). Bernhard Pötter weist derweil darauf hin, dass „das Recht, sein Auto ein Jahr lang vor der Tür [bei der ‚Laternengarage“4] abzustellen, [in Stockholm] … 827 Euro [kostet]“ (2020, 3)5.
Allgemein gilt, dass in Deutschland jede*r Bürger*in – ob nun Autofahrer*in oder nicht – die externen Kosten für Automobilität mit über 2.000 Euro subventioniert:
Details: Erläuterungen zu (1) bis (5)
1 Der ADAC geht sogar von einem Anteil „[d]er Parksuchverkehr[e von] … 30 bis 40 Prozent des innerstädtischen Gesamtverkehrs aus“ (ADAC 2020).
2 EU-15 = Mitgliedsstaaten der EU bis einschließlich April 2004: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Dänemark, Irland, Griechenland, Portugal, Spanien, Finnland, Österreich, Schweden
3 Kostendeckend wären ca. 15 Euro. Pro Autobesitzer*in. Pro Tag. (vgl. Pinzler 2020, 2)
4 Bartsch et al. 2019, 18
5 Seit sieben Jahren verzeichnet die Caravanbranche Rekordjahre an Neuzulassungen von Reisemobilen (2020: 73.000 Neuzulassungen) und Wohnwagen (28.000 Neuzulassungen) – durch die besonders großen Fahrzeuge erhöht sich insbesondere im Winterhalbjahr der Raumdruck in den Städten. Selbstredend wird ein Teil dieser Wohnmobile auch auf eigenen Grundstücken geparkt – aber so ein großes Grundstück muss man erstmal haben, dass das möglich ist. Reisemobile können des Weiteren die Verkehrssicherheit beeinträchtigen, weil sie deutliche Sichtbehinderungen darstellen (vgl. Kriegel 2021).
„[F]ive countries [incl. Germany] have at least 2.000 € uncovered costs for every one of their registered cars“ (Becker et al. 2012, 37).
Da bleibt letztlich nur eine Folgerung, wie sie z.B. der Verkehrsplaner Georg Dunkel formuliert:
„Wir müssen den öffentlichen Raum neu denken.“ (Bartsch et al. 2019, 15)
Hier kommt der Begriff der Flächengerechtigkeit ins Spiel, illustriert am Beispiel von Amsterdam:
„Platzbedarf von Verkehrsmitteln … in Bewegung, in Quadratmetern pro Person“:
> Auto in Betrieb mit einer Person bei 50 km/h = 140 Quadratmeter > Straßenbahn mit 50 Passagieren = 7 Quadratmeter > Rad mit 15 km/h = 5 Quadratmeter > Fußgänger*in laufend = 2 Quadratmeter (Drewes 2019, 12)
In Berlin nehmen parkende Autos 19%, fahrende Autos 39% und Fahrräder 3% der Verkehrsflächen ein.
Der Anteil an zurückgelegten Wegen beträgt aber 30% bzw. 13%.
„Wäre die Straßengestaltung ‚flächengerecht‘, müssten die Radwegflächen mehr als vervierfacht werden“ (ebd., 13).
Und das wäre sinnvoll, denn die Zahl der Unfälle zwischen Fahrradfahrer*innen nimmt zu:
„‚Ein Grund dafür dürfte sein, dass das vorhandene Radwegenetz dem veränderten Radverkehrsaufkommen [inkl. E-Bikes und E-Scootern] nicht mehr gewachsen ist‘, sagt Unfallforscher Jörg Kubitzki vom Allianz Zentrum für Technik“ (ebd.).
Sabine Crook, Vorsitzende des VCD Darmstadt-Dieburg:
„Wie pervers ist das eigentlich: Ein kleiner Kerl sitzt in einem Riesending und kurvt durch die Straßen, um einen Parkplatz zu finden. Überall in der Stadt stehen diese großen Autos rum und behindern Radfahrer und Fußgänger“ (Lange 2020, 35).
Bartsch, Matthias et al. (2019): „Mobil ohne Stau“. in: Der Spiegel, Nr. 27/29.6.2019, S. 15.
Becker, Udo et al. (2012): „The True Costs of Automobility: External Costs of Cars Overview on existing estimates in EU-27“. in: Technische Universität Dresden, 2012, online unter https://tud.qucosa.de/api/qucosa%3A30084/attachment/ATT-0/ (Abrufdatum 11.5.2020)
Drewes, Sabine (2019): „Urbaner Raum: Von der autogerechten zur lebenswerten Stadt“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 12, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Lange, Kirsten (2020): „Radfahren ist politisch“ [Interview mit Sabine Crook, Vorsitzende des VCD Darmstadt-Dieburg]. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 2/2020, S. 35.
Pinzler, Petra (2020): „Laufen und laufen lassen“. in: Die Zeit, Nr. 39/17.9.2020, S. 2-3.
Pötter, Bernhard (2020): „Beatmungshilfe für die Automobilindustrie“. in: tageszeitung, 25.5.2020, S. 3.
Rammler, Stephan (2017): Volk ohne Wagen. Streitschrift für eine neue Mobilität. Fischer, S. 60 u. 62.
Täubert, Katja (2019): Mit Füßen und Pedalen: Hol dir deine Stadt zurück. Hg. vom VCD [Verkehrsclub Deutschland].
Seit 1945 wurden weltweit 120 Millionen Menschen durch Autos getötet. Und dazu soll es keine Alternative geben?“ Franz Alt (2020, 16)
Thema ‚Verkehrsopfer inkl. Luftverschmutzung‘
Direkte Opfer des Motorisierten Individualverkehrs (MIV)
Etwa 3.000 Menschen sterben in Deutschland jährlich im Straßenverkehr (vgl. Rammler 2017, 25)1 = ca. alle 3 Stunden 1 Mensch.
2019 = 3.046 | 2017 = 3.180 Menschen, davon etwa 60 Kinder (vgl. Kühne 2020, 5; Reek 2019; Täubert 2019, 46)
Täglich kommt mindestens ein(e) Fahrradfahrer*in ums Leben (vgl. Kopatz 2019, 81)
2019 = 445 tödlich verunglückte Fahrradfahrer*innen, davon 118 (mehrheitlich ältere) Pedelec-Fahrer*innen (vgl. Zeit 2020; s.a. Schwarzer 2020)
Details: Erläuterungen zu (1)
1 2016 wurden in Deutschland 173 Menschen ermordet (vgl. Precht 2018, 189); „2015 und 2016 starben in ganz Westeuropa hundertfünfzig Menschen an den Folgen terroristischer Anschläge. In dieser Lage ist das Versprechen, den Verkehr auf deutschen Straßen sehr viel sicherer zu machen, ein Segen“ (ebd.).
Dass es 1970 (keine Gurtpflicht, andere Promillegrenzen etc.) noch 21.332 Verkehrstote waren, macht die Sache nicht besser (vgl. Reek 2019), eine Relativierung ist m.E. nicht zulässig:
Jede*r tote Verkehrsteilnehmer*in ist eine*r zu viel.
Und das ist keine nur so eine dahingesagte, leere Formel:
Vision Zero ist kein bloßer Wunsch, sondern angesichts der heutigen Machbarkeit ein Anspruch und eine Forderung, hinter dem/der wir nicht zurückbleiben sollten.
Stattdessen sieht es derzeit so aus:
2019 = 384.000 | 2018 = 395.798Verletzte auf Deutschlands Straßen. (vgl. Kühne 2020, 5 u. Täubert 2019, 47).
„In den Medien wird hauptsächlich die Zahl der Verkehrstoten diskutiert.
Das große Leid der direkt Betroffenen wird vernachlässigt.
Viele Schwerverletzte, die oft nur dank der verbesserten Notfallmedizin überleben, sindfür ihr Leben lang gehandicapt“ (Täubert 2019, 47).
„In den Städten werden pro Jahr rund 250.000 Personen verletzt, davon35.000 schwer;
zwei Drittel der Unfälle werden mit einem Pkw verursacht.
Besonders betroffen ist dort, wer zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist“ (Müller-Görnert 2019, 29).
„Waren Autofahrerinnen oder -fahrer an einem Radunfall mit Personenschaden beteiligt, trugen die Radfahrenden nur in 23,4 Prozent der Fälle die Hauptschuld. Bei Radunfällen mit Güterkraftfahrzeugen lag der Anteil noch darunter: Nur zu 18,8 Prozent wurde die Hauptschuld bei der Radlerin oder dem Radler gesehen“ (Zeit 2020).
„70 Prozent der Menschen, die [in Europa] im Stadtgebiet bei Unfällen sterben, sind Radfahrer, Motorradfahrer und Fußgänger“ (Baldwin 2020).
„18 Prozent aller Unfälle, bei denen Radfahrer oder Fußgänger verletzt werden, [hängen] mit parkenden Autos zusammen“ (Kühne 2020, 5).
„Laut statistischem Bundesamt waren im vergangen Jahr [2018] gut 50.000 Radfahrer in Unfälle mit Autos verwickelt. Nach Hochrechnungen der Unfallforschung der Versicherer (UDV) für unsere Redaktion auf Basis ihrer eigenen Unfalldatenbank gingen davon rund 3.500 Unfälle auf plötzlich geöffnete Autotüren zurück, das sogenannte ‚Dooring‘. Dabei gab es rund 700 Schwerverletzte. Zahlen zu [Dooring-bedingten] Todesopfern gibt es nicht, aber immer wieder Berichte darüber“ (Schulte 2019, 22).
Dooring wäre leicht zu vermeiden: per ‚Holländergriff‘. Wird sämtlichen niederländischen Fahrschüler*innen beigebracht: Die Fahrertür wird grundsätzlich mit der rechten Hand geöffnet, sodass man sich automatisch zur Fahrbahn umdreht und sieht was Sache ist. (Entsprechendes gilt für die Beifahrertür etc.).
2017: „Im Durchschnitt wurde 2017 in Deutschland alle 18 Minuten ein Kind unter 15 Jahren im Straßenverkehr verletzt oder getötet“ (Täubert 2019, 46).
„Der Journalist Roland Stimpel, der sich mit der Sprache des Verkehrs beschäftigt hat …, meint, dass sich in den Meldungen der Polizei das Denken der Allgemeinheit spiegele: Wenn jemand mal wieder ‚nicht auf den Verkehr achtet‘, dann sei damit unterstellt, der Autoverkehr sei der einzige, den es gebe. Fußgänger störten da nur. Wenn jemand schreibe, ‚eine Auto haben einen Fußgänger ‚erfasst‘ und ‚touchiert‘ statt ‚gerammt‘ oder ‚überfahren‘, dann verniedliche das den Unfall. Victim Blaming nennt man das im angelsächsischen Raum, wenn das Opfer für die Tat verantwortlich gemacht wird. In Hannover wurde kürzlich gemeldet, ein Radfahrer sei von einem überholenden Auto gerammt und schwer verletzt worden, und gleich zweimal wurde erwähnt, dass der Radfahrer keinen Helm getragen habe“ (Pinzler 2020, 3).
Jeder zehnte Verkehrsunfall geschieht unter Handy-/Smartphone-Einfluss.
„Damit wäre die Ablenkung für mehr tödliche Unfälle verantwortlich als Fahrten unter Alkoholeinfluss“ – so der Sprecher des ADAC-Landesverbandes Hamburg gegenüber dem Hamburger Abendblatt (2019, 8).
Das bedeutet zugespitzt, dass sehr vielen Menschen eine depperte sms oder eine Wo-bist-Du-Whats-app wichtiger ist als das Leben der anderen Verkehrsteilnehmer*innen.
Details: Unfälle unter Smartphone-Einfluss
„Zwei Sekunden Ablenkung bei Tempo 50 bedeutet den Wissenschaftlern zufolge mehr als 27 m ‚Blindflug‘. Das Schreiben einer sms oder das Abrufen von E-Mails erhöht das Unfallrisiko um ein Vielfaches“ (Lobe 2016, 32).
1 (Verkehrs-)Toter = 113 Opfer
Die Hamburger Polizei hat 2017 in einer Plakataktion herausgestellt:
1 Toter = 113 Opfer
„Wenn ein Mensch bei einem Verkehrsunfall stirbt, sind [zusätzlich zum tödlich Verunglückten] durchschnittlich 11 Familienangehörige, 4 enge Freunde, 56 Freunde und Bekannte nachhaltig betroffen sowie 42 Einsatzkräfte wie Rettungssanitäter, Feuerwehrkräfte oder Polizisten mit diesem schweren Schicksal konfrontiert.“ (Plakattext, vgl. Truscheit 2017)
3180×113 = 359.340 Betroffene
>> zzgl. der in dieser Statistik nicht auftauchenden Schwerverletzten, die versehrt bleiben, vielleicht sogar berufsunfähig sind, und deren Familienangehörige, Freunde etc. pp.:
Unfallchirurg Christopher Spering:
„Sich allein auf die Todeszahlen zu fokussieren, reicht … nicht aus. Menschen sollen Unfälle auf Autobahnen nicht nur überleben, sondern anschließend wieder ein lebenswertes Leben führen.“ (2020)
1 Toter bei einem #Verkehrsunfall – das bedeutet 113 Betroffene. In ganz Hamburg seht ihr zurzeit unsere Plakate, die alle Verkehrsteilnehmer an die Aufmerksamkeit im Straßenverkehr erinnern sollen. pic.twitter.com/PjE0cOi2xB
Das sind eine Menge Schicksale und viele, viele Betroffene.
Ist in Deutschland ein anderer Lebensbereich denkbar, in dem derart viele Bürger*innen angesichts solcher Zahlen gleichfalls mit den Schultern zucken würden?
…mehr
Beim finalen Lektorat ist mir aufgefallen, dass Stefan Rahmstorf in einem anderen Bereich, konkret bei den 70.000 Hitzetoten im Jahre 2003 ein ähnliches gesamtgesellschaftliches Schulterzucken beobachtet, siehe Abschnitt Klimakrisen-Folgen zu Lebzeiten der derzeitigen Entscheider*innengeneration – in Deutschland, S. 122.
Michael Kopatz hat zu solchen Zahlen eine klare Auffassung:
„Es ist mehr als berechtigt, [bezugnehmend auf GG Art. 2 (2) ‚körperliche Unversehrtheit‘] von der Verfassungswidrigkeit des Automobils zu sprechen. Auf der Anklagebank [sic! – gemeint ist die ‚Klägerbank‘] säßen Jahr für Jahr mehr als 64.000 Schwerverletzte und die Angehörigen von 3.400 getöteten Menschen. Das ist wohl die umfassendste Verletzung unserer Grundrechte, die man sich vorstellen kann (2016, 214).
Im Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU der aktuellen Regierung Merkel steht, dass sich die Parteien „der ‚Vision Zero‘, also der mittelfristigen Senkung der Anzahl der Verkehrstoten auf null… verpflichtet“ (CDU 2018) sehen.
Ich für meinen Teil vermag hier bislang keinerlei Bewegung in der Koalition zu erkennen.
Es geht auch anders:
Anzahl getöteter Rad- und Fußgänger*innen in Helsinki und Oslo 2019: Null. Nada. Zero. (vgl. Geo 2020, 30)
In ganz Norwegen kam 2019 „kein einziges Kind unter 16 Jahren bei einem Unfall ums Leben“ (Geo 2020, 30): „Im Umkreis von Grundschulen … dürfen gar keine Autos mehr fahren“ (ebd.).
Wie man der Vision Zero einen entscheidenden Schritt näher kommt, hält das Dutch Institute für Road Safety Research fest:
„Humans make errors an dwillingly or unwillingly break rules. This is a given that cannot be changed. So roads and streets should be designed in such a way that this natural human behavior does not lead to crashed and injuries.“ (zit. in Bruntlett/Bruntlett 2018, 67)
Das Schlusswort dieses Abschnitts gebührt Marion Tiemann, Greenpeace-Verkehrsexpertin zum Radverkehr:
„Wenn das umweltfreundlichste Verkehrsmittel gleichzeitig das gefährlichste ist, dann läuft in der Verkehrspolitik etwas grundfalsch.“ (zit. in Sonnenseite 2019)
Quellen des Abschnitts Direkte Opfer des Motorisierten Individualverkehrs
Alt, Franz (2020): Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt: Schützt unsere Umwelt. [Der Dalai Lama im Gespräch mit Franz Alt]. Benevento.
Bruntlett, Melissa u. Bruntlett, Chris (2018): Building the Cycling City: The Dutch Blueprint for Urban Vitality. Island Press.
CDU (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode, Ziffer 3641, S. 79, online unter https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1/ (Abrufdatum 20.11.2019)
Geo (2020): „Eine Maut, die Leben rettet“. in: Geo 7/2020, S. 30.
Herder, Daniel und Mittelacher, Bettina (2019): „Handy im Straßenverkehr – die unterschätzte Gefahr“. in: Hamburger Abendblatt, 12.8.2019, S. 8.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Kühne, Benjamin (2020): „Keine Besserung in Sicht“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 4/2020, S. 5.
Lobe, Adrian (2016): „Finger weg vom Display“. in: Die Zeit, 21.12.2016, S. 32.
Müller-Görnert, Michael (2019): „Gesundheit: Atemlos in der Stadt“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 29, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Pinzler, Petra (2020): „Laufen und laufen lassen“. in: Die Zeit, Nr. 39/17.9.2020, S. 2-3.
Precht, Richard David (2018): Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann.
Rammler, Stephan (2017): Volk ohne Wagen, Streitschrift für eine neue Mobilität. Fischer. S. 25.
Indirekte Opfer des motorisierten Individualverkehrs (MIV)
Von der Vision Zero sind wir derzeit weit weg – zumal zu den direkten Verkehrsopfern noch wesentlich mehr indirekte Verkehrsopfer hinzukommen:
In Europa starben „2016rund 400.000 Menschen vorzeitig“ (Charisius 2019) aufgrund von Luftverschmutzung. In ‚verlorenen Lebensjahren‘ gerechnet bedeutet dass 4,2 Mio Lebensjahre wegen Feinstaub, 707.000 Lebensjahre wegen Stickstoffdioxid und aufgrund der Ozonbelastung 160.000 Lebensjahre.
„Verkehr, Energieerzeugung und Landwirtschaft sowie die Industrie sind die wesentlichen Quellen des Drecks in der Luft. Wobei insbesondere die Belastung durch Verkehr und Landwirtschaft nahezu konstant geblieben ist, während sie in den anderen Bereichen zurückgegangen ist“ (ebd.).
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Die EU-Umweltagentur bestätigt 2020 diese Zahlen: „Mehr als 400.000 Menschen in der EU sterben laut Studie jährlich vorzeitig an den Folgen von Luftverschmutzung, etwa durch Autoabgase oder fossile Kraftwerke. Feinstaub ist dabei das größte Übel: 379.000 vorzeitige Todesfälle sind auf ihn zurückzuführen“ (Schwarz 2020, 8).
„Im Jahr 2016 trug … die Feinstaubbelastung zu über 44.800 frühzeitigen Todesfällen in der Bundesrepublik bei, 8.000 davon seien auf die Verbrennung von Kohle zurückzuführen. Insgesamt habe die Luftverschmutzung 2016 weltweit zu 7 Millionen Todesfällen geführt, 2,9 Millionen davon habe Feinstaub verursacht“ (Zeit 2019).
Abweichende Zahl: 2017 geht man allein bei Feinstäuben von 74.300 Todesfällen pro Jahr in Deutschland aus (vgl. Drieschner 2017).
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Frank Drieschner hat die Zahl der direkten und indirekten Verkehrstoten für Hamburg herunter gebrochen: Pro Jahr gibt es in Hamburg allein aufgrund des Autoverkehrs durchschnittlich 31 Tote durch Unfälle, minimal 36 Lärmtote (durch Pkw/Lkw), mindestens 70 NOx-Opfer (von Autoabgasen!), 333 Tote wg. Feinstaub aus Straßenverkehr. Davon losgelöst gibt es in Hamburg jährlich 12 Tote durch Gewalt. Letzteres ist schlimm. Aber es ist auf seine Weise ebenfalls furchtbar, dass sich über die 31 Unfallopfer sowie die weiteren 36+70+333 Toten kaum niemand wirklich aufregt, kaum darüber berichtet wird und diese Menschen sozusagen als ‚Wohlstandsopfer‘ gesehen werden, die man als gegeben hinnimmt. Die Tatsache, dass in Deutschland so massiv auf Autos gesetzt wird, bedeutet allein in Hamburg statisch gesehen folglich 470 Todesopfer jährlich (vgl. Drieschner 2017, 4).
„In Deutschland sind allein 13.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr auf Feinstaub und Ozon aus dem Verkehr zurückzuführen. Aufgrund von Stickoxidemissionen im Straßenverkehr sterben weitere rund 2.500 Menschen vorzeitig.“ (Müller-Görnert 2019, 28)
„In Deutschland wurde … [die europäischen Grenzwerte für Feinstäube und Stickoxide] in 65 Städten überschritten. In Deutschland sterben pro Jahr rund 13.000 Menschen frühzeitig an Krankheiten und Beschwerden, verursacht durch Luftschadstoffe aus dem Verkehr … Damit hat Deutschland, hinter China, Indien und den USA, die weltweit vierthöchste Zahl an frühzeitigen Todesfällen durch verkehrsbedingte Luftverschmutzung“ (Täubert 2019, 41).
Angesichts dieser Zahlen erscheinen Durchfahrverbote m.E. absolut verhältnismäßig. Was man nicht sieht, existiert nicht? Stickstoffe? CO2? Klima? Massenaussterben? Mikroplastik? Albtraumhafte Arbeitsplätze auf Traumschiffen? Kinderarbeit? Faktische Sklaven? Nur weil diese Verkehrstoten nicht niedergestreckt auf der Straße liegen, gibt es diese Opfer trotzdem.
Anmerkung anlässlich Covid-19
Das Max-Planck-Institut für Chemie verweist darauf, „dass allein in den ersten zwei Wochen des Lockdown statistisch gesehen 7.400 Menschen weniger an dreckiger Luft gestorben sind als üblich. 6.600 Kinder weniger erkrankten hat Asthma, weil weniger Ruß, Stickoxide und andere Schadstoffe in der Luft sind“ (taz 2020, 9). Das wirft Fragen auf: Wie kann es sein, dass die Menschheit ‚Opfer von Verschmutzung‘ als hinnehmbar betrachten? Und, eine absurd anmutende Anmerkung: Es könnte am Ende der Covid-19-Krise so kommen, dass in Deutschland trotz der vielfach tödlichen Pandemie statistisch gesehen mehr Menschen überleben als ohne sie, zum Beispiel in Relation zum Jahr 2019. Was nicht als Kritik an der Lockdown-Politik der Bundesregierung zu verstehen ist – jedoch als harsche Kritik an der Verkehrspolitik.
Und es trifft nicht nur die Erwachsenen:
„In den Industrienationen erkrankt bereits jedes zehnte Kind an Asthma“ (Täubert 2019, 41).
„Kinder zwischen sieben und zehn Jahren, die weniger als 100 Meter von einer Hauptverkehrsstraße entfernt leben, leiden fast drei Mal wahrscheinlicher an Asthma als Kinder, die mehr als 400 Meter weiter entfernt aufwachsen“ (zit. in Sonnenseite 2018, vgl. Studie „Lifetime Exposure to Ambient Pollution and Lung Function in Children“ von Rice et al. 2016).
Und die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, die seit 2014 Paris einer umfassenden Verkehrswende unterzieht und unlängst, nach einem überaus grün-visionären Wahlkampf (vgl. Thiele 2020), mitten in Covid-19-Zeiten im Juni 2020 in ihrem Amt bestätigt wurde, bemerkte 2016:
„2.500 Menschen sterben jährlich in Paris an den Folgen der Luftverschmutzung. … Der Verkehr generiert zwei Drittel der CO₂-Emissionen und 56 Prozent der Belastungen durch Feinstaub“ (zit. in Simons 2016).
Hinter derartigen Todeszahlen stehen selbstredend ungleich höhere Erkrankungszahlen:
Axel Haverich, Herzspezialist, Leiter der Herzklinik der Medizinischen Hochschule der MHH:
„Ich kann Herrn Scheuer gerne auf elektromikroskopischen Aufnahmen die Dieselpartikel zeigen, die wir in Arterienverkalkungen gefunden haben – und zwar bei der Hälfte der Arteriosklerose-Erkrankten, die wir untersucht haben“ (2019).
Der Pneumologe Christian Witt von der Berliner Charité wies bereits 2005 (!) darauf hin, dass
„bundesweit 60.000 Bürger im Jahr früher sterben wegen erhöhter Schadstoffbelastung in der Luft“ (Welt 2005).
Zahlen: Mobilitätsatlas 2019, 28, Bartz/Stockmar, cc by 4.0
So mutet es nicht verwunderlich an, wenn Ärzte davon abraten, sich länger an großstädtische Hauptverkehrsstraßen aufzuhalten:
„Viele Lungenfachärzte fragen ihre Patienten inzwischen, wo sie wohnen, und raten gegebenenfalls zu einem Umzug in eine weniger belastete Umgebung…“ (moz 2018)
äußert sich Witt, der zudem Patienten empfiehlt
„längere Spaziergänge entlang mehrspuriger, vielbefahrener Straßen wie etwa der Frankfurter Allee in Berlin [zu] vermeiden“ (Maier 2017).
Auch komplett gesunden Menschen sollten sich in dieser Hinsicht nicht in Sicherheit wiegen:
So findet sich ein Hinweis, dass mittlerweile sogar gesunde Menschen lieber nicht mehr in ihrer eigenen Stadt längere Zeit in der Nähe von großen Straßen ihre Lungen benutzen sollten, in einer britischen Studie, der zu Folge zweistündige Spaziergänge an Hauptverkehrsstraßen selbst bei gesunden Menschen erhebliche negative Effekte auf den Puls und die Lungenfunktion haben (vgl. Koch 2018).
Die schlechte Luftqualität beeinträchtigt übrigens nicht nur Anwohner*innen, Fußgänger*innen und Radfahrer*innen, sondern auch „die Autofahrer selbst, die sich über ihre Belüftungsanlagen selbst vergiften…“ (Rammler 2017, 67).
Details
Zitat aus der größten Autozeitschrift der Welt: „Die meisten Autos sind ab Werk mit einem ‚normalen‘ Innenraumfilter ausgerüstet, der nur verhindert, dass Pollen und Staub durch die Lüftung ins Fahrzeug und damit in die Atemluft gelangen. Die schädliche NO2-Belastung durch Dieselabgase verhindern diese Filter nicht… Aktivkohlefilter [werden] in den meisten Neuwagen nicht serienmäßig verbaut“ (Krohn 2018). Der ADAC sieht es ein halbes Jahr später so: „Ein großer Teil der aktuellen Pkw-Modelle wird bereits serienmäßig mit Aktivkohle-Kombifiltern ausgeliefert“ (2019). Das bedeutet, dass o.a. Bemerkung, dass Autofahrer*innen sich über ihre Belüftungsanlagen selbst vergiften für die meisten Non-Neuwagen-Automobilist*innen weiterhin zutreffend ist.
Zahlen: Mobilitätsatlas 2019, 29, Bartz/Stockmar, cc by 4.0
Man kann sogar sagen, dass es insbesondere Autofahrer*innen durch Abgase beeinträchtigt werden:
„In einem Test hat die Autobild-Redaktion [im Innenraum von Autos] Spitzenwerte von 500 Mikrogramm Stickstoffoxid pro Kubikmeter Luft gemessen. Die EU schreibt Grenzwerte von 40 Mikrogramm im Jahresmittel vor. Spitzenwerte dürfen höchstens 18-mal pro Jahr über 200 Mikrogramm steigen“ (Zepp 2018, 15).
Diese „Grenzwerte der EU orientieren sich an den WHO-Empfehlungen, wobei diese teilweise noch niedriger liegen. Die EU-Grenzwerte sind also Mindeststandards“ (Albrecht 2018, 17).
In der Tat:
„Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt seit 2005 höchstens zehn Mikrogramm pro Kubikmeter. Und sogar das scheint zu hoch, wie eine neue Beobachtungsstudie aus den USA zeigt: Selbst unterhalb der WHO-Empfehlung nimmt die Sterblichkeit mit der Dosis zu“ (Heißmann 2017).
Eine gute Nachricht für Menschen, die der Bequemlichkeitsfalle bereits entkommen sind – lautet:
„Fährt man die gleiche Strecke mit dem Auto oder dem Rad, ist die Lungenfunktion bei Autofahrern schlechter. Der Trainingseffekt des Radfahrens überwiegt anscheinend den Negativeffekt der Luftbelastung um ein Mehrfaches“ (Heißmann 2017).
Zu diesem Ergebnis trägt sicher bei, dass Spitzenwerte von 500 Mikrogramm Stickstoffoxid pro Kubikmeter Luft wohl vorrangig in Autoinnenräumen und nicht an der bewegten Außenluft entstehen.
>> Gleichwohl es dieses spannende Studienergebnis gibt, gebe ich zu bedenken, dass man ungleich tiefer einatmet als die/der Kreislauf-runtergefahrene Autofahrer*in. Für längere Radfahrten entlang der Neckartor- und Frankfurter-Max-Brauer-Landshuter-Allee-SUV-Einfallschneisen habe ich mir mittlerweile eine extra für Radfahrer*innen entwickelte Atemmaske mit Kohleaktivfilter besorgt. In der Hoffnung, sie bald nicht mehr zu benötigen.
Bei alledem wurden Krankheiten, die durch die Lärmbelastung durch Straßenverkehr entstehen können, (fast) noch gar nicht erwähnt:
„Laut einer Umfrage des Umweltbundesamts fühlen sich in Deutschland drei Viertel aller Bürgerinnen und Bürger in ihrem Wohnumfeld durch den Straßenverkehrslärm belästigt. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Beschwerden bis hin zu Depressionen können Folgen dieser dauerhaften Belastung sein. Bei Kindern kann sie die Sprachentwicklung und die mentale Leistungsfähigkeit beeinträchtigen“ (Müller-Görnert 2019, 28).
Laut der EU-Umweltagentur birgt Lärm die zweitgrößte Gesundheitsgefahr in der EU – nach Luftverschmutzung: Oben genannte Hör-Stressfaktoren führen „in der EU jährlich zu 12.000 vorzeitigen Todesfällen“ (Schwarz 2020, 8).
Vor 100 Jahren, zwischen 1906 und 1914, war man z.B. in Hamburg schon viel weiter, als heute:
In dieser Zeit gab es „ein Verbot für benzingetriebene Pkw in Hamburgs Zentrum. Neben Fuhrwerken und elektrischen Straßenbahnen beherrschten zwischen 1906 und 1914 Elektrotaxis, die Hedag-Elektrodroschken, das Hamburger Straßenbild. … [D]ie Vorteile batteriebetriebener Fahrzeuge [mit einer Reichweite von 80 Kilometern und auswechselbaren Batterien lagen] damals für die meisten Beobachter auf der Hand. Autos mit Benzinmotoren galten als laut und dreckig, belasteten die Umwelt mit ihren Abgasen und wurden daher in der Hamburger Bürgerschaft als ‚Stinkbomben‘ beschimpft. [Indes]… hatten Elektroautos schon damals ein Imageproblem… [sie waren nahezu geräuschlos, entsprechend unauffällig] galten [daher] als nicht ‚mannhaft‘ genug“ (Bick 2019, 22-23). (Hedag = Hamburger Elektrische Droschken Automobil-Gesellschaft)
Oh, Mann.
Quellen des Abschnitts Indirekte Opfer des motorisierten Individualverkehrs
Albrecht, Tim (2018): „‚Die meisten sind Betroffene’“. [Michael Müller-Görnert im Interview mit Tim Albrecht]. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 4/2018, S. 17.
Bick, Stefan (2019): „Hamburgs ‚elektrisches Zeitalter‘“. in: Klönschnack, 8-2019, S. 22-24. – der Artikel folgt massiv und teils nahezu wörtlich: Kempkens, Sebastian (2019): „Als in Hamburg nur Elektrotaxis fahren durften“. in: Die Zeit, 10.3.2019, online unter https://www.zeit.de/2019/10/elektrotaxi-clevershuttle-vw-fahrdienst-moia-fahrzeug (Abrufdatum 8.6.2020)
Müller-Görnert, Michael (2019): „Gesundheit: Atemlos in der Stadt“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 28, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Rammler, Stephan (2017): Volk ohne Wagen. Streitschrift für eine neue Mobilität. Fischer.
Rice, Mary B. et al. (2016): „Lifetime Exposure to Ambient Pollution and Lung Function in Children“. in: US National Library of Medicine National Instuitutes of Health, 15.4.2016, online unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4849180/ (Abrufdatum 24.6.2020)
Schwarz, Susanne (2020): „Ungesunde Umwelt“. in: tageszeitung, 9.9.2020, S. 8.
Zepp, Valeska (2018): „Sorgenfrei durchatmen. Atemmasken für Radfahrerinnen und Fußgänger sind keine Lösung […]“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 4/2018, S. 15.
Michael Kopatz‘ „Zehn Gebote zur Ökoerlösung: 6. Du sollst die Stadt nicht mit deinem Auto verstopfen.“1
Thema ‚Immer mehr Autos auf den Straßen in Deutschland‘
Ein Zwischengedanke:
„Wir richten uns ein mit dem täglichen Tod auf den Straßen, dem zermürbenden Lärm bei Tag und Nacht, der Zerstörung von Landschaft und Natur.“
Oberstadtdirektor Neuffer, Hannover, 1972, zitiert nach Rammler 2017, 21
Menschen sind nicht rational:
„[E]twa achtzig Prozent der Bundesbürger [wünschen] sich weniger Autos, sauberere und leisere Städte… [G]leichzeitig [steigt] aber das PS-Niveau der Neuwagen und die Zulassungsquote von SUVs stetig [an]“ (Rammler 2017, 25).
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Der „Maxi-SUV“ Mercedes GLS ist mit 5,21 m „so breit, dass die Ingenieure eine Funktion zum Einknicken der Räder entwickeln mussten. Nur so passt er in die Spurführung von Waschstraßen“ (DUH 2019). Konkret baute man einen ‚Waschstraßenassistenten‘ ein: „Unter anderem fährt die Luftfederung in die höchste Stellung, was die Spurbreite etwas verringert[, sodass das Auto in die Waschstraße passt], die Spiegel klappen ein, Schiebedach und Scheiben schließen“ (Specht 2019). Ich bin sprachlos. Zu einem solchen Auto meint Max Küng: „[M]an [kommt] nicht umhin … zu denken, dass ein solcher fahrbarer Gewaltexzess nur von einer Industrie hervorgebracht werden kann, die blind ihrem Ende entgegen rast. Eine Industrie, welche förmlich um den Fangschuss bettelt“ (2019).
Details: Erläuterungen zu (1)
… und weiter: „Nimm den Bus, die Bahn oder ein Rad. Nimm jeden Monat an der Fahrraddemo ‚Critical Mass‘ teil“ (Kopatz 2019, 8).
Zu bedenken ist:
„‚Frankfurt ist in den vergangenen zehn Jahren um 100.000 Menschen gewachsen – und die sind nicht alleine gekommen, sondern haben 50.000 Autos mitgebracht‘“ (Verkehrsdezernent Klaus Oesterling in Bartsch et al., 2019, 18).
Der Verkehrsplaner Georg Dunkel analysiert für München den stetigen Zuzug von Menschen und das Pendler*innenverhalten:
„Wenn alle Verkehrsteilnehmer ihre Gewohnheiten beibehalten,… werde es in den Landeshauptstadt im Jahre 2030 keine Rushhour mehr geben, also keine ‚ausgeprägten Stauspitzen‘ am Morgen und am frühen Abend. [Georg] Dunkel hat dazu eine Grafik entworfen, statt Amplituden weist sie eine flache Linie aus, die ‚Dauer-Hauptverkehrszeit‘ mit nahezu 100-prozentiger Auslastung der Straßenkapazität von 6 Uhr bis 21 Uhr. Ein Verkehrsinfarkt“ (Bartsch et al. 2019, 15).
Non-Fun-Fact Staulänge in Deutschland: 2006 = 359.000 Kilometer | 2018 = 1.528.000 Kilometer
>> vgl. Fedrich 2020, 196-197. „Einmal von der Erde zum Mond zur Erde zum Mond und wieder zurück zur Erde – so lang wäre die Schlange, wenn die deutschen Staus eines Jahres [– von denen es täglich 2000 gibt –] aneinandergereiht würden“ (ebd., 197).
Ein Zwischengedanke von Franz Alt, 2019:
„Deutsche mit Auto verbringen mehr Zeit im Stau, als sie Zeit haben für Sex. Ist das Lebensqualität? Die 150 Stunden bedeuten jedes Jahr einen volkswirtschaftlichen Verlust von 250 Milliarden Euro. Die Automobilität macht immer mehr Menschen immobil.“
Das Platz- bzw. Stauproblem ist rechnerisch gesehen leicht zu lösen:
Was für ein Potenzial an Platz, Ressourcen, guter Luft und Energie!
„Um von zu Hause mit dem Auto in die Stadt zu fahren, nutzen 75 Menschen 50 Pkw. Sie könnten auch alle mit einem Bus fahren“ (fairkehr 2018).
Dazu eine Zahl aus dem Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen in Hamburg, 2020:
„Der Anteil des Wirtschaftsverkehrs am innerstädtischen Straßenverkehr (ohne Durchgangsverkehr) liegt in Hamburg bei ungefähr 32%. Dazu gehören nicht nur die kleinen, mittleren und großen Lkw (Güterwirtschaftsverkehr), sondern auch die Transporter sowie viele Pkws z.B. für Handwerker*innen oder Servicetechniker*innen (Dienstleistungsverkehr mit Waren)“ (111).
Der Wirtschaftsverkehr ist sicher optimierbar, etwa durch den Einsatz von Lastenrädern und die Vermeidung der sog. ‚letzten Meile‘ durch die individuelle Anlieferung von kleinen Paketen (vgl. S. 366), deren Empfänger*innen allzu oft nicht angetroffen werden. Doch bleibt, dass dieser Lieferverkehr nicht beliebig zurück stehen kann – und es somit Priorität hat, dass Bürger*innen auf dem Weg zum Arbeitsplatz etc. eher ohne Pkw unterwegs sind.
Exkurs.
Wenn wir in Deutschland vom typischen Autofahrer sprechen, meinen wir statistisch gesehenMänner:
Zurückgelegte Entfernung pro Tag, durchschnittlich: Frauen = 33 Km | Männer = 46 km
„Während Männer und Frauen etwa gleich viel den öffentlichen Verkehr nutzen, ist der Unterschied beim Auto frappierend. Am Steuer sitzen mehrheitlich Männer. Die Carsharing-Quote bei Männern liegt bei 62 Prozent. … Insgesamt dürfen Straßen mit viel Autoverkehr daher als männlich dominiert gelten“ (Krüger 2019, 41).
Kaum jemand denkt über diesen Gender-Aspekt nach – sollten wir aber, denn das bedeutet nicht weniger als:
Es sind vorwiegend (ältere) Männer, die gegen ein Tempolimit sind. (vgl. Aspekt Tempolimit, S. 316)
„Die autogerechte Stadt ist somit auch nicht gendergerecht. Eine Verkehrs- und Stadtpolitik ‚für alle‘ macht die Verkehrsmittel attraktiver, die vor allem von Frauen, Kindern und älteren Menschen genutzt werden. Ziel ist, dass sich alle auf den Fuß- und Radwegen sowie den Überwegen gefahrlos bewegen können. Der öffentliche Raum, die Straßen, die Plätze und die öffentlichen Verkehrsmittel müssen so gestaltet sein, dass sich dort nicht nur ‚die Starken‘ wohl und sicher fühlen“ (ebd.).
>> s.a. Ausführungen zum Gender-Aspekt beim Thema Tempolimit, S. 316.
Immer mehr Autos auf immer mehr Straßen… das ist gewissermaßen ein Nullsummenspiel: Mehr Straßen generieren mehr Autos generieren mehr Straßen: Der Satz „Wer Straßen sät wird Verkehr ernten“ (Goeudevert zit. in Schiesser 2010) hat inzwischen einen wissenschaftlichen Namen: Downs-Thomson-Paradoxon (vgl. Pinzler 2020, 2). Das beschriebene ‚Nullsummenspiel‘ wäre das perfektive Perpetuum Mobile (!), wären da nicht die diversen externen Kosten (bzw. die vielen fossilen Energien sowohl für Autobau, Autonutzung und Schaffung der Infrastruktur) – die das prinzipiell unmögliche Perpetuum Mobile am Laufen hielten.
In Zahlen ausgedrückt:
Das bundesdeutsche Autobahnnetz umfasst 2019 eine Länge von 13.141 Km. Das sind 1626 Km mehr als im Jahr 2000 (vgl. Statista 2019). All diese ‚Stauumgehungsstraßen‘ haben nichts gebracht:
2019 = 708.500 Staus, Staulänge = ca. 1.423.000km = 33,5 Mal um die Erde, Stauzeit = 521.000 h = 59 Jahre (vgl. ADAC 2020) (und, wie schon erwähnt: Staulänge 2006 = 359.000 Kilometer | 2018 = 1.528.000 Kilometer (vgl. Fedrich 2020, 196-197)
Die Staulänge hat sich zwischen 2000 und 2017 vervierfacht (vgl. Kopatz 2019, 63).
In Hamburg „dauert eine durchschnittliche Fahrt 34 Prozent länger als eigentlich nötig. Für eine Strecke, die in 30 Minuten machbar wäre, bräuchte man also rund 40 Minuten. Abends im Berufsverkehr sind sogar 61 Prozent Zeitverlust normal – statt 30 wären das also fast 50 Minuten. Auf ein tägliches Stau-Niveau von ebenfalls mindestens 30 Prozent kommen Berlin, Wiesbaden, München, Nürnberg und Stuttgart“ (Götz 2020).
Autofahrer*innen standen 2018 durchschnittlich 120 Stunden im Stau. Menschen ,die in Großstädten unterwegs sind, noch länger (Berlin = 154h, München = 140h, Hamburg = 139h) (vgl. Welt 2019).
120 h = 5 Tage à 24 h = etwa eine Woche im wachen Zustand im Stau stehen – hinzu kommt noch die Zeit, die man täglich (ohne Stau) von Haustür zu Haustür benötigt, um mit dem Auto zur Arbeit bzw. nach Hause zu fahren. Und evtl. noch die Zeit für die Parkplatzsuche? Berliner Autofahrer*innen suchen jährlich 62 Stunden lang einen Parkplatz… (vgl. S. 296).
Quellen des Abschnitts Thema 'Immer mehr Autos auf den Straßen in Deutschland'
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Krüger, Anja (2019): „Inklusion: Fortkommen für Alle“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 41, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
fairkehr (2018): [ohne Titel]. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2018, S. 16.
Fredrich, Benjamin (2020): 102 grüne Karten zur Rettung der Welt. Katapult/Suhrkamp.
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau: Thema ‚Immer größere Autos auf den Straßen in Deutschland‘
„Einfach mal zurücklehnen und die unfassbare Dämlichkeit des Wortes ‚Stadtgeländewagen‘ auf sich wirken lassen.“ Ardubancel Quazanga via twitter 23.5.2020
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SUVs werden gern auch als Stadtgeländewagen bezeichnet. Stefan Kuzmany bringt es auf den Punkt: „Schon die Bezeichnung ‚Stadtgeländewagen‘ zeigt die Absurdität des Autotyps SUV, der weder fürs Gelände gebraucht wird noch für den Transport von Sportgerät, sondern einzig der persönlichen Aufrüstung im Straßenverkehr dient“ (2019).
ARD–Tagesschau, 2. April 1998:
„Umweltministerin Merkel vertraut bei der Senkung des deutschen CO₂-Ausstoßes auf die Einführung des 3-Liter-Autos und freiwillige Kooperation der Autohersteller. Die Firmen wüssten, dass sonst härtere Maßnahmen auf sie zukommen“ (Tagesschau 1998).
Da ist sie wieder, die ‚Merkel’sche Freiwillige Selbstverpflichtung‘ – m.E. ein anderes Wort für Bürger*innenberuhigungspille, damit ‚die Wirtschaft‘ nicht beim Geldeinsammeln gestört wird. Und wie wunderbar das funktioniert, sehen wir hier:
Im August 2000 meldete der Spiegel:
„Alle Welt redet vom 3-Liter-Auto, doch Ingenieure verrenken Kopf und Schraubenschlüssel und pumpen kleine Autos mit immer mehr Leistung voll.“
Kommen wir zu dem finalen Ergebnis dieses Trends:
Da Geländewagen in Deutschland – außer für Förster*innen & Co – zweifellos genau so wie SUVs als „SuperUnnützesVehikel“ (Hartmann 2019) gelten dürfen, und Geländewagen in dieser Perspektive sozusagen SUVs+++ sind, sind die Segmente SUV und Geländewagen in den folgenden Graphen addiert:
Neuzulassungen in Deutschland Anteil von SUV/Geländewagen in % – derzeit also 1/3 aller Neuzulassungen (Quelle: Eigene Darstellung, basiert auf den Zahlen aus wikipedia 2019a)
Neuzulassungen von SUV/Geländewagen in absoluten Zahlen in Deutschland – derzeit also 1/3 aller Neuzulassungen (Quelle: Eigene Darstellung, basiert auf den Zahlen aus wikipedia 2019a)
>> Anmerkung: 2008/09 flachte der Zuwachs etwas ab: Die globale Finanzkrise hinterließ kurzfristig ihre Spuren, dann kam 2009 die fünf Milliarden Euro schwere sog. Umweltprämie, die eine Abwrackprämie war, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Umweltpr%C3%A4mie (Abrufdatum 7.11.2019)
>> Update Dezember 2019: „Schon im November [2019] wurde [erstmals] die [Millionen-]Marke mit 1,03 Millionen Fahrzeugen seit Jahresbeginn geknackt, wie aus Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) in Flensburg hervorgeht. Das sind 18 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum“ (Spiegel 2019). Damit haben SUV und Geländewagen zusammen einen Marktanteil von knapp 31% (vgl. ebd.).
Derweil liegt der Anteil von SUVs/Geländewagen, die derzeit tatsächlich auf den Straßen in Deutschland unterwegs sind, bei etwa 12% – mit stark steigender Tendenz:
„Dies[e gestiegene Motorleistung von Neuzulassungen] führte zu einem Mehrverbrauch von 3,7 Milliarden Litern Kraftstoff und zu 9,3 Millionen Tonnen CO₂-Emissionen. … Der Mehrverbrauch geht dabei vor allem auf den Bereich der Sport Utility Vehicles (SUV) und Geländewagen zurück, dem Segment mit höchster Motorleistung und Verbrauch“ (ebd.).
>> Anmerkung: Rammler hebt zudem hervor, dass auch ‚normale‘ Diesel-Pkw zu einem Mehrverbrauch von Kraftstoff beigetragen haben, weil hier bei den Neuzulassungen ebenfalls besonders leistungsstarke Motoren beliebt sind. Der Mehrverbrauch wird auch durch den erhöhten Materialaufwand bzw. das Mehr an Gewicht auch bei eigentlich kleineren Autos erzeugt: „Ein VW Golf hat im Lauf seiner Bauzeit von 750 Kilogramm Gewicht auf 1,2 Tonne zugelegt“ (Welzer 2016, 24). >> Analog dazu entwickeln sich die Pferdestärken: Durchschnitt bei Neuzulassungen 1995 = 95 PS | 2018 = 152 PS (vgl. Kopatz 2019, 46).
Quellen des Abschnitts Thema 'Immer größere Autos auf den Straßen in Deutschland'
Welzer, Harald (2016): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer.
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Pendler*innen‘
München 2011>>2018 = +21% Pendler*innen || Frankfurt =+23% (vgl. Bartsch et al. 2019, 15)
„Aus Hamburg fahren täglich 140.000 Menschen zur Arbeit heraus und 340.000 hinein“ (Bartsch et al., 2019, 15.)
„Und selbst die, deren Arbeitsweg kürzer als drei Kilometer ist, fahren zu 40 Prozent mit dem eigenen Pkw“ (ebd.).
„In den Jahren 2000-2013 hat sich die durchschnittliche Pendelstrecke um rund 2 Kilometer erhöht. Für jeden Einzelnen sind 2 Kilometer überschaubar – für die deutschen Verkehrswege bedeutet es jedoch rund 22 Milliarden zusätzliche Personenkilometer“ (Ehl 2017).
Man rechne das mal um in: Atemluft.
Ein großer Teil des städtischen Autoverkehrs wird durch Pendler*innen verursacht. Dazu stellt der Verkehrsexperte Philipp Kosok fest:
„Die Menschen, die in den Innenstädten unter Stickoxiden leiden, sind selten die Verursacher der schmutzigen Luft. Es sind die Pendler, die täglich 20, 30 oder 50 Kilometer zur Arbeit in das Stadtzentrum fahren, denen man Alternativen zur Fahrt mit einem Auto anbieten muss“ (Kühne 2018, 19).
Und:
„[A]llen… Fachleuten ist klar: Solange es preiswerter ist, das Auto in der Innenstadt zu parken, als den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bestreiten, fehlt der ökonomische Anreiz, aufs Auto zu verzichten“ (ebd., 18; vgl. Aspekt Thema ‚City Maut‘ & Innenstädte, S. 352f.).
Quellen des Abschnitts Thema 'Pendler*innen'
Bartsch, Matthias et al. (2019): „Mobil ohne Stau“. in: Der Spiegel, Nr. 27/29.6.2019
Kühne, Benjamin (2018): „Fünf Städte für eine saubere Luft“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 4/2018.
Sie schütteln mit dem Kopf angesichts des Umgangs mit Waffen in den USA?1 Nun, so ergeht es den US-Amerikaner*innen mit den Deutschen beim
Thema ‚Tempolimit‘
Im Unterschied zu vielen anderen Maßnahmen rund um den Klimaschutz ist ein Tempolimit eine extrem einfache und schnelle Maßnahme quasi zum Nulltarif. Außer dem gesunden Menschenverstand des Verkehrsministers (vgl. Welt 2019a) spricht m.E. nichts gegen ein Tempolimit, aber eine Menge dafür:
Mehrheit der Bürger*innen | Unfall- und Todeszahlen | Versehrtenzahlen | Klimaschutz2
In Einzelnen:
Eine knappe Mehrheit der Bundesbürger*innen ist für ein Tempolimit (vgl. Reek 2019).
Eine im Dezember 2019 veröffentlichte Umfrage spricht in Bezug auf Autobahnen sogar von 2/3 aller Befragten als Befürworter*innen einer verbindlichen Höchstgeschwindigkeit (vgl. Spiegel 2019b).
„Geschwindigkeit bewirkt zwei Dinge: Sie macht einen Unfall wahrscheinlicher und sie macht ihn schlimmer. Laut ETSC spielt zu hohes Tempo in einem Drittel der tödlichen Kollisionen eine Schlüsselrolle.“ (Matthew Baldwin, in der EU-Kommission zuständig für Verkehrssicherheit, 2020)
„Die Anzahl der tödlich Verunglückten ist auf Strecken ohne Geschwindigkeitsbegrenzung zwischen 2011 und 2016 deutlich höher (2016: 283 versus 110)“ (Reek 2019).
Details
Obige Zahl bezieht sich allgemein auf Straßen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Auf Autobahnen starben 71% der Autofahrer*innen auf Strecken ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, welche wiederum 70% der Autobahnstrecken ausmachen (vgl. Tagesspiegel 2020a) – womit hier für sich genommen kein statistisch signifikanter Befund vorliegt. Vergleicht man die Zahl der jährlichen Todesfälle auf Europas Autobahnen, ergibt sich hinsichtlich der Todeszahlen ebenfalls kein statistisch signifikanter Vorteil eines Tempolimits auf Autobahnen. Hier liegen z.B. Frankreich und Deutschland etwa gleichauf (vgl. Statista 2019). Wie nachfolgend im Fließtext ausgeführt wird, geht es bei der Diskussion nicht ausschließlich um Verkehrstote, sondern z.B. auch um schwere Verletzungen, lebenslange Versehrungen, Sicherheitsgefühl und Umweltaspekte. Für ein Tempolimit sprechen also nicht nur die Einzelaspekte, sondern vor allem das Gesamtpaket der Aspekte.
Auch erwähnenswert:
„2019 wurden [in Deutschland] 963 Menschen wegen nicht angepassten Tempos getötet“ (Zeit 2020c).
„Fast ein Drittel der Menschen, die 2019 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, ist bei einem sogenannten Geschwindigkeitsunfall gestorben“ (ebd.). (Für beide vorangegangene Zitate gilt: Das bedeutet nicht, dass die Höchstgeschwindigkeit überschritten wurde – falls es eine gab.)
Der Unfallchirurg Christopher Spering gibt im Zusammenhang mit seiner Forderung nach einem Tempolimit auf Autobahnen bzgl. der nach einem Unfall dauerhaft Versehrten zu bedenken, dass
„unser Gesundheitssystem trägt maßgeblich dazu bei[trägt], höhere Todesraten [u.a. auf Autobahnen] zu verhindern… Sich allein auf die Todeszahlen zu fokussieren, reicht deshalb nicht aus. Menschen sollen Unfälle auf Autobahnen nicht nur überleben, sondern anschließend wieder ein lebenswertes Leben führen. Und das hängt stark von der Schwere des Unfalls ab, und die wiederum von der gefahrenen Geschwindigkeit. Ein Tempolimit ist aus medizinischer Sicht angebracht“ (Spering 2020).
„Eine Höchstgeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde würde … [gemäß einer neuen Studie des Umweltbundesamtes jährlich] 2,6 Millionen Tonnen CO₂ vermeiden, ein Tempolimit von 130 noch 1,9 Millionen Tonnen – ‚und zwar sofort und ohne Mehrkosten‘, wie UBA-Präsident Dirk Messner am Freitag sagte. 5,4 Millionen Tonnen CO₂ ließen sich sparen, wenn höchstens 100 Kilometer pro Stunde erlaubt wären.“
…mehr
Österreich beendete Anfang 2020 einen Test mit der Tempolimit-Erhöhung (!) an zwei Autobahnabschnitten mit einer Gesamtlänge von 120 km auf 140 km/h Höchstgeschwindigkeit aufgrund der ungleich höheren Umweltbelastung, sodass dort nun wieder das bisherige Tempolimit von 130 km/h gilt (vgl. Zeit 2020b).
Darüber hinaus finde ich den Gedanken, dass wir Deutschen uns vielleicht auf diese Weise eine Scheibe vom tempolimitierten Verkehrs-Entspannungsland Nr. 1 – Dänemark – abschneiden können, um den Preis, dass die paar Schnellfahrer*innen nun künftig 20 Minuten später an ihrem Ziel ankommen, sehr interessant. Das täte uns: gut.
Kirsten Bialdiga, 2019: „‚Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“ – dieses Zitat des Philosophen Immanuel Kant wird auch von Liberalen gern zitiert. Wer einmal einen Drängler auf der Autobahn hinter sich hatte, weiß, wovon die Rede ist.“
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Dieser Gedankengang findet sich z.B. bei Alt 2018.
2 Auch macht es mit einem Tempolimit weniger denn je Sinn, auf ausgesprochen energieintensive Motoren zu setzen.
In den Niederlanden ist man wieder einmal – in diesem Fall allerdings gezwungenermaßen – weiter:
Die Regierung der Niederlande hat im November 2019 (auf Druck des niederländischen obersten Gerichtshofs) beschlossen, was in Deutschland bis vor kurzem vollkommen undenkbar erschien: Sie verschärft zur Vermeidung von Stickoxiden das ohnehin bestehende Tempolimit auf 100 km/h auf Autobahnen zwischen 6 und 19 Uhr; nachts bleibt es wie bisher bei 130 km/h (vgl. Spiegel 2019a).
Details: Erläuterungen zum Tempolimit in den Niederlanden
Man kann nicht sagen, dass die niederländische Regierung dieses Tempolimit gewollt hat. Ministerpräsident Rutte nennt diese Maßnahme „beschissen“ und setzte sie nur aufgrund des massiven Druckes eines Urteils des höchsten niederländischen Gerichts um, welches zur Reduzierung von Stickoxiden die Genehmigungsverfahren für umfangreiche Bauvorhaben gestoppt hatte (vgl. Welt 2019b). Graeme Maxton kommentiert dies mit der Feststellung, dass „[i]m Vergleich zu dem, was sich in Zukunft noch ändern werden muss, … Tempo 100 nicht ‚beschissen‘ [ist], sondern eher ein Mückenschiss“ (2020, 162-163).
Cem Özdemir (Grüne) dazu:
„Es ist schon bemerkenswert, dass in den Niederlanden ausgerechnet die regierende Schwesterpartei der FDP nun ein Tempolimit 100 auf den Autobahnen eingeführt hat. Hierzulande kann man noch nicht einmal über eine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h sprechen, ohne dass die FDP Schnappatmung bekommt. Dabei wäre das nicht nur Klimaschutz zum Nulltarif, sondern würde auch unsere Straßen deutlich sicherer machen“ (Zeit 2019a).
>> vgl. dazu auch Niederlandes staatliches Ausstiegsprogramm für Schweinezüchter, S. 552.
Tempolimits für Autos auf Autobahnen in anderen Ländern:
>> Auf den Färöer-Inseln gibt es kein Tempolimit auf Autobahnen (vgl. ebd.).
Deutschland: „70 Prozent des Autobahnnetzes ohne Tempolimit“ (Zeit 2019b)
„Deutschland ist das einzige Land, in dem man für fünf Minuten über 200 Sachen fahren kann – um anschließend zwei Stunden lang im Stau zu stehen.“ (unbekannter Franzose, zit. nach Klimaschutzbaustelle 2019)
„Schnell to Hell.“ Österreichische Straßen-Plakatwerbung fürs Leben (Stand 2022).
Doch es kommt allmählich Bewegung in die Sache, sicherlich auch hervorgerufen durch die eben beschriebene niederländische Initiative sowie durch davon inspirierte Vorstöße der Grünen und der SPD:
Unter der Überschrift „ADAC gibt ablehnende Haltung zu Tempolimit auf Autobahnen auf“ zitiert der Spiegel dessen Vizepräsidenten im Januar 2020 sinngemäß mit den Worten, dass die Diskussion auch unter ADAC-Mitglieder*innen mittlerweile polarisiere und der ADAC sich in dieser Frage aktuell nicht mehr festlege.
Der Mobilitätsforscher Andreas Knie rechnet im Januar 2020, vor Covid-19, noch 2020 mit einem Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen, „wahrscheinlich schon in den kommenden fünf Monaten“ (Gießler 2020, 6):
„Wir schätzen, dass bundesweit bis zu 60 Prozent der Bevölkerung für ein Tempolimit sind, besonders Frauen und junge Menschen.
Dieser Wunsch, sich zu profilieren und zu befreien, ist ein rein männliches Ding.
Es gibt aktuell faktisch fast nur noch ältere Männer, die gegen ein Tempolimit sind.
Und da viele von ihnen in leitenden Positionen bei Zeitungen sitzen und eine meinungsbildende Kraft haben, hat man den Eindruck, halb Deutschland sei für ‚freie Fahrt für freie Bürger‘“ (ebd.).
>> vgl. Exkurs zum Thema ‚Gender und Mobilität‘ S. 308
Update Mai 2020:
Auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DRV) spricht sich für ein Tempolimit von 130 Km/h aus (vgl. Zeit 2020a).
Abseits der Autobahnen: weitere Tempo-Beschränkungen, Innerorts.
„Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit möchte diese [bisherige] Entscheidungslogik umkehren. Die Kommunen sollen für sich bestimmen, auf welchen Straßen schneller gefahren werden darf, und zwar ohne Erlaubnis übergeordneter Behörden“ (Kopatz 2016, 211).
Das bedeutet auch, dass eine via Bundesgesetz1 einzuführende Regelgeschwindigkeit 30 keineswegs flächendeckendes Tempo 30 zu Folge hätte, sondern lediglich Tempo 30 generell zum Normalen und Tempo 50 zur Ausnahme erklärt.
Der Bremsweg bei Tempo 50 ist mehr als doppelt so lang wie bei Tempo 30. (vgl. VCD Bayern o.J.)
„Wenn jemand von einem Auto mit 30 km/h angefahren wird, hat er oder sie eine 90-prozentige Überlebenschance. Bei einem Aufprall mit 60 km/h – und das ist die De-facto-Geschwindigkeit in vielen Städten – sinkt sie auf zehn Prozent“ (Baldwin 2020).
Unterschätzt aber wichtig: Verkehrslärm in der Stadt
„Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Städten würde den Lärm um rund drei Dezibel reduzieren. Im Vergleich zu Tempo 50 nimmt dies das menschliche Ohr so wahr, als wäre nur die Hälfte des Verkehrs auf der Straße. Gleichzeitig sinkt die Emission von Schadstoffen“ (Müller-Görnert 2019).
„[D]er Straßenverkehr [ist] in den vergangenen 30 Jahren in deutschen Städten um zwei bis drei Dezibel lauter geworden“ (Guski 2017) – „also um bis zu 25 Prozent“ (ebd.).
„Ein Lkw ist bei Tempo 50 durchschnittlich so laut wie zwanzig Pkw“ (Schneider 2019).
Bei Pkw tritt „ab 30 km/h der Reifenlärm in den Vordergrund“ (ebd.), was eben den Effekt hat, dass bei die gleiche Anzahl von Autos bei Tempo 50 vom Ohr wie ‚doppelt so viel Verkehr‘ wahrgenommen wird (s.o.).
Kaum ein Fakt wie der vorgenannte der innerstädtischen Lärmbelästigung macht deutlich, wie hoch der Preis ist, denn wir täglich zahlen – und wie leicht es wäre, eine extreme Lebensqualitätssteigerung durch die Veränderung einer einzelnen Regel der deutschen Straßenverkehrsordnung. Es gibt wenige Bereiche, in denen wir quasi zum Nulltarif so viel erreichen können.
Die Präsidentin des Umweltbundesamtes, Maria Krautzberger, ergänzt:
„Tempo 30 bringt bessere Luft, flüssigeren Verkehr und weniger Unfälle – und man ist in der Regel genauso schnell unterwegs“ (2017).
Tempo 30 hätte zudem zur Folge, dass weniger Autos unterwegs sind – nicht wegen des geringeren Tempos, sondern weil die Menschen es bevorzugen, neben langsamen Autos Fahrrad zu fahren:
„Die Zahl der Fahrradfahrer nimmt [bei einem solchen 30er-Tempolimit] zu – im britischen Bristol zum Beispiel um zwölf Prozent –, weil sich ihr Sicherheitsgefühl erhöht“ (Kopatz 2018, 55).
Die Liste der positiven Effekte ist noch länger:
„Es gibt dann keinen Grund mehr, warum noch übermotorisierte Schwergewichtsfahrzeuge mit gewaltigen Antrieben gebaut werden sollten … Fahrzeuge mit eingebautem Tempolimit würden über einen leichteren und extrem sparsamen Motor verfügen“ (ebd., 54).
Was wäre das für ein ungeheurer Gewinn für alle gestressten Stadtbewohner*innen – und das, ohne auch nur ein Auto per Verbot von der Straße zu verbannen.
Stuttgart „wird … [2020] als erste deutsche Großstadt neben Fahrverboten für Euro-5-Diesel auf vier einzelnen Straßenabschnitten auch ein flächendeckendes Tempolimit von 40 Stundenkilometern einführen. Es wird für den gesamten Talkessel [inkl. Bundesstraßen] gelten und ist Teil des von Land und Stadt beschlossenen neuen Luftreinhalteplans… Bislang waren die Reaktionen gelassen. Sogar der ADAC hat auf Protest verzichtet“ (Henzler 2019).2
Es fragt sich, inwieweit das in Stuttgart neu eingeführte Tempolimit tagsüber wochentags überhaupt auffallen wird. So liegt in Berlin die Durchschnittsgeschwindigkeit mit Stand 2008 bei höchstens 24 Km/h (vgl. Kopatz 2019, 55).
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Die Straßenverkehrsordnung ist Bundesgesetz und seit Jahrzehnten auf eine autogerechte Stadt, d.h. auf den fließenden Autoverkehr ausgerichtet. Es bedarf einer grundlegenden Neugestaltung dieses Gesetzes und der Neuordnung der Verteilung der Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen, damit in Städten wirklich umfassende Neugestaltungen des öffentlichen Raums möglich werden und progressive, lokale Neuerungen nicht immer wieder gerichtlich kassiert werden, vgl. die im September 2020 gerichtlich gestoppten Pop-up Radwege in Berlin, s. Tagesspiegel 2020b. Der Ökologische Verkehrsclub Deutschland fordert hier ein ‚Bundesmobilitätsgesetz‘, um eine inklusive ‚Verkehrswende aus einem Guss‘ umsetzen zu können: „Im deutschen Verkehrssektor gibt es ein vielfältig verästeltes Gesetzes- und Regelwerk, für dessen Umsetzung Staatsdienende auf allen Ebenen zuständige sind, die in der Regel aneinander vorbei arbeiten“ (Jensen 2020, 13) fasst der VCD die Situation zusammen.
2 Die CDU hat derweil am 8.12.2018 auf ihrem Parteitag in Hamburg beschlossen, die Gemeinnützigkeit der Deutschen Umwelthilfe überprüfen zu lassen und „darauf hin[zu]wirken, dass bereits etatisierte Mittel, die noch nicht verbindlich zugesagt wurden, mit einem Sperrvermerk versehen werden und in künftigen Haushalten keine Mittel mehr für die DUH etatisiert werden“ (zit. nach FAZ 2018). So etwas nennt man ‚schlechten Stil‘. Auch das Wort ‚demokratisch‘ mag ich hier nicht nennen.
Gießler, Denis (2020): „die drei fragezeichen: ‚Das Tempolimit kommt noch dieses Jahr‘“. in: tageszeitung, 25./26.1.2020, S. 6, online unter https://taz.de/!5656151/ (Abrufdatum 25.1.2020)
Guski, Rainer (2017): „Lärm: ‚Wenn Sie da wohnen …‘“ [Dirk Asendorpf interviewt den Umweltpsychologen Rainer Guski]. in: Die Zeit, 16.8.2017, online unter https://www.zeit.de/2017/34/laerm-rainer-guski-lautstaerke (Abrufdatum 19.5.2020)
Maxton, Graeme (2020): Globaler Klimanotstand. Warum unser demokratisches System an seine Grenzen stößt. Komplett-Media.
Müller-Görnert, Michael (2019): „Gesundheit: Atemlos in der Stadt“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 29, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
(Zahlen nach Unfallforschung der Versicherer, zitiert in Kunkel 2019)
Der VCD weist zudem auf die allgemein hohe Dunkelziffer bei Fahrradunfällen hin. (2020, 19)
Mögliche Maßnahmen zur Vermeidung von Unfällen durch Rechtsabbieger*innen:
Eine schnelle, kostengünstige Übergangs- oder Teillösung des Problems: Das Anbringen von sog. Trixi-Spiegeln, die der/m Lkw-Fahrer*in Einsicht in den Straßenbereich ermöglichen, die sonst durch den toten Winkel bedingt nicht einsehbar sind.
Eine einfache Lösung: Rückverlegung des Haltestreifens von Pkw/Lkw um einige (weitere) Meter, sodass Radfahrer*innen und auch Fußgänger*innen nicht mehr im ruhenden Verkehr im toten Winkel stehen, zumal sie durch eine entsprechende Ampelschaltung etwas früher grün bekommen könnten (und ja auch oftmals schon bekommen), sodass sie durch diesen Vorsprung besser im Sichtfeld der Lkw-Fahrer*innen sind.
Eine gute und bewährte Lösung: Das niederländische Modell.
Hier wird an Kreuzungen der Radweg bzw. die Fahrradspur an der Kreuzung um einige Meter nach rechts eingerückt und nach links hin ‚an der Ecke‘ mit einer kleinen Verkehrsinsel abgeschirmt. Das bedeutet, dass die/der Lkw-Fahrer*in zu einem späteren Zeitpunkt und vor allem in einem anderen Winkel auf den Fahrradverkehr ‚trifft‘ – soll heißen: Der tote Winkel spielt hier keine bzw. eine nur noch untergeordnete Rolle (vgl. Reidl 2020). „Die Menschen müssen sich in die Augen schauen können (ebd.) – nun sind die Autofahrer*innen schon fast aus der Kurve raus, wenn sie auf die weiteren Verkehrsteilnehmer*innen treffen: Eine kleine Erhebung der Rad- und Fußwege an Kreuzungen sind daher etwas erhöht, damit die Autofahrer*innen davon „abhalten [werden], gleich wieder Gas zu geben“ (ebd.).
Eine weitere, technische, komplexe, teure und m.E. gleichwohl wünschenswerte Lösung: Abbiegeassistenten für Lkw. Hier hat das Verkehrsministerium 10 Mio Euro für Deutschland 750.000 in zugelassene Lkws bereitgestellt (vgl. Bartsch et al., 2019, 21) (= 13,33 Euro/Lkw).
Ab „2024 müssen … alle [Lkw-]Neufahrzeuge über einen Abbiegeassistenten verfügen.“ (Kunkel 2019). Alle anderen: nicht.
Prima: „In München „sind etwa 90 Prozent der 800 städtischen Lkw schon jetzt mit einem Assistenten ausgerüstet“ (Kunkel 2019).
Offen bleibt die Frage, wie es um die vielen Lkw bestellt ist, die nicht in Deutschland zugelassen wurden/werden.
Eine Trennung der Grünphasen von Autos und sonstigen Verkehrsarten kommt mehr und mehr in Betracht, je weniger Autos in den Städten unterwegs sein werden.
Immerhin, und das ist in der Tat ein wichtiger Schritt nach vorne:
Lkw, d.h. Kraftfahrzeuge über 3,5 t, dürfen seit der 2020er Novelle der StVO beim Rechtsabbiegen „auf Straßen, wo mit Rad- oder Fußgängerverkehr gerechnet werden muss, nur noch Schrittgeschwindigkeit (7 bis 11 km/h) fahren. Verstöße kosten 70 Euro Bußgeld “ (ADAC 2020).
Quellen des Abschnitts Thema ‚Rechtsabbieger-Unfälle‘
VCD (2020): „Urbaner Radfahrboom“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 2/2020, S. 18-19.
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Autoindustrie‘
Arbeitsplätze inkl. Zulieferern: 834.000 von 45.100.000 Erwerbstätigen in Deutschland = 1,85% = jeder 54. Job
(Stand 2018, laut Heinrich-Böll-Stiftung und VCD, vgl. Kefferpütz 2019, 1, weitere Zahlen: Kühne 2019, 26)
Details
Das statistische Bundesamt geht von „rund 880.000 Erwerbstätigen in der Automobilindustrie im Jahr 2016“ aus und hebt hervor, dass diese 4,7 % der Bruttowertschöpfung erwirtschaften. Auch sei die gesamtwirtschaftliche Bedeutung noch höher einzuschätzen durch Vorleistungsgüter und Dienstleistungen, sodass „nach Modellrechnungen der Input-Output-Rechnung etwa 1,75 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, also rund 4 % der Erwerbstätigen, mit der Automobilbranche verbunden [sind]“ (DeStatis 2019). Ähnliches gilt auch für andere Branchen z.B. im Bereich Erneuerbare Energien, sodass das Handbuch i.d.R. die Zahlen der unmittelbar Beschäftigten inkl. Zulieferbranchen aufgreift, die dann miteinander besser vergleichbar sind.
Wie schafft bzw. bewahrt man Arbeitsplätze? In dem man sich Innovationen und der Zukunft verschließt oder in dem man die Innovation betreibt?
David Kusek und Gerd Leonhard haben 2006 das Buch ‚Die Zukunft der Musikindustrie‘ verfasst, in dem sie der passiven, in zweistelliger prozentualer Höhe abstürzenden Musikindustrie, die sich inmitten der Digitalisierung in die Idee verrannt hatte, auch weiterhin Tonträger verkaufen zu können, vorhersagten, dass Musik bald ‚wie Wasser‘1 überall verfügbar sein werde:
„Die erfolgreichsten Unternehmen [machen] nicht den Fehler, das Neue erstmal abzulehnen. … Sie finden heraus, wie man die neuen Entwicklungen am besten integrieren kann, bevor der Zug abgefahren ist. Man ist doch nicht der Eismann, der immer noch versucht, den Menschen Eisblöcke zu verkaufen, obwohl jeder bereits einen [elektrischen] Kühlschrank zu Hause hat.“2
Die Musikindustrie konnte seinerzeit noch einen gewissen Überraschungsfaktor für sich reklamieren – gehörte sie doch zu den ersten ‚Opfern‘ der Digitalisierung. Seit mehreren Jahren macht die Autoindustrie Anstalten, in die Fußstapfen der Musikindustrie zu treten.
Interessanterweise wird die Mobilitätswende zumindest in Städten und Metropolregionen industrialisierter Staaten ein gewissermaßen ähnliches Ergebnis zeitigen wie in der Musikindustrie: Der multimodale Ansatz kann auch als ‚Verkehr wie Wasser‘ gelesen werden.
Der Verkehrsforscher Andreas Knie warnt:
„Wenn jetzt nicht gehandelt wird und das Auto der Zukunft nur noch in anderen Ländern gebaut wird, dann stehen noch viel mehr von den 880.000 Arbeitsplätzen auf der Kippe“ (Schwarz 2017).
Anmerkungen zur Arbeitsplätze-Diskussion:
>> Eine Frage, die nur selten in die Autoindustrie-Arbeitsplatz-Diskussion einfließt, lautet, inwieweit ein Teil dieser Arbeitsplätze unabhängig vom Antriebswechsel künftig gefährdet ist aufgrund von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz (KI) , Robotik und Automatisierung (vgl. Kunde 2020), siehe dazu auch Daimlers im September 2020 in Betrieb genommene ‚Factory 56‘ in Stuttgart-Sindelfingen: Dort kommunizieren „[d]ie Maschinen … miteinander, planen und verteilen selbsttätig die Arbeit, fast ohne menschliches Zutun“ (Heuser 2018).
>> Damit ist auch an dieser Stelle angedeutet, dass hier eine Herausforderung entsteht, der sich keine Branche entziehen kann. Letztlich machen die zu erwartenden, erheblichen Arbeitsplatzverluste der Autoindustrie ein weiteres Mal exemplarisch deutlich, dass es auch angesichts der Klimakrise bzw. des Artensterbens einer umfassenden sog. sozialökologischen Transformation (SÖT) unter Einschluss eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) bedarf.
>> Die Umsätze der deutschen Automobilbranche sind in den letzten Jahren vor allem ‚gewachsen‘, weil die Fahrzeuge immer größer und damit auch teurer wurden. Auch die notwendige und kommende Korrektur der SUV-Strategie hin zu kleineren Fahrzeugen wird daher Arbeitsplätze kosten: weil die Wertschöpfung eines kleinen Autos i.d.R. geringer ausfällt als die eines Stadtpanzers. Das ist grundsätzlich ein hausgemachtes Problem, denn die SUV hätten aus der Perspektive der Vernunft in Zeiten der Forderungen des 3-Liter-Autos nie in Deutschland zugelassen werden dürfen.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Noch zeitlich davor sprach David Bowie davon, „Musik werde bald wie Wasser oder Strom gekauft“ (Grundlehner 2016).
2 Längst vergessen, boomte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der internationale Handel mit Eis bzw. Eisblöcken. Bill Bryson hat in seinem gleichermaßen unterhaltsamen wie profund recherchierten Buch Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge (2010) neben vielem Anderen auch die Geschichte der nicht-elektrischen Kühlkette aufbereitet: „An der ersten Schiffsladung [aus Neuengland] nach Großbritannien rätselten dann auch die Zollbeamten zwecks Klassifizierung der Ware so lange herum, dass die dreihundert Tonnen geschmolzen waren, bevor man sie aus dem Hafen abtransportieren konnte… Mehrere Jahrzehnte lang war das Eis vom Gewicht der das zweitgrößte Handelsprodukt der Vereinigten Staaten. Gut isoliert hielt es sich überraschend lange… Eis wurde in die entlegensten Ecken Südamerikas verschifft und von Neuengland nach Kalifornien über Kap Horn“ (100). „Richtig zeigen, was in ihm steckte, konnte das Eis bei der Kühlung von Güterwagen, denn nun ließen sich endlich Fleisch und andere verderbliche Ware von [US-]Küste zu [US-]Küste transportieren… Vor den ‚Eiszeiten‘ war Milch… bei Hitze nur ein, zwei Stunden trinkbar… Hühnchen mussten an dem Tag, an dem man sie rupfte, gegessen werden, Frischfleisch war selten länger als einen Tag genießbar“ (102). Da lernt man seinen Kühlschrank doch auf eine ganz neue Weise zu schätzen… „Noch 1930 gab es in den Vereinigten Staaten 181.000 Kühlwaggons, die mit Eis betrieben wurden“ (104). Aber dann kam in Europa im selben Zeitraum der elektrische Kühlschrank auf (vgl. wikipedia 2020) – und mit ihm das schnelle Ende der Eisindustrie.
Autoindustrie und der Skandal der seit 2015 aufgedeckten ‚Dieselskandale‘
„Das UBA stellte schon in den Jahren 2005, 2006 und 2009 fest, dass Diesel-Pkw ‚alarmierend‘ hohe Stickoxidemissionen aufweisen“ (Bäumler 2019, 36).
Der eigentliche Skandal an den Dieselskandalen ist, dass sie nicht stärker skandalisiert wurden/werden1. Die Liste der Betrügereien ist zu lang, um sie hier aufzustellen: Es ist definitiv bedeutend leichter, die wenigen Firmen bzw. Automodelle und Aspekte des Themas zu benennen, bei denen nicht irgendwie mit Abschaltsoftwares, lächerlich kleinen AdBlue-Tanks, illegalen Branchenabsprachen, weltfremden Abgastests2 etc. pp. pp. in diversen nationalen Märkten jahrelang betrogen, gemauschelt und gechincht wurde. Und die zuständigen Behörden-Mitarbeiter*innen haben es nicht sehen wollen – oder geduldet.3
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Harald Welzer macht die Beobachtung, dass „stets der Unfall Anlass zur Empörung [bildet], nicht der Normalfall, der ihn verursacht“ (2016, 75).
2 Neben dem überaus Lobbyismus-verdächtigen NEFZ-Abgastest (‚Neuer Europäischer Fahrzyklus‘], der mit der Realität des Straßenverkehrs so viel gemein hatte wie das Leben eines Zoolöwen mit dem seiner Artgenossen in der Savanne, kann man hier auch die von einem vom Volkswagen-Konzern mitgetragenen (vgl. Charisius et al. 2018a) Lobby-Verband namens EUGT (Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor) in den USA in Auftrag gegebenen und umgesetzten Abgas(tier)versuche an Affen ins Feld führen (vgl. Eckl-Dorna 2018, vgl. Charisius et al. 2018b): „Laut ‚New York Times‘ wurden bereits im Jahr 2014 in den USA zehn Affen vier Stunden lang in Räumen mit Auspuffgasen eingesperrt. Demnach wurden die Abgase eines mit manipulierter Abgastechnik ausgestatteten VW Beetle eingeleitet“ (Spiegel 2018). Und offensichtlich wurden im Auftrag der EUGT 2016 in Aachen darüber hinaus auch Menschen zu Versuchszwecken als „Probanden dem Reizgas Stickstoffdioxid ausgesetzt“ (ebd.). Konkret atmete eine „Gruppe von Probanden jeweils drei Stunden lang jeweils die dreifache Menge des heute gültigen maximalen Grenzwertes von 950 Mikrogramm ein“ (Vetter/Doll 2018). Ich finde es erschütternd, wie schnell solche Vorfälle aus der kollektiven Erinnerung verschwinden, zumindest fast vergessen werden und solche Unternehmen haste-de-nicht-gesehen wieder dreist auftrumpfen und eine Forderung nach der anderen stellen. Vielleicht verließ aufgrund dieser und anderer Vorfälle die „Ethikbeauftragte[…] des VW-Konzerns […], Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband und frühere SPD-Politikerin 2017 den Volkswagen-Vorstand, in dem sie für ‚Integrität und Recht‘ zuständig gewesen war, nach 13 Monaten mit einer Abfindung von 12,5 Millionen und einer lebenslangen Monatsrente von 8.000 EUR, zahlbar schon ab dem 1. Januar 2019“ (Hacke 2017, 53). Was Axel Hacke eigentlich zu Recht unanständig fand, erscheint – gekoppelt mit obigen Ausführungen – in einem ganz neuen Licht: Es muss ein wirklich harter Job gewesen sein.
3 2019 zahlte VW eine Mrd. Euro, davon entfielen 5 Millionen Euro auf das Bußgeld, der Rest diente dem Abschöpfen von unrechtmäßigen Gewinnen“ (zit. in Pötter 2020, 3). Derweil haben laut DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch „die deutschen Autobauer 2019 fast 30 Milliarden Euro Gewinn gemacht“ (ebd.). Ausführlich zum Dieselskandal siehe LebeLieberLangsam-Beitrag Pressemeldung: Verlust hunderttausender Arbeitsplätze befürchtet, https://blog.lebelieberlangsam.de/pressemeldung-verlust-hunderttausender-arbeitsplaetze-befuerchtet.
Dann ging es um die geschädigten Autokäufer*innen, die nun zu Recht befürchten, dass ihr Auto nicht mehr zu einem zuvor erwartbaren Preis wieder verkauft werden kann und dass ihre Autos möglicherweise aufgrund sog. innerstädtischer Fahrverbotszonen nicht ausreichend nutzbar sind.
Das ist alles richtig.
Aber:
Zu aller erst betrifft der Dieselskandal unser aller Gesundheit, es geht um unsere Lungen – auch um die der Autofahrer*innen.
Über unsere Lungen hat in der Bevölkerung und in den Medien quasi niemand geredet.
Das finde ich: bezeichnend und letztlich irre. Lunge hat Vorfahrt.
Ausnahme von der Regel stellen die Bemühungen der Deutschen Umwelthilfe (DUH) dar, die u.a. 2017 zu dem Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts geführt haben
mit der Urteilsbegründung, dass
ein Fahrverbot schon deshalb nicht unverhältnismäßig sein könne, weil „der Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit der von den Immissionen betroffenen Wohnbevölkerung höher zu gewichten ist als die dagegen abzuwägenden Rechtsgüter Eigentum und Handlungsfreiheit der von einem Verkehrsverbot betroffenen Kraftfahrzeugeigentümer“ (zit. in Drieschner 2019).
Dazu stellt Bäumer fest:
„2015 wurden durch Grenzwertüberschreitungen 4,6 Millionen Tonnen Stickoxide zusätzlich ausgestoßen. Daraus lassen sich die Opferzahlen errechnen“ (2019, 37).
Also:
Wie viele Tote und Erkrankte hat der Dieselskandal insgesamt verursacht? Und inwieweit kann man diese Zahlen auf einzelne Konzerne herunter brechen? Und wer trägt dafür die Verantwortung? Und warum wird diese Frage nur so selten gestellt?
Der Mobilitätsatlas hat diese Zahlen dankenswerter Weise errechnet.In Todeszahlen bedeutet der Dieselskandal allein für das Jahr 2015:
Brasilien 500 | China 10.600 | EU-28 = 11.500 | Indien 9.300 | Japan 500 | Russland 800 | USA 1.100
= 34.300 Dieselskandal-Tote allein im Jahr 2015 (vgl. Bäumer 2019, 37)
Hinzu kommen noch die vielen, vielen Menschen, die ‚nur‘ krank geworden sind.
>> Transparenz durch Offenlegung: Marc Pendzich ist Fördermitglied der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH).
In Totenzahlen bedeutet der Dieselskandal allein für das Jahr 2015:
Dieselskandal-Tote: Alle reden über den Wertverlust von Dieselautos und Fahrverboten – und quasi niemand redet über die Toten, die Autokonzerne und hier selbstverständlich die CEOs bzw. Vorständinnen und Vorständler durch ihre Unternehmenspolitik statistisch gesehen verantworten. Grafik entstammt dem Mobilitätsatlas 2019, S. 37: „2015 wurden durch Grenzwertüberschreitungen 4,6 Millionen Tonnen Stickoxide zusätzlich ausgestoßen. Daraus lassen sich die Opferzahlen errechnen.“ Bartz/Stockmar, cc by 4.0
Wie sähe eine Statistik hinsichtlich Toter und Kranker aus, die alle Jahre zusammenzählt, in denen diese Autos mit zu vielen Emissionen unterwegs waren/gewesen sein werden?
Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Quellen des Abschnitts Thema 'Autoindustrie'
Bäumer, Hartmut (2019): „Teurer Schwindel“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. S. 36. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Bryson, Bill (2010): Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge. Goldmann.
Kefferpütz, Roderick (2019): „Autoindustrie: Umbau einer Schlüsselbranche“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 16, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Kühne, Benjamin (2019): [Grafik ohne Titel]. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2019, S. 26.
Dienstwagen-Ranking: „Das Auto des Verkehrsministers ist das mit dem höchsten CO₂-Ausstoß“1
Autoindustrie und die E-Mobilität
Verbrennungsmotor = 2.500 Teile | Elektromotor = 250 Teile2
Keine Verbrennungsmotoren mehr zu bauen bzw. verkaufen zu können, kostet Arbeitsplätze, hier wird die Zahl 114.000 genannt bis 2035 bei einem 23%-igen Anteil von E-Autos (Kühne 2019, 28). Das ist ätzend. Diese drohenden Arbeitsplatzverluste können aber vor dem Hintergrund der drängenden Biodiversitäts- und Klimakrise sowie der lauernden internationalen Konkurrenz kein Argument sein für das Festhalten an der klimaschädlichen Technologie des Verbrennungsmotos. Sie können aber ein Argument sein, den politischen Boden für Innovationen der Mobilitätsbranche zu bereiten.
Es bleibt für Traditionsmarken nur die Flucht nach vorn Richtung Wasserstoff/Brennstoffzelle oder E-Auto, wenn sie weiterhin im globalen Geschäft mit der Mobilität mitspielen wollen. Und nur dann gehen nicht alle Arbeitsplätze in diesem Bereich verloren.
Ein wesentlicher Grund für das langjährige Erstarren der deutschen Automobilindustrie liegt darin begründet, dass mit dem Umstieg auf Elektromotoren sehr viel exklusives Know-how verloren geht, sodass – wie mit Tesla und vielen kleinen neuen E-Mobil-Playern zu sehen – neue, von außen in den Markt stoßende Mitbewerber im Markt erscheinen.
Zudem sind Elektromotoren äußerst wartungsarm (vgl. Kopatz 2019, 71), was mittel- und langfristig Beschäftigungsverluste im ‚After-Sales-Bereich‘, also bei Autoreparaturwerkstätten mit sich bringen wird.
(Hybridfahrzeuge und hier insbesondere Plug-in-Hybride hingegen gelten als komplex und in diesem Sinne als wartungsintensiv, vgl. Holzer 2019).
Derzeit zeichnet sich ab, dass die deutsche Autoindustrie ihre SUV-Strategie weiter verfolgt – nur eben mit E-Motoren.
Mit einem bloßen Antriebswechsel ist wäre exakt ein Problem, d.h. ein Problem von sehr vielen, bewältigt: Es gibt keinen luftverschmutzenden Auspuff mehr.
Alle anderen Probleme
Zu viel MIV (motorisierter Individualverkehr) | zu große Autos | Stau als Alltag | zu großer Ressourcen- und Flächenverbrauch | zu viel Feinstaub durch Reifenabrieb3 | soziale Mobilitätsungerechtigkeit | zu großer Energiebedarf | zu viele Unfälle | zu viele (i.d.R. mit Verbrennermotoren angetriebene) Lastwagen etc. pp.
würden uns allen erhalten bleiben.
Hinzu treten neue Herausforderungen, darunter
die problematische Umstellung einer ganzen Industrie auf sich absehbar erschöpfende sog. seltene Erden, die Konfliktstoffe sind, deren Beschaffung derzeit langfristig nicht gesichert ist und deren Extraktion in den Produktionsländern mit enormen Umweltschäden verbunden ist.4
der Aufbau eines landes- und weltweiten Stromzapfsäulennetzes.
Mit anderen Worten: Der Wechsel des Motorantriebs ist mit maximalem Aufwand und im Grunde genau lediglich genau einem positiven Effekt verbunden.
Es ist zudem hervorzuheben, dass die Akkus von E-Autos bzw. deren Rohmaterialien auch in ethischer Perspektive sowie auch bzgl. Umweltaspekten unter katastrophalen Bedingungen hergestellt werden.
>> vgl. dazu Abschnitt Ein Beispiel: Der ‚globale Impact‘ eines Smartphones, S. 644ff.
Ein Antriebswechsel, also ein 1:1-Austausch des Motors – und ‚weiter gehts‘ wird es nicht geben können. Hier gilt ähnliches wie für das Thema ‚Grünes Fliegen‘5: Es ist aufgrund des künftig knappen Gutes ‚Energie‘ – bis auf Weiteres – eine Illusion:
Peter Kasten, Forscher am Öko-Institut in den Bereichen Ressourcen und Mobilität, errechnet:
„Um ein Prozent des heutigen Verbrauchs von fossilem Sprit im Verkehrssektor durch E-Fuels zu ersetzen, würden für dessen Herstellung in Deutschland 2.300 Onshore-Windräder benötigt“, sagt Kasten. Laut Bundesverband Windenergie gibt es aktuell rund 29.500 dieser Windenergieanlagen an Land. Um also auch nur ein Prozent der Autos mit E-Fuels zu betreiben, müssten zusätzlich zum ohnehin vorgesehenen Ausbau der Windkraft noch zahlreiche weitere Windräder gebaut werden“ (Ilg 2020).
Anders ausgedrückt: Um einen reinen Antriebswechsel Verbrenner>>Batterie vorzunehmen, bedürfte es nach dieser Rechnung 230.000 Onshore-Windräder.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (5)
1 laut DUH, zit. in Zeit 2019. Dazu ein passendes Zitat des Direktors des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Matthias Sutter: „Das Schlimmste ist, wenn bekannte Persönlichkeiten Klimaschutz fordern und dann von Nürnberg nach München fliegen. Als Politiker kann man von Bürgern auch keinen Verzicht erwarten, wenn man sich selbst in großen Autos herumkutschieren lässt, statt den Zug zu nehmen“ (2020).
2 Es gibt allgemein wesentlich weniger Verschleißteile. Für ein E-Auto fällt übrigens zehn Jahre lange keine Kfz-Steuer an, allerdings bis höchstens Ende 2030 (vgl. VCD 2019b, 6).
3 Autoreifen verursachen sehr viel Mikroplastik, vgl. dazu Anmerkung „Es ist der Reifen, nicht das Duschgel“, Fußnote auf S. 191.
4 Hier entwickelt sich derzeit in neues destruktives Geschäftsfeld: Tiefseebergbau. In der Tiefsee, vor allem in der Europa-großen Clarion-Clipperton-Zone (CCZ) mitten im Pazifik westlich von Mexiko lagern „schrumpelig wie Kartoffeln, gewachsen über Millionen von Jahren… Unmengen von Manganknollen. In ihnen verbergen sich wirtschaftlich interessante Rohstoffe wie Mangan, Metalle der Seltenen Erden, Kobalt und Kupfer“ (Malter/Steeger 2019, 49). Abgetragen würden diese Knollen wohl mit riesigen ferngesteuerten Maschinen „die an Kartoffelernter erinnern“ (ebd.). Der Biochemiker Haeckel geht nach derzeitigem Stand von Folgendem aus: „‚Wo man die Manganknollen abbaut, wird die komplette Flora zerstört.‘ Er schätzt, dass es Jahrzehnte bis Hunderte Jahre dauern wird, bis sich die Tiefsee von den Schäden erholt“ (ebd.). Darüber hinaus ist m.E. der logistische Gesamtenergieaufwand, die Tiefsee auf diese Weise zu ‚beackern‘, immens. Zur Erforschung und späteren ‚Ernte‘ vergibt die Internationale Meeresbodenbehörde (IMB) Lizenzen an Staaten, die wiederum mit Unternehmen kooperieren – „Neben Naru kooperieren auch Tonga, Kiribati und die Cookinseln mit Firmen aus G20-Staaten“ (ebd., 50). Inwieweit diese kleinen Staaten tatsächlich davon profitieren werden ist offen, zu befürchten ist laut Joey Tau, Aktivist bei der NGO Pacific Network on Globalisation, eher „eine andere Form von Kolonialismus“ (ebd.) sowie Schäden am Lebensraum der Inselbevölkerungen (vgl. ebd.). Neo-Kolonialismus-verdächtig ist dieses Thema auch aufgrund der hohen Investitionskosten, die nahelegen, dass nur Industriestaaten und global operierende Konzerne hier relevant einsteigen könnten. Beliebtes Argument für Tiefseebergbau ist – wie auch beim Fracking – eine in Aussicht gestellte politische Unabhängigkeit von ‚Schurkenstaaten‘ (vgl. ebd.). Nun, man könnte ja auch dafür sorgen, dass es im Globalen Süden und namentlich im Congo besser für die Menschen läuft…
5 siehe dazu Aspekt Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., S. 265ff.
Seit Herbst 2019 mehren sich positive Berichte, denen zufolge E-Mobilität nach x Kilometern einen geringeren ökologischen Rucksack aufweise als Verbrennermotoren (vgl. Fischer/Lüdemann 2019; VCD 2019c, 7; VCD 2020, 11, Spiegel 2020c).
Hier ist kritisch die Frage aufzuwerfen, inwieweit es sinnvoll ist eine umweltschädliche Technologie durch eine nur ein bisschen weniger umweltschädliche Technologie zu ersetzen – die Vorteile sind offensichtlich so gering, dass über ihre Existenz gestritten werden kann. Womit hier keineswegs dem Verbrenner das Wort geredet werden soll, sondern eben ein weiteres Mal darauf verwiesen wird, dass es nicht um einen 1:1 Austausch des Antriebs gehen kann.
Nicht jede dieser Studien beinhaltet den gesamten Lebenszyklus; bei der Berechnung des ökologischen Gesamtrucksacks inkl. der Umweltkosten nach Ressourcenentnahme bleiben bei allen genannten Studien m.E. wichtige Fragen offen, insbesondere die T&E-Studie (vgl. VCD 2020, 11) denkt hier m.E. reichlich positiv in eine mögliche Auto-reiche Zukunft, anstatt den Ist-Zustand insbesondere zu den Konfliktstoffen adäquat kritisch zu hinterfragen.
>> Einer 2020er Studie des ADAC zufolge verbrauchen (die vom ADAC getesteten) E-Autos mindestens 10% mehr Strom als der Bordcomputer angibt, was maßgeblich auf die i.d.R. nicht angezeigten Ladeverluste zurückzuführen sei (vgl. Spiegel 2020b). >> Einen guten Überblick über den Status quo der E-Mobilität geben Anja Krüger und Susanne Schwarz in ihrem Artikel „Nur Elektro reicht nicht“: https://taz.de/Tesla-Fabrik-in-Brandenburg/!5703392/ (Abrufdatum 1.9.2020)
Die deutsche Autoindustrie wird hinsichtlich der Umstellung auf E-Mobilität ein Stück weit ‚zu ihrem Glück gezwungen‘:
In vielen anderen wichtigen Automärkten gibt es bereits jetzt Deadlines zur NeuzulassungvonVerbrennern:Norwegen 2025 | Dänemark, Island, Niederlande, Schweden, Slowenien, Israel 2030 | Taiwan und Kalifornien 2035 | Frankeich, Großbritannien, Kanada 2040 (vgl. Tagesschau 2019a u. Bauchmüller 2020)
„Die EU hat die Flottengrenzwerte für den CO₂-Ausstoß verschärft. Das heißt, dass die Autos, die ein Hersteller verkauft, ab 2020 im Durchschnitt nur noch 95 Gramm CO₂ pro Kilometer ausstoßen dürfen…. Die nächste Grenzwert-Verschärfung steht fünf Jahre später an“ (Kühne 2019, 29).
>> vgl. Kopatz‘ Strategie der Anhebung von Standards, Abschnitt Standards setzen, um Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch zu entwickeln, S. 476.
In China gibt es seit Januar 2019 eine Pflichtquote für die Neuzulassung von E-Autos.
„Während etwa Eigentümer von Wagen mit Verbrennungsmotoren in vielen Metropolen des Landes nur noch über Lotterien oder andere teure Verfahren eine Zulassung ergattern konnten, bekamen die Stromer oft sofort ihr Nummernschild. Zudem konnten sie vielerorts kostenlos parken und im Verkehrsdickicht Sonderfahrspuren nutzen. Ergebnis: 2018 wurden 1,26 Millionen E-Autos in der Volksrepublik abgesetzt, mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion“ (Hecking/Zand 2020).
Aktuell, 2020, beträgt die Quote 12%, bis 2025 soll sie bei mindestens 20% liegen (vgl. ebd.). Demnach hat ein Konzern, der in China Autos verkauft dafür zu sorgen, dass jedes fünfte verkaufte Auto ein Elektro- oder ein Hybridauto ist. Nachdem die deutsche Autoindustrie den Trend viele Jahre verschlafen hat, kann China die Bedingungen noch leichter als ohnehin schon diktieren: Die Akkus der Autos haben verpflichtend von chinesischen Herstellern zu stammen (vgl. Tagesschau 2019b).
Aktuelle Zulassungsquote von E-Autos in Deutschland:
Fossile Fahrzeuge machen „mehr als 95 Prozent der Modellpalette aus[]…“ (Kriener 2020, 8).
„Gerade einmal 4.979 Elektroautos wurden im Oktober [2019] in Deutschland zugelassen, das sind nicht mal zwei Prozent der Gesamtzulassungen in diesem Monat. Zu wenige, um als Zulieferer alles auf diese Karte zu setzen“ (Laskus 2019).
„Gebremst wird die Nachfrage nach E-Autos oft durch lange Lieferfristen mit Wartezeiten von bis zu einem Jahr“ (VCD 2019a, 3), was im Just in Time-Anspruchszeitalter irgendwie an die (damals noch ungleich längere) Wartezeit auf Trabis erinnert – auch eine Methode, eine Reform zu verschleppen.
Erläuterungen zu 'Trabi'
Trabi, Trabbi: Kosewort für das Auto der DDR, den ‚Trabant‘. (Daneben gab es noch den höherpreisigen ‚Wartburg‘). Fährt heute vornehmlich noch auf Kuba – einem wesentlichen Handelspartner der DDR – durch die Gegend. (vgl. Ostalgie pur 2019).
Plug-in-Hybride
Neben reinen Elektroautos gibt es Autos mit sog. Hybrid-Antrieb. Hier ist zwischen zwei Hybridantrieben zu unterscheiden:
Bereits 1997 brachte Toyota Autos auf den Markt, die neben dem Verbrenner zusätzlich auch eine Batterie hatten, die im Schubbetrieb immer wieder aufgeladen wird – die Bordelektronik des Autos entscheidet selbstständig, wann welches System das Auto antreibt (vgl. Mechnich 2012).
Plug-in-Hybride (Plug-in Hybrid Electric Vehicles, PHEVs) haben ebenfalls sowohl einen Verbrenner-Motor als auch einen Elektromotor. Dessen Batterie hingegen wird von außen, per Steckdose, d.h. per plug-in, aufgeladen.
„Der Gedanke hinter dem Konzept: Auf vielen, meist nicht sehr langen Alltagsstrecken, wie beispielsweise dem Arbeitsweg oder der Fahrt zum Supermarkt, fährt man elektrisch und damit lokal emissionsfrei“ (Frahm 20219).
Das klingt, wenn man sich auf den Gedanken einer Übergangstechnologie einlässt, soweit ganz gut.
Die Plug-in-Fahrzeuge gelten gemäß dem Energieausweis als vorbildlich. Fährt ein Plug-in-Hybrid mit einer elektrischen Reichweite von 50 Kilometern 75% der Strecken elektrisch, dann gibt „beispielsweise Mercedes für das 2,4 Tonnen schwere Hybrid-SUV GLE 350 de einen Normverbrauch von 1,1 Litern auf 100 Kilometer an“ (ebd.).
Nun ist es allerdings so, dass Plug-in-Hybride oft und bevorzugt als Firmenwagen erworben und den Mitarbeiter*innen zur Verfügung gestellt werden, da diese, „sofern sie eine elektrische Mindestreichweite von 40 Kilometern gemäß WLTP haben, unter die 0,5-Prozent-Regelung für die Dienstwagenbesteuerung fallen“ (ebd.) – und somit weniger kosten.
Dienstwagen sind Fahrzeuge, die oft für lange Strecken eingesetzt werden – ihre Batterien sind jedoch im Unterschied zu den Batterien reiner Elektrofahrzeuge für kurze Strecken (Mindestreichweite 40 Kilometer) ausgelegt. Befindet sich also eine Minibatterie an Bord, bekommt man hohe Kostenvergünstigungen, fährt aber auf den üblicherweise langen Dienststrecken faktisch einen Verbrenner.
Der Spiegel zitiert Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM):
„Eine Studie hatte gezeigt, dass der tatsächliche Verbrauch von Dienstwagen mit Plug-in-Technologie im Durchschnitt um 143 Prozent über den Herstellerangaben liegt“ (Frahm 2019).
Und ebendiese Studie geht nach der Untersuchung von 15.000 Plug-in-Hybridfahrzeugen von einem Realverbrauch von mehr als sechs Litern pro 100 Kilometer aus, statt der Herstellerangaben von durchschnittlich 2l/100km, was damit zu tun hat, dass ein Plug-in-Hybrid-Motor schwerer ist als ein reiner Verbrennerantrieb (vgl. ebd.).
Becker/Kunkel zitieren eine Studie, nach der es sogar 7,6l/100km sind:
„Mit leerer Batterie verbrauchen sie im Durchschnitt 7,6 Liter auf 100 Kilometer, haben Testreihen der englischen Prüforganisation Emissions Analytics ergeben. Statt weniger als 50 g/km CO₂ stoßen die ‚Ökoautos‘ dann rund das Vierfache aus – und werden trotzdem mit Subventionen belohnt.“ (2019)
Die Diskrepanz zwischen Herstellerangaben und tatsächlichem Verbrauch hat damit zu tun, dass das Fahr- bzw. Ladeverhalten nicht den Herstellerannahmen – „Nur an zwölf Prozent der Fahrtage habe bei den Plug-in-Hybriden kein Ladevorgang stattgefunden“ (ebd.), so eine BMW-nahe Studie – entspricht:
„Flottenmanager wissen daher von Fahrern zu berichten, die den Steuervorteil gerne mitnehmen, auch wenn sie wenig Interesse am regelmäßigen Laden zeigen“ (ebd.).
„Der Grund für den mangelnden Ladewillen vieler Dienstwagenfahrer: Meist bekommen die Mitarbeiter von Firmen Tankkarten ausgestellt, mit denen der Kraftstoff für sie kostenlos ist. Das Nachladen mit Strom, beispielsweise zu Hause, müssten sie hingegen in vielen Fällen selbst zahlen. Die Folge: Die Fahrzeuge sind größtenteils im Verbrennermodus unterwegs“ (Frahm 2019).
Der Chef der Beratungsfirma The Miles, Paul Hollick:
„Die Ladekabel liegen cellophanverpackt im Kofferraum, während Firma und Angestellte an Tankstellen ein und aus gehen und den zusätzlichen Kraftstoff bezahlen“ (Spiegel 2020a).
Hier fehlen offensichtlich eindeutige Regelungen:
„Während er für seinen Verbrenner einfach per Tankkarte zahlt, wird es beim Laden an der heimischen Steckdose knifflig. Wie rechnet man aus, welche Stromkosten genau für das Dienstauto angefallen sind? Zwar weist der Bundesverband Lohnsteuerhilfevereine darauf hin, dass Arbeitgeber private Stromkosten für Dienstautos bis zu 50 Euro im Monat pauschal steuerfrei erstatten können – doch noch macht kaum ein Unternehmen davon Gebrauch. Zudem gelten die Pauschalen zunächst nur bis Jahresende [2020]“ (Kunkel/Reis 2020).
So einen fehlgeleiteten ökonomischen Anreiz sowie die Problematik einer Stromkostenabrechnung könnte man beheben. Könnte man seit Jahren behoben haben.
Dieses Scheitern ist auch deshalb fast schon tragisch zu nennen, weil Firmenflotten ein wichtiger Hebel sein können, um das E-Auto in Deutschland relevant auf die Straße zu bringen.
Die Niederlande und England (vgl. Frahm 2019) haben derweil „Subventionen für die Teilzeitstromer gestrichen“ (Becker/Kunkel 2019).
Statt dessen gibt es in Deutschland für die faktischen Sechs-Liter-Autos jetzt noch mehr Geld vom Staat: Die Förderung der Elektromobilität im Rahmen der Covid-19-Zuschüsse gilt in Deutschland auch für Plug-in-Hybride: Für Plug-in-Hybride unter 40.000 Euro erhält man jetzt zusätzlich zur o.g. Steuervergünstigung eine Förderung hin der Höhe von 6.750 Euro (reines E-Auto 9.000 Euro) (vgl. Diethelm 2020).
Erläuterungen zur Steuervergünstigung
„Für E-Autos mit einem Listenpreis über 40.000 Euro liegt der Zuschuss für reine E-Autos bei 7.500 Euro. Für Plug-in-Hybride in dieser Preisklasse bei 5.625 Euro“ (Diethelm 2020).
Plug-in-Hybride gelten in der Lesart Deutschlands bzw. der EU als E-Autos. Autohersteller haben zur Vermeidung von Strafzahlungen eine sog. ‚CO2-Flottenbilanz‘ zu erstellen, d.h. die Gesamtbilanz aller verkauften Autos eines Herstellers haben einem bestimmten statistischen Wert zu genügen. Plug-in-Hybride können über sog. Supercredits in die Rechnung eingehen: Sie werden doppelt abgerechnet (vgl. Janzing 2020, 9). Das bedeutet alles in allem, dass man mehr Autos allgemein und besonders auch mehr Luxus-SUV verkaufen kann, wenn man mehr Plug-in-Hybride verkauft: „So können sie[, die Autohersteller,] mit den Hybriden ihre Umweltbilanz frisieren“ (ebd.). Womit die Klima, Artenvielfalt, Umwelt und Menschen ein weiteres Mal Opfer eines politisch zu verantwortenden Bilanztricks werden.
Ergo:
Egal ob rein elektrisch oder Hybrid: Bei einem 1:1-Austausch des Antriebssystems würden immer noch genau so viele (E-/Hybrid-)Autos im Stau stehen: Es bedarf einer Mobilitätswende, keiner Antriebswende.
„Jedes Auto mit Verbrennungsmotor, das heute neu auf die Straßen kommt, stößt noch die nächsten 15 Jahre klimaschädliches CO2 aus“ (Müller-Görnert 2019, 2).
„Mit jedem Autokauf wird schon heute eine Entscheidung darüber getroffen, wie wir in zehn Jahren leben. Wir müssen daher möglichst schnell die Rahmenbedingungen so setzen, dass eine klimafreundliche Welt möglich wird.“ (Robert Brandt, Geschäftsführer der Agentur für Erneuerbare Energien, zit. in Sonnenseite 2019).
Und nach der Nutzungszeit der ersten zwei oder gar drei Besitzer*innen sind die Autos ja nicht endgültig von der Straße – sie werden nach Osteuropa verkauft oder in den Globalen Süden etc. verschifft und sorgen so weiterhin für Emissionen. Der o.g. Zeithorizont ist daher eher niedrig gewählt. (Ein in Polen im Jahr 2018 neu zugelassener Gebrauchtwagen ist im Schnitt 12 Jahre alt, vgl. Rebmann 2019).
Sinnvoll wäre in diesem Sinne für die Kund*innen in Deutschland ein Planungssicherheit gebendes Ausstiegsdatum für Verbrennungsmotoren bei Neuwagen.
Jede konventionelle Heizung, jedes herkömmlich gebaute Haus, jeder Euro, der heute in die falsche Richtung investiert wird, schafft Fakten und hat i.d.R. jahrzehntelange Wirkungen – die wir später zusätzlich zu beseitigen und zu bezahlen haben. Jeder fossil-konventionell ausgegebene Euro macht es wahrscheinlicher, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen, klimaneutral zu werden.
Update September 2020: Greenpeace fordert auf Basis einer neuen Studie den „Verkauf von Diesel- und Benzinfahrzeugen … bis zum Jahr 2028 [zu stoppen] Bis 2040 sollten zudem alle Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren von Europas Straßen verbannt werden“ (Zeit 2020).
Gegenüber der Brennstoffzelle hat der E-Antrieb derzeit die Nase vorn. Ob das so bleibt, darf als unsicher gelten. Denn sobald es um größere Reichweiten geht, sind die Vorteile der beiden Technologien nicht so klar verteilt, wie man meinen könnte. Toyota jedenfalls setzt weiterhin im Bereich Reichweiten-starke Autos auf die Brennstoffzelle: „Beide Technologien, erklärt … [Yoshikazu Tanaka, Chefingenieur für alternative Antriebe in der Toyota Motor Corporation], hätten ihre Berechtigung: der Batterieantrieb für kleine Autos und Kurzstrecken – die Brennstoffzelle für reisetaugliche Autos, Busse, Lastwagen und auch Schiffe“ (Wüst 2020).
Quellen des Abschnitts Autoindustrie und die E-Mobilität
Malter, Bettina u. Steeger, Gesa (2019): „Der letzte Schatz. In der Tiefsee lagern wertvolle Rohstoffe. Weltweit kämpfen Staaten und Konzerne um Mangan, Kobalt und Seltene Erden. Der Natur droht die Zerstörung.“ in: Die Zeit, 48/21.11.2019, S. 49-50.
Zeit (2019): „Deutsche Umwelthilfe: Dienstwagen-Ranking zeigt größte Umweltsünder“. in: Die Zeit, 9.12.2019, online unter https://www.zeit.de/mobilitaet/2019-12/dienstwagen-ranking-deutsche-umwelthilfe-umweltschutz/ (Abrufdatum 10.12.2019) [Ranking basiert auf Auswertung der DUH von Daten des Umweltforschungsverbundes ICCT, basiert also nicht auf den Herstellerangaben.]
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau: Fazit: ‚Verkehr & Mobilität: Der IST-Zustand des MIV‘
Machen wir uns die Darstellung des IST-Zustandes abschließend noch einmal konkret klar, wie hoch der Preis des motorisierten Individualverkehrs tatsächlich ist.
„Die Unfallkosten liegen in Deutschland etwa so hoch wie die der vier Umweltkategorien zusammen. Oft übersehen: die Prozesskosten vor und nach dem Verkehr“. Bartz/Stockmar, cc by 4.0 in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 31. online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Der IST-Zustand ist zutiefst unzufrieden stellend – allein die Zahl der Opfer lässt keine andere Analyse zu.
Abseits emotionaler Beweggründe à la „Die Liebe der Deutschen zum Auto“ sind m.E. keine rationalen Gründe erkennen, die dafür sprechen das bisherige System weiter zu führen. Und mit Sentimentalismen kommen wir angesichts der drängenden Herausforderung der Klimakrise und des sechsten Artensterbens nicht weiter. Zeit, loszulassen.
... mehr über die Liebe zum Auto... und Road Rage
Von dieser Liebe bleibt im Berufsverkehr i.d.R. nicht viel übrig: Das so oft zu beobachtende egozentrisch-aggressive und gefährdende Verhalten hat einen Namen: ‚Road Rage‘. Anekdotischen Charakter hat die folgende wahre Geschichte: Anfang April 2020 überholte im Elbtunnel ein Smart einen Mercedes – auf der rechten Spur. Oha, werden Sie jetzt denken, das ist aber dreist. Das fand der Fahrer des größeren Fahrzeugs auch, es folgte: „Lichthupe, überholen, ausbremsen, das ganze Programm“ (HA 5.4.). Nachdem man sich weiter verfolgend die Autobahn verlassen hatte, war „[d]er Fahrer des größeren Fahrzeug, das ja bekanntermaßen automatisch recht hat, weiterhin der Ansicht, dass der Fahrer des Smarts seine Lektion noch nicht verstanden hatte und bedrängte den Kleinstwagen weiter“ (ebd.). Schließlich stellte sich das größere Fahrzeug quer zur Fahrbahn und stoppte den Smart: „Laut Lagedienst der Polizei stieg der Mercedesfahrer nun aus und bewegte sich mit einem Schlagstock in der Hand auf den Smart zu“ (ebd.) – Woraufhin der Fahrer des Kleinwagens sich mit einer engen Kurve in Sicherheit bringen wollte, woraufhin das Fahrzeug umkippte. Die sich nun zu erwartende Schlägerei unterblieb dann aufgrund der eingetroffenen Polizei (vgl. ebd.).
Richten wir einmal den Blick auf das, auf was wir tatsächlich verzichten. Katja Täubert und Lisa Feitsch heben in diesem Sinnzusammenhang hervor:
„Autoverkehr verdrängt menschliche Aktivitäten aus dem öffentlichen Raum und zerstört damit das Leben zwischen den Häusern – dort wo Begegnungen und Gemeinschaften entstehen sollten.
Unserer Kindern wollen entdecken und stromern. Darauf müssen sie verzichten, weil die Straßen zu gefährlich sind.
Wir verzichten auf frische Luft.
Wir verzichten auf Gemeinschaft im Kiez, wir verzichten darauf, mit unseren Nachbar*innen draußen Schach zu spielen, weil es keinen Ort für ein öffentliches Schachbrett gibt.Wir verzichten auch darauf, Straßen, wo es uns beliebt, sicher queren zu können.Wir verzichten auf Ruhe und darauf, nachts bei offenem Fenster schlafen zu können.
Wir verzichten darauf, gefahrlos und entspannt Fahrrad zu fahren.
Wir verzichten darauf, uns in unseren Städten alltäglich ausreichend sportlich zu bewegen zu können. Wir verzichten auf Platz – zum Wohnen, zum Gärtnern, zum Spielen, zum Entspannen“ (2019, 19).
Merkwürdig, dass diese Art von Verzicht – m.E. äußerst heftigem Verzicht – nie und nirgends aufgegriffen oder beklagt wird, wenn die in Deutschland so emotional geführte Verzichtsdebatte mal wieder aufflammt.
…mehr
Maja Göpel allerdings weist immer wieder dezidiert auf diesen Umstand hin: „‚Immer nur diese Erzählung von Verzicht, von Verboten, von Veränderungen, die wehtun. Nee! Wieso reden wir nicht über all die Dinge, die wieder wachsen können, wenn wir aufhören, unseren Planeten zu zerstören‘ … also: eine gesunde Umwelt, eine solidarische Gesellschaft, Zeit für Bildung, Familie, Gemeinschaft oder Gesundheit. ‚Um solche Dinge geht es doch am Ende‘“ (Habekuß 2020).
Auch Harald Welzer insistiert, dass wir derzeit,
„im Status quo[,] im großen Stil [verzichten] – zum Beispiel in völlig verstopften Großstädten auf Ruhe, Sicherheit, gute Luft, Platz. In autofreien Städten würden wir mehr Lebensqualität genießen. Mein Lieblingsbeispiel ist die Schweizer Bahn: Das Angebot ist so großartig, dass die Leute gern ihr Auto stehenlassen oder gleich ganz abschaffen“ (2020, 10).
Die Arbeitsplätze-Debatte im Zusammenhang mit der Autoindustrie läuft weitgehend ins Leere. Zahlen und Argumente dazu wurden bereits dargelegt (s. Aspekt Thema ‚Autoindustrie‘, S. 322f.).
Die Nicht-Zukunft der fossilen Autoindustrie wird i.d.R. als reine Verlustdebatte geführt.
Doch eine umfassende, klimagerechte, veritable Mobilitätswende bedeutet weit mehr als einen bloßen mit Arbeitsplätze-Abbau verbundenen Antriebswechsel – und kann, wenn man Mobilität als Dienstleistung und nicht als Besitz eines Stahlkastens versteht, sehr viele neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen.
Der VCD liefert eine Reihe von Zahlen zu zukunftsfähigen neuen Arbeitsplätzen:
ÖPNV in Deutschland = 157.000 Arbeitsplätze (davon 40.000 im Fahrdienst, 20.000 im technischen Dienst, 14.000 im kaufmännischen Dienst). „Bis 2030 geht rund die Hälfte der Angestellten in Rente. Nur jede fünfte dieser Stellen kann durch Auszubildende wieder besetzt werden“.
Fahrradbranche Deutschland = 30.000 Mitarbeiter*innen Handel/Werkstatt
Lokomotiven etc. Produktion in Deutschland = 52.000 Menschen
Die Bahn will in den nächsten Jahren 100.000 Menschen einstellen (vgl. Kühne 2019, 26-27).
Aufbau der Ladestruktur Potenzial = 16.000 Arbeitsplätze (IAB-Studie)
Batterieproduktion Potenzial = fast 35.000 Arbeitsplätze (Fraunhofer Institut)
Wenn alle Metropolen Europas mit dem 26%-Fahrradanteil von „Kopenhagen gleichziehen… würden, könnten … im ökologischen Verkehrssektor [europaweit] 76.600 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen“ (2014).
>> Aufgrund der entfallenden Umweltbelastung und der Reduzierung von Unfällen würden auf diese Weise laut Greenpeace jährlich rund 10.000 Menschen gerettet (vgl. ebd.).
… und dann kann man noch Tesla erwähnen, die mit Stand 2020 in Brandenburg eine große Fabrik hochziehen.
Quellen des Abschnitts Fazit: Verkehr & Mobilität: Der IST-Zustand des MIV
Kühne, Benjamin (2019a): [Grafik ohne Titel]. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2019
Kühne, Benjamin (2019b): „Autoindustrie im Wandel“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2019, S. 28f.
Täubert, Katja u. Feitsch, Lisa (2019): „Die Stadt als Einladung“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2019, S. 16ff. [Der Text ist ein Auszug aus dem VCD-Buch Mit Füßen und Pedalen. Hol dir deine Stadt zurück.
Welzer, Harald (2020): „‚ Schluss mit der Wohlstandslüge‘“. [Interview mit Harald Welzer]. in: Greenpeace Nachrichten 1/2020, S. 10.
Der IST-Zustand:
Kaputtgespart zugunsten der Straße: Die Bahn bzw. das Schienennetz
„72 Prozent der Gütermenge wurden im Jahr 2017 mit dem Lkw transportiert,
17 Prozent mit der Bahn,
acht Prozent mit dem Binnenschiff,
durch die Luft waren es drei Prozent“ (Adler 2019, 30).
Allein diese wenigen Zahlen deuten an, dass mit relativ einfachen Mitteln auf einem vorhandenen Netz wesentlich mehr Güter zu ökologisch wesentlich besseren Bedingungen transportiert werden könnten. Doch jedes Mal, wenn diese jahrzehntealte Forderung aufgegriffen wurde, lief es genau in die gegenteilige Richtung.
Ein Blick in die Vergangenheit
Es gibt eine Menge Gründe, warum es bei der Bahn nicht so richtig läuft.
„Für alle Experten jedoch ist unstrittig: Hauptursache für Störungen[, die Verspätungen generieren] ist das bundeseigene Schienennetz, das seit Jahrzehnten unterfinanziert, aber gleichzeitig immer stärker genutzt wird“ (Wüpper 2019, 31).
Laut Wüpper beginnt die Unterfinanzierung schon in den 1950er Jahren – durchaus logisch zeitgleich mit der spleenigen Idee einer Auto- statt Anwohner*innen-gerechten Stadt; die Bahn verliert also – sowohl in West als auch Ost aus jeweils unterschiedlichen Gründen – schon in den Nachkriegs- bzw. Wiederaufbaujahren den Anschluss. So „muss das [Bundesbahn-]Unternehmen den Wiederaufbau der kriegszerstörten Anlagen selbst finanzieren“ (ebd., 107). „Zwischen 1960 und 1992 fließen 230 Milliarden Euro in den Straßenbau, aber nur 29 Milliarden Euro in neue Bahnstrecken. In diesen 32 Jahren werden 150.000 Kilometer Verkehrswege für Pkw und Lkw errichtet und lediglich 700 Kilometer zusätzliche Gleise für Personen- und Güterzüge“ (106). Unterfinanzierung und Missmanagement äußern sich in Zahlen wie diesen: So fährt die Bundesbahn in den 1970er Jahren „vier Milliarden D-Mark Verlust pro Jahr ein, zeitweise sind die Personalkosten höher als die Betriebserlöse“ (109). In den Wiedervereinigungsjahren, zum 1. Januar 1994, werden die beiden maroden Staatskonzerne Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichbahn zusammengeführt zur Deutschen Bahn – und nachfolgend einer sog. Bahnreform unterzogen, welche die Privatisierung und Überführung in eine Aktiengesellschaft vorsieht.
„Der Bund blieb zwar alleiniger Eigentümer der neuen Bahn AG, er sollte allerdings nur noch bei strategischen Entscheidungen mitreden dürfen… In einer zweiten Stufe wurden Anfang 1999 fünf eigenständige Aktiengesellschaften unter dem Dach der Holding Bahn AG gegründet. Aus dem Unternehmensbereich Personennahverkehr wurde beispielsweise die DB Regio AG oder aus der Güterverkehrssparte die DB Cargo AG.
Als Folge der zweiten Stufe der Bahnreform sollte nach dem Willen der Politik auch eine Teil-Privatisierung des Unternehmens erfolgen – gemeint ist der Börsengang der Bahn“ (Nürnberger 2019). Selbiger wurde vorangetrieben aber letztlich mangels Erfolgsaussicht im Oktober 2008 kurzfristig gestoppt – und zu den Akten gelegt. Die Roadmap zum Börsengang hat jedoch viel dazu beigetragen, dass die Bahn eben vor allem finanziell gesehen immer effizienter werden sollte, was den ganzheitlichen Blick auf Notwendigkeiten zu Gunsten einer umfassenden Mobilitätswende nicht beförderte.
Es ist vermutlich eine Frage der Zählweise, sodass die Angaben abweichen – aber die Botschaft ist klar:
„Zwischen 1994 und 2019 wurden nach Angaben des Schienenlobbyvereins Allianz pro Schiene Bahnstrecken mit einer Gesamtlänge von 3.600 Kilometern stillgelegt, nahezu zehn Prozent des Netzes. Gleichzeitig seien jedoch auch 800 Kilometer für den Personen- und knapp 400 Kilometer für den Güterverkehr wieder in Betrieb genommen worden… 90 Prozent der stillgelegten Strecken liegen nach Branchenangaben in Ostdeutschland“ (Zeit 2019).
„Mehr als 5.400 Kilometer hat die Deutsche Bahn seit der Bahnreform vor 25 Jahren stillgelegt. Damit wurden rund 16 Prozent des gesamten Netzes aufgegeben“ (Balser 2018).
„1994 umfasste das Netz noch 44.600 Schienenkilometer, heute sind es gerade noch 33.400“ (Abrecht 2020, 15).
„Die Länge der Bahnstrecken, die in Deutschland seit 1990 stillgelegt wurden, entspricht der Länge der aktiven Schienennetze Norwegens, Dänemarks und der Niederlande zusammen“ (Fedrich 2020, 176).
Absurd ist für mich Nicht-Betriebswirtschaftler die Idee, als Schienenverkehrsunternehmen massiv auf Lkw zu setzen:
Sicher macht es Sinn, als Deutsche Bahn auch den Frachttransport von der Schiene bis zum beliefernden Industrieunternehmen zu leisten und zu diesem Zweck eine Sparte namens DB Schenker aufzubauen. Doch tatsächlich ist DB Schenker schlicht eine riesiges Logistikunternehmen, das nicht etwa vorrangig die ‚letzte Meile‘ als Dienstleistung bedient, sondern voll umfänglich auf die Straße und damit auf Lkw setzt. Womit sich die Deutsche Bahn gewissermaßen selbst Konkurrenz macht.
>> Interessant an dieser Stelle: In der DDR gab es ein Gesetz, dass festlegte, „dass der Gütertransport ab 50 Kilometern Entfernung auf der Schiene erfolgen muss, wenn Versender und Empfänger einen Gleisanschluss haben“ (Wüpper 2019, 105). Man stelle sich – unabhängig von der hiergenannten Kilometeranzahl – eine gleichartige Regelung für die unendliche Zahl an Lkw-Lebensmitteltransporten aus Südspanien vor.
Ein Blick in die Zukunft
Ein wesentliches Projekt der Bahn-Zukunft ist der schon seit 2008 vorgeschlagene sog. ‚Deutschlandtakt‘ nach dem Vorbild der Schweiz (und der Niederlande). Hierbei werden „deutschlandweit die integralen Taktfahrpläne von Nah- und … Fernverkehr aufeinander abgestimmt… Zusätzlich sollen mehr schnelle Züge zahlreiche abgehängte Städte und Regionen wieder an den Fernverkehr anbinden“ (Rochlitz 2020, 17).
Früher hat man sich in erster Linie für Hochgeschwindigkeitsstrecken interessiert und den Nahverkehr nachrangig behandelt.
„Jetzt wird erst der gewünschte Zielfahrplan unabhängig von der aktuellen Infrastruktur geplant und dann analysiert, welche Strecken dafür aus- oder sogar neu gebaut werden müssen: Die Investitionen in die Schienen können so in Zukunft zielgerichtet und effizient erfolgen“ (Rochlitz 2020, 17)
Und, die Frage ist aufzuwerfen:
„Welchen Sinn macht es, im ICE mit Tempo 250 und schneller unterwegs zu sein, und dann lange auf den Anschluss im Nahverkehrszug warten zu müssen?“ (ebd., 16).
Das Ziel des integralen Fahrplanes ist also die Optimierung von Anschlüssen und der Regelmäßigkeit von Verbindungen.
„Es soll dazu führen, dass in zentralen Knotenbahnhöfen alle Züge mehr oder weniger gleichzeitig ankommen und wieder abfahren, und zwar im festen Rhythmus, in der Regel also einmal jede Stunde zur gleichen Minute. Idealtypisch wäre das um :00 oder um :30, auf wichtigen Linien sogar zu beiden Zeiten. Und die Bahnhöfe in der Umgebung der Knoten schicken ihre Züge jeweils so auf die Reise, dass sie bei Ankunft ins Metrum passen“ (Schrader 2019).
Es wird noch dauern bis zum Deutschland-Takt. Der Weg bis dahin ist mit vielen Unwägbarkeiten gepflastert (!): 2030 ist als Starttemin angesetzt, was aber infrastrukturell bedingt eben noch lange nicht die maximale Ausbaustufe sein wird. Auf der Website des Bundesverkehrsministeriums ist zu lesen, dass die Einführung des Deutschland-Taktes derzeit geprüft werde (vgl. 2020).
Harald Welzer schwärmt derweil auf ganzen 2½ Seiten über
„[d]ie Schweizer Bahn … [als] Lifestyleprodukt. Die Kultur des öffentlichen Transports ist in der Schweiz so schick wie andernorts der SUV… Die Schweizer Bahn zeigt, wie ein Land funktioniert, in dem der öffentliche Verkehr kein ungeliebtes Add-on zum Auto ist: angenehm, komfortabel, nachhaltig. Die Schweizer Bahn möchte übrigens auch nicht an die Börse. Was soll sie da auch? Ihre Aufgabe sieht sie in der möglichst zuverlässigen Bereitstellung von demokratischer Mobilität“ (2016, 276-277).
Die Zeit hält dazu fest:
„Umgerechnet auf die Zahl der Einwohner befördert die Schweizer Bahn doppelt so viele Gäste wie die Deutsche Bahn“ (Grefe 2019).
„Während Deutschland im Jahr 2018 pro Kopf rund 77 Euro in die Schienen-Infrastruktur investiert hat, gaben die Schweizer mit 365 Euro fast das Fünffache aus. Von vier bis fünf Milliarden Franken im Jahr fließen zwei Drittel in die Erhaltung der Strecken, 1,5 Milliarden Franken in den Ausbau des Netzes. Jüngst hat das Parlament bis 2035 einen neuen Ausbauschritt für 13 Milliarden Franken beschlossen“ (ebd.).
Update 19.5.2020:
Die Zeit meldet, dass die Deutsche Bahn 2019 insgesamt sechs Kilometer neue Bahnstrecke fertiggestellt hat. Derweil gibt es insgesamt von 61 neue zzgl. 38 ausgebauter Autobahnkilometer, sowie 122 zzgl. 12 Bundesstraßenkilometer (vgl. Zeit 2020).
>> Jährlich gibt es im Zusammenhang mit dem Straßenbau über 100 eingeleitete Enteignungsverfahren (vgl. Ismar 2020) – interessant in Zeiten der Klimakrise. Und interessant auch in dem Sinne, dass sich die hier federführende Union mit Verstaatlichungen in anderen Bereichen äußerst schwer tut: „Geht es dagegen um die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne, die ihre Marktmacht für Preistreiberei ausnutzen, heulen CDU und CSU laut auf“ meint der Grünen-Politiker Sven Christian Kindler (ebd.)
Update 25.5.2020:
Die taz meldet, dass der Bund der Bahn im Gegensatz zur Autoindustrie und Luftfahrt
„nur helfen [will], wenn das Management gleichzeitig erheblich kürzt, was ohne Schmälerung von Angebot und Service nicht zu machen sein wird“ (Krüger 2020, 1).
Update 12.6.2020:
Die Bahn verkündet einen Strategiewechsel und möchte – auch im Lichte des Klimaschutzes – das Angebot im Güterverkehr ausbauen, konkret den Einzelwagenverkehr, dessen Buchungssystem so „einfach wie Online-Shopping“ (Sigrid Nikutta zit. in AA 2020) werden solle. „DB Cargo hatte im vergangenen Jahr 232 Millionen Tonnen Güter transportiert. Seit 2010, als es noch 415 Millionen Tonnen waren, geht die Menge zurück“ (ebd.).
Quellen des Abschnitts Der IST-Zustand: Kaputtgespart zugunsten der Straße: Die Bahn bzw. das Schienennetz.
Die Externalisierung von Kosten verhindert die Mobilitätswende
Der Verkehr[ssektor in Deutschland] verursacht hohe Folgekosten, die auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Dazu gehören Schäden durch die Veränderungen des Klimas, die Verschmutzung der Luft, Verkehrsunfälle und Lärm. Diese sogenannten externen Kosten stehen weder auf der Tankquittung noch auf dem Flugticket, und sie fallen je nach Verkehrsmittel unterschiedlich hoch aus. Die externen Kosten abzuwälzen widerspricht aber dem Verursacherprinzip: Danach kommt für die Schäden auf, wer sie verursacht hat. In Deutschland können diese Kosten auf fast 150 Milliarden Euro im Jahr 2017 kalkuliert werden. Den größten Block machen mit 61 Milliarden Euro Unfälle aus“ (Groll 2019, 30).
„Wäre die Steuer [beim Diesel] so hoch wie beim Benzin, hätte das allein 2018 rund 8,2 Milliarden Euro Mehreinnahmen gebracht“ (Wüpper 2019, 124).
„Mit weiteren mindestens 3,5 Milliarden Euro pro Jahr werden Dienstwagen steuerlich vom Staat und damit von der Allgemeinheit begünstigt. … Wer dieses Privileg besitzt, hat wenig Grund, auf die Bahn umzusteigen“ (ebd.).
Konsequenz:
„Aus ökonomischer Sicht verhindert die Externalisierung von Kosten einen fairen Wettbewerb zwischen den Verkehrsmitteln“ (Groll 2019, 30).
Externalisierung/Internalisierung/Kostenwahrheit: Ob etwas günstiger ist oder nicht, wird dadurch bestimmt, welche Aspekte in die Kalkulation einfließen – und welcher Zeitrahmen im Sinne der Nachhaltigkeit gewählt wird. Ich gehe davon aus, dass nahezu alle im derzeitigen Wirtschaftsmodell/Finanzsystem besonders ‚günstigen‘ Produkte, Waren, Reisen, Dienstleistungen bei einer Vollkostenrechnung unter den Bedingungen der Kostenwahrheit die teuersten sein werden. Und das wissen auch die Produzenten dieser Produkte/Dienstleistungen – und wollen deshalb nichts von entsprechenden Reformen hören.
Eine erforderliche Konsequenz zur Erreichung eines SOLL-Zustandes:
Subventionsabbau von etwa 17 Milliarden Euro im Jahre 2017
>> vgl. Groll 2019, 31, Rechnung: 29 Mrd. Euro – 12 Mrd. Euro für Flugverkehr = 17 Mrd. Euro
Hinzu kommt:
Für den Betrieb von Güterzügen ist in Europa jeder befahrene Gleiskilometer zu zahlen.
„Für Lkw wird zwar in einigen Ländern eine Maut gefordert, aber meist nur auf Autobahnen – alle anderen Straßen sind für sie frei“ (Bertram 2019, 32).
Auch hier ist für eine Schienen-freundliche Korrektur zu sorgen.
Allgemein ist laut einer internationalen Studie namens ‚Mobility Futures‘ festzuhalten, dass sich
„‚Deutsche Städte … im internationalen Vergleich sehr langsam [verändern]‘… So sind in deutschen Städten kaum Großprojekte geplant oder sie gleichen nur einen Bedarf aus, der schon vor Jahren vorhanden war, wie zum Beispiel die zweite Stammstrecke der Münchener S-Bahn“ (Spiegel 2020).
Grundlegendes:
4min – Wie trennt man einen Deutschen von seinem Auto? | heute-show vom 23.02.2018
Ein Auto steht Tag für Tag i.d.R. 23 Stunden lang ungenutzt herum. (vgl. S. 296)
… und sind in diesem Sinne weniger Fahrzeuge, sondern eher Stehzeuge (vgl. Kopatz 2016, 205)
„Selbst in der Rush Hour, wenn alle unterwegs sind, bewegen sich nie mehr als neun Prozent der Autos gleichzeitig“ (Täubert 2019, 23).
„Automobilität [ist] betriebs- wie volkswirtschaftlich unglaublich unrentabel… Oder kennen Sie Unternehmen, die ihre Produktionsanlagen 23 Stunden am Tag stillstehen lassen und sie dann auch noch äußerst ineffizient …[mit] einem durchschnittlichen Auslastungsgrad von 1,6 Personen pro Fahrzeug [nutzen?]“ (Rammler 2017, 16-17).
„Auf jedem fahrenden Rad sitzt ein Radfahrer, in fast jedem fahrenden Auto nur ein Autofahrer. Mindestens 160 Millionen leere Autositze fahren durch die Republik“ (Kopatz 2019, 77-78, vgl. Stock 2018).
Warum wir uns mit Veränderungen gerade im Verkehrssektor so schwer tun – auch abseits der den Deutschen eigenen ‚Liebe zum Auto‘ liegt u.a. an Folgendem:
„Ist … erst einmal ein stabiler Funktionsraum und ein neues kulturelles Leitbild entstanden, welche eine Technologie bevorzugen und in ihrer weiteren Entwicklung stabilisieren, so haben es Alternativen ab diesem Zeitpunkt sehr schwer, sich zu etablieren bzw. zu koexistieren“ (Rammler 2017, 41).
Andererseits lässt die Strahlkraft des Autos als Statussymbol – wenn wir mal den Viagra-in-Chrom1-Ego-Prothesen2-SUV-Hype beiseitelassen – in den letzten Jahren deutlich nach, namentlich bei den Jüngeren und hier wiederum vorwiegend bei den Stadtbewohner*innen:
18- bis 24-Jährige ohne Auto-Führerschein 2010 = 14,2% | 2018 = 20,8% (vgl. Kosok 2019, 15)
Im Sinne unserer jüngeren Mitbürger*innen:
Da geht doch in Zeiten der digitalen Vernetzung per Sharing und multimodalen Verkehrssystemen mehr, denke ich… da geht mehr nachhaltige Mobilität?
Details: Quellen zu (1) und (2)
1 Gerd Lottsiepen, verkehrspolitischer Sprecher des Verkehrsclub Deutschland im Tagesschau-Interview, 2007. 2 vgl. Wenzel, Eike 2019
Grundlegendes:
Definition ‚Nachhaltige Mobilität‘
Der Verkehrsexperte Stephan Rammler definiert den Begriff wie folgt
„[N]achhaltige Mobilität [lässt sich] definieren als die ökologisch verträgliche und sozial gerechte Gestaltung und Gewährleistung der Erreichbarkeit von Einrichtungen und Kommunikationszugängen auf der Grundlage nicht-fossiler energetischer Ressourcen“ (2017, 137).
>> zur Definition des Begriffs ‚Nachhaltigkeit‘ siehe S. 242.
In einfache Worte gefasst und als Ziel formuliert:
Es geht um nichts weniger als „um die Neuerfindung der Mobilität als postfossiles, dekarbonisiertes, sicheres und widerstandsfähiges System nachhaltiger Praktiken der Raumüberwindung“ (Rammler 2017, 10).
Und da geht so viel. Gerade im Hinblick auf digital geprägte, multimodale Verkehrskonzepte ist die Zukunft mit den längst technologisch ausgereiften Alternativen geradezu atemberaubend faszinierend, dass es m.E. kaum begreifbar ist, wie das mittelfristige Loswerden eines teuren, stinkenden, anfälligen MIV-Stahlkastens als ‚Verzicht‘ verstanden werden kann. „Seid doch froh, dass Ihr diesen Klotz am Bein bald endlich loswerdet!“ möchte man zumindest den städtischen Verfechter*innen des IST-Zustandes zurufen.
Mir erscheint die Seelenlage (insbesondere der städtischen) Autofahrer*innen und Politiker*innen in erster Linie angstbesetzt und fantasielos. Woher kommt diese Angst? Woher kommt diese Undenkbarkeit einer Weiterentwicklung der Mobilität?
Stephan Rammler weist daneben auf den gern verdrängten aber doch engen Zusammenhang von Kriegen und fossilen Energieträgern hin:
„Die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen um das Weltklima und den Weltfrieden [– Stichwort ‚Kriege ums Öl‘1 –] bemisst sich … an der Bereitschaft, etwas im Kern unserer privaten Lebensstile massiv zu verändern, einen ganzen Wirtschaftszweig mutig und radikal zu transformieren, ja, eine ganz Volkswirtschaft umzubauen. Die Neuerfindung … der Mobilität ist ein echtes Jahrhundertprojekt. Aber eines, um das es sich wirklich zu kämpfen lohnt, weil die segensreichen Wirkungen enorm sein werden“ (Rammler 2017, 20).
Es lohnt sich in der Tat für eine umfassende Mobilitätswende zu kämpfen, wie eine Modelsimulation für Lissabon der OECD2geradezu bestürzend deutlich macht:
„95% less space was required for public parking in our model city served by Shared Taxis and Taxi-Buses.
The car fleet needed would be only 3% in size of the today’s fleet.
Although each car would be running almost ten times more kilometres than currently, total vehicle-kilometres would be 37% less even during peak hours“ (IFT-OECD 2015, 8).3
Selbst wenn dieses Modell mutmaßlich und auch für das eng besiedelte Lissabon zu optimistisch gedacht sein sollte: Hier steckt offensichtlich ein gewaltiges Potenzial drin.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1Extinction Rebellion (XR) wirft zu Recht die Frage auf: „Wie viele Autokrat[*]innen sind auf Erdöleinnahmen angewiesen, um ihre Gewaltherrschaft zu stützen?“ (2019).
2 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, englisch: Organisation for Economic Cooperation and Development
3 Ein Mehr an guter Fahrradinfrastruktur erzeugt mehr Fahrradverkehr. Somit werden weniger Parkplätze benötigt. Das führt wiederum dazu, dass für Fahrradspuren vermehrt vormalige Parkplatzrandstreifen umgenutzt werden können, sodass der insgesamt für den fließenden Verkehr zur Verfügung stehende Platz auch für verbleibende Autofahrer*innen größer wird. Zu dieser Feststellung passt auch die Meldung, der zufolge die Planungen Hamburgs, den Fahrradschutzstreifen auf dem Ballindamm auf 2,75 m einzurichten nun im Oktober 2020 – mit der Schließung des benachbarten Jungfernstiegs für den Pkw-Verkehr – den neuen Anforderungen angepasst werden, sodass nun der Fahrradweg durchschnittlich vier Meter, an einigen Stellen sogar 4,75 m breit werde. „[D]ie Behörde [rechne in Folge des Auto-losen Jungfernstiegs] mit einer Abnahme des Autoverkehrs am Ballindamm … ‚Eine Spur für den Autoverkehr ist deshalb ausreichend‘, so [der Pressesprecher Dennis] Heinert“ (Barnickel 2020).
Bertram, Rebecca (2019): „EU-Bahnverkehr: Lückenschluss für mehr Vernetzung“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. S. 32. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Extinction Rebellion (2019): „Erklärung der Rebellion“. in: Wann wenn nicht wir*. Ein extinction rebellion Handbuch. S. Fischer, S. 48.
Groll, Stefanie (2019): „Kosten: Falsche Abrechnung – zahlen sollen die Anderen“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Kosok, Philip (2019): „Umweltverbund: Auf die sanfte Tour“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 15, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Lottsiepen, Gerd (2007): „Streit um EU-Klimaziele für Autoindustrie: ‚Herr Glos muss das verschlafen haben“. in: tagesschau.de, 29.1.2017, online unter https://www.tagesschau.de/wirtschaft/meldung63522.html (Abrufdatum 23.6.2020)
Rammler, Stephan (2017): Volk ohne Wagen. Streitschrift für eine neue Mobilität. Fischer.
Wüpper, Thomas (2019): Betriebsstörung. Das Chaos bei der Bahn und die überfällige Verkehrswende. Links.
Nachhaltige Mobilität:
Ländliche Gebiete in modernen Verkehrskonzepten mitdenken
Wenn man über neue Mobilität nachdenkt, reicht es nicht, Großstädte und Städtefit fürs 21. Jahrhundert zu machen; es bedarf einer grundlegend neuen umfassenden ÖPNV-Versorgung insbesondere der ländlichen Gebiete:
Die Deutschen leben gemäß Machowecz (2019, 52) zu … in Orten mit … Einwohner*innen:
30% = > 100.000
70% = < 100.000
davon:
15% = < 5.000
27% = 5.000-20.000
Verkehrsforscher*innen sind sich gemäß der Zeit weitgehend einig, welche Maßnahmen notwendig sind, um auch den ländlichen Raum mit einer klimaschützenden Mobilität auszustatten und integrativ an die Metropolen anzuschließen:
„Macht den öffentlichen Verkehr schnell und flexibel.
Organisiert die Wege zu den Haltestellen.
Schafft ein umfassendes Radwegenetz.
Bringt Carsharing aufs Land.
Baut kompakter und in der Nähe von Bahnstrecken.
Lasst Autofahrer den wahren Preis zahlen.“ (Schwietering 2019)
Weitere Möglichkeiten erwähnt die Süddeutsche Zeitung: Bürgerbusse, Bürgerautos, ÖPNV on Demand und Mitfahrerbänke. Letzteres ist eine Bank am Straßenrand, ähnlich einer Bushaltestelle, auf die man sich setzen kann, nachdem man auf einer hölzernen Anzeige sein gewünschtes Fahrtziel eingestellt hat – eine Art Renaissance des Trampens (Reek 2020).
Doch selbst wenn man das beste ÖPNV-Netz Europas aufbauen und weitere kreative Lösungen umsetzen würde, gilt, dass es in ländlichen Gegenden bis auf Weiteres vielfach ganz ohne Auto nicht gehen wird:
„Aber es scheint doch niemand gezwungen zu sein, ein [ein eigenes und zudem] besonders großes und leistungsstarkes Fahrzeug zu fahren…, um mobil zu sein“ (Rammler 2017, 73).
Quellen des Abschnitts Ländliche Gebiete in modernen Verkehrskonzepten mitdenken
Machowecz, Martin (2019): „‚Wenn Großstädter fordern, dass jede Kartoffel gehegt wird wie eine Zimmerpflanze auf St. Pauli, vergessen sie, dass Kartoffeln draußen auf dem Acker wachsen‘“: in: Die Zeit, Nr. 25/13.6.2019, S. 52.
Rammler, Stephan (2017): Volk ohne Wagen. Streitschrift für eine neue Mobilität. Fischer, S. 73.
Lernen von Vorbildern: Wie hat man es in Kopenhagen & Co gemacht?
Manchmal ist das Leben ganz schön leicht. Zwei Räder, ein Lenker und das reicht.
Max Raabe, Songtext „Fahrrad fahr’n“, 2018
„Als erstes, so [der Verkehrsexperte Stephan] Rammler, ‚hat Kopenhagen die Parkplätze verknappt und verteuert, dann die Fahrspuren neu aufgeteilt‘. Und dann hätten sie alles verknüpft mit einem funktionierenden, gut abgestimmten und auch optisch attraktiven öffentlichen Nahverkehr. Fast jeder zweite benutzt auf dem Weg zur Arbeit oder zur Ausbildung das Rad“ (Bartsch et al. 2019, 16).
„Schwarzparken auf einem Radweg, und sei es nur für fünf Minuten, ist hier [in Kopenhagen] kein Kavaliersdelikt, sondern eine sehr teure Angelegenheit. Durch die strikte Kontrolle beweist die kommunale Exekutive Respekt vor den eigenen Plänen und Konzepten und zeigt. Wir meinen es wirklich ernst“ (Rammler 2017, 127).
„Die Radwege sind breit, die grüne Welle ist auf Fahrradgeschwindigkeit eingestellt, es gibt Radschnellwege und Fahrradbrücken“ (Drewes 2019, 13).
In Kopenhagen werden im Winter zuerst die Fahrradwege von Schnee und Eis geräumt. Andernfalls würde umgehend ein Verkehrskollaps drohen – wenn plötzlich ein Großteil der Radfahrer*innen das Auto aus der Garage holen würde (vgl. Stengel 2010).
Und die Niederlande?
Wie läuft es im Traumland einer/eines jeden Fahrradliebhaberin/Fahrradliebhabers?
Seit Hape Kerkeling wissen wir, dass „[i]n Norwegen … auf jeden Norweger 75 Elche, 90 Murmeltiere und 100 Blockhäuser“ (Kerkeling 1988, 19) kommen.
In den Niederlanden kommen auf 17 Millionen Einwohner 23 Millionen Fahrräder (vgl. Harms 2019, 4).
Finanzielle Ausgaben pro Einwohner*in für Fahrradinfrastruktur:
Stuttgart derzeit 5 Euro, geplant langfristig: 40 Euro
Darmstadt innerhalb von 4 Jahren jährlich 26 Euro
Kassel = 15 Euro
Kopenhagen = 36 Euro
Amsterdam 11 Euro1
Hamburg 2,90 Euro
München 2,30 Euro (vgl. Kühne 2019, 35 u. Kopatz 2019, 88)
Details: Erläuterungen zu (1)
Mehr ist nicht mehr notwendig angesichts der bestehenden Infrastrukturen.
Einer Greenpeace-Studie von 2018 zur Folge „gibt die Stadt Utrecht 130 Euro pro Einwohner für den Radverkehr aus, Berlin aber nur 4,50 Euro“ (Linnert/Albrecht 2019, 20-21).
Weitere Vorbilder für infrastrukturelle Innovationen:
Die Liste von Innovationsmöglichkeiten und Infrastrukturen ist lang – und die meisten solcher Projekte kosten wesentlich weniger als herkömmliche ‚autofreundliche‘ Strukturmaßnahmen:
Große Fahrradparkhäuser – so steht in Utrecht nunmehr das größte Fahrradparkhaus für 12.500 Fahrräder (vgl. Spiegel 2019),
„ein intelligentes System, das Radfahrern anzeigt, ob sie schneller oder langsamer fahren müssen, um an der nächsten Ampel grünes Licht zu erwischen“: Auf dem Display erscheint: „Hase = Tritt in die Pedale. Schildkröte = Mach mal langsam. Daumen hoch = Nichts verändern. Kuh = Egal was du tust, die Ampel wird rot sein“ (ebd.), –
das alles geht in den Niederlanden.
Anderswo ist ebenfalls eine ganze Menge möglich:
In Trondheim in Norwegen gibt es zur Bewältigung von bis zu 18%igen Steigungen „den Fahrradlift Cyclo Cable… Das Zugseil verläuft in einem Spalt in der Fahrbahn. Einen Fuß stellen die Radfahrer auf eine Metalllippe, die daraus hervorschaut. Der andere Fuß bleibt auf der Pedale stehen“ (ebd.).
Apropos Norwegen:
„Ab 2025 werden alle norwegischen Innenstädte per Gesetz autofrei sein“ (Gonstalla 2019, 107 – vgl. Abschnitt Direkte Opfer des Motorisierten Individualverkehrs (MIV), Aspekt Oslo, S. 301).
In Kolumbiens Hauptstadt Bogotá wird seit Mitte der 1970er Jahre „an jedem Sonntag – und außerdem an den Feiertagen – zwischen 7 und 14 Uhr jeweils eine Richtung der Hauptverkehrsstrecken für den motorisierten Verkehr gesperrt [– die sog. Ciclovía]. Radfahrer, Jogger, Inline-skater und Spaziergänger erobern dann auf 120 zusätzlichen Kilometern die Straßen der Hauptstadt“ (Haarbach 2018).
Ein bemerkenswerter Kommentar des verantwortlichen Bürgermeisters Enrique Peñalosa dazu:
„When I was elected mayor of Bogotá and got to city hall, I was handed a transportation study that said the most important thing the city could do was to build an elevated highway at a cost of $600 million. Instead, we installed a bus system that carries 700.000 people a day at a cost of $300 million. We created hundreds of pedestrian-only streets, parks, plazas, and bike paths, planted trees, and got rid of cluttering commercial signs. We constructed the longest pedestrian-only street in the world. … But we chose not to improve the streets for the sake of cars, but instead to have wonderful spaces for pedestrians. All this pedestrian infrastructure shows respect for human dignity. We’re telling people, ‚You are important – not because you’re rich or because you have a Ph.D. [d.h. einen Doktor-Titel], but because you are human.‘ If people are treated as special, as sacred even, they behave that way. This creates a different kind of society. … A city is successful not when it’s rich but when its people are happy. Public space is one way to lead us to a society that is not only more equal but also much happier“ (2004, 2-3).
„In Ottawa werden von Mai bis September ebenfalls sonntags Autos von einigen Straßen verbannt, genauso wie in der eigentlich alles andere als fahrradfreundlichen Megametropole Mexiko-Stadt“ (Gonstalla 2019, 107).
In Paris und im US-Staat Idaho ist es Fahrradfahrer*innen erlaubt, auch bei rot rechts abzubiegen (vgl. Hasselmann 2015)
Ampeltrittbretter und Ampelgriffe an Straßenrändern unweit der Ampeln. Das gibt es bspw. in Münster und Kopenhagen: Das kostet fast nichts. Es kann so einfach sein (vgl. Gonstalla 2019, 107).
OMG, was man mit dem vielen Geld, das derzeit in die Asphaltisierung und Versiegelung Deutschlands gesteckt wird, machen könnte. Es mangelt hier m.E. bislang in vielerlei Hinsicht an Fantasie, Flexibilität und Pragmatik.
Quellen dieses Abschnitts Lernen von Vorbildern: Wie hat man es in Kopenhagen & Co gemacht?
Bartsch, Matthias et al. (2019): „Mobil ohne Stau“. in: Der Spiegel, Nr. 27/29.6.2019, S. 16.
Drewes, Sabine (2019): „Urbaner Raum: Von der autogerechten zur lebenswerten Stadt“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 13, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Kühne, Benjamin (2019): „Die Verkehrswende von unten hat schon begonnen“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 35, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Linnert, Uta u. Albrecht, Tim (2019): „Nicht von heute auf morgen“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2019, S. 20f.
Täubert, Katja (2019): Mit Füßen und Pedalen: Hol dir deine Stadt zurück. Hg. vom VCD [Verkehrsclub Deutschland].
Nachhaltige Mobilität:
Thema ‚365-Euro-Ticket/Kostenloser Nahverkehr‘
Ein 365-Euro-Ticket bzw. kostenloser Nahverkehr würde bedeuten, dass die bisherigen Ticket-Einnahmen größtenteils bzw. komplett anderweitig aufzubringen wären. Um folgende Summen geht es:
Einnahmen durch Ticketverkäufe des deutschlandweiten ÖPNV = ca. 13 Mrd. Euro pro Jahr
830 Mio Euro pro Jahr bzgl. des ÖPNV des HVV in der Metropolregion Hamburg (vgl. Tagesschau 2019)
Hinzu kommt das Geld, dass für ein umfangreicheres und besseres ÖPNV-Angebot aufzubringen ist.
Push- und Pull-Maßnahmen
Es gibt zwei grundlegende Argumentationsstränge und Strategien, um Veränderungen z.B. im Mobilitätsverhalten zu bewirken, wie auch das UBA feststellt:
„Während Push-Maßnahmen [Ordnungsrecht] darauf abzielen, bestimmte Transportmodi relativ unattraktiver zu machen, soll mit Pull-Maßnahmen [Anreize] die relative Anziehungskraft bestimmter Modi erhöht werden.“ (UBA 2019b).
Pull-Maßnahmen hingegen zielen auf Preis und/oder Angebot. (Sie funktionieren nur bei denen, die Geld haben.)
Details: Erläuterungen
Bsp: Der Staat schießt zur klimagerechten Sanierung Ihrer Heizung einen bedeutenden Betrag dazu. Sie werden Ihre Heizung aber nur trotzdem dann umbauen, wenn Sie das Geld dafür übrig haben.
Der Vorstandschef der Hamburger Hochbahn AG, Henrik Falk, hält weder kostenlosen Nahverkehr noch das 365-Euro-Ticket für zielführend:
„Das eigene Auto sei immer teurer als eine Monatskarte. ‚Die Marktforschung zeigt, dass der Preis nicht an oberster Stelle steht, sondern Qualität, Sicherheit, Bequemlichkeit, Pünktlichkeit.’… wie man aus Autofahrern Fahrgäste macht: das Angebot verbessern, das Streckennetz erweitern, die Taktfolge verkürzen“ (Bartsch et al. 2019, 20).
Falk ist sicher zuzustimmen, dass ein versiffter Umsonst-Bus nicht zum Umsteigen einlädt. Aber der Umkehrschluss, dass bei hinreichend „Qualität, Sicherheit, Bequemlichkeit, Pünktlichkeit“ der Preis eine untergeordnete Rolle spielen könnte, gilt eben auch nicht. Seit vielen Jahren setzt der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) regelmäßig die Preise hoch und gilt ohnehin schon als einer der teuersten Verkehrsverbünde Deutschlands (vgl. Welt 2019).
Gegenüber Henrik Falks Rückzug auf Ergebnisse der Marktforschung vertritt Michael Kopatz eine deutlich andere Position hinsichtlich eines bei ihm so vorgeschlagenen ‚Bürgertickets‘:
„Vorbild kann die solidarische Umlagefinanzierung eines Semestertickets sein. Der Wechsel vom Auto in die Bahn verselbstständigt sich, weil die Kunden nicht permanent den Preis abwägen und Tarife ausloten. … Die steigende Nachfrage macht den Ausbau des Nahverkehrs erforderlich, er gewinnt an Attraktivität, eine positive Aufwärtsspirale wird in Gang gesetzt“ (2016, 233).
Der Blick auf vergleichbare bzw. ähnliche Konzepte zeichnet folgendes Bild:
Reutlingen, Radolfzell, Amberg haben in Deutschland ein (nicht immer so benanntes) 365-Euro-Ticket, diverse Städte bzw. Verkehrsverbünde haben ein 365-Euro-Ticket für Auszubildende und/oder Schüler*innen eingeführt oder angekündigt (vgl. wikipedia 2020).
Der Blick in die Nachbarländer ergibt, dass z.B. in Wien und Vorarlberg das sog. ‚Wiener Modell‘, das 365-Jahresticket durchgesetzt ist (vgl. ebd.).
Angemerkt sei hier, dass die Schweiz und Österreich auch bei landesweiten Bahn-Pauschaltickets wesentlich progressiver sind als Deutschland:
„Österreich bekommt 2021 ein Klimaticket [namens 1-2-3-Ticket. Es] wird die unbeschränkte Nutzung von Zügen und öffentlichen Verkehrsmitteln im gesamten Bundesgebiet für 3 Euro täglich [also für jährlich 1095 Euro] ermöglichen“ (Leonhard 2020a, 8). Für Senior*innen, Menschen mit Behinderung sowie Familien gibt es sozialverträgliche Konditionen. Wichtig: Das Ganze wird durchgezogen, obwohl auch Österreich Privatbahnen hat (vgl. Leonhard 2020b, 8).
In der in Sachen Fernbahn und ÖPNV geradezu traumhaft erschlossenen Schweiz (in der das Einkommensniveau ein deutlich anderes ist als z.B. in Deutschland) kostet es jährlich 3.860 Schweizer Franken (etwa 3.540 Euro) für einen einzelnen Erwachsenen theoretisch sein Leben in den Zügen, Schiffen, Bussen zu verbringen, es gibt Vergünstigungen für Familien, Partner*innen, für Kinder, Rentner*innen, Behinderte und Hunde (vgl. SBB 2020).
Der entscheidende Punkt ist nun bei Kopatz m.E., dass das Ticket ohnehin da ist und nicht mehr bei jeder anstehenden Fahrt über Tarifstrukturen nachgedacht zu werden braucht, was die Hürden für viele Bürger*innen deutlich herabsetzt.
Auch der viele Menschen überfordernde Gang an den Ticketautomaten entfällt.
Meines Erachtens bedarf es einer raffinierten Kombination diverser Push&Pull-Maßnahmen, was auch bedeutet, dass es den einen Königsweg nicht gibt und somit in jeder Stadt angepasst an die örtlichen Gegebenheiten andere Kombinationen möglich sind.
Entscheidend ist m.E.
der Convenience-/Bequemlichkeitsfaktor à la ‚Verkehr wie Wasser‘ sowie
die Gesamtkostenrechnung inkl. finanzieller Aspekte, dem Zeitbudget und der emotionalen Kosten,
zusammengefasst geht es um die Niedrigschwelligkeit.
Denn genau mit dieser Niedrigschwelligkeit argumentieren stets Autofahrer*innen, wenn auch meist ohne diesen Begriff zu verwenden:
Autofahrer*innen machen geltend, dass sie trotz eines passenden ÖPNV-Angebots regelmäßig dennoch in ihr Auto steigen, weil das Auto nun mal (grundsätzlich und zudem räumlich direkt) vor der Tür stehe, d.h. (für viel Geld) angeschafft wurde…
Das ist der als entscheidende Mehrwert eines eigenen Pkw: Er steht direkt vor der Tür. Um mal eben Brötchen zu holen… Das ist die Freiheit, von der in opulenten TV-„Mein Auto fahrt stets vollkommen allein durch Stadt- und Natur“-Werbungen stets die Rede ist… Es geht um die pure, u.U. nie genutzte Möglichkeit. Sobald dieser eine Mehrwert weg (und das Auto abgeschafft) ist, werden aus Autofahrer*innen umgehend Vorwiegend-Nicht-Autofahrer*innen – oder würden Sie zum Brötchen holen ein Carsharing-Auto mieten?
…und somit jegliche Nutzung des ÖPNV – fast egal, was das Ticket konkret koste – eine persönliche Zusatzausgabe darstelle. Was man besitzt, hat man auch zu benutzen.
…mehr
Für Paris wurde erwogen, den ÖPNV kostenlos zu machen. „Abgesehen von der Finanzierungsfrage würde der eigentlich erwünschte Effekt nicht erzielt: Statt Menschen vom Auto in die U-Bahn zu bringen, würden eher Radfahrende oder Fußgängerinnen und Fußgänger animiert, auf die ‚Öffis‘ umzusteigen“ (ORF 2020).
Dies gilt m.E. solange, bis die finanziellen und vor allem die emotionalen Kosten z.B. durch Parkgebühren, City-Mauts und verknappten Parkraum relevant höher liegen als die eines preisgünstigen, zuverlässigen, umfassenden ÖPNV-Angebotes.
Daraus ergibt sich folgende Frage:
Wie hoch ist der Gesamtpreis, einen eigenen Pkw zu besitzen?
Machen wir uns daher an dieser Stelle einmal klar, was ein eigenes Auto in Deutschland durchschnittlich kostet:
„Autofahrende geben in ihrem Leben durchschnittlich 332.000 Euro dafür aus1, um mit dem Auto mobil zu sein… Weitere Kosten sind die lebenslangen Spritkosten, die bei 78.900 Euro liegen sowie Versicherungen, Steuern, Pflege oder Wartung. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen der Deutschen von 22.652 Euro sind das mehr als 13 Jahre Arbeitszeit, die dafür aufgewendet werden“ (Täubert 2019, 35).
Bei Infrastrukturen ohne relevanten ÖPNV kann daher durchaus von der Armutsfalle ‚Auto‘ gesprochen werden (vgl. Bruns 2018, 11).
Heiko Bruns fragt in diesem Zusammenhang seine*n Leser*in:
„Sie haben keine Zeit, zu Fuß zu gehen, Rad zu fahren oder den Bus zu nehmen? Wenn Sie in diese Überlegung die Zeit einrechnen, die Sie für den Kaufpreis und die Haltungskosten Ihres Autos arbeiten müssen, sieht der Vergleich ganz anders aus: Ausgehend von einem Mittelklassewagen wie dem VW Golf VII, betragen die monatlichen Kosten etwa 520 Euro. Bei einem fiktiven Nettogehalt von 2.000 Euro/Monat arbeitet man folglich ein Viertel der monatlichen Arbeitszeit nur für das Auto. Von durchschnittlich 21 Arbeitstagen werden damit etwa fünf Tage oder 40 Stunden für das Auto benötigt. Wird dieser Aufwand gleichmäßig auf die Arbeitstage verteilt, sind das fast zwei Stunden. Um diese Zeit verlängert sich sozusagen die Fahrt zur Arbeit. Autofahren spart am Ende also weder Zeit noch Geld“ (2018, 11).
Was man sich viel zu selten klar macht:
„[W]enn wir etwas kaufen, bezahlen wir nicht mit Geld. Wir bezahlen mit unserer Lebenszeit, die wir aufwenden mussten, um dieses Geld zu verdienen“ (Huffington Post 2015, s.a. Fußnote S. 351).
Nach Täubert sparen Einzelpersonen „ohne Auto, die mit Bus, Bahn, Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sind [und – so erforderlich – sich jederzeit ein Auto leihen können], … monatlich circa 50 Prozent, … Familien circa 35 Prozent und Geschäftsleute 45 Prozent“ (Täubert 2019, 35).
Sie können also statistisch gesehen 13 Jahre Arbeitszeit ausschließlich für den Dauerbesitz jeweils eines Autos aufwenden, oder wie Täubert an gleicher Stelle feststellt, freitags zu Hause bleiben und für Familie und Freunde da sein.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Ich nehme an, dass Sie diese Fußnote lesen, weil sie die o.g. Summe viel zu hoch finden und der Auffassung sind, das Sie garantiert deutlich weniger für Ihr Auto ausgeben. Das kann natürlich angehen – aber haben Sie jemals die Gesamtrechnung aufgemacht? Tatsächlich ist es möglich, mit weniger monatlichen Ausgaben ein Auto halten. Dennoch zeigt diese Zahl, dass sehr viele Menschen bereit sind, sehr viel Geld für ihr Auto auszugeben. Geld auszugeben bedeutet, dass man seine Arbeitszeit gegen eine Ware/Dienstleistung tauscht, d.h., dass der Käuferin bzw. dem Käufer die Ware/Dienstleistung im Moment des Zustandekommens des Kaufes mehr wert ist, als die dafür zu investierende Lebenszeit. (Beeindruckend auch, wie viel geleistete Arbeitszeit sich ins Nichts auflöst in dem Moment, in dem man das erste Mal den Motor anlässt und vom Betriebshof fährt: Man wird nie wieder auch nur annähernd den Preis für diesen Neuwagen zurückerhalten, den man vor zwei Minuten gekauft hat.)
Quellen dieses Abschnitts Thema ‚365-Euro-Ticket/Kostenloser Nahverkehr‘
Bartsch, Matthias et al. (2019): „Mobil ohne Stau“. in: Der Spiegel, Nr. 27/29.6.2019.
Bruns, Heiko u.a. (2018) (Hg.): Besser Leben ohne Auto. Hg. Autofrei leben! e.V. oekom.
Eine Möglichkeit, die Innenstädte autoarm zu gestalten und Platz bzw. Ruhe für Fußgängerzonen zum Flanieren und für Outdoor-Café-Besuche zu schaffen, sind Konzepte, die die individuellen Kosten für den Innenstadtbesuch per Auto hochfahren bzw. nicht der Allgemeinheit überlassen:
City-Maut-Systeme gibt es bspw. in Madrid, Oslo, Chengdu, Paris, Athen, Brüssel, Mexico City und Vancouver (vgl. ebd.), Kopatz zählt 14 europäische Städte (vgl. 2016, 200) – Keine der genannten Städte ist dafür bekannt, dass deren Wirtschaft darunter gelitten hätte.
„London beziffert den Effekt der [zwischen 7 und 18 Uhr ca. 13 Euro1 betragenen] City-Maut auf ein täglich um 20 Prozent oder 60.000 Fahrzeuge verringertes Verkehrsaufkommen im City-Gebiet, eine Beschleunigung des Verkehrsflusses um 37 Prozent und die Einsparung von 150.000 Tonnen CO₂ pro Jahr“ (Rammler 2017, 129, Höhe der Maut vgl. Bartsch et al. 2019).
Daneben gibt es im Sinne von Push & Pull (vgl. S. 349) z.B. Konzepte wie
eine an Umweltnormen orientierte Parkraumbewirtschaftung, auch Parkraummanagement genannt,
Anwohner*innenparken,
schrittweise jährlich erfolgender, systematischer Rückbau von Parkplätzen,
einer Abschaffung reiner P+R-Gebühren2 zugunsten eines günstigen P+R-ÖPNV-Kombitickets für P+R-Nutzer*innen sowie
einer räumlich schrittweise auszudehnenden autoarmen Zone z.B. durch weitreichende Anlieger-Regelungen oder einer (ggf. in Abstimmung mit dem Bund einzuführenden) City-Maut.
Solche Maßnahmen schaffen Platz für Anderes und ermöglichen wie oben angedeutet z.B. den Ausbau von Fußgängerzonen.
Hier gibt es die seit Jahrzehnten bekannte Furcht von Einzelhändler*innen vor der Einrichtung von angeblich käufer*innenraubenden Fußgängerzonen.
Diese Befürchtungen sind inzwischen vielfach in Studien und in der Praxis widerlegt worden –
„Wo viel Urbanität ist, wo viel Fahrradverkehr ist, wo wenig Blech ist, dort steigen die Umsätze“ (Knie 2020) –
sodass an dieser Stelle nur kurz der Verweis auf eine Studie erfolgt, die zeigt wie sehr Befürchtung und Realität auseinanderklaffen:
So „meinten Händler*innen des Londoner Stadtbezirks Hackney… dass ihre Kund*innen zu 63 Prozent mit dem Auto anreisen. Tatsächlich waren es nur 22 Prozent. Sie vermuteten weiter, dass 49 Prozent ihrer Kund*innen zu Fuß kommen. In Wirklichkeit waren es 64 Prozent“ (Täubert 2019, 60).3
Nachdem es nun schon seit langem als evident gelten darf, dass Fußgängerzonen die Wirtschaft stützen, ist die Frage aufzuwerfen, was eigentlich für ein Menschenbild hinter dieser Glaubenssatz4-artigen intuitiven Befürchtung steht.
Offensichtlich werden Kund*innen unterschätzt, ihnen wird wenig zugetraut. Vielleicht verliert man tatsächlich die/den eine*n oder andere*n Kundin/Kunden. Wieso kommen so viele Menschen nicht auf die Idee, das man auch Kund*innen gewinnen könnte?
>> Dieser i.d.R. intuitive/spontane Angstimpuls erscheint mir vergleichbar mit den Kontroversen zum ‚Bedingungslosen Grundeinkommen‘ (BGE) zu sein (vgl. Aspekt Klimakrise als Chance, S. 458f.), siehe auch Aspekt ‚Glaubenssatz „Der Mensch ist im Grunde schlecht“‘, S. 380ff.)
Nebenbei:
Beim ersten innenstädtischen Vollsortiment-IKEA in Hamburg-Altona ist bis heute, sechs Jahre nach Eröffnung, das oberste Parkdeck und somit einen Großteil des Parkplatzangebotes mangels Auslastung nicht für Autofahrer*innen freigegeben… Der zeitlich begrenzte Umsonstverleih mit Cargo-Bikes u.ä. klappt (aus eigener Erfahrung) hervorragend.
Sich von Fußgängerzonen ‚bedroht‘ gesehene Einzelhändler*innen könnte man die Frage stellen, inwieweit sie überhaupt Produkte verkaufen, die man nicht mit einem (Lasten-)Fahrrad transportieren kann…
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 Zu diesen ca. 13 Euro kommt für ältere Fahrzeuge noch zusätzlich eine Schadstoffmaut hinzu, die derzeit ca. 14 Euro beträgt.
2 P+R = Park & Ride. Große, gebührenpflichtige Parkplätze, die i.d.R. am Stadtrand unweit von U- und S-Bahnstationen liegen.
3 In Hannover gewann der derzeitige Bürgermeister Belit Onay die Wahlen u.a. mit dem Versprechen, die Innenstadt bis 2030 autoarm zu gestalten – es geht wohlgemerkt um ein 2,2 qm kleines Terrain, in dem es schon jetzt mehrere Fußgängerzonen gibt (vgl. Nefzger 2020). Doch nun hat er sich mit dem Üblichen auseinanderzusetzen, konkret mit dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Hannover, Horst Schrage, der ein weiteres Mal das Mantra verlauten lässt,: „[d]ass Menschen mit ihren Autos in die Innenstadt fahren dürfen, … für die Wirtschaft unverzichtbar [sei].“ „Diskussionen über noch striktere Einfahrbeschränkungen in die City von Hannover schrecken zu viele Kunden ab und sind in der aktuellen Lage mehr als kontraproduktiv.“ (zit. in Nefzger 2020).
4 Definition siehe Fußnote auf S. 227
Quellen des Abschnitts Thema ‚City Maut‘
Bartsch, Matthias et al. (2019): „Mobil ohne Stau“. in: Der Spiegel, Nr. 27/29.06.2019, 17f.
Knie, Andreas (2020): „Mobilität in Corona-Zeiten: ‚Autoindustrie in Deutschland schon lange nicht mehr systemrelevant‘“. [Thomas Hummel interviewt Andreas Knie]. In: Süddeutsche Zeitung, 14.05.2020, online unter https://www.sueddeutsche.de/auto/corona-verkehrskonzept-mobilitaet-1.4905203 (Abrufdatum 29.06.2020).
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Autofahrer*innen haben Innerorts immer und ausnahmslos 1,5 Meter Abstand von Fahrradfahrer*innen zu halten – selbst wenn das bedeutet, dass sie dann hinter der/dem Radfahrer*in wie hinter einem Landstraßen-Traktor ‚gefangen‘ sind. Außerorts gilt ein Sicherheitsabstand von 2 Metern.
Zwei Anmerkungen
1. vgl. Spiegel 2019 und StVO (2020) § 5 Absatz 4 Satz 2: „Beim Überholen muss ein ausreichender Seitenabstand zu den anderen Verkehrsteilnehmern eingehalten werden. Beim Überholen mit Kraftfahrzeugen von zu Fuß Gehenden, Rad Fahrenden und Elektrokleinstfahrzeug Führenden beträgt der ausreichende Seitenabstand innerorts mindestens 1,5 m und außerorts mindestens 2 m“ (Bundesanzeiger 2020).
2. Europas Nr. 1 unter den Fachzeitschriften für Autofragen titelte 2017 gewohnt ausgewogen „Sie treten, spucken, pöbeln… Sie klauen uns unsere Straße“ (zit. in ADFC 2017) – so schafft man demokratischen Ausgleich und Gelassenheit. Das wäre hier nicht erwähnenswert, wenn nicht in einem Artikel der gleichen Ausgabe die folgende Frage aufgeworfen wird: „Warum also hämmern einem Fahrradfahrer bei voller Fahrt aufs Autodach, während man sie überholt?“ (ebd.). Dank obiger Ausführungen gibt es dazu endlich, endlich eine Antwort. In meinem damaligen News-Blog schrieb ich als fiktive Antwort: ‚Nun, ich persönlich nehme lieber meinen Haustürschlüssel und strecke meinen Arm nach links aus (Scherz) – Fakt ist: 1,5 Meter Sicherheitsabstand ist die vielleicht unbekannteste Verkehrsregel aller [per ständiger Rechtsprechung betätigter] Verkehrsregeln unter Autofahrer*innen – und so riskiere ich täglich mein Leben zwischen Nicht-Abstandhaltern, aufgehenden Autotüren und ankündigungslos einparkenden SUV-Fahrer*innen. In solchen Situationen hat ein*e Autofahrer*in allenfalls einen Blechschaden zu befürchten. Ich hingegen bringe mein Leben ein. Ein Auto ist ein verdammt mächtiges Instrument. Viele können mit dieser Macht nicht umgehen. Ich möchte jetzt, 2020, hinzufügen: Es gibt tatsächlich eine Reihe von idiotischen Radfahrer*innen – die übrigens auch mich als Radfahrer oder Fußgänger erheblich gefährden. Aber so provozierend das alles auch ist: Richtig ist, dass das Fehlverhalten Anderer ein eigenes Fehlverhalten nicht rechtfertigt. Das gilt umso mehr, als das ein Fehlverhalten des ‚Stärkeren‘ i.d.R. ungleich heftigere gesundheitliche bis tödliche Folgen zeitigen kann. Tatsächlich finde ich persönlich sogar verantwortungsvolle Autofahrer*innen äußerst wagemutig: Ich persönlich würde ungern riskieren – egal wie vorsichtig – mit 2 t durch die Gegend zu fahren, derweil zwischen sämtlichen am Straßenrand parkenden Autos Fußgänger*innen oder Kinder auftauchen könnten. Ich lebelieberlangsam und idealerweise konsequenzenarm. Ich halte es wie Dirk Gebhardt, Fotograf, Jahrgang 1969, der in Hinz&Kunzt – der Obdachlosenzeitschrift Hamburgs – über sein Auto-loses Leben schrieb: „Ich saß [damals in einer Auto-Fahrstunde] in einem VW Golf, der hatte 85 PS unter der Motorhaube, also 85 Pferdestärken, und ich stellte mir vor, wie bei uns im Garten 85 Pferde aufgereiht würden, nur um mich zu transportieren. Und ich dachte: Das ist doch bar jeder wirtschaftlichen Effizienz, das kann doch nicht vernünftig sein“ (Keil 2017, 16). Man kann das hier nochmals mit dem Hinweis ergänzen, dass es absurd ist einen ca. 80 kg wiegenden Menschen mit Autos, die mehr als zwei Tonnen wiegen, z.B. durch die Großstadt zu bewegen (vgl. Anker 2009). Luisa Neubauer dazu: „Wir müssen aufhören, uns in Stahl zu transportieren“ (2019).
In diesem Sinne liegt es nahe, beispielsweise alle fünf Jahre, eine Update- und Auffrisch-Veranstaltung für Führerscheinbesitzer*innen verpflichtend einzuführen – so wie es m.E. ebenfalls sinnvoll wäre, selbiges prinzipiell und allgemein für Erstehilfe-Kurse aufzulegen.
Allgemein gilt:
„Untersuchungen [haben] ergeben, dass die Förderung des Radverkehrs zu mehr Sicherheit führt. Je mehr Radler unterwegs sind, desto seltener kommt es zu Unfällen, den Autofahrer achten dann eher auf den Fahrradverkehr. In Kopenhagen hat sich die Zahl der schwer verletzten Radfahrer halbiert, während die zurückgelegten Radkilometer um 20 Prozent ansteigen“ (Kopatz 2016, 188).
Fahrradpolitik ist Sozialpolitik. Eine funktionierende ausgebaute Fahrradinfrastruktur ist ökosozial. | Foto: unsplash/Scott Evans
Eine funktionierende ausgebaute Fahrradinfrastruktur ist ökosozial.
Manfred Unfried im Magazin fairkehr des Ökologischen Verkehrsclub Deutschland (VCD):
„Ich habe ein … Vermögen gespart, weil ich meine Alltag mit dem Rad erledige. Insofern ist eine aktive Fahrradpolitik, wie sie bei uns in den Niederlanden Standard ist, natürlich auch Sozialpolitik“ (2019, 46).
„[D]ie staatlich verordnete Abhängigkeit vom Auto [ist] aufgrund fehlender Alternativen gerade für Leute mit bescheidenem Einkommen absolut unsozial. Denen frisst schon der Unterhalt die Haare vom Kopf.“ In Deutschland spielen viele Eltern Taxi, „weil es die Infrastruktur nicht zulässt, die Kinder sorgenfrei mit dem Rad fahren zu lassen. In diesem Sinne ist ökosoziale Radwirtschaft gerade im Interesse der weniger Begüterten… Immer wenn ich Senioren in elektrischen Rollstühlen auf unseren [in Holland] abgetrennten Radwegen in die Innenstadt fahren sehe, fällt mir auf, dass auch das in Deutschland in den meisten Orten nicht möglich ist. Die Fahrradstadt verhilft eben auch Menschen mit Behinderung zu einem selbstständigeren Leben. Dennoch wird so getan, als ob Radinfrastruktur irgendwie Luxus sei“ (ebd.).
All diese Bemerkungen gelten letztlich auch für E-Bikes und auch Lastenräder, die in vielerlei Hinsicht sehr viel bewegen können.
Update September 2020:
Ein neues Positionspapier des UBA kommt zu dem Schluss, „dass das deutsche Verkehrssystem aktuell nicht nur unter ökologischen, sondern auch unter sozialen Gesichtspunkten dringend reformbedürftig ist.“ Dirk Messner, Präsident des UBA hält dazu fest: „Haushalte mit niedrigen Einkommen, Kinder, ältere Menschen, Frauen und Menschen ohne Auto, gerade in ländlichen Räumen, sind die Verlierer des heutigen Verkehrssystems. Mit einer Verkehrswende hin zu einer ökologischeren Mobilität schließen wir diese Gerechtigkeitslücke und schützen Umwelt und Klima“ (UBA 2020).
In Hinsicht auf Lastenräder ist hier festzuhalten, dass diese
einerseits für Firmen zur Warenauslieferung in der lokalen Umgebung sehr hilfreich sind, in Relation zu Autos Low Budget-Investitionen darstellen, zurzeit ein Image-verbessernder Hingucker sind und allein das Auslassen der Parkplatzsuche enorme Zeitgewinne generiert.
andererseits für Bürger*innen tendenziell zu teuer sind, um sich dauerhaft eines zuzulegen, sodass hier Sharing-Konzepte und Verleihservices Sinn machen.
Solche Verleihangebote im Sinne ‚Freie Lastenräder‘ – die kostenlos bzw. gegen eine freiwillige Spende ausgegeben werden – werden mittlerweile von „über 90 Initiativen in über 30 Städten [betrieben]“ (Reidl 2020b).
Hinsichtlich des Dienstwagenprivilegs ist festzuhalten, das der Gleichheitsgrundsatz in diesem Bereich inzwischen teilweise durchgesetzt worden ist: So
„können Arbeitnehmer [in Deutschland] zumindest ein Dienstrad leasen, das seit 2012 einem Dienstwagen steuerlich gleichgestellt ist. Je nach Modell sparen sie bis zu 40 Prozent gegenüber dem Ladenpreis… Im Fahrradland Niederlande ist man überzeugt: Mitarbeiter, die mit dem Rad zur Arbeit kommen, sind in besserer Verfassung und weniger anfällig für Krankheiten. Außerdem können Kosten für Parkplätze gespart werden. Deshalb ermutigt die Regierung die Arbeitgeber, Duschen und überdachte Stellplätze für Fahrräder bereitzustellen.“ (Reidl 2020a).
Den hier genannten Gesundheitsaspekt der Eigenkraft-angetriebenen Mobilität sollte man definitiv nicht unterschätzen:
Katja Täubert weist darauf hin, dass
„[d]er menschliche Körper darauf ausgerichtet [ist] 20 bis 25 Kilometer pro Tag zu gehen. Das sind fünf bis sechs Stunden Bewegung… Aufgrund von Bewegungsmangel sterben 600.000 Menschen in Europa frühzeitig“ (2019, 40) an den hier durch (mit-)verursachten typischen Zivilisationskrankheiten.
>> vgl. Aspekt Tote durch Luftverschmutzung in Abschnitt Indirekte Opfer des motorisierten Individualverkehrs (MIV), S. 302.
Das ist ein starkes Argument für die Mobilität per Fahrrad. Dann hat man das erforderliche Pensum an täglicher Bewegung schon auf dem Weg zur bzw. von der Arbeit erledigt. Selbst wenn der mit dem Fahrrad zurückgelegte Weg zur Arbeit etwas länger dauern sollte… die physische Zufriedenheit, die sich in uns breit macht sowie der zeitersparte Extra-Weg zum Fitness-Center, dessen Kosten wir durch Zeitverbrennung durch Herumsitzen auf dem Bürostuhl zu erarbeiten haben, wiegt das i.d.R. auf jeden Fall auf.
>> Das Maximum an täglicher Bewegungslosigkeit ergibt sich, wenn z.B. ein Manager in einem sog. Car Loft (gibt es wirklich!) wohnt, bei dem sein Auto von der Hauseinfahrt per Autolift vor die Tür seiner z.B. im dritten Stock gelegenen Eigentumswohnung des Mehrfamilien-Autoparkhauses transportiert wird. In diesem Fall ist denkbar, dass die Person lediglich die Schritte von der Bettkante zur Kaffeemaschine zum Auto zur Büro-Tiefgarage in den Lift zum Bürostuhl geht – und abends wieder zurück.
Michael Kopatz indes verteilt bei seinen Vorträgen einen kleinen Aufkleber, der den Unterschied zwischen Auto- und Fahrradfahren auf die kürzest mögliche Formel bringt:
Auto verbrennt Geld macht fett
Fahrrad verbrennt fett spart Geld
s.a. Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom. S. 58.
E-Bikes können den Radius, innerhalb dem an die Arbeitsstätte gelangt ohne zu erschöpft oder zu verschwitzt zu sein, erheblich vergrößern. In Kombination mit Radschnellwegen haben E-Bikes m.E. ein hohes Potenzial im künftigen Modal Split, d.h. beim Verkehrsartenmix der Zukunft, eine wichtige Rolle zu spielen.
Quellen des Abschnitts Fahrräder, Diensträder, Lastenräder, E-Bikes etc.
Unfried, Martin (2019): „fairkehrt“. [Kolumne]. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2019, S. 46.
Nachhaltige Mobilität:
Bike Sharing: Mietfahrräder & Co
In vielen Städten Deutschlands gibt es mittlerweile und stetig weiter ausgebaut Services wie ‚Call a Bike‘ oder ‚Stadtrad‘. Ist man hier Mitglied bzw. Kund*in, kann man teilweise sogar auch in anderen Städten (ggf. zu anderen Konditionen) die dortigen Leihräder nutzen.
Seit einiger Zeit spielt das niederländische Startup Swapfiets mit um die Gunst der Fahrradkund*innen in Deutschland:
Swapfiets – das sind die Räder mit dem blauen Vorderreifen – bietet für ca. 18 bis 20 Euro ein dauergeliehenes Fahrrad an. Wird das ‚Fiets‘ (Fahrrad) beschädigt, ’swap’t (tauscht) oder repariert die Firma das Fahrrad innerhalb von 24 Stunden. Ein gestohlenes Rad wird für eine Gebühr von 60 Euro ersetzt (vgl. Mast 2019).
Steven Uitentuis, Mitbegründer des Unternehmens, das mit Stand Frühjahr 2020 180.000 Kund*innen hat, „40.000 davon allein in Amsterdam“ (VCD 2020, 26):
„Wenn es dein Fahrrad ist, ist es dein Problem. Bei uns hat der Kunde sein eigenes Fahrrad, die Probleme aber haben wir.“
Quellen dieses Abschnitts Bike Sharing: Mietfahrräder & Co
VCD (2020): „Das All-Inclusive-Rad“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 2/2020, S. 26.
Nachhaltige Mobilität:
‚Lebenswerte Stadt‘: Wem gehört eigentlich die Stadt?
Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther:
„Das Rezept der vergangenen 70 Jahre hieß: Wir orientieren unsere Verkehrs- und Stadtplanung am Auto. Der Rest nimmt, was übrig bleibt … So wird es nicht weitergehen. Das findet keine Akzeptanz mehr in der Gesellschaft“ (zit. in Balser/Heidtmann 2020).
„Lebensqualität bleibt in Städten… dort erhalten, wo Menschen zu Fuß gehen oder auf Plätzen sitzen können, um Passanten zu beobachten. Dieser öffentliche Raum, urteilt [der Verkehrswissenschaftler Tilman] Bracher, wurde systematisch vernichtet“ (Bartsch et al. 2019, 20).
Wem gehört eigentlich die Stadt?
Die Antwort hat vom Menschen auszugehen.
Die Stadt gehört
der Bürgerin/Anwohnerin, die das Recht hat gesund zu leben, vgl. Luftqualität, Lärm und Unfallgefahr,
dem Fußgänger,
der Radfahrerin, dem Lastenradfahrer, der E-Bikerin, dem Rollstuhlfahrer, der Rollator-Nutzerin,
dem ÖPNV-Nutzer in S- und U-Bahn, Straßenbahn, Bus und Nahverkehrszug – allesamt möglichst emissionsfrei betrieben,
der Handwerkerin, die ohne Auto oftmals nicht tätig sein kann,
dem täglich zeitlich begrenzten Liefer- und Warenverkehr,
dem Carsharer und (Sammel-)Taxifahrer,
der emissionsfrei Verkehrsteilnehmerin via E-Vespa, Batterie oder Brennstoffzelle,
dem fossilen Kraftradfahrer inkl. Vespas & Co und
der Autofahrerin, ggf. gestaffelt nach Antrieb, Autotyp und Schadstoffklasse.
Und nur weil die Reihenfolge/Prioritätensetzung in den letzten Jahrzehnten mehrheitlich anders gesehen wurde bzw. wird, bedeutet das noch lange nicht, dass das jemals richtig war/heute noch richtig ist.
Worum geht es?
Es geht darum, eine Lebenswerte Stadt zu befördern, in der Bürger*innen ohne vermeidbare Luftverschmutzung, Lärm und Unfallgefahr leben können – und Platz für Muße und Freizeitaktivitäten haben.
Es geht um die „Rekultivierung des öffentlichen Raumes“ (Welzer 2016, 157).
„First we shape the cities and then they shape us.“ Stadtplaner Jan Gehl zitiert in Täubert/Feitsch 2019, 17.
Der Schlüssel für eine Lebenswerte Stadt ist folgendes Bild:
Die Stadt ist unser gemeinsames öffentliches Wohnzimmer. (vgl. Täubert/Feitsch 2019, 17)
Und wie es mit einem Wohnzimmer so ist – es hat von uns aktiv designed, eingerichtet und gestaltet werden, damit wir uns darin wohl fühlen.
Und eine solche Gestaltung ist unabdingbar für die weitere Zukunft, denn das Konzept ‚Stadt‘ ist der immer maßgeblichere Lebensraum für Menschen:
Den Vereinten Nationen (UN) zufolge leben derzeit global „über 55 Prozent in Städten. 1,7 Milliarden Menschen (also mehr als Fünftel) leben in Städten, die mehr als eine Million Einwohner haben“ (Borries 2019, 41).
„Bis 2050, schätzt die UN, soll diese Zahl auf 68 Prozent steigen. Die Stadt wird Lebensraum für immer mehr Menschen“ (Täubert/Feitsch 2019, 17). Wohlgemerkt: 68% bezieht sich auf die 2050 lebende Anzahl von Menschen.
Wir Bewohner*innen der Städte haben uns unsere Städte „als unser aller gemeinsames, öffentliches Wohnzimmer vorstellen. Ein Ort, an dem wir gerne andere Menschen treffen, an dem wir flanieren, entspannen, Neues entdecken. Ein Ort für Gemeinschaft, Erledigungen, Abenteuer und Bewegung“ (ebd.).
Der Autor und Journalist Charles Montgomery „kommt zu dem Schluss, dass Menschen sich in ihrer Stadt wohlfühlen, wenn sie das Gefühl haben, in einer Gemeinschaft zu leben und wenn sie sich ihren Nachbar*innen und Fremden gegenüber sicher fühlen“ (ebd.).
Schon in den späten 1960er Jahren fand der Stadtforscher Donald Appleyard heraus, dass Bewohner*innen weniger befahrener Straßen drei Mal so viele Freund*innen und doppelt so viele Sozialkontakte haben wie Bewohner*innen einer viel befahrenen Straße. Er stellte fest:
„[T]he residents on Heavy [Traffic] Street had less friends and acquaintances precisely because there was less home territory (exchange space) in which to interact socially“ (Jacobs/Marcus 2008).
Nochmals in anderen Worten hervorgehoben:
Anwohner*innen an viel befahrenen Straßen betrachten ihr Zuhause weniger als ihr Zuhause, d.h. das Identifikationspotenzial mit der eigenen Lebensumgebung ist niedriger.
Dazu passt dann das folgende Zitat:
„Jane Jacobs, die berühmte Gegnerin der autogerechten Stadt… sagt: ‚The trust of a city is formed over time from many, many little public sidewalk contacts‘“ (Täubert/Feitsch 2019, 17).
Täubert hält dazu fest: „Die Aktivitäten im Freien, die es in historischen Städten allein dadurch gab, dass Menschen zu Fuß unterwegs waren und dabei Kontakt mit ihrer Gemeinschaft unterhielten, wurden durch lange Autofahrten ersetzt“ (2019, 19).
Tiefpunkt sind dann demzufolge die sog. Schlafstädte, bei denen Kommunikation qua Definition auf null gesetzt ist.
Friedrich von Borries:
„[K]ar ist, dass die Stadt der Zukunft mehr Grün- und Freiraum braucht, weil dieser die Luft reinigt und Emissionen reduziert, Wasser speichert und den Folgen sowohl von Überschwemmungen als auch von Dürrephasen entgegenwirkt. … Straßen, die man nicht mehr für Autos braucht, könnten Parks werden, die Dächer grüne Plattformen für Menschen und Tiere und begrünte Fassaden würden zu einem besseren Stadtklima beitragen. Die Stadt würde nicht mehr aus Gebäuden und Straßen bestehen, in denen Grünräume vereinzelte, voneinander abgeschnittene Inseln sind, sondern würde zusätzlich, wie durch eine zweite Haut, von einem dreidimensionalen Netz grüner Räume umspannt“ (2019, 42).
Was hier ein wenig träumerisch daherkommt, gewinnt auf die Kernthese eingedampft, Städte künftig in 3D, also dreidimensional zu denken und nicht länger in 2D, schnell an Bodenständigkeit.
Man mache sich klar:
Im Grunde könnte der Grünflächenverlust relativ gering gehalten werden einer Stadt. Im Idealfall sähe eine Stadt mit seinen Dachgärten und teilbegrünten Solar-Dachflächen von oben aus wie Rasen auf verschiedenen Ebenen – dazwischen ein Strichmuster von Straßen.
Der Präsident des Umweltbundesamts, Dirk Messner:
„Das Wohlbefinden der Menschen hängt stark davon ab, wie ihre Lebensräume gestaltet sind. In den Fünfziger- bis Siebziger Jahren haben wir die Autostadt gebaut… Die Forschung zeigt, in unwirtlichen Städten verlassen viele Leute ihre Häuser nur noch, um zum Einkaufen oder zur Arbeit zu gehen – aber immer weniger, um Nachbarn zu treffen. Eine Stadt muss grün sein, sicher, gesund und Begegnungen ermöglichen. Dann entsteht mit der Lebensqualität die Grundlage einer demokratischen Bürgergesellschaft“ (2020, 33).
Und letztere brauchen wir dringend durch Umsetzung einer umfassenden sozial-ökologischen Transformation, vgl. Schlussbetrachtung, S. 680.
In Barcelona gibt es sog. Superblocks (‚Superilles‘), d.h. Wohnquartiere, innerhalb denen kein Durchgangsverkehr zugelassen ist.
„Autos sind hier [unter Wahrung von 10 km/h] nur noch zulässig, wenn es sich um Anwohner handelt, oder beispielsweise um Lieferverkehr. Um diese 2 x 2 oder 3 x 3 Blocks fließt der übliche Verkehr wie gewohnt weiter, innerhalb des Superblocks werden die Straßen hingegen zurückgebaut“ (Drees 2019) – Platz für Sportplätze, Grünanlagen, Begegnungen – mit Ruhe und guter Luft. Und Platz für Kinder.
YouTube (2016): „Superblocks: How Barcelona is taking city streets back from cars“. in: YouTube, 27.9.2016, online unter https://www.youtube.com/watch?v=ZORzsubQA_M (Abrufdatum19.6.2020)
>> Siehe YouTube-Video „Superblocks: How Barcelona is taking city streets back from cars“ (Abrufdatum 19.6.2020)
Interessanterweise gilt der o.g. Mangel an Sozialkontakten in verkehrsreichen Straßen laut einer Studie aus der Schweiz von Marco Hüttenmoser auch für Kinder:
„Fünfjährige Kinder in der Stadt haben in ‚guten‘ [=verkehrsarmen] Umgebungen im Schnitt 8,8 Spielkameraden in der Nachbarschaft. Ist die Umgebung ‚schlecht‘, das heisst [das unbegleitete Spielen und zu Schule gehen] einschränkend, so sind es noch durchschnittlich 2,4. Ganz ähnlich auf dem Land, wo es allgemein weniger Kinder hat. Hier sinkt die durchschnittliche Zahl an Spielkameraden von 5,5 auf 2,4“ (2004, 8).
Zu alledem passt Täuberts folgende Feststellung:
„Spielplätze wurden erst erfunden, als das Auto die Straße übernahm“ (2019, 16).
Knie konstatiert dazu:
„Statt Flächen für geteilte Autos, Radwege, Spielplätze oder Fußgänger zu nutzen, überlassen wir sie den privaten Autofahrern“ (Knie 2015).
Zurück zum Gedanken des Gemeinsamen Wohnzimmers:
Zurzeit „ist der Raum zwischen den Häusern kaum mehr als eine Fahrbahn für Autos und ein riesiger Parkplatz. Unser Wohnzimmer ist so gestaltet, als würde zu wenig und zu unbequeme Stühle an der Wand stehen, kein Tisch, kein Teppich, kein Licht, und in der Mitte rasen Autos mit 50 km/h durch“ (Täubert/Feitsch 2019, 19).
Und, das sollten wir nicht vergessen in diesem Bild:
„Und immer mal erwischt es einen von uns, wenn er zur anderen Seite des Raumes will“ (ebd.).
Einladung zum Träumen:
Sie stehen in einer autogerechten Straße. Schließen Sie nun die Augen und stellen sich en détail vor, wie es hier aussehen, riechen und klingen würde, wäre es ein autofreier Weg…
…und, bevor Sie wieder aufwachen:
Machen Sie sich klar, wie unglaublich viel Platz eigentlich da wäre, wenn hier keine Parkplätze wären.
Lebenswerte Stadt Paris: Ein Traum, den man nicht mal zu träumen gewagt hat, könnte wahr werden.
In Paris ist 2020 die Bürgermeisterin Anne Hidalgo wiederwählt worden, obwohl sie „die französische Hauptstadt so radikal verändert wie wenige ihrer Vorgänger“ (Sandberg 2020) – und u.a. die Stadtautobahn an der Seine zur Fußgängerpromenade umgestalten ließ (vgl. ORF 2020). „Niemand, auch keine der Gegenkandidatinnen im Wahlkampf, wollte das wieder rückgängig machen“ (Sandberg 2020).
Für ihre zweite Amtszeit hat sie sich viel vorgenommen: „60.000 Parkplätze sollen verschwinden, 170.000 neue Bäume gepflanzt werden“ (ORF 2020). Herzstück aber ist das Konzept ‚La ville du quart d’heure‘ (‚Die Stadt der Viertelstunde‘):
„Es geht davon aus, alle notwendigen Bereiche des Lebens in einer Stadt so zusammenzuführen, dass vom Wohnort in einer Viertelstunde möglichst viel erreichbar ist: Lebensmittelgeschäfte und Märkte, die Schule der Kinder, deren Sport, Musik- und Theaterunterricht. Und im Idealfall auch die Arbeit“ (Sandberg 2020).
Teil des Konzeptes ist außerdem, Viertel und Häuser sozial durchmischt zu bauen und – so drückt sich Hidalgos Mitstreiter Jean-Louis Missika aus – bis zu „zehn verschiedene Nutzungen in ein und demselben Haus unter[zu]bringen. Weil wir Leben in der Stadt haben wollen und keine Reichengettos“ (ebd.).
Und die Klimawandel-bedingten steigenden Stadttemperaturen hat man auch auf der Reihe – und beabsichtigt umfangreiche Begrünungsmaßnahmen, die auch die Champs-Elysées, den Place de la Concorde und den Place Charles de Gaulle am Arc de Triomphe erfassen könnten (vgl. ebd.).
Quellen des Abschnitts ‚Lebenswerte Stadt‘: Wem gehört eigentlich die Stadt?
Bartsch, Matthias et al. (2019): „Mobil ohne Stau“. in: Der Spiegel, Nr. 27/29.6.2019, S. 15.
Borries, Friedrich von (2019): „Die gute Stadtluft. Die Staaten versagen bei der Lösung der dringendsten Menschheitsprobleme. Es sind die Großstädte dieser Welt, die sich verbünden und radikal neu erfinden müssen“. in: Die Zeit, 1/27.12.2019, S. 41-42.
Jacobs, Allan u. Marcus Clare Cooper (2008): „Donald Appleyard“. in: Project for Public Places, 2008, online unter https://www.pps.org/article/dappleyard (Abrufdatum 11.5.2020)
Knie, Andreas (2015): Energiewende: „‚Autofahren ist viel zu billig‘“. [Petra Pinzler und Fritz Vorholz interviewen dem Mobilitätsforscher Andreas Knie]. in: Die Zeit, 15.1.2015, online unter https://www.zeit.de/2015/03/energiewende-auto-verkehr-benzin-strom (Abrufdatum 11.5.2020)
Messner, Dirk (2020): „Orte des guten Lebens“. in: Die Zeit, Nr. 10/27.2.2020, S. 33.
ORF (2020): „Pariser Verkehrskonzept: Modellstadt für radikales Umdenken“. in: ORF, 18.8.2020, online unter https://orf.at/stories/3176995/ (Abrufdatum 31.8.2020)
Täubert, Katja (2019): Mit Füßen und Pedalen: Hol dir deine Stadt zurück. Hg. vom VCD [Verkehrsclub Deutschland].
Täubert, Katja u. Feitsch, Lisa (2019): „Die Stadt als Einladung“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2019, S. 16ff. [Der Text ist ein Auszug aus dem VCD-Buch Mit Füßen und Pedal: Hol dir deine Stadt zurück.
Welzer, Harald (2016): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer.
YouTube (2016): „Superblocks: How Barcelona is taking city streets back from cars“. in: YouTube, 27.9.2016, online unter https://www.youtube.com/watch?v=ZORzsubQA_M (Abrufdatum 19.6.2020)
„Wir müssen aufhören, uns in Stahl zu transportieren.“ (Luisa Neubauer zit. in Meyer-Wellmann 2019)
Weitere Vorschläge und Anregungen für eine nachhaltige und klimagerechte Mobilitätswende
…in loser Folge:
Nachtzugverbindungen reaktivieren und massiv als europäisches Nachtzugnetz ausbauen. Zudem wäre es sinnvoll, den Komfort von Nachtzügen dem 21. Jahrhundert anzupassen.
Die Deutsche Bahn will auch Ende 2019 nicht zurück zu Nachtzügen, obwohl die Nachfrage perspektivisch steigen wird – und die in Deutschland verkehrenden Züge der ‚Österreichischen Bundesbahnen‘ (‚ÖBB‘), die vor drei Jahren eine Reihe von Nachtzuglinien von der DB übernommen haben, sind rentabel (vgl. Zeit 2019). Ab Dezember 2020 verbindet die ÖBB Wien und Innsbruck wieder mit Amsterdam, ein Jahr später folgt die Strecke Zürich, Basel, Frankfurt, Amsterdam mit weiteren Zwischenhalten (vgl. Zumach 2020, 9).
Ab 4.7.2020 startet der private Bahn-Anbieter RDC die zwei Mal wöchentlich bediente Strecke Husum, Hamburg, Frankfurt, München und Prien am Chiemsee als ‚Alpen-Sylt-Nachtexpress‘. 399 EUR kostet die Einzelfahrt für das ganze Abteil, d.h. für bis zu sechs Personen inkl. Bettwäsche (vgl. Balser 2020). Nun, ein Anfang – es traut sich jemand. Und vor dem Hintergrund steigender Flugpreise und ‚Flugscham‘ (vgl. S. 278) bzw. ‚Zugstolz‘ könnte sich die Sache entwickeln.
Update Juli 2020: Spätestens ab August 2022 wird es nach dem Willen der schwedischen Regierung (!)wieder eine Nachtzug zwischen Stockholm und Hamburg geben sowie eine nächtliche Verbindung zwischen Malmö, Kopenhagen, Köln und Brüssel (vgl. Wolff 2020, 8).
Wiederbelebung von stillgelegten Regionalstrecken und darüber hinaus Anschluss von weiteren Gemeinden an das Bahnnetz.
288 ehemalige Bahnstrecken könnten vergleichsweise unaufwändig reaktiviert werden, sodass nach Berechnungen von mehreren Verkehrsverbänden „291 Städte und Gemeinden wieder ans Netz angeschlossen werden [können]“ (Spiegel 2020) und „insgesamt mehr als drei Millionen Menschen wieder einen direkten Zugang zum Bahnnetz erhalten. Um mehr als 4.000 Kilometer würde das Schienennetz wachsen“ (Völklein 2020).
Einführung von Normen, die genau vorschreiben, wie groß, breit, hoch, tief, schwer und mit welcher PS-Stärke ein privates, gewerbliches oder als Dienstauto genutztes Nicht-Nutzfahrzeug sein darf, um in Deutschland zugelassen zu werden unter Einschluss des Wohn- und Steuerortes der Fahrzeughalterin bzw. des Fahrzeughalters. D.h. es geht um die faktische Einstellung der Produktion von SUV/Geländewagen für den deutschen Markt für alle Nicht-Förster*innen (etc.) unabhängig vom Antriebstyp des Wagens. Unnötiger Ressourcenverbrauch bei Bau und Betrieb in Zeiten der Biodiversitäts- und Klimakrise, Platzverbrauch in der Öffentlichkeit insbesondere in den Städten und grundsätzlich auch die Verletzungsgefahr für andere Verkehrsteilnehmer*innen sind hinreichende Gründe für eine solche Maßnahme.
Schrittweise Einkassierung des sog. ‚Dieselprivilegs‘: „Durch die aktuelle Subventionierung des Dieselkraftstoffs verzichtet der Fiskus jedes Jahr auf etwa 3,5 Mrd. Euro Steuereinnahmen“ (Rammler 2017,147).
Gleiches gilt für das abzuschaffende sog. Dienstwagenprivileg.
„[D]ie steuerliche Begünstigung von Dienstwagen … verleitet zu wenig achtsamem Verbrauch [vgl. vgl. Aspekt Plug-in-Hybride, S. 329f.] und entzieht den öffentlichen Haushalten Steuermittel, die für ökologisch sinnvolle Maßnahmen verwendet werden könnten. Der Halter eines von der Firma bereitgestellten Dienstwagens zahlt deshalb für einen VW Passat lediglich 1.500 Euro im Jahr – alles inklusive. Als Privatperson würde ihn derselbe Wagen jährlich mindestens 7.500 Euro kosten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass fast zwei Drittel aller Pkw in Deutschland als Dienst- beziehungsweise Firmenwagen in den Verkehr kommen“ (Kopatz 2016, 181) – mit steigender Tendenz (vgl. Kopatz 2019, 46).
Die Entfernungspauschale begünstigt höhere Einkommen, verstärkt die Ungleichheit, und bevorzugt „Umlandbewohner gegenüber Städtern… Deren deutlich höhere Mieten werden schließlich nicht subventioniert“ (Kopatz 2019, 64).
Eine Studie des UBA regt hier an, die Entfernungspauschale zu streichen und für eine starke Subventionierung des ÖPNV einzusetzen (vgl. UBA 2016, 121). Das funktioniert sicher – aber nur, wenn der Abbau des Steuerprivilegs und ein massiver ÖPNV-Ausbau Hand in Hand gehen.
Greenpeace fordert „eine Zulassungssteuer für CO2-intensive Neuwagen und die Umgestaltung der Kfz-Steuer nach Gewicht und CO2-Ausstoß“ (2020, 14). Der Ist-Zustand seit 2008 ist, dass Auto-Emissionen relativ zu Gewicht gesehen werden – ähnlich wie bei Kühlschränken u.ä. – mit dem interessanten Ergebnis, dass die Einteilung in CO2-Effizienzklassen bedeuten kann, dass ein SUV in einer besseren Kategorie landet als ein Kleinwagen. „Große und schwere Fahrzeuge mit einem hohen Verbrauch (wie Porsche Cayenne oder Audi Q7) würden bevorzugt, leichte, sparsame Fahrzeuge (wie Citroën C1, Peugeot C1 oder Toyota Aygo) würden hingegen benachteiligt“ (Tagesspiegel o.J.). Der VW-Golf 1.4 und der Panzer Leopard 2 gehören so gesehen beide der Effizienzklasse E an, sind also oberflächlich betrachtet gleich umweltfreundlich (vgl. ebd.).
In Singapur gibt es eine begrenzte Anzahl von Zertifikaten für Zulassungen von Autos. Erst nach erwiesener Verschrottung des Pkws ist das Zertifikat wieder verfügbar (vgl. Kopatz 2019, 48).
Quartiersboxen, in denen Lieferungen postal zugestellt werden können, z.B. für Einzelhandelslieferungen oder auch aus dem Online-Handel (vgl. München) reduzieren Lieferverkehre.
Keine Hauslieferungen mehr von Paketen unter einem Gewicht von x Kilogramm, stattdessen Ausbau der Auslieferung an den in Nachbarschaft befindlichen Kiosk u.ä. (vgl. Aspekt Rücksendungen S. 495).
Folge: weniger Lieferverkehr für die ‚letzte Meile‘ von diversen, konkurrierenden Unternehmen, die oftmals niemanden antreffen und – u.U., nach mehreren Zustellungsversuchen – dann das Paket ohnehin irgendwo an einen Kiosk o.ä. liefern.
In diesem Sinne: Ist eine tägliche Postauslieferung an den eigenen Briefkasten noch zeitgemäß? Wäre es nicht an der Zeit, amtliche Online-Briefkästen einzurichten und/oder Briefe (außer Sendungen, deren persönliche Empfangsbestätigung erforderlich ist, das bliebe dann einer Art ‚Telegrammboten‘ überlassen) z.B. an den nächstgelegenen Kiosk auszuliefern? Wie viele ‚echte‘ Briefe erhalten Sie noch pro Monat? (vgl. Kanada, Dänemark).
Wer sagt eigentlich, dass ländliche Busse nur Passagiere befördern sollen/dürfen/können? „Der ‚KombiBus‘ in Brandenburg zum Beispiel befördert auch Fracht nach Fahrplan und stellt so für den Betreiber eine weitere Einnahmequelle da“ (Herget 2019, 20).
Zersiedelung deckeln: Vermeidung des fortgesetzten ‚Ausfransens‘ der Stadtrandregionen.
„Derzeit werden pro Tag jedoch knapp 60 Hektar als Siedlungs- und Verkehrsflächen neu ausgewiesen – häufig für Einfamilienhaussiedlungen am Rande wachsender Ballungsräume. Solche Flächen kann der ÖPNV schlecht erschließen. So wird der motorisierte Individualverkehr oft noch zusätzlich angekurbelt“ (Herget 2019, 21).
Eine regionale Mobilitätsgarantie wie in der Schweiz sowie eine Pflichtanbindung neuer Siedlungen an den ÖPNV sind anzustreben (vgl. ebd.)
Zersiedelung fördert Pendler*innenverkehr zum Haus auf der grünen Wiese, dass man im Winterhalbjahr nicht bei Tageslicht sieht, und wo man ggf. hoffentlich rechtzeitig ankommt, um den Kindern gerade noch ‚Gute Nacht‘ sagen zu können.
Multimodale Mobilität bzw. Multimodalität fördern: Entwicklung eines ‚MobilPasses‘, einer Plattform auf denen Reisen komplett, unabhängig vom Anbieter und Verkehrsverbund, geplant und gebucht werden können. In Finnland gibt es hier schon eine entsprechende App namens ‚Whim‘ (vgl. Spiegel 2019, 27).
Radschnellwege1, Fahrradstraßen, Radfahrstreifen und Schutzstreifen2 sind m.E. insgesamt betrachtet gute Entwicklungen. Eine durchgehende, farbliche Absetzung dieser Straßen ist sinnvoll, wird aber leider bislang nicht in allen Städten so gehandhabt. An großen Straßen wird man m.E. jedoch künftig aus Sicherheitsgründen nicht um sog. ‚Protected Bike Lanes‘ herumkommen – d.h. es bedarf in autoverkehrsreichen Straßenzügen von Fall zu Fall der klaren Neuaufteilung von Flächen, in dem man den Fahrradweg klar und physisch abgrenzt von der Fahrstraße der Autos.
Die Verkehrsinfrastruktur hat stets so gestaltet zu werden, dass sie inklusiv wirkt und bzgl. des Straßenverkehrs allen Verkehrsteilnehmer*innen gerecht wird und hinreichend sicher ist.
Kinder und Jugendliche sind in Deutschland ab 10 Jahren gesetzlich verpflichtet, den Radweg zu benutzen. Das bedeutet, dass Menschen dieses Alters – so der Radweg auf die Straße in Form von Schutzstreifen verlegt wurde – selbige zu benutzen haben.3
Daraus ist m.E. zu folgern, dass die Fahrradwegeinfrastruktur so zu beschaffen sein hat, dass sich bereits zehnjährige Kinder dort, d.h. auf Radfahrstreifen – sicher fortbewegen können. Dies ist offenkundig nicht der Fall.
Würden Sie Ihr zehnjähriges Kind bspw. in der Hamburger Innenstadt auf dem Radfahrstreifen fahren lassen? Zwischen der Tür eines parkenden Autos und einem Container-LKW?
Wenn also StVO und Realität derart hart aufeinanderprallen: Warum regt sich darüber kaum jemand auf?
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Kosten eines Radschnellweges: 180 Mio Euro für 100 km. Kosten eines Autotunnels in Freiburg: 180 Mio Euro pro Kilometer (Stock 2018). Kosten einer Autobahn in Berlin: 400 Mio Euro pro Kilometer (vgl. Kopatz 2019).
2 Schutzstreifen = gestrichelte Linie; Fahrradstreifen = durchgezogene Linie, ein Sonderweg für den Fahrradverkehr, ist kein Teil der Autofahrbahn (vgl. ADFC 2020a). Die Linie darf daher nicht, auch nicht kurzfristig, von Autos überfahren werden – Halten und Parken ist ohnehin nicht erlaubt (vgl. Bußgeldkatalog 2020).
3 Kinder bis zum vollendeten neunten Lebensjahr, d.h. solange sie höchstens 8 Jahre alt sind „fahren auf dem Gehweg oder auf baulich von der Fahrbahn getrennten Radwegen… Kinder von acht bis zehn Jahren dürfen den Gehweg benutzen oder fahren auf Radwegen oder der Fahrbahn. Ab zehn Jahren müssen sie Radweg oder Fahrbahn nutzen“ (ADFC 2020b).
Zur Stadt-, Verkehrs- und Infrastrukturplanung inkl. Bahn und ÖPNV hat es künftig noch wesentlich mehr als bisher dazu zu gehören, Inklusion auch insbesondere ohne (eigenes/spezielles) Auto mitzudenken und mitzuplanen. Das wird heute zwar durchaus gemacht, ist aber definitiv ausbaufähig. Daher schlage ich vor, dass jedes Konzept von einer/einem Inklusionsbeauftragten durchgesehen wird. Mehr noch: In entsprechenden Architektur-/Städtebau-/Ingenieur-Studiengängen können Rollstuhlexkursionen etc. Teil des Lehrplans sein. Bei städtischen Infrastrukturmaßnahmen können die Verantwortlichen/Ausführenden das Bauergebnis gemeinsam so früh wie möglich sowie im Nachgang abschließend bei einem Ortstermin per Kinderwagen, (persönlich, selbst sitzend im) Rollstuhl etc. abgehen. Die Lernkurve für künftige Projekte wird m.E. sehr hoch sein.
Laut Mobilitätsatlas 2019 ist in London „jedes lizensierte Taxi rollstuhlgerecht und mit Hilfsmitteln ausgestattet, etwa mit anleg- oder ausklappbaren Rampen für den Ein- und Ausstieg und mit großen Handgriffen“ (Krüger 2019, 40-41).
„Wenn die Stadtgesellschaft sich [in Sachen progressive Verkehrspolitik und Flächengerechtigkeit] keine großen Schritte traut, kann sie mit Modellprojekten arbeiten. Das bedeutet dann: Wir sperren ein paar Monate lang diese Straße und schauen, was passiert. Wenn es wirklich so schlimm ist, wie manche befürchten, dann machen wir die Maßnahme wieder rückgängig. Wenn es aber doch ein paar positive Effekte hat, dann können wir es verstetigen. Die Angst vor sich verhärtendem Widerstand lässt sich dadurch abmildern“ (Mau 2019).
In diesen Sinnzusammenhang sind auch die aktuell öfter ins Leben gerufenen ‚Pop-up Radwege‘ einzuordnen.
Der Bußgeldkatalog der bundesdeutschen Straßenverkehrsordnung sollte ausschließlich dreistellige Bußgelder aufführen, und zwar insbesondere dort, wo verschiedene Mobilitätstypen aufeinandertreffen.
Baurecht bundesweit an das Konzept der ‚Lebenswerten Stadt‘ anpassen, davon ausgehen, das künftig auch in privaten Mehrfamilienhäusern weniger Autostellplätze benötigt werden und von daher Bauherren flexibler agieren lassen, und zulassen, dass sie einen Teil der bislang nachzuweisenden Autostellplätze als Fahrradstellplätze umsetzen – eine potenzielle Kostenersparnis (vgl. Kopatz 2016, 193f.)
„In Städten, wo Tiefgaragen oft vorgeschrieben sind, geht es um richtig viel Geld. So können 20 Stellplätze in einem Wohnblock eine halbe Million Euro kosten. Mit dieser Summe können für ein autofreies Wohnprojekt viel andere Dinge [wie z.B. die Umsetzung höherer Energiestandards und die Verwendung unbedenklicher Baumaterialien] verwirklicht und angeschafft werden.“ (Bruns 2018, 33).
In Berlin gibt es im Frühjahr 2020 eine Umfrage namens „Der Berliner Straßencheck“, die sich insbesondere auch an Bürger*innen wendet, die bislang in der Stadt nicht per Fahrrad unterwegs sein mögen – und forscht nach den Gründen.
Teilnehmer*innen werden „anhand von 3D-Visualisierungen verschiedene Typen an Radinfrastruktur [ge]zeigt. Anhand der Bilder sollen die Menschen per Mausklick entscheiden, auf welcher Art von Radwegen sie sich am sichersten fühlen“ (VCD 2020, 21).
Ebenfalls in Berlin gibt es nun mit ‚SimRa – Sicherheit im Radverkehr‘ eine App, mit der man Beinahe-Unfälle melden kann. Mit-Initiator David Bermbach:
„Wir haben eine App programmiert, die merkt, wenn der Radfahrer oder die Radfahrerin sich ruckartig bewegt, also etwa scharf bremst oder den Lenker herumreißt. Nach Ende der Fahrt wird er oder sie dann gefragt, was an der Stelle passiert ist, und man kann dann auch noch Beinahe-Unfälle einzeichnen, die die App nicht erfasst hat, zum Beispiel wenn man knapp überholt wurde“ (2020).
Man kann eine Menge Taxi fahren, bis man die finanziellen Ausgaben für einen eigenen Pkw verfahren hat.
Ökologisch deutlich besser ist allerdings, am Car Sharing teilzunehmen, weil Taxis oftmals, gerade in ländlichen Gegenden, wieder ohne Kund*in zum Ausgangspunkt zurückzukehren haben.
Wer das Auto abschafft, kann umgehend auch den Dauerauftrag für das Fitnesscenter kündigen.
Diesen Abschnitt abschließend rege ich an, mal ein Buch über die Geschichte des internationalen Autolobbyismus zu schreiben – das wäre ein sagenhafter Stoff.
Bruns, Heiko u.a. (2018) (Hg.): Besser Leben ohne Auto. Hg. Autofrei leben! e.V. oekom.
Bußgeldkatalog (2020). „Radfahrstreifen – Ein weiterer Bestandteil der Radverkehrsanlage“. in: Bußgeldkatalog, 4.3.2020, online unter https://www.bussgeldkatalog.org/radfahrstreifen/ (Abrufdatum 4.6.2020)
Greenpeace (2020): „Leicht und günstig“. in: Greenpeace Nachrichten, 2-2020, S. 14.
Herget, Melanie (2019): „Ländliche Räume: Wenn die Wege immer weiter werden“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 20, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Janzing, Bernward (2020): „Die etwas andere Abwrackprämie“. in: tageszeitung, 11.8.2020, S. 8.
Kopatz, Michael (2016): Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten. München: oekom Verlag.
Kopatz, Michael (2019): Schluss mit der Ökomoral. Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken. oekom.
Krüger, Anja (2019): „Inklusion: Fortkommen für Alle“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 40-41, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Zumach, Andreas (2020): „Die Renaissance der Nachtzüge“. in: tageszeitung, 22.9.2020, S. 9.
Mobilität: Situation im globalen Süden
Einige kurze Stichpunkte zu globalen Aspekten des Themas IST-Zustand des Sektors Verkehr/Mobilität:
Jährlich sterben weltweit 1,35 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen (vgl. Handelsblatt 2018)
„[M]ehr als die Hälfte davon waren Fußgänger, Radfahrer oder Motorradfahrer. Bei Kindern und jungen Erwachsenen im Alter von 5 bis 29 Jahren sind Verletzungen im Straßenverkehr mittlerweile die häufigste Todesursache.
Weltweit für alle Altersgruppen sind Verkehrsunfälle die achthäufigste Todesursache, noch vor Durchfallerkrankungen, Tuberkulose und HIV/Aids“ (Atlas der Globalisierung 2019, 87).
Die Luftverschmutzung, hervorgerufen insbesondere durch Energiegewinnung und Autoverkehr, hat in den großen Städten des Globalen Südens und Chinas, teilweise lebensverachtende Ausmaße angenommen. Für diese Luftverschmutzung gibt abseits des Verkehrssektors weitere Gründe, darunter das heimische offene Feuer zum Heizen und Kochen, aber Fakt ist, dass laut WHO jährlich
4,2 Millionen Menschen aufgrund von Luftverschmutzung sterben (vgl. WHO 2019).
Allein in den Städten Indiens, die weltweit die Top 20 der Städte mit der meisten Luftverschmutzung maßgeblich prägen, gibt es aufgrund von hochgradiger Luftverschmutzung „mehr als eine Millionen vorzeitige Todesfälle pro Jahr“ (Spiegel 2019).
In Neu-Dehli wurde im November 2019 für mindestens zwei Wochen der Gesundheitsnotstand ausgerufen:
„Private Autos dürfen nur an wechselnden Tagen auf den Straßen fahren, je nachdem, ob sie Nummernschilder mit geraden und ungeraden Zifferkombinationen haben. Schulen bleiben geschlossen, Baustellen wurden stillgelegt“ (Spiegel 2019).
„In Deutschland gilt [für Feinstaubpartikel der Partikelgröße PM 2,51 ein durchschnittlicher Grenzwert von 20 Mikrogramm. Bei einer Überschreitung von 50 Mikrogramm werden in einigen Großstädten Fahrverbote verhängt“ (ebd.).
Neu-Dehli im November 2019 = 900 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft (vgl. ebd.)
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Gemeint ist ein aerodynamischer Durchmesser von 2,5 μm (Mikrometer); 1 mm = 1.000 μm, d.h. 2,5 μm sind 0,0025 mm (vgl. UBA 2020).
Quellen des Abschnitts Mobilität: Situation im Globalen Süden
Atlas der Globalisierung (2019): „Lebensgefährlicher Straßenverkehr“. in: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 87.
Tätscheln wir den Wasserhahn. …dann sind wir auf dem Boden der Tatsachen. Anmerkung: Wenn Ihnen das mit dem „Wasserhahn tätscheln“ nach dieser Lektüre noch nicht recht plausibel ist, dann schauen Sie mal, wie es dort, wo ich heute EXAKT lebe, 1958, also rund 13 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, aussah:https://youtu.be/YL0fy17IOeg(Abrufdatum 21.2.2021)
Zum Unterschied zwischen Überfluss(gesellschaft) und Wohlstand(sgesellschaft):
Dekadenz ist, wenn Luxus nicht mehr als selbiger angesehen, sondern als ‚normal‘ und selbstverständlich empfunden wird.
Überfluss als Normalität?
Angemessen wäre vielmehr, dass wir jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen wachen Auges durch unsere Wohnung streifen, unseren Wasserhahn tätscheln, den Lichtschalter liebkosen, sanft über die Drehknöpfe unseres Herdes fahren, den Kühlschrank mit einem warmen Lächeln bedenken, unserer Toilette applaudieren, die Waschmaschine umarmen und uns glücklich schätzen, dass wir, was unser ‚Dach über dem Kopf‘, unsere grundlegenden Lebensumstände, was unsere Ernährungs- und Rechtssicherheit sowie was unser Gesundheitswesen betrifft in Relation zu der Lebensweise in Deutschland vor 1960 und bezogen auf die Lebensumstände der allermeisten Menschen – historisch und gegenwärtig – auf diesem Planeten in einem Paradies leben dürfen.
Diese Dinge sind gefährdet. Für diese Dinge haben wir zu kämpfen. Für unsere Nachkommen. Das ist das Mindeste. Was bedeutet da schon eine Flugreise oder eine Kreuzfahrt?
Doch zurück auf den Boden der Tatsachen:
Wir müssen reden. Über den
Klimakiller Flugverkehr.
Einleitung.
Viele Deutsche denken über sich, dass sie relativ umweltbewusst sind – aber wehe, man schneidet das Thema ‚Fliegen‘ an auf einer Party oder bei einer Diskussion… Dann geht es schnell fokushochemotional zu. Verständigen kann man sich – wenn es gut läuft – maximal darauf, dass Fliegen das zu kosten hat, was es kostet.
Doch dieser Minimalkonsens reicht nicht, denn:
„Fernreisen mit dem Flugzeug sind … die mit Abstand klimaschädlichste Art der Fortbewegung.“ (Spiegel, 2016)
„Fliegen ist die klimaschädlichste Art sich fortzubewegen.“ (Umweltbundesamt, 2016)
„Flugreisen sind die ökologische Keule.“ (Süddeutsche Zeitung, 2019)
„Klimakiller Flugzeug: Kein Verkehrsmittel heizt das globale Klima so stark auf wie das Flugzeug.“ (BUND, 2019)
„Fliegen ist… eine Katastrophe für die Umwelt.“ (Zeit, 2018)
Quellen der Zitate in der Reihenfolge der Statements:
Frage: Warum gelten Flugreisen als Klimakiller, wenn doch andere Industrien/Lebensbereiche höhere prozentuale Anteile am weltweiten CO₂-Ausstoß haben?
Die Antwort ist simpel:
Der CO₂-Ausstoß pro Flugkilometer pro Person ist mit 201 Gramm ungleich höher als bei jeder anderen Form von Mobilität und findet zudem in einem besonders sensiblen Bereich der Atmosphäre statt.
>> vgl. Aspekt Verkehrs- und Transportmittel im CO₂-Vergleich, S. 262
Im Gegensatz zu CO₂-intensiven menschlichen Grundbedürfnissen wie Ernährung und Heizen ist Flugverkehr letztlich zu einem guten Teil: verzichtbar.
Anders ausgedrückt: Flugreisen sind Luxus. Heizen und Essen nicht.
En détail:
Flugverkehr verursacht mindestens 5% der weltweiten CO₂-Emissionen (Bartz 2016).
5%? – Andere Statistiken liefern andere Zahlen:
„Eine neue Untersuchung i.A. der Europäischen Kommission hielt einen doppelt so hohen Anteil [ergibt hier 7 Prozent] für realistisch und einen Anteil von bis zu 12 Prozent für möglich“ (Lege et al. 2005).
„Rechnet man diese Wirkungen [wie Flughöhe etc.] mit ein, gehen fast zehn Prozent der deutschen Verantwortung für die [CO₂-verursachte] Erderwärmung aufs Konto der Luftfahrt – das ist fast so viel wie der Autoverkehr“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019).
Die Europäische Umweltagentur errechnete hinsichtlich der zivilen Luftfahrt für 2016 einen Anteil von 13,5% an den europäischen CO₂-Emissionen (vgl. Ilg 2019).
>> Laut einer Studie der „Manchester Metropolitan University … trägt die globale Luftfahrt [aufsummiert, auf Basis aller kumulierten historischen CO2-Emissionen] 3,5 Prozent zur menschengemachten Klimaerwärmung bei“ (Zeit 2020)1. „[D]ie Luftfahrtbranche [hat] weltweit in den Jahren von 1940 bis 2018 etwa 32,6 Milliarden Tonnen CO2 ausgestoßen…. Ungefähr die Hälfte des gesamten kumulativen CO2-Ausstoßes wurde demnach allein in den vergangenen 20 Jahren erzeugt“ (ebd., vgl. Spiegel 2020).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 „Demnach entfallen [bei diesen kumulierten Emissionen] etwa 1,5 Prozent auf die CO2-Emissionen, der Rest auf Nicht-CO2-Effekte. Der bedeutendste Faktor dieser Nicht-CO2-Effekte seien Kondensstreifen und daraus resultierende sogenannte Kondensstreifenzirren, also Wolken“ (Zeit 2020).
Ob der Anteil des Flugverkehrs an den globalen CO₂-Emissionen nun 5%, 7%, 10% oder auch „bis zu 12%“ beträgt – diese Emissionen werden von sehr, sehr wenigen Menschen erzeugt:
„4,3 Milliarden Passagiere wurden 2018 weltweit befördert, rechnerisch [und nur rechnerisch!] etwa jeder zweite Bewohner der Erde“ (Bartsch 2019, 79, vgl. Airliners 2019).
Aber:
„Lediglich drei Prozent der Menschheit sind im Jahr 2017 geflogen. Nur 18 Prozent haben überhaupt schon mal ein Flugzeug betreten. Einfach gesagt: Ein paar wenige Privilegierte fliegen das Klima kaputt.“ (Weßling 2019)1
„Privilegierte“ meint hier Menschen derreichen Länder und hier noch einmal herausgegriffen besonders die reichen Menschen der reichen Länder:
„Umfragen in Großbritannien belegten, dass 75 Prozent des Flugverkehrs von nur 15 Prozent der Bevölkerung verursacht wird“ (BUND 2020, 2).
Der Volkswirt und Umweltökonom Niko Paech erwähnt in seinem Buch Befreiung vom Überfluss, dass allwochenendlich 10.000 Menschen – das sog. „entgrenzte Easyjet-Weltbürgertum“ (Paech 2012, 52) – aus der ganzen Welt in Berlin einfliegen. Paech führt fort:
„Und warum? Nur weil hier ein vermeintlich besserer DJ auflegt als in Madrid, Tel Aviv, New York, Stockholm oder von wo aus sich die hedonistische Internationale gerade auf den Weg begibt.“
„Wenn Sie fliegen, zerstören Sie das Leben anderer Menschen.“ George Monbiot, 2007
Details: Erläuterungen zu (1)
1 „Dass Kerosin nicht besteuert wird, ist deshalb zuallererst eine Subventionierung relativ wohlhabender Menschen“ (Kern 2020).
Die Präsidentin des Umweltbundesamtes (UBA), Maria Krautzberger, meint zum gleichen Thema:
„Das Umweltbewusstsein spielt [bei der Höhe der individuellen CO₂-Bilanz] nur eine geringe bis gar keine Rolle. Entscheidend für den CO2-Verbrauch ist das Einkommen: Steigt es, steigen auch die Ansprüche – und klimaschädliche Taten. Oder, wie es die Studie sagt: ‚Menschen aus einfacheren Milieus, die sich selbst am wenigsten sparsam beim Ressourcenschutz einschätzen und die ein eher geringeres Umweltbewusstsein haben, belasten die Umwelt am wenigsten‘“ (zit. in Hamann 2016).
Das ‚grüne Gewissen‘ blendet die Tatsachen aus, wie Krautzberger weiter ausführt:
„Mehr Einkommen fließt allzu oft in schwerere Autos, größere Wohnungen und häufigere Flugreisen.“ (ebd.)
Die Soziologin Anita Engels unterstreicht diesen Befund:
„Ob jemand viel oder wenig konsumiert, wird in der Regel von völlig anderen Faktoren angetrieben als von der Sorge ums Klima. Entscheidend ist unter anderem das verfügbare Einkommen. Nimmt das Einkommen zu, geben die Menschen mehr Geld aus, und damit steigen die klimaschädlichen Emissionen.“
>> s.a. Aspekt Individuelles CO₂-Budget auf S. 71 in Abschnitt Globales, nationales und individuelles CO₂-Budget: Emissionen pro Person pro Jahr, aufgesplittet nach Einkommen.
„Eine Fallstudie bei deutschen Konsumenten zeigt, dass sich die Reisegewohnheiten der wohlhabendsten Schichten um 250 Prozent stärker auf das Klima auswirken als die ihrer Landsleute mit Niedrigeinkommen“ (Klein 2015, 143).
Umgekehrt ausgedrückt heißt das, dass „[i]m Jahr 2019 … in der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahre rund 23,70 Millionen Personen… in den letzten 12 Monaten privat eine Flugreise unternommen hatten. Rund 45,92 Millionen Personen haben derweil keine Flugreise in den letzten Monaten unternommen“ (Statista 2019).
Oxfam steuert 2020 weitere Zahlen für den Zeitraum 1990 bis 2015 bei:
„In Deutschland waren die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung [– d.h. rund 8,3 Mio Bürger*innen –] für 26 Prozent der deutschen CO₂-Emissionen im untersuchten Zeitraum verantwortlich. Die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung, ist zahlenmäßig fünfmal so groß wie die reichsten zehn Prozent, hat aber mit 29 Prozent des deutschen CO₂-Ausstoßes nur unwesentlich mehr CO₂ in die Luft geblasen“ (SZ 2020).
Der Spiegel kommentiert wie folgt:
„Wenn eine bestimmte Bevölkerungsgruppe das Klima ruiniert, dann sind es die gut verdienenden Akademiker, die ihren Kindern mal eben in den Sommerferien die Welt zeigen, zwei Autos und noch eine Vespa für die Sommersaison besitzen und eine 200-Quadratmeter-Wohnung beheizen“ (Hage et al. 2019, 18).
>> In Deutschland nimmt die Wohnfläche allgemein sowie bedingt durch die hohe Zahl an Single-Haushalten zu, was u.a. ein großes ‚Mehr‘ an Energieverbrauch bedeutet, vgl. S. 502f.
Das bedeutet, dass viele Menschen, die von sich selbst glauben, sich ‚grün‘ bzw. umweltbewusst zu verhalten, sich hier überschätzen.
Dass nun – wie so gern ‚gestammtischt‘ wird – explizit Grüne-Wähler*innen mit dem SUV beim Biomarkt vorfahren, ist derweil statistisch so nicht zu bestätigen:
„SUV Fahrer gaben [in einer entsprechenden Umfrage] … besonders häufig an, konservativ (1,3-mal öfter als der Durchschnitt) oder rechts eingestellt zu sein (1,41-mal so oft wie in der Gesamtbevölkerung)“ (Spiegel 2019).
Würden ausschließlich SUV-Fahrer*innen den Bundestag wählen, sähe es so aus (in Klammern das deutsche Ergebnis der Europawahl 2019):
CDU/CSU 35,6% (28,9%) | AfD 16% (11%) | FDP 11,4% (5,4%) (vgl. ebd. und Bundeswahlleiter 2019)
Hagen Rether dazu im Jahre 2018:
„Ja und dann, und dann mit dem Auto zum Bioladen fahren oder was? Ja, aber ist doch besser als mit dem Auto zur Metzgerei zu fahren? Musst ja nicht Flöhe und Läuse haben.“
Gleichwohl ist es selbstredend so, dass auch ‚Grün-Wählen‘ nicht gleichbedeutend ist mit einem konsistenten, vorbildlichen Umweltverhalten.
Eine Umfrage vom Juni 2019 zeigt, dass grüne Wähler*innen dem Fliegen nicht abschwören und der Aussage „Ich bin in den letzten 12 Monaten in ein Flugzeug gestiegen“ etwa genauso oft zustimmen wie FDP-Wähler*innen und etwa 5% mehr als Unions-Wähler*innen.“
Leider versäumen Demoskopen genauer nachzufragen, wie oft wählende Bundesbürger*innen jährlich in ein Flugzeug steigen und wie viele Flugkilometer sie dabei zurücklegen – hier könnte sich durchaus ein anderes Bild ergeben, denn bspw. die solventen CDU/CSU-Rentner*innen benötigen ja – wenn sie nicht gerade auf ‚Malle‘ sind – die Zubringerflüge zu ihren Kreuzfahrten.
Dass Grüne fliegen „erklärt sich zumindest teilweise durch die gesellschaftliche Stellung von Grünen-Wählern. Die sind vergleichsweise jung, gut ausgebildet und gut verdienend. ‚Alles Merkmale, die positiv mit einer Nutzung des Flugzeugs zusammenhängen dürften‘“ (Böcking 2017).
Grüne fliegen, nicht schön, aber mein Gott, mir würden auch tausende von Beispielen einfallen zum Thema ‚inkonsequentes Verhalten von Unions-Anhänger*innen‘, ich lass es. Dass indes auf diesem Thema so heftig herumgehackt wird – es wird quasi 2019 in JEDER entsprechenden TV-Diskussion erwähnt –, beruht auf diesem stetigen Kindergarten-mit-dem-Finger-auf-die-Anderen-zeigen. Ein Ablenkungsmanöver.
Rether, Hagen (2018): „3sat Festival – Hagen Rether Liebe Update 2018 – Wir wundern uns / Ausschnitt 03.10.2018“ in: Youtube.de, online unter https://www.youtube.com/watch?v=7GcYDBaIQn8 (Abrufdatum 9.6.2020)
Hagen Rether 2018: „Fleischesser dürfen eh alles… Ist der Ruf erst ruiniert… Wir grillen auch. Wir dürfen auch für 9 Euro nach Lissabon fliegen am Wochenende. Ja, wir grillen ja auch. Ph, wir haben auch ‘nen SUV, wir haben nie was anderes behauptet, wir grillen auch… Aber der Veganer, der hat gefälligst auf den Brustwarzen zum Bioladen zu robben… ja, aber unbedingt. Was ist das denn für eine preußische pickelhaubige…? Ich versteh das nicht.“
„Die andern, die andern“ ist ein reines Schein-Argument:
Jede*r von uns hat Unschärfen – und jede*r hat für sich und ihr/sein Handeln selbst gerade zu stehen.
Jede*r hat bei sich anzufangen, sich an die eigene Nase zu fassen.
Jede*r ist für sich selbst verantwortlich – und hat die Wahl, ob sie/er sich als Idiot gegenüber dem Planeten aufführt, der ihm das Leben schenkt – oder nicht.
Die Qualität eines Arguments oder ein dargestellter Sachverhalt wird nicht besser oder schlechter, weil die vorbringende Person evtl. Wasser predigt und Wein trinkt.
Komischerweise finden Menschen es regelmäßig schlimmer, wenn jemand im Verdacht steht vorzugeben, besser zu sein als er ist, als wenn die gleiche Person lügt oder ihr alles egal ist. Wenn jemandem der Fortbestand der Erde egal ist, ist das nach menschlicher Unlogik sein gutes Recht. Menschen sind merkwürdig.
>> vgl. Nguyen-Kim, Mai Thi (2018): „Die schlechtesten Argumente im Internet“. in: maiLab, 31.10.2018, online unter https://www.youtube.com/watch?v=AlSmcBbT15Y/ (Abrufdatum 30.9.2019)
>> vgl. Nguyen-Kim, Mai Thi (2018): „Die schlechtesten Argumente im Internet“. in: maiLab, 31.10.2018, online unter https://www.youtube.com/watch?v=AlSmcBbT15Y/ (Abrufdatum 30.9.2019) >> s.a. Ausführungen zum sog. ‚Argumentum ad hominem ‘ S. 19 u. S. 213.
Ein Zwischengedanke:
Als Klima-Arsch tritt man das Wunder des Lebens mit Füßen.
Marc Pendzich zugeschrieben.
Nicht zu unterschätzen: Der Rebound-Effekt
Rebound-Effekte führen dazu, dass wir am Ende mehr Ressourcen verbrauchen, während wir versucht haben, weniger zu verbrauchen.
Der Begriff ‚Rebound-Effekt‘ beschreibt die Eigenart des Menschen,
sich z.B. ein sparsameres Auto zu kaufen, aber dann damit mehr zu fahren. = direkter Rebound-Effekt oder auch ‚Direktrebound‘;
durch umweltverträgliches Verhalten eingespartes Geld für etwas anderes rauszuhauen, was man sich sonst nie gekauft hätte; = ‚indirekter Rebound[-Effekt]‘ oder
Zeitspartools (wie bspw. das Smartphone) so zu nutzen, dass die/der Nutzer*in am Ende deutlich mehr Zeit verbraucht als ohne (vgl. Paech 2012).
…mehr
Der Birkenstock-Chef Oliver Reichert lässt dazu vernehmen: „Das Smartphone ist eine reine Zeitklaumaschine… [Sie] bedeuten einen echten Verlust an Lebensqualität“ (zit. in Kläsgen/Gurk 2018, 25). In der Tat kann man die Teile auch als Personal Jukebox sehen… Haben unsere Mütter uns nicht immer vor Spielhallen und Daddelautomaten gewarnt? Jetzt hat (fast) jeder seinen eigenen Hosentaschen-Daddelautomaten und sehr viele, genauer: die meisten User hängen süchtig an der ‚Informationsnadel‘. (Ja, ich weiß, Sie könnten jederzeit aufhören!)
Das ist auch nicht erst seit gestern bekannt, wie folgende Ausführungen Kopatz‘ zum sog. ‚Jevons-Paradoxon‘ nahelegen:
„Wir neigen zur Expansion. Schon im Jahr 1865 beschrieb der britische Ökonom William Stanley Jevons das Phänomen in seiner Veröffentlichung ‚Die Kohlefrage‘. Jevons berichtete dort von der paradoxen Wirkung von Effizienzerfolgen: Der Erfinder James Watts hatte hundert Jahre zuvor eine Dampfmaschine entwickelt, deren Wirkungsgrad den der bislang übliche Modelle deutlich übertraf. Doch der Kohleverbrauch stieg rapide an, nicht zuletzt weil der Brennstoff Kohle durch die sparsamere Anwendung billiger geworden war. Die Kosten sanken, Dampfmaschinen wurden erschwinglicher und erlebten einen Boom. Jevons kam zu dem Ergebnis, dass die effizientere Nutzung von Energie paradoxerweise den Verbrauch insgesamt erhöht“ (Kopatz 2016, 54).
>> vgl. auch Definitionen zu ‚Effektivität‘ und ‚Effizienz‘ S. 21.
Auch beim Flugverkehr gibt es diesen ‚Rebound-Effekt‘. So „ist der Treibstoffverbrauch pro Passagier seit 1990 um 43 Prozent gesunken… Doch diese Fortschritte werden zunichte gemacht, weil die Zahl der Flüge viel schneller zunimmt als der Pro-Kopf-Verbrauch sinkt“ (Groll 2019, 38).
Der Atlas der Globalisierung stellt dazu fest:
„Um etwa 1,5 Prozent, so die Faustregel, kann der Verbrauch der Flugzeuge von Jahr zu Jahr verbessert werden. Dieser mühsam errungene Fortschritt hinkt den Steigerungsraten im Flugverkehr hoffnungslos hinterher: 1,5 Prozent Verbesserung gegenüber 5 Prozent Wachstum. Unterm Strich werden die Effizienzgewinne von den schnell steigenden Passagier- und Frachtzahlen mehr als aufgefressen, weil immer mehr Flugzeuge den Himmel bevölkern“ (2019, 86).
In Unkenntnis und aufgrund des nicht-so-genau-Wissen-wollens um unsere wirklichen CO₂-Effekte unseres Verhaltens neigen wir dazu, uns für umweltverträgliches Verhalten irgendwann in anderem Zusammenhang zu belohnen– wir denken dann in etwa so was wie:
„Wenn ich das ganze Jahr ‚Bio‘ kaufe und Plastik meide, habe ich so viel für die Umwelt getan und meinen Beitrag geleistet, dann kann ich jetzt auch mal ins Flugzeug steigen.“
„Als Veganer*in kann ich öfter fliegen.“
Und genau das ist – gerade im Zusammenhang mit Fliegen und Kreuzfahrten – ein krasser Fehlschluss:
Der effektivste Hebel, der uns zur Optimierung unseres persönlichen CO₂-Abdrucks zur Verfügung steht, ist die Änderung unseres Reiseverhaltens.
Weil Flugreisen den größten Impact haben.
Weil Kreuzfahrten – gemeint sind hier insbesondere die Kreuzfahrten mit zweifachen Zubringerflügen (Hin- und Rückflug) – der ökologische Doppelschlag sind (siehe S. 288ff.).
Weil private Reisen unsere Urlaubszeit betreffen und somit losgelöst sind vom Alltag – und daher entsprechende Emissionen vergleichsweise leicht auf null gefahren werden können.
Schlussbemerkung:
Am 10. Dezember 2019 nahm ich in Hamburg an der Veranstaltung ‚Zwischen 25. UN-Klimakonferenz und Hamburger Klimaplan‘ teil. Die rund 340 Gäste wurden während der Veranstaltung gebeten per App mitzuteilen, mit welchem Verkehrsmittel sie angereist sind. Viele kamen per ÖPNV – genau eine einzige Person war eingeflogen. Und stellte damit 33% der CO₂-Emissionen aller Teilnehmer*innen.
Atlas der Globalisierung (2019): „Klimakiller Flugverkehr“. in: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 86.
Bartsch, Matthias (2019): „Grüner fliegen“. in: Der Spiegel, 45/2.11.2019, S. 79; > vgl. auch Airliners (2019): „Weltweiter Luftverkehr 2018 um fast sieben Prozent gewachsen“. in: Airliners.de, 6.8.2019, online unter https://www.airliners.de/weltweiter-luftverkehr-2018-prozent/51288/ (Abrufdatum 14.11.2019)
Groll, Stefanie (2019): Tourismus: Gute Ferien, schlechte Ferien“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 38, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Hage, Simon et al. (2019): „Die Weltverbesserer. Nachhaltigkeit: Viele Deutsche versuchen, den Klimawandel zu bremsen. Sie kaufen bewusster ein, fahren mehr Rad, reduzieren Müll. Allein können sie das Problem nicht lösen – aber sie zwingen Politik und Wirtschaft zum Handeln“. in: Der Spiegel, Nr. 29/13.7.2019, S. 18.
Hamann, Rene (2016): „Konsum und Umweltbewusstsein: Arm, aber gut für das Klima“. in: tageszeitung, 15.8.2016, online unter http://www.taz.de/!5325200/ (Abrufdatum 26.5.2019, Hervorhebungen Pendzich)
Flugreisen… und das persönliche CO₂-Budget von 2,3 t CO₂ pro Jahr
Update September 2022
Angesichts der Tatsache, dass derzeit lediglich 1,8 % der globalen Endenergie von Wind und Solar stammen, ist alle Kraft und quasi alle noch einzusetzende fossile Energie in den massiven Umbau des Energiesektors zu investieren: Es gibt – anders als nachfolgend in diesem Abschnitt ausgeführt – m.E. kein „Freischuss“-CO2-Budget mehr – weder globale, für Staaten noch für Personen. Daher ist dieses Kapitel nicht mehr ‚Up to date‘ und mit entsprechendem Vorbehalt zu lesen bzw. zu behandeln – es wird zu gegebener Zeit überarbeitet.
[Offenlegung durch Transparenz: Marc Pendzich war zwischen 2019 und 2022 Mitglied des Zukunftsrats Hamburg und hat an dieser Pressemitteilung sowie der Entwicklung der Zahlen mitgewirkt.]
Die Fluggastzahlen steigen auch in den letzten Jahren immer noch weiter an (vgl. Aspekt Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen, S. 270). Dazu ergeben sich einige Fragen:
Was, wenn künftig immer mehr Menschen aus immer mehr Staaten mehr als bisher fliegen (können/wollen)?
Haben diese Menschen nicht das gleiche Recht zu fliegen wie ein(e) deutsche*r Staatbürger*in?
Was bedeutet das in Bezug auf die umfangreiche historische Klimaschuld, die die (Menschen der) Industrienationen tragen?
Was bedeutet das für uns persönlich und die Angemessenheit unseres Flugverhaltens?
>> Weltweites klimaverträgliches jährliches CO₂-Budget pro Person pro Jahr bis 2050 = allerhöchstens 2,3t CO₂ (siehe Abschnitt Globales, nationales und individuelles CO₂-Budget, S. 56, Aspekt Individuelles CO₂-Budget, S. 71f.).
Das bedeutet, dass jede*r von uns ihr/sein CO2-Budget ausgeschöpft bzw. überzogen hat, ohne geflogen zu sein. In der Konsequenz ist jeder Flug eine Anmaßung und tatsächlich ökologisch nicht zu rechtfertigen, sondern nur schönzureden.
CO₂-Emissionen pro Kopf im Flugzeug von Hamburg nach…
Stuttgart 0,314t | Mailand 0,42t | Paris 0,428t | Mallorca 0,7t | Lissabon 1,148t | Gran Canaria 1,3t | Tel Aviv 1,64t | Bali 3,011t | NYC 3,594t | Mexico City 3,8t | Las Vegas 5,594t | L.A. 5,881t | Bangkok 5,666t | Tokio 7,928t | Melbourne (via Dubai) 10,862t (pro Person Hin-Rück, Economy, nach Atmosfair)
Beispiel Kurzstreckenflug innerhalb Deutschlands ‚Flug Hamburg >> Stuttgart‘:
Hin/Rück, Economy, 1 Person, Flugdauer 1:15 h + Hinfahrt zum Flughafen von Dammtor aus (28 min) + früher da sein + Gepäckaufgeben + Sicherheitscheck + Boarding + auf das Gepäck warten + in die Innenstadt zum Hauptbahnhof fahren (27 min.) Mit dem 100%-Ökostromnutzenden DB-Fernzug: 0 t CO2, (s. Fußnote S. 176.) 5:11 h, Zeitersparnis pro Strecke per Flugzeug maximal 2 Stunden. Sind insgesamt maximal 4 Stunden 0,341 t CO2 wert?
Der Preis ist ebenfalls nicht relevant: Mittelfristig gebuchter Super-Sparpreis der Deutschen Bahn inkl. Bahncard25 = 65 Euro + Reservierung. (Daten nach Atmosfair u. bahn.de) (Stand Juli 2019; seit Anfang 2020 ist Bahnreisen auch aufgrund der Senkung der Mehrwertsteuer von 19% auf 7% günstiger – auch aufgrund des runter gesetzten Supersparpreises von 18,90 Euro -25% BC25 +Reservierung – hier gerechnet mit 7% MwSt.)
>> Update August 2020: Atmosfair bietet für die Strecke Hamburg >> Stuttgart nunmehr keine CO2-Kompensation mehr an: „Für den von Ihnen gewünschten Flug gibt es alternativ eine Bahnverbindung mit deutlich besserem CO₂-Fußabdruck. Nach dem Klimaschutzgrundsatz ‚Vermeiden und Reduzieren vor Kompensieren‘ bieten wir daher die CO₂-Kompensation für diesen Flug nicht an“.
„In diesem Preis[, den es kostet, um von A nach B und Retour zu fliegen,] stecken, neben allen anderen Kosten, selbstverständlich auch die für das Kerosin… Was es kostet, das Kohlendioxid, das bei diesem Flug anfällt, wieder aus der Erdatmosphäre zu entfernen, ist jedoch nicht im Preis inbegriffen…. Einschließlich der Passagiere gehen alle [am Flug wirtschaftlich/unternehmerisch beteiligten Institutionen sowie die Kund*innen] wie selbstverständlich davon aus, dass die Erdatmosphäre die 3,5 Tonnen Kohlendioxid, die auf diesem Flug dabei pro Passagier entstehen, auch noch aufnehmen wird… Diese Verantwortungsverweigerung nennt man Externalisierung[, sodass wir im Ergebnis laut] … Stephan Lessenich [eine] Externalisierungsgesellschaft [sind]“ (Göpel 2020, 121-122).
Niko Paech (2019): „Wenn Sie mit einem bestimmten Geldbetrag maximalen ökologischen Schaden anrichten wollen: Kaufen Sie sich ein Flugticket.“
>> zit. in Krex 2019. „Höhe der Treibhausgasemissionen bei einer Fernreise durch eine Familie aus Deutschland: 21.313 kg“ (Statista 2020) = 21,3 t CO2.
Diese Zahlen bedeuten auch:
Wir können uns das ganze Jahr extrem umweltfreundlich verhalten, Plastik vermeiden, Palmöl aus dem Haushalt verbannen, vegan ernähren, Auto-frei leben etc. pp. – aber steigen wir auch nur einmal ins Flugzeug, ist unsere CO₂-Bilanz komplett ruiniert.
> Man kann nicht auf etwas verzichten, was einem nie zugestanden hat. > Es fällt besonders schwer, Gewohnheitsrechte aufzugeben. > Gewohnheitsrechte gibt es eigentlich gar nicht. Erst recht nicht, wenn es um die Überschreitung planetarer Grenzen geht.
Anders ausgedrückt: ‚Verzichten müssen‘ kann man nur auf Dinge, die einem vorher ‚zustanden‘. Eine Zweitagesshoppingflugreise nach New York gehört definitiv nicht dazu. Solche Dinge sind schon immer nur eines gewesen: Anmaßungen.
„Für Menschen, die sehr privilegiert sind, … fühlt sich Gerechtigkeit an als würde einem was weggenommen.“ (Umweltpsychologe Gerhard Reese 2020)
Exkurs: Verkehrs- und Transportmittel im CO₂-Vergleich, Personen- und Frachtverkehr
Vergleich der durchschnittlichen CO₂e-Emissionen einzelner Verkehrsmittel im Personenverkehr (2017):
Pkw 139 g/Pkm [Gramm pro Person pro Kilometer] (Auslastung 1,5 Personen/Pkw)
Reisebus 32 g/Pkm (Auslastung 60%)
Eisenbahn Fernverkehr 0 g/Pkm (Die Deutsche Bahn fährt im Fernverkehr mit Ökostrom (s. Fußnote S. 176.)
Eisenbahn Fernverkehr 36 g/Pkm (Auslastung 56%) (Diese Zahl basiert auf dem durchschnittlichen deutschen Strommix) (2020 nennt der VCD hier die Zahl 32 g CO2/Pkm.)
Flugzeug 201 g/Pkm (Auslastung 82%) (Und hier fallen i.d.R. wesentlich mehr Personenkilometer (Pkm) an als bei anderen Verkehrsmitteln.)
Linienbus 75 g/Pkm (Auslastung 21%)
Eisenbahn Nahverkehr 0 g/Pkm (Die Hamburger S-Bahn fährt mit Ökostrom.)
>> konkrete Fluggastzahlen siehe Aspekt Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen, S. 270.
Des Weiteren geht es beim Flugverkehr nicht nur um CO₂, sondern auch um
„Luftfahrtemissionen wie Stickoxid, Feinstaub, Wasserdampf, Kondensstreifen und Veränderungen in Zirruswolken [– und diese] erhitzen die Atmosphäre zusammengenommen sogar noch mehr. Da Flugzeuge ihren Treibstoff in großer Höhe verbrennen und dort ihre Abgase ausstoßen, wirkt sich das besonders gravierend aus. Beeinträchtigt wird dadurch und durch die entstehenden Kondensstreifen auch die natürliche Wolkenbildung …
Diese Nicht-CO₂-Effekte erhöhen den Schaden, den der Luftverkehr in der Atmosphäre anrichtet um den Faktor zwei bis vier, wie die Organisation Atmosfair … auf Grundlage eines IPCC-Berichts berechnet hat… Rechnet man diese Wirkungen mit ein, gehen fast zehn Prozent der deutschen Verantwortung für die Erderwärmung aufs Konto der Luftfahrt – das ist fast so viel wie der Autoverkehr“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019).
Fliegen bedeutet auch nach Ansicht des UBA mehr, als CO₂ in die Luft zu jagen: Die Emissionen werden logischerweise in den hohen Bereichen der Atmosphäre emittiert.
„Stickoxide bauen unter der Sonneneinstrahlung Ozon auf, das in Reiseflughöhe als starkes Treibhausgas wirkt.
Der Ausstoß von Aerosolen (Partikeln) und von Wasserdampf führt zu einer Veränderung der natürlichen Wolkenbildung.
Diese verschiedenen Effekte summieren sich derart, dass die Treibhauswirkung des Fliegens im Durchschnitt etwa zwei- bis fünfmal höher ist als die alleinige Wirkung des ausgestoßenen CO₂“ (UBA 2019).
Durchschnittlich geht man – vereinfachend – von einer Verdreifachung der Klimawirkung (=Klimaschädlichkeit) von Flugemissionen aus (vgl. UBA 2017).
Siehe dazu auch das folgende Zitat von der FAQ-Page von Atmosfair:
„Um die Klimawirkung der gesamten Flugemissionen angemessen wiederzugeben, multipliziert der atmosfair Emissionsrechner deswegen die in Höhen von über 9 km emittierten CO₂-Emissionen mit dem global gemittelten Faktor 3. Dieser Faktor ergibt sich, wenn das Global Warming Potential aller Non-CO₂-Effekte über 100 Jahre integriert (UNFCCC Konvention) und abdiskontiert wird (David Lee et al., ‚Transport impacts on atmosphere and climate: Aviation‘, in ‚atmospheric environment‘ (44), 2010)“ (Atmosfair 2019).
Doch damit nicht genug:
Eine im Juni 2019 veröffentlichte Studie von Lisa Bock und Ulrike Burkhardt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt kommt zu dem Ergebnis, dass die Klimaschädigung durch Kondensstreifen (=langlebige Eiswolken) noch wesentlich größer ist, als bislang gedacht (und als hier in den vorherigen Absätzen ausgeführt).
„Die Eiswolken, die durch den Flugverkehr entstehen, hätten in den vergangenen Jahren mehr zum Anstieg der globalen Temperatur beigetragen als alles CO₂, das seit Beginn der Luftfahrt in die Atmosphäre gelangt ist… In Klimaberechnungen würde der Effekt dennoch kaum berücksichtigt,dabei könne sich der Einfluss [allein] der künstlichen Wolken aufs Klima in den nächsten Jahrzehnten verdreifachen.“ (Merlot 2019, vgl. Bock/Burckhardt 2019)
Kondensstreifen? Nun, es sind mehr als die wenigen Kondensstreifen, die wir gewöhnlich per Alltagserfahrung am Himmel sehen. (Die Studie geht vom Eintreffen der Prognosen eines weltweit weiter steigenden Flugverkehrs aus (Vervierfachung 2006>>2050)).
Verhindert werden könne dieser Effekt bzw. die befürchtete Verdreifachung des Einflusses von Kondensstreifen auf das Klima weitgehend durch „saubere Emissionen“, von denen die Rede sein könne, wenn der Rußgehalt des verbrannten Kerosins „um mehr als 50 Prozent reduziert“ (ebd.) werde.
Wovon wir weit entfernt sind.
Die Studien-Mitautorin Lisa Bock hält abschließend fest, dass es „wichtig [ist], Klimaeffekte, die sich nicht direkt auf CO₂ zurückführen lassen, in Klimaprognosen stärker zu berücksichtigen“ (zit. in Merlot 2019).
Faktor 3 scheint daher alles in allem eher zu tief gegriffen.
Aufgeschnappt 2018 im Einlassbereich des Hamburger Holi-Kinos beim Warten auf den Einlass für die Doku ‚System Error – Wie endet der Kapitalismus‘ mit Tim Jackson (‚Wohlstand ohne Wachstum‘) als Live-Gesprächspartner des Regisseurs Florian Opitz:
„Ja, das mit dem Verpackungswahnsinn und dem Mikroplastik, das geht gar nicht… wir kaufen jetzt auch woanders ein, dort, wo das Gemüse nicht eingeschweißt ist… Übrigens, nächste Woche fliegen wir nach Bali.“
Quellen des Abschnitts Fliegen ist mehr als CO₂ in die Luft zu jagen
Atlas der Globalisierung (2019): „Klimakiller Flugverkehr“. in: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 86.
Bock, L. und Burkhardt, U.: „Contrail cirrus radiative forcing for future air traffic“. in: Atmos. Chem. Phys., 19, 8163-8174, 2019, online unter https://www.atmos-chem-phys.net/19/8163/2019/ (Abrufdatum 21.7.2019)
VCD (2020): „Bahnen bauen Klimavorsprung aus“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 1/2020, S. 10.
Exkurs: Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion.
pdf-Download des Abschnitts Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., weitere Handbuch-Downloads siehe hier.
Dazu halten Kretzschmar und Schmelzer fest:
Der Traum vom grünen Fliegen
per Power-to-Liquid (synthetisches Kerosin) und vor allem
via allen weiteren, im Laborstatus befindlichen Flugverkehrsinnovationsideen,
darunter die im August 2020 von den Medien aufgegriffene Idee, bei Start und Landung per Turbine leistungsstarken (und reaktionsfreudigen!) Wasserstoff zu verbrennen und während des Fluges auf 8.000 bis 12.000 Metern zur Vermeidung der Treibhaus-fördernden Wasserdampf-Zirrus-Wolken und weiterer verschmutzend-erderwärmend wirkender Aerosole per Wasserstoff-gespeister Brennstoffzelle bei gleichzeitigem Auffangen des entstehenden Wassers Elektromotoren zu betreiben (vgl. Diermann 2020, s.a. Abschnitt Fliegen ist mehr als CO₂ in die Luft zu jagen, S. 262f.).
„dient aktuell vor allem dazu, das Wachstum des Flugverkehrs zu legitimieren.“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019)
Hier geht es alles in allem mehr um die Schaffung einer Vision und eines vagen Versprechens, damit eben Fliegen eine Perspektive behält aus Sicht der Luftfahrtindustrie und der GerneVielFlieger.
„Für Kurz- und Mittelstreckenflieger arbeiten die Münchner bereits an einer Brennstoffzelle, 2050 könnten erste Maschinen mit diesem Antrieb abheben, sagt“ „Jörg Sieber, Leiter Innovationsmanagement beim deutschen Triebwerkhersteller MTU Aero Engines in München“ (Ilg 2019).
Airbus erwägt laut Airbus-Chef Guillaume Faury im September 2020, den künftigen „Einsatz von Wasserstoff – als Bestandteil synthetischer Treibstoffe wie auch als Hauptenergiequelle für Verkehrsflugzeuge“ (Spiegel 2020). Die Sicherheitsprobleme mit den riesigen Wasserstofftanks gelten als enorm und schwierig beherrschbar (vgl. Flottau 2020).
Jakob Graichen vom Öko-Institut bemerkt dazu 2019:
„Synthetische Kraftstoffe sind einziger Weg für die Langstrecke“.
Synthetisches Kerosin per Power-to-liquid-Verfahren (PtL) herzustellen ist derzeit das am weitesten gediehene Projekt zur Dekarbonisierung des Flugverkehrs. Man peile für das Herstellungsverfahren eine Marktreife in fünf Jahren an (vgl. ebd.) – bis solche Anlagen im großen Maßstab gebaut sind und der Produktpreis konkurrenzfähig sein wird, wird wesentlich mehr Zeit, die eher in Jahrzehnten als Jahren zu vermessen ist, vergehen.
Und: Das Ganze hängt an der Energiewende, denn es würden gewaltige Mengen an Ökostrom benötigt – und davon sind wir bedauerlicherweise derzeit extrem weit entfernt, erst Recht im globalen Maßstab.
Daraus ergibt sich folgende Frage:
Ist es überhaupt aus heutiger Sicht realistisch, die so benötigten Mengen an (den zur Herstellung von synthetischem Kerosin benötigten) Ökostrom zu erzeugen?
Aussagen über künftig benötigte Energiemengen für ein komplett dekarboniertes Deutschland bzw. eine fossilfreie Welt sind schwer zu treffen (vgl. Abschnitt Energiewende in Deutschland, S. 520, Aspekt Energiebedarf 2050, S. 526f.).
Auch Zahlen, mit wie viel Tonnen Kerosin die derzeitigen jährlichen Fluggewohnheiten der Bürger*innen Deutschlands zu Buche schlagen, liegen mir trotz intensiver Recherche nicht vor.
Zur Beantwortung dieser Frage gehe ich daher einen anderen Weg:
Wir können die Fragestellung andersherum, d.h. von unten her aufbauen und ausrechnen, wie viel Windenergie für den Betrieb eines Flugzeuges benötigt wird. Daher lauten die konkreten Ausgangsfragen:
Wie lange müsste ein Windkraftwerk laufen, um meinen Hin-/Rückflug von Hamburg nach Lissabon auf der Basis von synthetischem Kerosin zu ermöglichen – bzw.:
Wie viele Windkraftanlagen würden für den Betrieb dieses Flugzeuges benötigt?
>> nur reiner Energieeinsatz für den Hin-/Rückflug, ohne energetische Entwicklungs- und Produktionskosten Flugzeug, ohne Flughafenerbauungs- und Flughafenbetriebsenergiekosten etc.; finanzielle Kosten spielen in dieser Rechnung keine Rolle; fiktiv wird angenommen, die Industrieanlagen zur Wasserelektrolyse und Umwandlung in synthetisches Kerosin wären bereits jetzt im industriellen Maßstab nutzbar und ausreichend vorhanden.
Rechnung:1
3,34 Liter Kerosin werden pro 100 Passagierkilometer auf einem Langstreckenflug benötigt. (vgl. Lufthansa Group 2020)
>> positive Auslegung: Lufthansa verbraucht je nach Streckenlänge unterdurchschnittlich viel Kerosin; Langstrecke (>3.000 km) = 3,34l Kerosin/100Pkm; Mittelstrecke (800-3.000Pkm) = 3,59l/100Pkm | Kurzstrecke (<800km) = 5,90l/100Pkm)
Selbstredend hebt kein Flugzeug ab mit der für eine Person verbrauchten Menge Kerosin – aber bleiben wir zunächst auf dieser theoretischen Einzelpersonen-Ebene.
Details: Erläuterungen zu (1)
Die Rechnung erfolgt mit allen Nachkommastellen, hier auf zwei Nachkommastellen gerundet dargestellt – daher ergeben sich beim Eintippen der hier aufgestellten Rechnung in den Taschenrechner kleine Abweichungen. Die Berechnung geht immer von der positiven Auslegung von Daten und Zahlen zugunsten des Luftverkehrs aus – sie stellt also das positivste und erwartbar zu positive Szenario heraus.
Hamburg (HAM) – Lissabon (LIS) = eine Strecke = 4.490 km | Hin/Rück = 8.980 km (vgl. Atmosfair 2020)
>> Es werden pro Person für Hin/Rück 299,932 Liter Kerosin benötigt. (8.980kmx3,34l/100km)
Für Ihre Reise wurden nur für Sie allein rund 300 Liter Kraftstoff verbrannt.
Der Heizwert von Kerosin beträgt 34,8 MJ/l (vgl. wikipedia 2020) (positive Auslegung)
Der Wirkungsgrad liegt bei der Umwandlung von Windkraftstrom per Wasserelektrolyse in E-Kerosin bei 50%: Ein Windkraftwerk bzw. eine Windenergieanlage1 (WEA) hat also das Doppelte an Energie erzeugen, damit nach Wasserelektrolyse und Erzeugung des synthetischen Kerosins die erforderliche Energie vorhanden ist.2
>> Positive Auslegung, die Bundesregierung rechnet derzeit mit 45% (vgl. taz 2020, 8). Ein höherer künftiger Wirkungsgrad von Windkraftwerken etc. ist bislang lediglich Spekulation und kann nicht in diese Rechnung eingehen.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Gemeint ist damit jeweils ein Pfeiler mit einem Rotor.
2 Für Power-to-Liquid (PtL), d.h. z.B. für E-Kerosin bzw. synthetisches Kerosin ergibt sich auch nach Alexander Tremel, der für Siemens in diesem Feld forscht, ein Wirkungsgrad von ca. 50%: „Die Effizienz ließe sich zwar steigern, allerdings zu sehr hohen Kosten“ (zit. in Wüst 2018, vgl. Diermann 2017 u. Graichen 2019).
Das Windkraftwerk hat also5.798,69 kWh für das für den Hin-/Rückflug HAM-LIS eines Passagiers erforderliche synthetische Kerosin zu erzeugen. (2.899,34 kWh x2 = 5798,69 kWh)
Eine in diesen Tagen als Standard geltende Windenergieanlage (3MW) erzeugt pro Jahr 7.000.000 kWh. (vgl. Energie-Lexikon 2020 u. AEE 2020)
Ein Windkraftwerk erzeugt per Volllast pro Stunde 3.000 KWh (vgl. ebd.).
Das Windkraftwerk müsste knapp 2 Stunden in Volllast laufen, um das für mich allein benötigte synthetische Kerosin zu erzeugen. (5.798,69 kWh : 3.000 kW = 1,93 h = fast 2 h)
Das Windkraftwerk läuft (idealtypisch) 2.333 Volllaststunden pro Jahr (vgl. ebd.). (positive Auslegung)
Also benötigt man 1/1207 Windkraftwerke, um das für mich allein benötigte synthetische Kerosin zu erzeugen. (1,93 h : 2.333 h = 1/1207)
Das bedeutet, dass
1 Windkraftwerk pro Jahr synthetisches Kerosin für 1.207 Passagiere
Hin-/Rückflug HAM-LIS produzieren kann.
In einem Flugzeug sitzen bei Vollauslastung 165 Personen.
>> positive Auslegung, denn vielleicht ist das Flugzeug gar nicht ausgelastet; andererseits ist nicht klar, von welcher Auslastung Lufthansa ausgeht. Da es das Phänomen der Überbuchung gibt, geht diese Rechnung von einem vollbesetzten Flugzeug aus – jeder nicht besetzte Platz ist in Klimakrisenzeiten ohnehin nicht angemessen; Sitzplätze eines A320 = 150 bis 179. [/su_spoiler]
Etwa 7,3 Hin-Rückflüge HAM-LIS pro Jahr sind durch die Energieerzeugung eines Windkraftwerkes rechnerisch möglich. (1.207 Passagiere : 165 Passagiere/Flug = 7,32 Flüge)
Zusammengefasst:
1 Windenergieanlage ermöglicht synthetisches Kerosin für 71/3 A320-Flüge Hin/Rück HAM-LIS pro Jahr.1
1 Windenergieanlage ermöglicht synthetisches Kerosin für ca. 1.207 in Hamburg startende und in Lissabon urlaubene Personen pro Jahr.
… darüber hüllen sich Politiker*innen in Schweigen.
>> Selbst wenn man nun annähme, effizientere Flugzeugtypen wie z.B. der A3502 kommen in relevantem Maß weltweit zum Einsatz; selbst wenn man von etwas höheren Wirkungsgraden ausginge… oder: Nehmen wir an, ein Windkraftwerk könnte Energie für doppelt so viele Flugkilometer bereitstellen: Dann würde ein Windkraftwerk 14½ A320-Flüge Hin/Rück HAM-LIS pro Jahr ermöglichen: Am Gesamtresultat ändert sich nichts.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Die gleiche Rechnung könnte man aufmachen für die Zahl der benötigten Solarzellendächer in Deutschland – oder für einen wie auch immer gearteten Energiemix aus Erneuerbaren Energien. Die „Wasserstoffstrategie“ entschärft diese Zahlen nicht, denn es ist ja Bio-Wasserstoff, der dort aus anderen Ländern importiert werden soll, d.h. der Wasserstoff wurde ebenfalls mittels Wasserelektrolyse durch Wind-und Sonnenkraft erzeugt (und muss dann energieintensiv nach Deutschland transportiert werden).
2 Diese Rechnung wurde auch mit dem als besonders sparsam geltenden, vor Covid-19 als das ab sofort neu anzuschaffende Flugzeug gehandelten A350 durchgerechnet. Dieser verbraucht 2,9 l/100Pkm – bei Lufthansa sitzen hier bei Vollauslastung 293 Passagiere. Eine Windkraftanlage ermöglicht in diesem Fall synthetisches Kerosin für 43/4 A350-Flüge Hin/Rück HAM-LIS pro Jahr. (Der Unterschied zu obiger Rechnung ist auf die ungleich größere Anzahl an Passagieren im A350 zurückzuführen). 1 Windkraftanlage ermöglicht synthetisches Kerosin für ca. 1.390 in Hamburg startende und in Lissabon urlaubene Personen pro Jahr. Um das Reiseverhalten zu belassen wie es ist, müsste man im Unterschied zu obiger Rechnung ganz grob die Zahl der Windkrafträder verdreifachen (vgl. Flugzeugdaten Munich-Airport 2020). Indes ist nicht zu erwarten, dass in der nächsten Zeit besonders viele A350 angeschafft werden: Corona-Krise lässt viele Fluggesellschaften pleitegehen. In den nächsten Jahren werden sehr viele Flugzeuge faktisch am Rand von (extra) Flughäfen geparkt sein. Pflegt und wartet man sie, kann man diese mindestens noch ein Jahrzehnt nutzen, ohne auch nur ein einziges Flugzeug neu zu bauen bzw. zu kaufen. Das wirft ein Licht auf die Zukunftsperspektive von Boeing und Airbus.
Ab jetzt wird die Rechnung gröber:
Für die Musterwindanlage wurde ein jährlicher Ertrag von 7 GWh angenommen. In Deutschland wurden im Jahre 2019 126.000 GWh (vgl. S. 522) erzeugt, das sind rechnerisch 18.000 Windkraftanlagen (tatsächlich sind es mehr Anlagen, doch laufen längst nicht alle unter Volllast). (126.000 : 7 = 18.000)
Der erzeugte Windstrom könnte also jährlich 131.760 Hin-Rückflüge à 165 Personen in der Flugkilometer-Dimension HAM-LIS ermöglichen. (18.000 x 7,32 = 131.760).
Es könnten also mit dem heute in Deutschland erzeugten Windstrom jährlich rund 21,72 Mio Personen Hin-/Rückflugreisen in einem HAM-LIS-Entfernungsradius von 4.490 km unternehmen. (18.000 x 1.207 Passagiere = 21,72 Mio Passagiere)
Wir reden hier immerhin von Millionen Passagieren, sodass die Zahlen zunächst erst einmal eigentlich gar nicht so schlecht klingen. Bis man diese Zahl liest:
2018 = 122,6 Mio Passagiere sind in Deutschland mit einem Flugzeug gestartet.(vgl. Zeit 2019) (Faktor 5,64)
Hinzu kommen die hier nicht in die Rechnung einbezogenen immensen Energiebedarfe, die sich aus Flugzeugentwicklung und -herstellung, Flughafenbau- und Betrieb, Ausbildung sämtlicher Spezialist*innen, Wartung, Pflege, Nachrüstung, Neubau, Renovierung, Entsorgung etc. pp. ergeben.
Hinzu kommt, dass in Deutschland mit den 126 TWh ausschließlich Energie für jene 21,72 Mio Reisende produziert würden, d.h. es wäre in dieser Modellrechnung noch keine einzige Kilowattstunde Strom für existenzielle Bedarfe erzeugt worden: Licht, Kochen, Kühlschrank, Heizung, Computer, Internet, ÖPNV-/Bahn-Mobilität, Industrie-, Stahl-, Zement-, Kupferproduktion etc., Landwirtschaft etc. pp. (vgl. dazu eine vergleichbare Rechnung zum Thema ‚E-Fuels für E-Autos‘, S. 327).
Fazit:
Obwohl in dieser Berechnung stets alle Faktoren zu Gunsten des Flugverkehrs ausgelegt worden ergibt sich folgendes Bild:
Grünes Fliegen ist als Massentourismus nach dem derzeitigen Stand der Technik und auf Basis der bis auf Weiteres realistischen Wirkungsgrade nicht nur ein Traum, sondern eine Illusion.
Hier bedürfte es noch einer Reihe technologischer Entwicklungen, von denen man nicht weiß, ob sie erfolgreich umgesetzt werden können – daher können sie derzeit nicht in die Planungen und Szenarien eingehen.
Und: ‚Grünes Fliegen‘ beinhaltet wesentlich mehr als auf E-Kerosin umstellen, vgl. Aspekt Fliegen bedeutet mehr, als CO₂ in die Luft zu jagen, S. 263f.
Auch haben die Prioritäten angesichts der immensen globalen Herausforderungen woanders zu liegen, als den Bürger*innen Deutschlands weiterhin die jährliche Flugreise z.B. von Hamburg nach Lissabon zu ermöglichen.
Wenn also am fossilen Kerosinverbrauch bis auf Weiteres nicht so viel zu schrauben ist, wie man suggerieren möchte, kann man ja wenigstens – vorschlagsweise – versuchen, die Flugzeuge grün zu lackieren:
Wenn man davon ausgeht, dass Imagebroschüren1 umso seitenstärker sind, desto höher die Fallhöhe des BigBusiness z.B. aufgrund der Klimakrise ist, so sind mir nur wenige Konzerne bekannt, die auf ganzen 138 Seiten darlegen, wie großartig, effizient, grün, arbeitnehmer*innenfreundlich, offen und sozial sie sind – sodass man, wenn man möchte, die Fallhöhe entsprechend einordnen könnte. Sozial, offen, effizient: Das kann ja alles sein bei der Lufthansa Group, abersich als „seit 1994 verlässlicher Partner der Klimaforschung“ (2019, 11) zu gerieren ist inhaltlich bestimmt nicht falsch, wird aber von mir persönlich dennoch als bodenlose Frechheit empfunden. (Was bedeutet diese Aussage konkret?) Und die konzerneigene Initiative Flygreener, die dazu führt, dass man „mehr als 400 Millionen Plastikteile wie Becher, Bestecke oder Rührstäbchen durch [nicht näher benannte] ökologischere Alternativen“ (2019, 104) ersetzt, legt, sagen wir mal, den Finger nicht wirklich in die Wunde. Die einzige relevante Botschaft an letztgenannter, so progressiv daherkommenden Nachricht ist doch wohl, dass Lufthansa Group hiermit bekennt, bisher und viele Jahre lang jährlich 400 Millionen vollständig unnötige (Einweg-)Plastikteile nach fünf Minuten Einsatz weggeschmissen zu haben.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Erratum: Beim erneuten Faktencheck habe ich bemerkt, dass es sich nicht um einen Imageprospekt handelt, sondern um „Balance“ – dem „rechtlich geschützten Titel“ (S. 138), der den Nachhaltigkeitsbericht der Lufthansa Group von 2019 ziert.
Update Juli 2020:
pdf-Download des Abschnitts Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., weitere Handbuch-Downloads siehe hier.
In Medienberichten ist die Rede davon, dass „in Deutschland [jährlich] 10,2 Millionen Tonnen Kerosin verflogen [werden]“ (taz 2020, 8, vgl. DLF 2020). „Man bräuchte ‚heute mindestens rund 270 Terawattstunden [TWh] Strom“ (ebd.), also in etwa den gesamten Ökostrom, der derzeit produziert wird (237,4 TWh). Die Zahl „10,2 Mio t Kerosin“ umschreibt dabei die Menge des Kerosins, mit dem jährlich Flugzeuge auf den Flughäfen Deutschlands betankt werden. Das ist m.E. ein Anteil von dem, was in Deutschland wohnhafte Menschen tatsächlich auf ihren Zwischenstopp-Weltreisen verfliegen.1 Daher hilft diese 10,2-Mio-Tonnen-Zahl m.E. nicht wirklich weiter. Die Luftfahrtbranche ist ihrer Natur nach eine internationale Angelegenheit. Naheliegend ist daher, die notwendige Menge des Kerosins mit in die Überlegungen einzubeziehen, die benötigt wird, um den internationalen Flugverkehr auf bisherigem Niveau zu erhalten: „[W]eltweit verbraucht die Luftfahrt … 300 Millionen Tonnen [Kerosin] pro Jahr“ (Stahr 2020).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Hier wird natürlich auch für internationale Umsteiger*innen z.B. in Frankfurt betankt.
„Unberührte Natur ist für 76% der Befragten bei der Urlaubsplanung ein besonders wichtiger Faktor.“ (Geo 2020, 56)
Eine neue Vielflieger-Gruppe: Die VFR-Passagiere (visiting friends or relatives)
„Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt eine Gruppe von Passagieren an Bedeutung, die … lange Zeit übersehen wurde: die sogenannten VFR-Passagiere. … Allein am Londoner Flughafen Gatwick machten sie bereits 2010 immerhin schon knapp ein Viertel aller Fluggäste aus. Es sind weltumspannende Familiennetze ebenso wie der zunehmende Tourismus aus den sogenannten Schwellenländern, allen voran China und Indien, die den globalen Flugverkehr bis auf Weiteres um vier Prozent jährlich wachsen lassen“ (Boeing 2019).
Auch die Beförderung von Luftfracht (u.a. Erdbeeren im Winter, Ebay, Amazon) nimmt zu (vgl. ADV 2019).
>> Erdbeeren, frisch, aus der Region, saisonal = 300g CO2e/kg | Erdbeeren, frisch aus Spanien = 400g CO2e/kg | Erdbeeren, gefroren = 700 g CO2e/kg | Erdbeeren, frisch, Winter = 3,4 kg CO2e/kg (‚an der Supermarktkasse‘, vgl. ifeu 2020, 9)
Bevor wir nun den Fokus auf sog. Business Travellers richten, hier das
Fazit zum Aspekt Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen:
Flugreisen sind ähnlich wie das Autofahren der symbolische Inbegriff von Wohlstand und ‚Freiheit‘: Erst wenn in diesen hochemotionalen Bereichen [– soziologisch oder auch politisch –] Veränderungen möglich sind und umgesetzt werden, können wir von einem relevanten Fortschritt im Sinne eines produktiven Klimaschutzes ausgehen.
Quellen der Abschnitte Exkurs: Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion und Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen
Lufthansa Group (2020): „Treibstoffverbrauch und Emissionen“. in: Lufthansa Group, online unter https://www. lufthansagroup.com/de/verantwortung/klima-umwelt/treibstoffverbrauch-und-emissionen.html (Abrufdatum 17.6.2020)
Vielfach herrscht die Annahme vor, dass heute [d.h. bis vor Covid-19] Videokonferenzen schon vielfach Geschäftsflüge ersetzen. Das ist richtig – und doch falsch:
2008 = 28,5 Mio
2014 = 26,9 Mio
2017 = 28,1 Mio. (=+4% gegenüber 2014) (vgl. ADV 2018)
„Allen E-Mails, Videokonferenzen und Web-Seminaren zum Trotz – deutsche Unternehmen schicken ihre Mitarbeiter so oft auf Geschäftsreisen wie nie zuvor“ (Kotowski 2019).
Man darf gespannt sein, wie es nach Covid-19 in diesem Punkt weitergeht – ich persönlich gehe davon aus, dass aufgrund des Digitalisierungsschubes mehr über Videokonferenzen laufen wird, aber längst nicht in dem Maße wie möglich und notwendig. Und dann ist da noch der Rebound-Effekt… (s.u., vgl. S. 257)
Manche Unternehmen melden starke Rückgänge an Geschäftsflugreisen, was aber nicht so richtig stichhaltig erscheint, sondern eher wie Image-Pflege bzw. Green Washing:
„Die Deutsche Bank etwa hat nach eigenen Angaben die Zahl der Flugreisen in den vergangenen sechs Jahren halbiert. Die Commerzbank meldet für die vergangenen acht Jahre einen Rückgang um 30 Prozent. Beide haben in den vergangenen Jahren kräftig Stellen gestrichen, was wohl ein Teil der Erklärung ist. Die Commerzbank hat heute etwa 20 Prozent weniger Mitarbeiter als noch 2010“ (Heuzeroth 2019).
Immerhin:
„Immer mehr Unternehmen drängen ihre Mitarbeiter zu Bahnreisen. Doch viele Konzerne bewegen sich nur langsam – zu lukrativ sind die nichtökologischen Alternativen… ‚Eine Flugscham gibt es nicht, denn es handelt sich bei unseren internationalen Geschäftstätigkeiten [von Stahlkonzern Salzgitter] nicht um Lustreisen‘“ (Heuzeroth 2019).
unsplash/Markus Spiske
Für die Zunahme von Geschäfts-Flugreisen im Zeitalter von Videokonferenzen sind m.E. wesentlich zwei Gründe hervorzuheben:
Wirtschaftswachstum verursacht hier den sog. Rebound-Effekt:
Das Geschäft/Unternehmen wird größer und globalisierter (Entfernungen!) und die Produktion kleinteiliger.
So ist mehr Abstimmung zwischen mehr Geschäftspartner*innen als z.B. vor 10 Jahren notwendig, sodass insgesamt mehr Meetings (ob nun virtuell oder persönlich) abgehalten werden.
Die Folge: Wirtschaftswachstum frisst CO2-Einsparungen auf. Das ist der Unterschied zwischen Effizienz und Effektivität (weiteres siehe Aspekt Rebound-Effekt auf S. 257).
Es gibt immer mehr Geschäftsreisende, deren Büro die Welt ist, soll heißen, diese Menschen haben im eigentlich Sinne gar kein Büro mehr, sondern arbeiten überall auf der Welt und sind somit ständig unterwegs – auch im Flugzeug (s.a. Lobbyistenbeitrag Partners Magazin 2018).
Zwischen 2008 und 2014 ging die Zahl der Geschäfts-Flugreisen wie oben gezeigt tatsächlich vorübergehend zurück:
In Zeiten der Finanzkrise und flankiert vom 2010er Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökul, gab es tatsächlich einen Boom von Videokonferenzen etc. (vgl. Rückgang 2008>>2014) (vgl. Rettig 2010).
Auch gibt es tatsächlich vermehrt Dienstreisevorschriften bei Unternehmen, die empfehlen, Flugreisen insbesondere auf kurzen Distanzen zu unterlassen – doch in der Praxis und insgesamt betrachtet ist das offensichtlich eher ein Wunsch/Vorschlag/Anliegen als eine grundlegende Umsteuerung, wie an den obigen Zahlen zu sehen ist (vgl. Zunahme 2014>>2018).
„‚Der persönliche Kontakt ist trotz aller Schritte der Digitalisierung immer noch entscheidend für das Geschäft‘, sagt VDR-Hauptgeschäftsführer Hans-Ingo Biehl“ (Kotowski 2016, vgl. Lobbyistenbeitrag Travelbusiness: Travelbusiness 2019). (VDR = Verband Deutsches Reisemanagement)
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass in vielen Branchen Videokonferenzen nach wie vor als potenziell geschäftsschädigend bzw. als Wettbewerbsnachteil gesehen werden (vgl. Strobl 2018).
Fazit: Wie so oft will niemand ernsthaft anfangen (zumindest außerhalb der Ökobranchen), weil er das unökologische Verhalten der Konkurrenz fürchtet.
>> Siehe Aspekt Politik trägt Verantwortung. Wir brauchen eine Politik, die uns vor uns selber schützt, S. 372ff.
Aspekt ‚Geschäftsreisen: Reisen von Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden‘
Dass Politiker*innen fliegen – geschenkt. Aber 229.116 Inlandflüge von Bundesministerien inkl. der angegliederten Verwaltungen im Jahr 2018? (vgl. Spiegel 2019a). Bundestagsabgeordnete haben 2018 knapp 20% mehr Flugkilometer zurückgelegt als im Vorjahr? (Spiegel 2019b) – Da geht doch noch was?
Und was sicher nicht sein muss, sind 800 Leerflüge (Bereitstellungsflüge) im Jahr 2018 (vgl. Seibert 2019).
>> Covid-19 zeigt, dass auch Politiker*innen künftig deutlich weniger fliegen können.
Immerhin: Die Bundesregierung kompensiert sämtliche Dienstreisen (vgl. UBA 2017, Stand: Februar 2017) – und zahlte dafür 2017 1,7 Mio Euro (vgl. Spiegel 2019a).
Zu ergänzen ist, das die Zahl internationaler Fachtagungen und Kongresse gerade im wissenschaftlichen Bereich nicht weniger werden, sondern eher mehr. Eine Professur anzustreben ohne internationale Kongresserfahrung und entsprechende Kontakte ist nach meiner Kenntnis wissenschaftlicher Usancen derzeit ziemlich zweckfrei.
Und wenn man sich anschaut, welche und wie viel verschiedene Symphonie-Orchester (!) beispielsweise in der Hamburger Elbphilharmonie auftreten, dann ist auch hier eine klare (Flugverkehr ermöglichte und Flugverkehr verursachende) Internationalisierung zu beobachten.
„Die genaue Aufgabe des Künstlers besteht darin, die Dunkelheit zu erhellen, damit wir den Zweck nicht aus den Augen verlieren, die Welt zu einem menschlicheren Ort zu machen.“ James Baldwin, afroamerikanischer Schriftsteller (1924-1987)
Ich möchte hinzufügen: Es ist jedoch NICHT Aufgabe des Künstlers, Flugkilometer abzureißen.
„Schweigen, sich mit einem Kunstberuf entschuldigen ist eine Verantwortungslosigkeit, die ich mir nicht leisten kann.“ (Igor Levit) (beide Zitate aus Skrobola 2018, 127)
Weitere Zahlen zu Geschäfts-Flugreisen:
65% der innerdeutschen Passagiere sind geschäftlich unterwegs. (vgl. Luftfahrt aktuell 2019)
Auch die Nutzungprivater Jets für Geschäftsreisen nimmt zu. (vgl. Erhardt 2018, s.a. Koenen 2019)
Fazit Business Travellers:
Alles in allem sind – Ausnahmen bestätigen die Regel – Unternehmen, Kultur, Wissenschaft und Politik, was per Flugverkehr zurückgelegte Geschäftsreisen angeht, – mit Stand Februar 2020 – noch überhaupt nicht angekommen im digitalen Zeitalter.
Quellen des Abschnitts Geschäftsreisen per Flugzeug: Business Travellers
CO₂-Kompensationen z.B. für Flüge und Kreuzfahrten
Ausgleichzahlungen für emittiertes CO₂ per Kompensation über die gängigen Portale für nicht vermeidbare Flüge sind wahrscheinlich besser als keine Ausgleichszahlungen – aber mal im Ernst: die CO2-Kompensation von Flügen und Kreuzfahrten ist keine Lösung, sondern eine Art Ablasshandel, eine Ablenkung von der einfachen Wahrheit:
Flugverkehr ist auf dem aktuellen Stand der Technik und auf Basis heutiger Datenlage erwartbar in den nächsten Jahrzehnten ökologisch nicht zu haben.
>> vgl. Aspekt Exkurs: Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., S. 265ff.
Die Zeit bemerkt dazu, dass erstens die Kompensationsprojekte oftmals nicht so viel Einsparen wie angegeben.
„Und zweitens verursachen diese Projekte oft lokale Konflikte oder führen gar zu Landraub. Menschen, deren CO₂-Fußabdruck weit unter dem globalen Durchschnitt liegt, werden durch angebliche Waldschutzprojekte an ihrer traditionellen Landnutzung gehindert und laut eines Berichtes des World Rainforest Movement teilweise sogar vertrieben. Das Magazin Vice sprach deshalb 2014 von Kohlenstoffkolonialismus“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019).
Hinzu kommt, dass z.B. verbindliche Kompensationszahlungen zu ‚Mehr Fliegen‘ führen könnten.
Matthias Sutter, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn:
„Es gibt aus der Forschung Hinweise, dass solche Optionen das Gegenteil von dem erreichen können, was sie sollen. Eine Studie hat untersucht, was passiert, wenn Eltern, die ihre Kinder zu spät aus dem Kindergarten abholen, eine Strafe zahlen müssen. Das Ergebnis: Mehr Eltern kommen zu spät… Die Eltern denken: Warum soll ich mich an eine soziale Norm halten, wenn ich stattdessen einfach bezahlen kann? Monetäre Anreize können oft unerwartete Nebenwirkungen haben. Denn Geld macht Normen unbedeutend. … Aus der Norm wird eine Geschäftsbeziehung“ (2020).
Im Juni 2019 berichtet Atmosfair1 für 2018 über „eine Steigerung des Spendenaufkommens um 40 Prozent“ (Carstens 2019).
460.000 Flüge wurden 2018 via Atmosfair kompensiert = weniger als 1% aller Flüge ab Deutschland (ebd.). (vgl. Zahl „2018 = 122,6 Mio in Deutschland startende Passagiere“, S. 270)
Atmosfair „geht davon aus, dass die Zahl der kompensierten Flüge sogar dann unter der Ein-Prozent-Marke bleibt, wenn man alle konkurrierenden Anbieter hinzurechnet“ (ebd.).
Derweil ist die viel beschriebene flygskam (‚Flugscham‘) in Schweden nun auch in Zahlen ausdrückbar: Im ersten Quartal 2019 sind die Schwed*innen 15% weniger im Inland geflogen als im entsprechenden Vorjahreszeitraum, obwohl sie gleichzeitig immer mehr reisen – großer Gewinner ist: Die Bahn (vgl. Ehl 2019).
Update April 2020:
Eine repräsentative Ipsos-Umfrage des TÜV-Verbands ergibt, dass 13% der Menschen in Deutschland bewusst mehrere Flüge unterlassen haben, weitere 4% einen Flug. Indes sehen 27% der Befragten keinen Grund für ein zu änderndes Reiseverhalten. 45% fliegen nach eigenen Angaben ohnehin nicht. „Die Diskussion um die Flugscham schlägt sich allerdings bisher nicht in der Anzahl gebuchter Flüge nieder“ (VCD 2020, 10).
Also, das Fazit lautet wie der Eingangssatz dieses Abschnitts:
Kompensieren ist wahrscheinlich besser als nicht kompensieren – aber es ist keine Lösung.
Und kein Freibrief.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Stiftung Warentest bewertete 2018 die Leistungen der verschiedenen Anbieter: https://www.test.de/CO2-Kompensation-Diese-Anbieter-tun-am-meisten-fuer-den-Klimaschutz-5282502-0/ (Abrufdatum 8.7.2020)
Quellen des Abschnitts CO₂-Kompensationen z.B. für Flüge und Kreuzfahrten
Ehl, David (2019): „‚Flugscham‘ ist kein Modewort – die Schweden fliegen wirklich weniger“. in: Perspective Daily, 11.6.2019, online unter https://perspective-daily.de/article/831/UMESbIT0/ (Abrufdatum 11.6.2019) [paywall]
VCD (2020): „Verzicht wegen Flugscham“. in: fairkehr. Mensch. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin, 2/2020, S. 10.
Wachstumsbranche ‚Flugverkehr‘
Derzeit werden überall auf der Welt Flughäfen erweitert, Startbahnen gebaut oder komplett neue (zusätzliche) Flughäfen gebaut (vgl. S. 283). Auch hier gilt grundlegend das Prinzip:
„Wer Straßen [d.h. in diesem Fall Start-/Landebahnen] sät, wird [Flug-]Verkehr ernten.“
Daniel Goeudevert (*1942), ehemaliger VW-Vorstandsvorsitzender (in den 1990er Jahren) (vgl. Schiesser 2010).
Natürlich dürfen Politik und Industrie die Verantwortung nicht auf die Bürger*innen abladen nach dem Motto:
„Wenn Ihr alle nicht fliegen würdet, hätten wir kein Problem“ –
Es kann nicht Sache des Individuums sein, die Welt zu retten.
Nur rechtfertigt das noch lange nicht, die Sau raus zulassen, bis die Politik in die Puschen kommt, nach dem Motto, alles was legal ist, ist auch legitim. Dem ist mitnichten so.
Das CO₂-Budget ist ein gutes Maß – und weist deutlichst darauf hin, dass Fliegen eine Anmaßung ist und man am besten auf dem Boden der Tatsachen bleibt.
Gute Reisegründe?
Oft wird zugunsten Fernreisen (per Flugzeug) das Argument vorgebracht, Reisen bilde, mache den Geist frei und diene der ‚Völkerverständigung‘…
‚Völkerverständigung‘?!?
Nun, wenn es darum geht: Fahr‘ per Eisenbahn auf vierwöchige Interrailreise, da kannst Du reichlich was erleben und kommst mit unglaublich vielen Menschen der Europäischen Union und aus aller Welt in Kontakt.
Interrail gibt es inzwischen auch für 28+ = 1 Monat unbegrenzt durch 33 Länder Europas = 670 Euro (vgl. Interrail.eu 2020)1.
Details: Erläuterungen zu (1)
Noch günstiger wird es, wenn man die Option ‚15 Tage innerhalb von 2 Monaten‘ wählt. Denn man wird ja kaum täglich in der Bahn sitzen wollen: 493 Euro. Inzwischen gibt es Interrail auch vergünstigt für Senior*innen (vgl. Interrail.eu 2020).
„Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen.“ Johann Wolfgang von Goethe im Gespräch mit seiner Freundin Caroline Herder, 5.9.1788. (philosophicum 2012)
Auf den Punkt gebracht:
Es braucht immer einen Mutigen, der die Wahrheit ausspricht.
In diesem Fall ist es Klaus Raab in der Zeit:
„Der Anteil der Flugreisen [am Gesamtreiseaufkommen], die Deutsche unternehmen, ist von 30 Prozent aller Reisen im Jahr 2000 auf 41 Prozent im Jahr 2018 gestiegen. Nur acht Prozent sind Fernreisen. Was aber haben Zwei- bis Viertagetrips in überlaufene europäische Touristenstädte mit der Erlangung von Weltbürgerschaft zu tun? Was ist so weltbürgerlich daran, ohne Rücksicht auf die Welt das Billigste zu konsumieren?
Je näher man an ein paar Verhaltensweisen heranzoomt, die für kosmopolitisch gehalten werden, desto spießbürgerlicher sehen sie aus.
Viele dieser Reisen sind eigentlich verdammte Kaffeefahrten.“ (2019)
Quellen des Abschnitts Wachstumsbranche ‚Flugverkehr‘
Flugpreise sind in den letzten Jahren stark gefallen.
„Im Jahr 2011 kostete ein Hin- und Rückflug durchschnittlich 549 US-Dollar. Im Jahr 2019 muss dafür durchschnittlich 324 US-Dollar ausgegeben werden“ (Statista 2019).
Rether, Hagen (2010): „Vegetarier Hagen Rether spricht über Fleisch und Klimawandel“. in: YouTube.de, 30.9.2010, online unter https://www.youtube.com/watch?v=gtaOVI7WdO8 (Abrufdatum 9.6.2020)
Hagen Rether im Jahre 2010:
„Fürs Weihnachtsgeld kann man heute nach Neuseeland fliegen. Für ein paar Mark fuffzig fliegen wir ans andere Ende der Welt – wissen Sie warum? Wir verbraten badewannenweise Kerosin, um nach Neu Seeland zu kommen – wissen Sie warum? Weil da die Natur so schön ist.“
…mehr
Das ganze erzählt Hagen Rether, während er gekonnt und lässig ein eigenes Arrangement von „Schlaf, Kindlein Schlaf“ auf dem Flügel zum Besten gibt. Zu den Fakten: Frankfurt – Auckland via Hongkong, Economic, 1 Person Hin/Rück = 10,587t CO2 (vgl. atmosfair) – und wer fliegt schon allein nach Neuseeland? 2 Personen haben zusammen ein Jahresbudget von 4,6t CO2 – für alles: für Essen, Lebenshaltung, Laptop, Abwasser, Mobilität – und hauen allein nur für die Flüge mehr als 21t CO2 raus (vgl. Aspekt Flugreisen… und das persönliche CO₂-Budget von 2,3 t CO₂ pro Jahr, S. 240 u. Abschnitt Globales, nationales & individuelles CO₂-Budget, Aspekt Individuelles CO₂-Budget, S. 71).
Jede*r Fliegende fliegt auf niedrigen eigenen finanziellen Kosten auf großen ausgelagerten (externalisierten) Kosten von anderen Menschen und ihrem Wohlergehen.
Dass das nicht so weitergeht – weitergehen kann –, ist wohl (rational) jeder Bürgerin und jedem Bürger klar. Was tun?
Quellen des Abschnitts Der Preis des Fliegens
Rether, Hagen (2010): „Vegetarier Hagen Rether spricht über Fleisch und Klimawandel“. in: YouTube.de, 30.9.2010, online unter https://www.youtube.com/watch?v=gtaOVI7WdO8 (Abrufdatum 9.6.2020)
Erster Schritt: Fliegen muss kosten, was es kostet.
Der Status quo der massiven Subventionierung:
Der gewerbliche Flugverkehr ist in Deutschland von der „Mineralölsteuer, der Ökosteuer und bei internationalen Tickets von der Mehrwertsteuer“ (Lege 2019) befreit – im Gegensatz zum deutschen Schienenverkehr, was eine erhebliche Wettbewerbsverzerrung zu Ungunsten umweltfreundlicher Verkehrsträger darstellt (vgl. Nabu 2019).
Der ‚Arbeitskreis Flugverkehr‘ einiger NGOs (darunter BUND, Nabu und VCD) benennt weitere Subventionen, die explizit Billigfluglinien erhalten, darunter der
„Verzicht auf kostendeckende Landeentgelte und Abfertigungsgebühren“,
die „Defizitübernahme von Flughäfen“,
„verbilligte Flughafenpachten“ und
diverse Zuschüsse, namentlich „für Pilotenausbildung, Bodenabfertigung und Marketing“ und
„zur Eröffnung neuer Flugverbindungen“ (alle Zitate: Lege 2005).
Weitere Subventionen und Investitionen fließen in den Bundesländern in sog. Regionalflughäfen, welche im Rahmen des ‚Race to the Bottom‘1 dazu dienen, die eigene Wirtschaftsregion ‚attraktiv‘ erscheinen zu lassen. Ohne jährliche Zuschüsse in Millionenhöhe kommen diese Miniflughäfen – von denen Sie, wenn Sie kein*e Anwohner*in sind i.d.R. noch nie gehört haben – nicht klar. Oder wussten Sie, dass es einen Dortmund-Airport gibt? Sollten Sie aber – da gingen z.B. 2013 20 Mio Euro Steuergelder rein (vgl. Rohwetter 2014).
Details: Erläuterungen zu (1)
Das bedeutet auch, dass diverse Gemeinden in Konkurrenz mit benachbarten Gemeinden von Gewerbegebieten bis Regionalflughäfen alles Mögliche ausschreiben, was auf das Ganze gesehen nicht benötigt wird – eine Art ‚Race to the bottom‘, wie Kopatz (2016, 37) diese Abwärtsspirale beschreibt. Und: „Welcher Bürgermeister traut sich schon, den motorisierten Individualverkehr in der Stadt zu begrenzen? ‚Dann fahren die Menschen aus dem Umland doch zum Einkaufen in die Nachbarstadt‘, lautet das Argument. … Mit der gleichen Begründung werden immer mehr Grünflächen für Gewerbe und Einfamilienhäuser erschlossen“ (ebd. 36). Dieses Argument können Sie auf sämtliche wirtschaftliche Bereiche anwenden – und genau deshalb brauchen wir einen Ausstieg aus diesem Wettbewerbsdilemma. Das ist grundlegend. >> Siehe dazu auch die längst als unbegründet widerlegte Furcht von Einzelhändlerinnen vor der Einrichtung von käuferinnenraubenden Fußgängerzonen, S. 353.
Über diese sog. ‚Landratspisten‘ schreibt der Spiegel – eine 2020 neu erschienene Studie zitierend – zum Sinn/Unsinn von Regionalflughäfen:
„Nur drei von 14 untersuchten Standorten hätten einen verkehrspolitischen Nutzen durch die Anbindung ihrer Region an den internationalen Flugverkehr. Bei den restlichen angebotenen Verbindungen handele es sich fast ausnahmslos um Urlaubsflüge. Die Untersuchung fordert daher die sofortige Schließung der Hälfte der 14 Regionalflughäfen“ (vgl. auch Zeit 2020).
Möglichkeiten, Flugverkehr künftig angemessen zu bepreisen und die Bahn zu fördern:
Kerosinsteuer zunächst auf Inlandsflüge (Der französische Präsident Emmanuel Macron fordert übrigens eine europaweite Kerosinsteuer. Die Niederlande und Norwegen haben schon jeweils eine nationale Kerosinsteuer (vgl. VCD o.J.).
„Laut einer Studie der Europäischen Kommission würde eine Kerosinsteuer in Europa die Nachfrage nach Flugreisen sowie deren Treibhausgasemissionen um elf Prozent verringern“ (Zimmer 2019).
Die Österreichische Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie fordert im April 2020, die Rettung von Fluglinien mit Steuergeldern an Klimaschutz-Bedingungen zu knüpfen – zudem könnte „[d]er Staat die Ticketabgabe für Kurzstreckenflüge verdreifachen“ (Pötter 2020, 09).
Den Mehrwertsteuersatz für den Schienenverkehr in Deutschland nach der Senkung auf 7% im Januar 2020 nochmals stark senken bzw. die Mehrwertsteuer auf Basis des ‚Rechts auf Mobilität‘ (im Sinne des Grundrechts auf Teilhabe) für den Bahnverkehr oder sogar den ÖPNV komplett abschaffen.
Es wäre gut, wenn irgendjemand – z.B. ein*e Politiker*in – die Luftfahrtbranche wissen lässt, dass es die Klimakrise gibt. Denn so ganz scheint dieser Sachverhalt – auch wenn Lufthansa wie erwähnt in eigener Sicht der Dinge seit 25 Jahren verlässlicher Partner der Klimaforschung ist (vgl. S. 270) – noch nicht angekommen zu sein:
Bob Lange, Chef-Marktstratege Airbus, 2018:
„In den nächsten 20 Jahren wird die Welt nach unseren Schätzungen 32.000 neue zivile Flugzeuge benötigen, Passagierflugzeuge und Transportflugzeuge… Zurzeit fliegen etwa eine Milliarde Menschen regelmäßig. Die restlichen sechs Milliarden fliegen noch nicht. Diese Menschen sind die Passagiere von morgen zusätzlich zu denen in den Industrienationen, für die Fliegen schon selbstverständlich ist“ (zit. in Opitz 2018, Min 50).
Das ist nicht zu toppen? Doch, wie uns Eric Chen, der Präsident Airbus China, 2018 wissen lässt:
„Zurzeit haben wir etwas über 200 Flughäfen in China. Jedes Jahr werden zwischen 10 und 15 neue Flughäfen gebaut. Der Markt ist riesig und wir sind optimistisch, denn bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden… Stellen Sie sich vor, jeder könnte sich leisten zu fliegen. Wenn sogar ein Bauer oder Arbeiter sich ein günstiges Ticket leisten kann, um zu fliegen. Dieser Markt ist fantastisch, man kann sich das kaum vorstellen! … Unsere Flotte wird sich alle sieben bis acht Jahre verdoppeln“ (zit. in Opitz 2018, Min 52).
Nun ist es Teil dieses Jobs zu träumen und Optimismus zu verbreiten, sonst verletzten Bob Lange und Eric Chen ihre Treuepflicht gegenüber ihren Unternehmen (vgl. Klein 2015, 87).
Aber trotzdem:
Wie soll man solche Menschen, die ja extrem einflussreich sein können, anders nennen als gefährlich?
Zweiter Schritt: Inlands- und Kurzstreckenflüge streichen…
… und so schnell wie möglich ersetzen durch massiven Ausbau des Schienenverkehrs.
Klingt hart? Nun, pardon: Ohne eine Veränderung unserer Lebens- und Reisegewohnheiten geht es nicht. Dazu gehört das Ankommen in der Digitalen Gesellschaft z.B. per massiv verschlüsselten Videokonferenzen (bspw. in virtuellen Räumen) in allen Lebenslagen – und eine andere Prioritäten-setzung bzw. Terminplanung. Und: Arbeiten kann man auch in der Bahn – zukünftig hoffentlich noch besser. Und Urlaubs-Kurztrips per Flugzeug sind schon jetzt wie geschrieben keine Option mehr, auch wenn dieser Befund noch nicht in der Gesellschaft angekommen ist.
Demo-Plakat „Kurzstreckenflüge nur für Insekten.“ (aus: Theaterstück ‚Greta‘, s. Fischer 2019)
Ein Zwischengedanke:
Demo-Plakat „Kurzstreckenflüge nur für Insekten.“
(aus: Theaterstück ‚Greta‘, s. Fischer 2019)
Weitere Möglichkeiten, das Thema ‚Flugverkehr‘ Stück für Stück nachhaltiger zu gestalten:
Es ist nicht länger einzusehen, weshalb klimaschädigendes Vielfliegen Vorteile bringen soll.
Bonusmeilen-Services oder auch ‚Vielfliegerprogramme‘ à la ‚Miles&More‘ haben daher umgehend und komplett eingestellt zu werden.
>> Lufthansa hat hier schon – ein bisschen – reagiert: Seit März 2018 sind nicht mehr die geflogenen Distanzen, sondern die Ticketpreise das Maß der Dinge (vgl. Spiegel 2019). Die Website https://www.miles-and-more.com/ suggeriert indes, dass Bonusmeilen etwas ganz, ganz feines sind.
Klassenreisen mit der Schulklasse oder dem Oberstufenprofil per Flug sind nunmehr ein Relikt der Vergangenheit. Es gibt keine ökologische (und in diesem Sinne auch pädagogische) Rechtfertigung für Klassenreisen nach Israel, Island & Co. Auch in sozialer Hinsicht ist das noch nie eine gute Idee gewesen. Bis Frankreich, England und Italien z.B. für Schüleraustausche kommt man auch ohne Flugzeug – das ging z.B. in den 1980er Jahren problemfrei, galt als spannendes Abenteuer und ist daher lediglich eine Frage des Anspruchsdenkens und der Bequemlichkeit.
Schade ist es um Sprachaustausche nach Südspanien, aber die Prioritätensetzung liegt m.E. ganz klar auf einer einfachen Regel: Keine Klassenfahrten per Flugzeug.
Das fliegende Klassenzimmer hat wieder wie einst bei Erich Kästner zu funktionieren – nur halt digital.
Nebenbei ist hier anzumerken, dass Klassenreisen vornehmlich um der Gruppendynamik Willen von Schulklassen unternommen werden. Und um gemeinsam etwas Neues zu sehen oder zu erleben. Das geht hervorragend mit Zielen, die per Bahn erreichbar sind.
Es ist davon auszugehen, dass es innerhalb der nächsten Jahre eine Re-Regionalisierung des Reiseverhaltens im Allgemeinen und von Klassenreisen im Besonderen geben wird. Daher ist es sinnvoll, schon jetzt die entsprechende Infrastruktur aufzuwerten bzw. angesichts der Covid-19-Krise zu bewahren: Mit Stand Juni 2020 scheint nur wenig, allzu wenig Geld für gemeinnützige Träger wie Jugendherbergen (DJH) u.ä. Anbieter vorgesehen zu sein (vgl. Materla 2020).
M.E. ist eine umgehende Deckelung der Passagierzahlen und Starts und Landungen erforderlich:
Flugverkehr kann nicht länger Wachstumsbranche sein. Das verbietet sich allein durch die auf diese Weise generierten Emissionen.
In diesem Sinne argumentiert auch Kopatz und weist darauf hin, das hier keineswegs Verzicht verlangt werde, sondern lediglich „die Begrenzung der Expansion“ (2016, 237).
Zimmer, Wiebke (2019): „Die schwere Last Verkehr“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 26, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Und die soziale Dimension des Fliegens?
Oder, anders formuliert:
Wird Fliegen wieder eine Sache der Upper Class, der ‚oberen Zehntausend‘?
Ein Zwischengedanke: Im weltweiten Maßstab gehört jede*r Bürger*in Deutschlands zu den ‚oberen Zehntausend‘.
Check your privilege.
Selbstverständlich gibt es hier, genau wie bei der CO₂-Steuer1, Modelle und Möglichkeiten, z.B. alle paar Jahre (mehr ist sowieso ökologisch gesehen nicht drin) die dann regelmäßig sehr hohen Flugticket-Steuern erstattet zu bekommen.
Details: Erläuterungen zu (1)
Friederike Otto weist darauf hin, dass „[d]ie Idee, Kohlenstoff als Teil der Produktionskosten zu betrachten… [1975] der Ökonom William Nordhaus[…entwickelte, der] 2018 dafür den Wirtschaftnobelpreis [erhielt]“ (2019, 161).
Friederike Otto weist darauf hin, dass „[d]ie Idee, Kohlenstoff als Teil der Produktionskosten zu betrachten… [1975] der Ökonom William Nordhaus[…entwickelte, der] 2018 dafür den Wirtschaftnobelpreis [erhielt]“ (2019, 161).
Eine schöne Möglichkeit für uns alle wäre, Urlaub flexibler nehmen zu können, sodass es sich dann auch lohnt, alle paar Jahre für mehrere Wochen oder sogar Monate auf Flugreise zu sein.
Aber mit solchen Gedanken verfehlen wir fast schon das Thema, weil dieses sich dahinter verbergende Anspruchsdenken angesichts der dramatischen Lage letztlich eher deutlich macht, dass der Ernst der Situation nicht vollständig durchdrungen wurde.
Eine Kleinanzeige im Magazin des Verkehrsclub Deutschland (VCD), 2018:
„London: Kl. Wohnung, für Nichtflieger, gemütlich, vor der Tür Zug & Bus direkt ins Zentrum, [Internetadresse,] [Telefonnummer].“ (Fairkehr 2018, 34)
Schön in diesem Zusammenhang ist die Gründung eines Reisebüros für klimafreundliche Zugreisen – also für Reisen, die an Komplexität und Entfernung über das Angebot des ohnehin existierenden Erwachsenen-Interrail-Tickets (vgl. S. 279) hinausgehen. Der Autor dieses Buches neigt nicht dazu, Werbung für einzelne Anbieter zu machen, aber wenn jemand die/der Erste ist, ist sie/er (zunächst) auch die/der Einzige:
>> Nach einem selbst erfolgreich gebuchten Hin-/Rück-post-Abitur-Zugreise nach Vietnam gründete der Klimaktivist Elias Bohun zusammen mit seinem Vater die Reiseagentur Traivelling, vgl. https://www.traivelling.com/ (Abrufdatum 29.6.2020, s.a. Zeit-Interview Bohun (2019) „Man kann mit dem Zug weltweit verreisen“.
>> Zur Inspiration: Fontana, Guilia u. Keyßer, Lorenz (2020): Ohne Flugzeug um die Welt. Klimabewusst unterwegs und glücklich, Lübbe. M.E. etwas holprig geschrieben, aber fundiert und dabei charmant.
Weiterhin könnte der zeitliche Abstand, ab dem der Rückflug möglich ist, schon in der Buchungssoftware an die Zahl der Flugkilometer gekoppelt werden: Ein Shopping-Wochenende in New York City wäre damit nicht mehr möglich. Ein Maledivenurlaub per Flugzeug wäre dann vorschlagsweise nur möglich, wenn man auf vier Wochen fliegt. Australien wäre folglich ein Projekt für mindestens ein Sabbathalbjahr.
Ausnahmen für Geschäftsflüge sollten im Zeitalter des ‚global Homeoffice‘ und der virtuellen Konferenzen nicht möglich sein und haben gedeckelt zu werden. Dann hat man halt als Firma Prioritäten zu setzen.
Auch eine zusätzliche, allgemeine Deckelung der Anzahl von Flügen pro Mensch ist sicher möglich – entscheidend wäre hier, dass sich Unternehmen sowie vermögende Bürger*innen nicht freikaufen könnten.
Auf die Bedeutung dieses Punktes weist auch der Soziologe Ortwin Renn hin:
„Menschen mit weniger Einkommen machen nur mit, wenn sie das Gefühl haben, Arm und Reich würden in gleichem Maße belastet“ (zit. in Hage et al. 2019, 18) – und der Spiegel folgert:
Aus der „Rettung des Planeten wird nichts, wenn Nachhaltigkeit für die obere Mittelschicht erschwinglich ist, aber für die darunter nicht. Kein Klimaschutz ohne Klimasolidarität“ (ebd.).
Neubauer/Repenning schlagen – mutig – eine Zuteilung eines einheitlichen Budgets von Flugkilometern an jede Person vor (vgl. 2019, 204-205). Dieses darf m.E. nicht übertragbar sein.
In diesem Sinne regt Maxton ergänzend an, „[d]en Verkauf aller Business- und First-Class-Flugtickets [zu] verbieten“ (2020, 126).
Ich gehe noch einen Schritt weiter und werfe die folgende Frage auf:
Inwieweit ist es im Jahre 2020 noch statthaft und ethisch vertretbar, dass sich Menschen in Privatjets fortbewegen?
Schlussgedanke:
Für Deutschland, Europa und die Industrienationen, ist eine ‚Deckelung‘ bestimmt eine Möglichkeit, um Flugverkehr einzudämmen.
Anknüpfend an den obigen Zwischengedanken, dass wir Bürger*innen Deutschlands allesamt den ‚oberen Zehntausend‘ angehören, ist zu konstatieren, dass eine klimagerechte Verteilung von Flugkilometern bei ca. 8 Milliarden Menschen pro Person wohl eher einen Rundflug um die jeweils eigene Stadt ergeben würde.
Da massentouristisches ‚Grünes Fliegen‘ nur eine langfristige, zukunftsferne Vision ist, kann das eigentlich nur eines bedeuten… daher ist m.E. nur das folgende Fazit für den Abschnitt Klimakiller Flugverkehr zulässig:
Ist es nicht ehrlicher, sich einzugestehen, dass profunde Investitionen in Flugverkehr, Flugzeuge, Flughäfen und Flugzeugindustrie angesichts der mangelnden Zukunftsperspektive für das massentouristische ‚Grüne Fliegen‘ keinen Sinn machen? Wäre nicht Im Gegenteil ein frühzeitiger, sozialverträglicher Rückbau dieses riesigen Industriezweiges sozial und zukunftsgerichtet – auch in dem Sinne, dass die Spitzenleistungen der Ingenieur*innen zur Bekämpfung der Klimakrise und des sechsten Massenaussterbens anderweitig dringender gebraucht werden?
Quellen des Abschnitts Und die soziale Dimension des Fliegens?
Fairkehr (2018): „Kleinanzeige“. in: Fairkehr. Menschen. Nachhaltig. Mobil. Das VCD-Magazin 5/2018, S. 34.
Hage, Simon et al. (2019): „Die Weltverbesserer. Nachhaltigkeit: Viele Deutsche versuchen, den Klimawandel zu bremsen. Sie kaufen bewusster ein, fahren mehr Rad, reduzieren Müll. Allein können sie das Problem nicht lösen – aber sie zwingen Politik und Wirtschaft zum Handeln“. in: Der Spiegel Nr. 29/13.7.2019, S. 10ff.
Neubauer, Luisa u. Repenning, Alexander (2019): Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft. Tropen.
Maxton, Graeme (2020): Globaler Klimanotstand. Warum unser demokratisches System an seine Grenzen stößt. Komplett-Media.
Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt, kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen. Michael Ende, 1994, in: Zettelkasten. Skizzen und Notizen. Weitbrecht. S. 276
Der ökologische Doppelschlag: Kreuzfahrten
Kreuzfahrten für sich genommen sind ökologisch und ethisch in vielerlei Hinsicht hochproblematisch – siehe folgende Daten, Fakten und Aspekte.
Zum ökologischen Doppelschlag werden sie, wenn mit dieser Art Urlaub zu machen Zubringerflüge – meist sowohl Hin- als auch Rückflüge – verbunden sind, was sehr oft der Fall ist. Dann kommen zur ohnehin massiven CO₂- und Umweltbelastung durch das Kreuzfahrtschiff auch noch die Fernflüge hinzu.
Flug-Kreuzfahrttourismus ist ein unangenehmer Beweis dafür, wie ‚gut‘ Menschen in der Lage sind, die Augen vor der Realität zu verschließen.
Ein Kreuzfahrtschiff mit 2000 Passagieren an Bord generiert, wenn es eben nicht von Hamburg o.ä. startet, sondern z.B. in der Karibik unterwegs ist und vornehmlich europäische Gäste an Bord hat, die meistens eine Woche an Bord bleiben, pro Woche zusätzlich zur eigenen Ökobilanz bis zu 4000 interkontinentale Flugpassagiere – hinzu kommen u.a. die Flüge für die Besatzung und die globale Beschaffung der Versorgungsgüter.
Kreuzfahrttourismus in Zahlen
2019 = ca. 30 Mio Menschen aus aller Welt auf Kreuzfahrt (vgl. Höfler 2019, 30)
2018 = 28,5 Mio
2009 = 17,5 Mio (vgl. Deckstein 2019, 46)
2019 = >2 Mio Deutsche sind nach US-Amerikaner*innen und Chines*innen Kreuzfahrtweltmeister*innen (vgl. Höfler 2019, 30)
„Allein die Zahl der Deutschen an Bord hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, auf 2,2 Millionen, in Europa sind nur die Briten ähnlich begeisterte Kreuzfahrer.“ (Deckstein 2019, 46)
Kreuzfahrtschiff = bis zu 5t Treibstoff, i.d.R. Schweröl – pro Stunde (vgl. Deckstein 2019, 46)
Dass es auch ohne Schweröl geht, beweist Hurtigruten seit 10 Jahren. Und im Juni 2017 setzte die Rederei mit der MS Roald Amundsen das erste Kreuzfahrtschiff mit Hybridantrieb (Kombination Elektro- und Verbrennungsmotor), der 20 Prozent sparsamer sein soll, in Fahrt. Doch sogar dieses vergleichsweise kleine Schiff schluckt, mit 530 Passagieren, ausgebucht, knapp neun 9 Liter Marinediesel pro Kilometer pro Passagier (vgl. Wüst 2019, 103-104).
„Die meisten Ozeandampfer benutzen als Kraftstoff Schweröl, das so umwelt- und gesundheitsschädlich ist, dass sein Einsatz in Binnengewässern verboten ist… Es gibt bisher nur ein Kreuzfahrtschiff, das mit flüssigem Erdgas (LNG) betrieben wird. Die Abgase sind sauberer, aber auch Flüssiggas ist ein fossiler Rohstoff und seine Nutzung nicht klimaneutral.“ (Groll 2019, 38)
>> siehe auch Abschnitt Erdgas, LNG und die ‚Wasserstoffstrategie‘, S. 529ff.
„Die Nova kostete ab Werk etwa 1 Milliarde Euro, sie ist eines der teuersten nicht-militärischen Fahrzeuge auf dem Planeten“ (Höfler 2019, 30).
„Stand Ende Juni [2019] werden 124 neue Kreuzfahrtschiffe mit einem Ordervolumen von mehr als 69 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren gebaut“ (Deckstein 2019, 50).
„Weltweit sind bis 2027 bei Werften 120 neue Kreuzfahrtschiffe geordert, davon werden lediglich 27 über einen primären LNG-Antrieb verfügen. Alle anderen fahren mit Öl“ (Höfler 2019, 36).
Die Nutzung von LNG um Schiffe anzutreiben, hat den Vorteil, vergleichsweise saubere Abgase zu verursachen, was sowohl für Passagiere und Besatzung, die Häfen als auch für die Natur zunächst positiv ist.
„In den Auftragsbüchern der Werften stehen inzwischen eine Reihe [= 27, s.o.] von LNG-Schiffen, die von Institutionen wie dem Naturschutzbund Deutschland (Nabu) in Rankings zumindest in puncto ‚Vermeiden von Luftverschmutzung‘ mit Bestnoten bewertet werden“ (Schulz 2019, 6).
Während bislang die Luft auf Kreuzfahrtschiffen i.d.R. als ungesund gilt, bietet hier LNG den Vorteil, dass das Schiff ‚nur‘ CO₂ emittiert, „aber kein Schwefeldioxid und kein Feinstaub“ (Höfler 2019, 36).
Gleichwohl ist und bleibt auch LNG – auch wenn die Abkürzung sich so modern anhört – ein fossiler Brennstoff und ist somit keine Lösung für eine klimaneutrale Welt:
LNG wird auf der Aida Nova bei -162 Grad Celsius gelagert (vgl. Höfler 2019, 36). Das bedeutet: Kühlung, Kühlung, Kühlung.
LNG stammt oft „aus den USA, wo mit massivem Einsatz von Chemikalien das Methangas aus Boden und Gestein gepresst wird… Außerdem entweicht Gas beim Transport und der Lagerung. Man nennt es Methanschlupf. Methan ist ein Klimagas“ (Höfler 2019, 36)
>> siehe Abschnitt Erdgas, LNG und die ‚Wasserstoffstrategie‘, S. 529ff.
Und selbstredend muss dieses Gas über weite Strecken stark gekühlt um den halben Globus transportiert werden, um dann in die Tanks z.B. der Aida Nova gefüllt zu werden.
CO₂-Bilanz von Kreuzfahrtschiffen, Angaben von Carnival über Aida-Schiffe
60 kg CO₂ pro Tag pro Person, betrieben mit Schweröl und Diesel
27 kg CO₂ pro Tag pro Person, betrieben mit LNG (vgl. Höfler 2019, 36)
Die Zahlen schließen m.E. nur den bloßen Antrieb der Schiffe ein. Das Schiff hat geplant, gebaut, gewartet, repariert etc. pp. zu werden. Hinzu kommt m.E. noch jeweils die Förderung des Brennstoffs, dessen Verarbeitung und globaler Transport. Hinzu kommt der Transport der Nahrungsmittel sowie die Crew-Flüge – und sicher noch viel mehr.
Vom Passagier ausgehend kommen i.d.R. noch die Zubringerflüge hinzu, meist zwei pro Person.
Das legt also folgendes nahe:
Thema ‚Greenwashing in der Kreuzfahrtbranche‘.
Letztlich gibt es derzeit für den Massen-Kreuzfahrt-Schiffstourismus keine wirkliche grüne Variante. MSC Cruises will ab 2020 „für alle Schiffsreisen selbst obligatorisch [CO₂-]Kompensationen vornehmen, sodass unter dem Strich klimaneutral gefahren wird. Das bedeutet für MSC … Mehrkosten in Höhe von rund 50 Millionen Euro jährlich“ (Schulz 2019, 6).
So richtig wichtig scheint die Branche es mit der Umwelt nicht zu nehmen – insbesondere, wenn keiner hinschaut:
„Kreuzfahrtschiffe gelten als Verpester der Meere. Dutzendfach wurden sie in den vergangenen Jahren dabei erwischt, wie sie Öl, Plastik und Abwässer aller Art in die Ozeane kippten. Auch Schiffe der Aida-Mutter Carnival waren dabei, Princess Cruise Lines [– die mit der Pacific Princess das ‚Love Boat‘ stellte –] musste 2016 in den USA die Rekordstrafe von 40 Millionen Dollar zahlen. Über Jahre waren ölverschmutzte Abfälle ins Meer verklappt worden. Im Sommer dieses Jahres musste Carnival in den USA 20 Millionen Dollar zahlen, auf Schiffen waren Bewährungsauflagen nicht eingehalten worden“ (Höfler 2019, 35).
„Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.“ (Hans Magnus Enzensberger, 1979, zit. in Reisemeisterei (2013))
Kreuzfahrten und ‚Overtourism‘
Definition ‚overtourism‘: „[E]ine feindliche Übernahme einer Stadt durch den Massentourismus“ (Deckstein 2019, 50).
>> „1950 gab es weltweit etwa 25 Millionen Reiseankünfte. Bis zum Jahr 2019 stieg diese Zahl bereits auf 1,5 Milliarden an“ (Schulz 2020, 14, basiert auf einer Quelle von Statista).
„Beim Kreuzfahrttourismus ist die lokale Wertschöpfung besonders gering, weil die Besuchenden weder Übernachtung vor Ort buchen noch Essen kaufen müssen und für Besichtigungen nur wenig Zeit haben. So bleibt etwa der Stadt Venedig nur der Müll, ihr Image wird angeschlagen. Die Folge: Die ausgabenfreudigen Einzel- oder Gruppenreisenden bleiben wegen der Menschenmassen weg“ (Groll 2019, 38-39).
Dubrovnik 2018
= mehr als 400 Kreuzfahrtschiffe (Deckstein 2019, 50)
>> Dubrovnik hat insgesamt – d.h. nicht nur die touristisch wahrgenommene Altstadt – etwa 42.000 Einwohner*innen, genau wie Pinneberg bei Hamburg. >> Immerhin: Ab 2021 sind in Dubrovnik die Landstromanlagen verpflichtend zu nutzen (ebd., 50) – dann sollte das doch auch in Hamburg gehen.)
„An den Ausflügen [z.B. nach Dubrovnik] verdient die Reederei mit. Diese Einnahmen werden immer wichtiger. Die Ticketpreise sind unter Druck, da muss an Bord mehr eingenommen werden. Das System heißt ‚captive pricing‘, der Passagier ist eine Art Gefangener an Bord, Konkurrenz gibt es nicht. Rund ein Viertel des Umsatzes wird so gemacht“ (Höfler 2019, 34).
Kreuzfahrten suggerieren den Reisenden Sicherheit: Man legt nur mal kurz an, hält sich aber die Probleme vom Hals, die entstehen könnten, wenn man beispielsweise in einer ägyptischen Hotelanlage bucht oder sogar individualtouristisch unterwegs ist.
„Das Fremde behält seinen Reiz, verliert aber seine Schrecken. Die Welt löst sich auf in gut geplante Landausflüge… Niemand muss Angst haben, er könne zwischendurch nicht auf eine ordentliche Toilette, die abendliche Rückkehr zum eigenen Zahnputzbecher ist garantiert, und gegen das Heimweh gibt es Hackbraten und deutsche Kuchen“ (Deckstein 2019, 46).
Kreuzfahrten und Ethik: Für eine Handvoll Dollar.
Zwischengedanke: „Merkt eigentlich noch irgendwer, wie absurd die Gleichzeitigkeit von Kreuzfahrten und Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer ist?“ (Deckstein 2019, 46)
„Harold … [ist] ein anonymer Arbeiter aus der Putzkolonne [des Mein Schiff 6], der für 2,82 Dollar Stundenlohn an sieben Tagen die Woche für die von Kreuzfahrtpassagieren hochgeschätzte Sauberkeit sorgt“ (Deckstein 2019, 46). „Harold verdient laut Vertrag 852 Dollar für 303,1 Stunden Arbeit im Monat.
[Vollarbeitszeit in Deutschland = 38,5h x 4 Wochen = 154 Arbeitsstunden minus bezahlten Urlaubstagen – der Mann arbeitet doppelt so lange, und über unbezahlte Überstunden haben wir da noch gar nicht gesprochen: Sein Leben besteht aus Arbeiten und Schlafen.]
Das sind 2,81 Dollar die Stunde bei zehn Stunden Arbeit pro Tag, sieben Tage die Woche. Überstunden sind damit abgegolten. Er sieht Frau und Kinder neun Monate am Stück nicht… Um mit seiner Familie zu kommunizieren, muss Harold an Bord Internetvolumen kaufen“ (ebd., 52-53).
Wunderbar, die Kreuzfahrtbranche schafft Arbeitsplätze: Zwischen 2015 und 2017 waren es mehr als 43.000 neue Jobs (ebd., 53) – wie viele davon sind wie der von Harold?
„Chhabis Vertrag läuft acht Monate. Sie arbeitet an sieben Tagen pro Woche jeweils zehn Stunden. Also über 240 Tage am Stück. Ihre erste Schicht beginnt um acht und endet um 16 Uhr. Abends dann noch einmal zwei Stunden… Chhabhi arbeitet rund 300 Stunden im Monat. Sie verdient 700 Dollar, also 2,33 pro Stunde. Kost und Logis sind frei“ (Höfler 2019, 33). Hinzu kommt in diesem Fall Trinkgeld, pro Monat etwa 400 Euro (vgl. ebd.).
„Kim aus der Wäscherei… wurde von der philippinischen Vermittlungsagentur Magsaysay auf den Job im Schiff vorbereitet. Dafür bekam die Agentur eine Vermittlungsgebühr von der Reederei. Die Gebühr holt sich die Reederei bei ihren Arbeitern wieder. Die Löhne beim ersten Heuervertrag sind entsprechend niedriger. Kim arbeitet zum zweiten Mal auf einem Aida-Schiff. Er verdient 2,70 Dollar in der Stunde. Trinkgelder bekommt er in seinem Job nicht. Die Hälfte seines Lohns schickt er seiner Familie. Er hat vier Geschwister. Eine Schwester studiert noch. Kim zahlt auch deren Ausbildung“ (Höfler 2019, 33).
„In der Zeit zwischen den Arbeitsverträgen sind Chhabi und Kim arbeitslos und ohne Krankenversicherung“ (ebd., 34).
500 Mb hat auf der Aida Nova jeder pro Monat frei fürs Internet (ebd., 2019, 34) – das ist wohl mehr als auf anderen Schiffen.
Lange Rede, kurzer Sinn:
„Die niedrigen Reisepreise sind nur möglich, weil Zehntausende Frauen und Männer acht oder zehn Monate am Stück für eine Handvoll Dollar arbeiten“ (ebd., 34).
Neben der Umgehung von Arbeitsschutzgesetzen und Mindestlöhnen hat die Ausflaggung auch massive steuerliche Gründe:
Kreuzfahrtentourismus als schwimmendes Steuerumgehungsmodell
„Vier Konzerne, Carnival Cruise, Royal Caribbean, Norwegian Cruise Line und MSC beherrschen mehr als 90 Prozent des Marktes. Sie erzielen zweistellige Umsatzrenditen, von denen andere Branchen nur träumen können“ (Deckstein 2019, 48, vgl. Höfler 2019, 30).
Aida Nova, Bordsprache = deutsch, ausgeflaggt nach Italien, Steuersitz der Carnival Corporation: Panama (vgl. Höfler 2019, 32)
„Alle seine [– Carnivals –] Schiffe, übrigens auch alle der Konkurrenz, fahren unter Billigflaggen“ (ebd.). „In Panama [, dem Carnival-Sitz,] werden … fast gar keine Steuern fällig. Laut Bilanz machte Carnival 2018 einen Umsatz von 18,8 Milliarden Dollar. Auf einen Gewinn von 3,2 Milliarden zahlte der Konzern läppische 1,68 Prozent Steuern. Das ist so gut wie brutto für netto“ (ebd., 32).
„Auf Schiffen von Aida weht am Heck die Flagge von Italien. Auch das hat Steuerspargründe. Statt Abgaben auf Gewinne zahlt Aida in Italien eine pauschale Tonnagesteuer. Für ein großes Kreuzfahrtschiff mit 360 Betriebstagen beträgt der ‚Tonnagegewinn‘ grob geschätzt 110.000 Euro, der zu einem sehr niedrigen Satz versteuert wird. Für alle anderen Einnahmen auf den Aida-Schiffen, die nicht unter die Tonnagesteuer fallen, wurden 2018 lediglich 4,8 Prozent Steuern gezahlt. Die grün-weiß-rote Fahne bringt noch einen weiteren geldwerten Vorteil: den sogenannten Lohnsteuereinbehalt. Das bedeutet: Auf dem Gehaltszettel wird der Crew Lohnsteuer abgezogen, die wird aber nicht an den Fiskus abgeführt, die Reederei darf das Geld behalten. Alles ganz legal. Das macht die Schiffe zu Gelddruckereien“ (ebd., 32).
„Betriebe [der Reisekonzern] TUI in Deutschland ein Hotel von der Größenordnung der ‚Mein Schiff 6‘, müsste der Touristikkonzern Einkommens-, Mehrwert- und Gewerbesteuer abführen, seinen Angestellten Sozial-, Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge zahlen, und er dürfte sie nicht unter dem Mindestlohn von 9,19 Euro [ab 1.1.2022 = 9,82 Euro] pro Stunde beschäftigen. Die Mitarbeiter hätten Anrecht auf Urlaub und einen Betriebsrat, der ihre Interessen vertritt. Auf hoher See gibt es solche Auflagen nicht“ (Deckstein 2019, 48).
Per ‚Ausflaggung‘ „werden Steuerzahlungen in Milliardenhöhe vermieden, und Angestellte können zu Arbeitsbedingungen wie in Sweatshops beschäftigt werden“ (Deckstein 2019, 48).
Quellen des Abschnitts Der ökologische Doppelschlag: Kreuzfahrten.
Deckstein, Dinah et al. (2019): „Massentourismus: Balkonien auf hoher See“. in: Der Spiegel. 33/2019, 10.8.2019, S. 44ff.
Groll, Stefanie (2019): Tourismus: Gute Ferien, schlechte Ferien“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD. S. 38-39, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Höfler, Norbert (2019): „Wir Kreuzfahrer“. in: Stern, Nr. 47, 21.11.2019, S. 26ff.
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen ... Ullstein.
Kreuzfahrt oder Enkel? Das ist hier die Frage? …ernsthaft???
https://youtu.be/UB5TVho53AA
ca. 4 min – Kroymann: „Ist das Ende noch abzuwenden?“ … Satire – nie war sie so wertvoll wie heute…
Wir müssen reden: über Klimawissenschaftsverweigerung.
Kaum jemand würde heute in Deutschland noch behaupten, dass es generell keinen menschengemachten Klimawandel gäbe.
Die neue, weit verbreitete Rückzugslinie lautet, dass man die Handlungserfordernis zwar sehe, aber nur zu Veränderungen bereit ist, wenn alles so weiter geht wie bisher (?????) – vielleicht auf Basis einer wachstumsbasierten Green Economy. Sie basiert auf dem Gedanken einer ‚einfachen Entkopplung‘, der relativen Entkopplung zwischen der Menge an Zerstörung und dem BIP-Wachstum. Der Gedanke dahinter: Produzieren wir mittels Innovation und Technologie mit weniger Naturverbrauch nachhaltige Produkte, können wir weiterhin wachsen ohne (übermäßig) zu zerstören – also weiter wie bisher konsumieren1. Dieser Effizienzgedanke ist m.E. eine Ausrede von Eintagsklimaschützer*innen: Denn das machen wir eigentlich schon seit der Nachkriegszeit: Unsere Produkte werden seither angeblich ständig besser, effizienter, umweltschonender, sparsamer, giftarmer etc. pp. Trotzdem nehmen Zerstörung und CO2-Emissionen immer weiter zu: Ein 50-jähriges Experiment, vollgepumpt mit Rebound-Effekten (vgl. S. 257f.), das uns an den Rand des Kollaps‘ gebracht hat, hat nunmehr als definitiv gescheitert angesehen zu werden.
Zur absoluten Entkopplung ist es trotz aller Verheißungen nie gekommen. Die hätte bedeutet, dass der Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen bei gleichzeitigem Wachstum tatsächlich in absoluten Zahlen geringer geworden wären.
>> vgl. Aspekt Die Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang, S. 392f.
Menschen, die Green Growth für bare Münze nehmen, sind m.E. nicht in der Realität angekommen2 und somit de facto Klimawissenschaftsverweiger*innen.
2 min – extra 3: „Der Klimawandel steht vor der Tür“, 2018
Klimawandel freundlich: „Oh hallo, ich wollt‘ mich mal kurz vorstellen!“ Nachbar den leibhaft vor ihm steheden Gesprächspartner übersehend, ins Handy sprechend: „Hallo!“ Klimawandel: „Ja , ich bin der Klimawandel und ich wohn‘ direkt nebenan.“ Nachbar: „Mensch, schön, dass Du anrufst, Ja. Hab‘ mir n‘ neues Auto gekauft. SUV. 500 PS. Voll geil“…
Ihnen ist eigen, dass sie zwar jeder ihrer Ausführungen vorausschicken, dass wir uns in einer menschengemachten (anthropogenen) Klimakrise befinden und sehen, dass „etwas passieren muss“ – aber dann mit jedem ihrer nachfolgenden Sätze ausschließlich die angebliche Unmöglichkeit von Veränderungen betonen.3
Der Begriff ‚Verweiger*innen‘ deutet dabei an, dass die Erkenntnisse der Klimaforschung zwar bis zu einem gewissen Grad gesehen, aber nicht ausreichend ernst genommen werden, sodass die Priorität auf einem ‚Weiter so‘ liegt. (Das sechste Massenaussterben wird derweil i.d.R. komplett unterschlagen.)
Dieses ‚nicht ausreichend ernstnehmen‘ fundierter Wissenschaft ist m.E. wunderlich.
Hans Rosling zu der Verweigerung gegenüber unangenehmen wissenschaftlichen Fakten:
„[F]ragen Sie sich…: ‚Welche Art von Beweis könnte mich davon überzeugen, meine Meinung zu ändern?‘ Wenn die Antwort lautet ‚Es ist kein Beweis denkbar, der mich von meiner ablehnenden Haltung [z.B.] zur Impfung abbringen könnte‘, dann stellen Sie sich außerhalb der faktengestützten Vernunft, außerhalb des kritischen Denkens, dass Sie ja ursprünglich zu dieser Haltung gebracht hat. In diesem Fall, wenn Sie Ihre skeptische Haltung zur Wissenschaft konsequent beibehalten wollen, sollten Sie das nächste Mal, wenn Ihnen eine Operation bevorsteht, Ihrer Chirurgin sagen, dass sie sich das Händewaschen auch ruhig sparen kann“ (2018, 145).
Also:
Wir leben den ganzen Tag auf Basis von Wissenschaft. Unser gesamter Lifestyle, unser Essen, unser Smartphone, unsere Zahnkronen, das Internet, die Bremsgurte in unseren Autos – der Fahrstuhl, in den wir ohne zu zögern steigen –, unser Strom für Alles, der beschichtete Milch-Tetra-Pack, ja, auch unser zuverlässig-sauberes Trinkwasser aus dem Wasserhahn – was auch immer: All das existiert heute, so wie es ist, ausschließlich auf der Basis von jüngeren und älteren (natur-)wissenschaftlichen Forschungen.
Und wenn dann die so hilfreiche Wissenschaft auf eine allzu „unbequeme Wahrheit“ (à la Al Gore) aufmerksam macht, dann wird gemauert4.
Dann heißt es „Ich finde xy wichtig und richtig, aber…“
Dazu Bernd Ulrich in der Zeit:
„[D]ie Abers sind der Schutzwall gegen eine Veränderung, die rhetorisch so bereitwillig begrüßt wird“ (2019a, 1).
Allgemein bevorzugen wir doch das Vorsorgeprinzip, oder? In diesem Fall nicht: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf…
Liegt die Priorität auf einem ‚Weiter so‘, läuft es gewöhnlich wie folgt:
Jeglicher vorgebrachter Lösungsansatz wird reflexartig mit pauschalen Glaubenssatz5-artigen (Schein-)Argumenten wie
„Arbeitsplätze“ | „Wachstum“ | „Verbote“ | „Verzicht“ | „Die Anderen“ | „Die Chinesen“ | „Was kann ich schon tun“ | „Umweltschutz muss man sich leisten können“6 | „Die Natur des Menschen“ | „Das ist ja Sozialismus“ | „Wenn es nach den Grünen geht, leben wir bald wieder in Baumhäusern“ etc. pp. pp. pp.
abgewatscht:
„Wer etwas will findet Wege – wer nicht will, findet Gründe.“
Nach Albert Camus. Auch dem Gründer von dm, Götz Werner, im Zusammenhang mit dem ‚Bedingungslosen Grundeinkommen‘ (BGE) zugeschrieben.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (6)
1 So setzt Lego verstärkt auf pflanzliche Rohstoffe, konkret auf Polyethylen, „das aus Zuckerrohr gewonnen wird. Für dessen Anbau seien große Flächen nötig, auf denen besser Nahrungsmittel angebaut werde könnten“ zitiert die taz Sandra Schötter von Greenpeace. Und weiter: „Nur weil ein Kunststoff aus einer organisch nachwachsenden Rohstoffquelle gewonnen wird, heißt das nicht, dass er biologisch abbaubar und damit auch besser für die Umwelt ist“ (taz 2018).
2 Man mache sich klar, dass für weitere 50 Jahre der Green Growth-Versuche keine Zeit mehr ist.
3 Ina Soetebeer hat dankenswerterweise die Diskurse der Teilnehmer*innen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags ‚Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität‘ (Schlussbericht 2013) untersucht und vier grundlegende Argumentationslinien von Menschen, die über Klimaschutz und Nachhaltigkeit diskutieren, herausgearbeitet: Dabei ergeben sich folgende ‚Diskurspfade‘. 1. der Global-Pioneering-Diskurs = Technologie und Markt als Problemlöser, Natur notfalls ersetzbar (vgl. ‚Roboterbienen‘, S. 455), keine nationalen Alleingänge wg. Firmenabwanderung | 2. der Green-Germany-Diskurs = technologiegläubig, aber Wachstumsgrenzen sehend und aufs Vorsorgeprinzip bedacht; Vorangehen schafft Innovation, der andere Länder folgen | 3. Der Suffizienz-basierteDiskurs fokussiert auf das ‚gute Leben‘, zu viel Produktion, zu viel Konsum, Reboundeffekte, Naturverträglichkeit, sieht Lücke zwischen Intention u. Handlung bei Menschen, Politik hat sich daher in Lebensstilfragen einzumischen | 4. Der Global Environmental and Social Justice–Diskurs konzentriert sich auf globaleUmweltgerechtigkeit, Stichwörter: Solawi, Regionalität, Tauschwirtschaft, „prangert eine systematische Externalisierung von Problemen auf marginalisierte Schichten und den globalen Süden an“ (Soetebeer 2015). (vgl. Aspekt Lobbyismusstrategien S. 401)
4 Diese Wissenschaftsfeindlichkeit und Realitätsverweigerung hat sich sogar bei der viel unmittelbareren Corona-Krise vielfach bemerkbar gemacht, man denke dazu an Äußerungen von Bolsonaro oder des 45. US-Präsidenten, an die vielen verharmlosenden Fake News sowie an das verantwortungslose Verhalten vieler Bürger*innen gerade am Beginn der Pandemie z.B. durch das Abfeiern von sog. ‚Corona-Partys‘.
5 Def. ‚Glaubenssatz‘: Dogma, eine Aussage bzw. Grundannahme, deren Wahrheitsgehalt als unumstößlich betrachtet wird, daher weder hinterfragt wird, noch einer Begründung bedarf. Häufig wird ein Glaubenssatz qua Sozialisation und kollektivem Narrativ intuitiv übernommen. Glaubenssätze können z.B. in religiösen, gesellschaftlichen u. familiären Lebensbereichen entstehen.
6 Ein Zwischengedanke: Das Klima nicht schützen zu müssen, muss man sich leisten können – und das können wir nicht.
Die Anführung von Systemzwängen wird ebenfalls gern und oft als Mittel genutzt, um die Unabänderlichkeit der derzeitigen Situation zu untermauern. Dazu hält Niko Paech fest:
„Systemzwänge werden oft willkürlich vorgeschoben, um die Folgen eigener Handlungen nicht verantworten zu müssen. … Vermeintliche Systemzwänge verhüllen zumeist eine bestimmte ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘-Logik. Somit leiten sich die behaupteten Zwänge aus bestimmten Ansprüchen ab. Diese wären aber dahingehend zu reflektieren, wie gerechtfertigt sie gegenüber übergeordneten Interessen sein können“ (Folkers/Paech 2020, 18).
Harald Welzer hebt die Absurdität der angeblichen Alternativlosigkeit hervor:
„Aber es herrscht kein Krieg in Deutschland, keine Gewaltherrschaft. Es gibt kein Erdbeben, keine Überschwemmung. Kein Hurrikan bedroht unsere Existenz, und trotzdem behaupten die meisten Leute sie hätten keine Wahl“ – und konstatiert: „Das ist eine ziemlich arrogante Mitteilung, wenn man das Privileg hat, in einer freien und reichen Gesellschaft zu leben, aber das fällt nicht weiter auf, wenn alle so etwas sagen“ (2016, 16-17).
Postulierte Alternativlosigkeit ist des Weiteren ein politisches und rhetorisches Mittel zur Durchsetzung der eigenen Agenda.1
… oder es läuft so:
Die/der Klimawissenschaftsverweiger*in serviert etwas als Totschlagargument ohne sachliche Begründung. Eine solche Kostprobe für einen Wähler-anbiedernden unsachlichen Glaubenssatz liefert der ehemalige Bundesumweltminister2 und jetzige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier: „Klimaschutz kann nicht auf Kosten von Wohlstand und Arbeitsplätzen gehen“ (Amann/Traufetter 2019)3 – womit er m.E. ruinös an seinem Nicht-Nachruhm arbeitet.4
Der wahrscheinlich wichtigste Spiegel-Redakteur in Sachen Klimaschutz, Christian Stöcker, konstatiert in diesem Zusammenhang:
„Bislang besteht Altmaiers Traumziel augenscheinlich aus einer Regulierung, die den Klimawandel stoppt, aber keinerlei strukturelle Veränderungen herbeiführt. Das ist selbst für Kinder als Wunschdenken zu erkennen“ (2019b).
Ich bin der Auffassung, dass einem Bundeswirtschaftsminister Wunschdenken nicht zu steht.
Diese als Wahrheit verkaufte Behauptung kann – da wir hier von einem hochintelligenten belesenen und zudem von einem Beraterteam umgebenen Menschen reden – m.E. nicht anders verstanden werden als eine bewusste Lüge. Die Altmaier’sche Formel ist eine bloße Behauptung, die die „blühenden Landschaften“ eines Helmut Kohl und die „sicheren Renten“ eines Norbert Blühm wie harmlose Bonmots erscheinen lässt: Hier ist davon auszugehen, dass es um eine gezielte Irreführung der Bevölkerung geht, die angesichts der Dimensionen der Klimakrise (bei gleichzeitiger Unterschlagung des sechsten Massenaussterbens) aus meiner Sicht gemeingefährlich ist und die – weil Peter Altmaier eine Äußerung mit potenziell derart weitreichenden Folgen nicht zusteht, m.E. Amtsmissbrauch nahelegt.
Wobei festzuhalten ist, dass Peter Altmaier damit lediglich in klare Worte fasst, was von den vormaligen Volksparteien zzgl. FDP seit Jahren vehement vertreten wird. Sich selbst und den Bürger*innen nicht die Dimension und Dringlichkeit der Biodiversitäts- und Klimakrise einzugestehen, bedeutet am Ende faktisch nichts anderes als die Verweigerung von wissenschaftlichen Tatsachen und eine Verweigerung von zukunftsgeeigneter Realpolitik.
Letztlich wollten die allermeisten Bürger*innen diese unbequeme Wahrheit bis etwa ‚Ein Jahr seit Greta Thunberg‘ aber auch so gar nicht hören. Und auch jetzt sind es noch viel zu viele.5
Hier haben in den letzten 20, 30 Jahren quasi alle Menschen des Establishment gemeinsame Sache gemacht… – ein unausgesprochenes Abkommen, nicht so genau hinzusehen nach dem Motto:
„Wenn Du nichts sagst, sag‘ ich auch nichts“ –
Eine Art jahrelange Vogel-Strauss-Kopf-in-den-Sand-Laisser-faire-Komplizenschaft des ‚Weiter so‘.
Auf Kosten der jungen Generationen und künftiger Nachfahren sowie des Globalen Südens.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (5)
1 Gerne werden an dieser Stelle auch die ‚roten Socken‘ herausgeholt und behauptet, Kommunismus/Sozialismus sei die einzige gescheiterte und daher undenkbare Alternative zum Kapitalismus. Luisa Neubauer bringt es auf den Punkt: „Wenn jemand sagt ‚Kapitalismus überwinden‘, brüllen ihm andere entgegen: ‚Nein! Die DDR, Nordkorea – auf gar keinen Fall!‘ Was für eine absurde, einfallslose Vorstellung von Alternativen zum jetzigen System“ (2019b).
2 Mai 2012 bis Dezember 2013. War mir vollkommen entfallen. Zuweilen ist es erstaunlich, wie Politiker*innen die teilweise inhaltlich weit auseinander liegenden Ressorts wechseln. Das kann gut laufen – zuweilen macht sich dennoch der Eindruck breit, es handele sich bei Politiker*innen um Universal-Dilettant*innen.
3 Einer der Vorgänger von Altmaier, Wolfgang Clement, nachfolgend Lobbyist als Kuratoriumsvorsitzender der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), erklärte noch 2010: „Klimaschutz steht unter Wachstumsvorbehalt.“ (zit. in Neumann 2012, 10).
4 Kurz vor Redaktionsschluss ändert Altmaier seine Wortwahl und konstatiert angesichts des enormen Handlungsdrucks (vgl. 2020b, 4): „Wir brauchen deshalb eine Klimagarantie und eine Wirtschaftsgarantie“ (2020a). Obgleich seine Analyse der Situation mit der wichtigen Ausnahme der Einschätzung des verbleibenden Zeitfensters überwiegend zutreffend ist (vgl. 2020b, 4), ist seine Folgerung, Klimaschutz und Wirtschaft müssten sich versöhnen, nicht per se falsch, aber der Dringlichkeit und Dimension der Krise nicht angemessen. Das sechste Massenaussterben hat er bedauerlicherweise offensichtlich gar nicht auf der Pfanne.
5 Wie oft habe ich in den letzten Jahren in große, leere Augen geblickt, wenn das Thema ‚Klimakrise‘ ins Spiel kam? Die Songwriterin und Poetin Anne Clark dazu: „[W]eil wir so überwältigt sind vom Konsum von Klamotten, Essen, billigem Schrott, weil wir so stark damit bombardiert werden, ist es schwer, echte Leidenschaften zu entwickeln. Wir leben in einer ‚All you can eat‘-Gesellschaft‘“ (zit. in Zylka 2018). Mit anderen Worten: Wir sind satt – und wer satt ist von Brot & Spielen – das wussten schon Cäsar & Co –, zettelt keine Revolution an. Hagen Rether 2010: „So kriegt halt man ein Volk ruhig gestellt mit Billigflügen und Fleisch. Früher hieß das ‚Brot und Spiele‘ – heute heißt das Fleisch und Fliegen“. Und tatsächlich hängen viele von uns übersättigt zumindest mental dauerhaft im Liegestuhl – vgl. dazu auch ‚Wall-E‘, dem vielleicht wahrhaftigsten Film, den Disney je produziert hat. Für die offizielle Zielgrupe mag der Film sich 2008 wie Science Fiction angefühlt haben (das erste iPhone war zu diesem Zeitpunkt erst wenige Monate auf dem Markt) – aber, mal ehrlich – sind wir da nicht schon im Prinzip bereits angekommen? – siehe Filmausschnitt Fitless Humans https://www.youtube.com/watch?v=s-kdRdzxdZQ (Abrufdatum 4.6.2020).
Deswegen ist es auch richtig, wenn die Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer im Spiegel feststellt:
„Meine Generation wurde betrogen.“ (Amann/Traufetter 2019)
Rezo (2019a): „Die Zerstörung der CDU“. in: Youtube.de, 18.5.2019, Min 54f., online unter www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ/ (Abrufdatum 24.6.2019)
„Betrogen“ ist angesichts der potenziellen Folgen ein m.E. viel zu vornehmes Wort – Rezo hebt in diesem Zusammenhang in seinem YouTube-Video „Die Zerstörung der CDU“ hervor, dass Eltern und Großeltern doch i.d.R. an ihrem Nachwuchs interessiert sind – er findet, junge Menschen sollten auf ihre (Groß-)Eltern einwirken, um beim Klimaschutz voranzukommen:
„Denn Eltern und Großeltern ist nichts im Herzen wichtiger als sicherzustellen, dass ihre Kinder und Enkel in einer sicheren Welt leben und kein beschissenes Leben haben“ (2019a, Min 54f.)
Diesen Satz belegt der sonst so beeindruckend gute Quellenarbeit betreibende Rezo nicht.
Rezos unbelegter Annahme widersprechend hält Greta Thunberg 2018 in Kattowice fest:
Thunberg, Greta (2018): „Greta Thunberg addressed the COP24 plenary session December 12th“. in: Youtube.com, 14.12.2018, online unter https://www.youtube.com/watch?v=Z1znxp8b65E (Abrufdatum 11.5.2020)
„You say you love your children above all else and yet you are stealing their future in front of their very eyes.“
Mein persönlicher Eindruck ist, dass diese Rentner*innen-Generation viel zu sehr mit der Planung der nächsten Kreuzfahrt beschäftigt ist, um sich auch noch über so etwas Gedanken zu machen.
Oder: Die Großeltern sind auf Kreuzfahrt – statt auf dem Kreuzzug zugunsten ihrer Enkel*innen.
Ok, das war jetzt sarkastisch und pauschalisierend.
Zweifellos richtig ist:
Faktisch handelt es sich es beim derzeitigen Klima-Versagen von deutschen Politiker*innen und von uns Erwachsenen um die
Einseitige Kündigung des Generationenvertrages
Dieser war/ist dem Mensch-sein seit Jahrtausenden zutiefst eingeschrieben und besagt(e) sinngemäß:
Die Altvorderen kämpfen dafür, dass es den Kindern und Enkel*innen einmal besser gehen wird als ihnen;
Die Kinder der Altvorderen bezahlen (heute) via Sozialsystem indirekt die Rente der Alten und unterstützen Eltern und Großeltern im Alter bei der Bewältigung des Alltags.
Stattdessen demontiert die Politik – m.E. Grundgesetz-widrig, vgl.
GG Art. 2 „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“
GG Art. 20a „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“1
die Lebensgrundlagen der jungen und der kommenden Generationen („Recht auf Zukunft“).
Und, im Ernst, wir sog. Erwachsenen machen kollektiv mit, nach dem Motto:
„Urlaub war uns wichtiger als eure Zukunft, sorry.“
… und reden uns die Welt schön.
gl. Baumann 2017, s.a. den m.E. beeindruckenden, 6-minütigen Videoclip von Prince Ea: „Dear Future Generations: Sorry“, online unter https://www.youtube.com/watch?v=eRLJscAlk1M (Abrufdatum 20.6.2020)
>> vgl. Baumann 2017, s.a. den m.E. beeindruckenden, 6-minütigen Videoclip von Prince Ea: „Dear Future Generations: Sorry“, online unter https://www.youtube.com/watch?v=eRLJscAlk1M (Abrufdatum 20.6.2020)
Und so könnte die Aussage weitergehen:
„Urlaub war uns nicht nur wichtiger als unsere Enkel*innen – wir haben unsdenFlug-Kreuzfahrt-Malediven-3xMalle-Urlaub sowie den gesamten alltäglichen Luxus-Überfluss nach Meinung vieler ach so hart arbeitender Bundesbürger*innen auch wirklich verdient.“
Das möchte ich explizit in Frage stellen – ausdrücklich mit Ausnahme der Menschen in Deutschland, die in Pflegeberufen und/oder im Niedriglohnsektor tätig sind, alleinerziehend durch alle Raster fallen und/oder mehr oder weniger Vollzeit arbeiten und trotzdem Hartz-IV-Aufstocker*innen sein müssen.
Für alle Anderen gilt meines Erachtens:
Egal, was und wie viel wir arbeiten, wir Erste-Welt-Schnösel, wir arbeiten nicht hart. Das können wir komplett vergessen. Der Minenarbeiter im Congo, der arbeitet hart. Er riskiert Kopf und Kragen – damit seine Kinder heute, nach drei Tagen, mal wieder etwas zu essen bekommen. Er arbeitet hart für die ‚seltenen Erden‘ Ihres Smartphones, ebenso wie der arme Mensch, der in Asien unser Smartphone unter sklavenähnlichen Bedingungen zusammenschraubt und seine Familie seit einem 3/4 Jahr nicht gesehen hat – wir haben mutmaßlich nur im Büro gesessen, einige E-Mails verzapft, uns ’ne Currywurst reingepfiffen und auf ein paar Sitzungen rumgegähnt.
Und falls Sie, werte*r Leser*in, darüber hinaus zu den wirklichen Spitzenverdienern gehören und sich immer noch einbilden, dass Sie verdient haben, was Sie monatlich aufs Konto überwiesen bekommen: Vergessen Sie auch das – Ihr Gehalt steht definitiv in keinem Verhältnis zu Ihrer Leistung: Niemand ist in der Lage, einen Arbeitsgegenwert von, sagen wir, +80.000 Euro jährlich zu erbringen.
Warum Sie trotzdem so viel ‚verdienen‘? Nun, ich vermute: Es ist Schmerzensgeld. Wie geht es Ihnen wirklich?
Ich nehme des Weiteren wahr, dass viele Menschen auf ihre Rente hin leben. So manche*r Arbeitnehmer*in fängt schon Jahre vor Renteneintritt an, die Tage im Kalender Tag für Tag abzustreichen und macht nur noch DnV (‚Dienst nach Vorschrift‘). Edgar Reitz legt Otto Wohleben in seinem Sechzehnstundenfilm „Heimat“ (1984) die Worte in den Mund „Zeittotschlagen ist Mord“. Nun kann man sich Gedanken machen, wie es um Deutschlands Arbeitswelt bestellt ist, wenn Menschen nichts lieber wollen, als ihr zu entfliehen. Viele Menschen verschieben also ihr Leben ‚auf später‘ – z.B. auf die Zeit der Rente. Und dann soll es losgehen, man hat es sich schließlich mindestens psychologisch hart erarbeitet und lange drauf gewartet. Aus diesem mühsam errungenen Renteneintritt wird nun latent ein Respekt für die Lebensleistung erwartet und daneben unausgesprochen (Gewohnheits-)Rechte abgeleitet, in Form eines „Etabliertenrechts“, dass sich häufig darin äußert nun das Recht zu haben die Welt zu bereisen. Pardon, es gibt kein Etabliertenrecht. Wohl aber die Pflicht gegenüber den Nachkommen, den Planeten so zu hinterlassen, wie man ihn vorgefunden hat.
PS: Pflegeberufe sind in Deutschland aufgrund extrem mieser Arbeitsbedingungen, völlig unangebrachter Niedriglohn-Bezahlung sowie mangels gesellschaftlicher Anerkennung wirklich harte Arbeit.
Ich vertrete die Auffassung, dass die (finanzielle) Wertigkeit von Berufen um 180° auf den Kopf zu stellen ist. Wir brauchen z.B. mehr hochqualifiziertes und daher auch: gut bezahltes Personal u.a. in Erzieherberufen, denn ihre Arbeit trägt maßgeblich zu unserer Zukunft und Innovationsfähigkeit bei.
Und ich bin mir sicher, dass wir – bezogen auf ‚grenzenlose‘ Spitzenverdiener*innen –, keinem Menschen der Welt einen Gefallen tun, wenn sie/er ein (eigentlich) nicht-ausgebbares Gehalt erhält. Damit hält sie/er einfach zu viel Macht in ihren/seinen Händen, Macht, mit der die Meisten m.E. nicht umgehen können.
„Corona-Update März 2020“: Geradezu grotesk erscheint, welche Berufe sich nunmehr als allgemein anerkannt „systemrelevant“ herausstellen. Schön drückt es der Anthropologe, Kapitalismuskritiker und Autor des Buches ‚Bullshit Jobs‘ David Graeber aus:
„Hier in Großbritannien hat die Regierung eine Liste zusammengestellt mit den systemrelevanten Berufen – wer in denen arbeitet, darf weiterhin seine Kinder in die Schule schicken, wo sie betreut werden. Die Liste besticht durch die erstaunliche Abwesenheit von Unternehmensberatern und Hedgefondsmanagern! Die, die am meisten verdienen, tauchen da nicht auf. Grundsätzlich gilt die Regel: Je nützlicher ein Job, desto schlechter ist er bezahlt. Eine Ausnahme sind natürlich Ärzte“ (2020).
Mit der Wahrnehmung der Aufkündigung des Generationsvertrages stehe ich keineswegs alleine da, sodass Bürger*innen, Wissenschaftler*innen und Prominente im Jahre 2013 das Generationen-Manifest ins Leben gerufen und unterzeichnet haben. Sie fordern in zehn Punkten z.B. die Abwendung der Klimakrise, die Einführung des Verursacherprinzips, ein Mehr an Gerechtigkeit im Allgemeinen und die Aufnahme von Generationengerechtigkeit ins Grundgesetz im Besonderen (vgl. Lesch/Kamphausen 2018, 347f.).
Der Scientists for Future-Mitbegründer Gregor Hagedorn sieht ebenfalls einen großen Mangel an Generationengerechtigkeit:
„[L]eider haben wir den Großteil unseres jetzigen Luxus eben nicht selbst erarbeitet. Sondern wir plündern die Konten unserer Kinder“ (2020, 11).
Und, im Bild zu bleiben: Und wir haben auch noch zusätzlich Kredite in nicht zu beziffernder Höhe bei den Menschen des Globalen Südens und deren Nachfahren aufgenommen – und bestimmen die Spielregeln in einer Art, die es so aussehen lässt, als ob die Länder des Globalen Süden hochverschuldet wären. Sind sie das?
Kinder haften für Ihre Eltern? – 3min – extra 3: „Märchenstunde mit Klimawandel, 2019
Drastisch – aber ich fürchte, ohne Übertreibung – kann man diese Form des Lebens auf Kosten der Zukunft als diskriminierenden Generationen-Imperialismus bezeichnen, was letztlich folgendes umschreibt: Die gegenwärtig lebenden Entscheider*innen-Generationen führen einen Krieg gegen absolut wehrlose Menschen, die unsere eigenen Nachkommen sind.
In diesem Sinne auch Harald Welzer:
Die „Privilegiensicherung … [ist zum] einzigen Inhalt [von Politik] geworden. Man kann das als Diktatur der Gegenwart auf Kosten der Zukunft bezeichnen“ (2016, 131).
Das alles ist schon erstaunlich, was da derzeit passiert, denn an sich hat Rezo ja bezogen auf die vorherigen Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende durchaus recht: Dieser Generationenvertrag ist eigentlich quasi so alt wie die Menschheit und hat immer gegolten – bis jetzt:
„[E]iner der wichtigsten Sinngeber [für Menschen ist,] die sogenannte Generativität[, also] … das Bemühen,… etwas an andere Generationen weiterzugeben und zum ‚großen Ganzen‘ beizutragen“ (Schnabel 2018, 192).2
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 GG 20a wurde am 27.1.20.1994 in das Grundgesetz aufgenommen und am 26.7.2002 um die Worte „und die Tiere“ ergänzt. Da geht noch mehr: Bolivien und Ecuador haben die ‚Rechte der Mutter Erde‘ in ihren Gesetzen verankert. Art. 72 der Verfassung von Ecuador erhebt seit 2008 „‚Mutter Erde‘ erstmals zum Rechtssubjekt. ‚Pachamama, in der sich das Leben verwirklicht und realisiert, hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden‘… Und: ‚Jede Person, Gemeinschaft, Volk oder Nationalität [kann] die zuständige öffentliche Autorität dazu auffordern, die Rechte der Natur umzusetzen‘“ (zit. in Prinz 2018).
2 „Generativität … hat mit dem Gefühl zu tun, sich in einen größeren Zusammenhang eingebunden zu fühlen, der das eigene begrenzte Leben überschreitet und der damit die individuelle Existenz mit Sinn erfüllt – über den Tod hinaus“ (Schnabel 2018, 192); vgl. dazu Abschnitt Menschen sind soziale Wesen – und wollen vor allem eines: Sinnstiftung und Anerkennung, S. 386).
Da ist schon die folgende Frage aufzuwerfen:
Was ist heute so anders, dass ein, zwei Elterngenerationen kollektiv die eigenen Kinder und Nachkommen im Stich lassen?
In den 80ern gingen Diejenigen, die darüber gelesen hatten, davon aus, Erderwärmung sei etwas, womit eventuell mal späte Nachfahren umzugehen hätten. Wir bekämpften den sauren Regen.
In den 1990ern dachten Wir, Klimawandel ist etwas Theoretisches, dass am fernen Horizont wohl unsere Urenkel treffen könnte. Wir kauften FCKW-freie Kühlschränke, tanzten durch die Nacht und stiegen ins Flugzeug nach Mallorca.
In den Nuller Jahren flogen die Meisten nach Asien, Mallorca und Ägypten.
In der ersten Hälfte der 2010er Jahre erfassten Viele von uns, dass der Klimawandel tatsächlich menschengemacht ist und unsere Enkel betreffen wird. Zugunsten unserer Kinder schrieben wir die ’schwarze Null‘, kauften Biogemüse und zeigten ihnen das Great Barrier Reef.
In der zweiten Hälfte desselben Jahrzehnts wurde Manchen klar, dass die Klimakrise unsere Kinder betrifft. Wir forderten eine Enkeltaugliche Politik – und unternahmen… einiges, z.B. Zubringerflüge in die Südsee, um von dort aus auf Kreuzfahrt zu gehen.
Jetzt, um das Jahr 2022, lassen zu Wenige von uns die Erkenntnis zu, dass die Doppelkrise ‚Klima/Massenaussterben‘ uns selbst trifft und gemeinsam mit uns auch unsere Kinder, Enkel*innen, Urenkel*innenund alle weiteren Nachfahren. Wir verbieten erfolgreich Plastiktüten und Ohrstäbchen, wir steigen in unseren SUV und wir fordern z u g u n s t e n u n s e r e r G e n e r a t i o n – als Grundvoraussetzung für Vorgespräche über mögliche Verhandlungen zu weiterem Arten- und Klimaschutz – die unabdingbare ‚Sozialverträglichkeit‘ aller künftig eventuell einzuführenden Minimalreformen. Denn, und das wird ja noch mal sagen dürfen: Ohne Generationengerechtigkeit kann es keinen Klimaschutz geben.
Luisa Neubauer – deren Satz, dass ihre Generation betrogen wurde, ich vor einigen Seiten als zu vornehm ausgedrückt empfunden habe – legt in ihrem mit Alexander Repenning verfassten Buch noch einmal nach:
„Wir sollten … [unseren Eltern und deren Generationsgenoss*innen] erklären, dass sie nicht gut genug auf die Welt aufgepasst haben, ihnen deutlich machen, dass ihre Hoffnung, es werde ihren Kindern besser gehen als ihnen selbst, zerplatzen wird, wenn sie nicht Teil eines radikalen Wandels werden. Sie müssen verstehen, dass sie uns ins offene Messer laufen lassen, wenn sie jetzt nicht aufwachen“ (2019, 33).
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Exkurs „[ü]ber die sinkende Bereitschaft, Tatsachen noch von Meinungen zu unterscheiden“ (Haaf 2020, 55) Definitionen Klimawissenschaftsverweigerer*in & Co:
>Leugner*in – keine Ausführungen erforderlich.
>Verweiger*in – akzeptiert wissenschaftliche Befunde, argumentiert oberflächlich, dass Handlungserfordernis besteht, akzeptiert keinen Vorschlag oder Lösungsansatz als geeignet, ist nicht bereit Einschränkungen hinzunehmen – verweigert sich also im Ergebnis am Ende doch, Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ziehen.
>Relativierer*in – betreibt eine mildere Form von Verweigerung; lässt sich jedoch nicht auf die ganze Wahrheit ein.
Wie hoch mag der Anteil der Deutschen sein, die die wissenschaftlichen Befunde vorbehaltlos akzeptieren und aktiv eine Lösung der Krise anstreben?
Denn daneben gibt es noch die
> Fatalist*in bzw. Evolutionist*in – sie geben die Menschheit verloren – Manche finden das schlimm, Andere zucken mit den Schultern – bis hin zu der Position der Antinatalist*innen, die lieber nicht geboren wären bzw. das mögliche Aussterben der Menschheit begrüßen.
Wer diese Position ernsthaft vertritt: Ok.
Aber ich denke, dass es eine ganze Reihe von Menschen gibt, die sich hinter dieser „Evolutions“-Position verstecken, weil sie bequem sein kann, psychologisch entlastend wirkt und ggf. zügellosen Hedonismus ermöglicht. Und das finde ich für meinen Teil nicht komisch, insbesondere dann, wenn diese Position von Eltern oder Großeltern vertreten wird: Wer Kinder in die Welt gesetzt hat, hat – im Rahmen ihrer/seiner persönlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten – für sie einzustehen.
> Und dann gibt es noch Menschen, die sich – insbesondere im rechten Spektrum – aus der Gesellschaft zurückziehen und sich auf die Klimakatastrophe vorbereiten, sog. Preppers, siehe dazu: Grassegger, Hannes (2019): „Von der Klima-Angst radikalisiert“, online unter https://mobile2.12app.ch/articles/20641537 (Abrufdatum 25.7.2019)
Dreams are my reality / The only kind of real fantasy / Illusions are a common thing / I try to live in dreams / It seems as if it’s meant to be. (Aus „La Boum“ (1980) – dem Film der Susi-Sorglos-Generation)
Ausreden, Ablenkungsmanöver und Ersatzdebatten: Die Zeit des ‚Aberns‘ ist vorbei
„Es ist eine Basisregel der Konfliktkommunikation, dass alles, was vor einem ‚aber‘ gesagt wird, nicht ernst gemeint ist.“ Michael Hengstenberg, 2019
Auch wenn es auch heute noch viele Klimawissenschaftsverweiger*innen gibt, so ist doch festzustellen, dass weit mehr Menschen eine etwas mildere Form der Klimawissenschaftsverweigerung betreiben und somit als ‚Klimakrisen-Relativierer*innen‘ zu bezeichnen sind:
Meines Erachtens sind in weiten Teilen der Bevölkerung bzgl. der Dringlichkeit und Dimension der Klimakrise ständig präsent und äußerst beliebt Ausreden und vor allem Ablenkungsmanöver in Form von Ersatzdebatten, beispielsweise:
Streiken statt Pauken – ändert die Generation Greta die Politik Anne Will, 31.3.2019, die Folge mit Greta Thunberg, der Fridays for Future-Aktivistin Therese Kah, Harald Lesch und Robert Habeck, als Habeck und Lesch über Fridays for Future bzw. die Schulpflicht sprechen.
Das einseitige Festklammern an einer Diskussion über vermeintliches Schulschwänzen (Ende 2018 bis ca. Frühjahr 2019):
Hier handelt es sich angesichts der dringenden Handlungserfordernisse schlicht um Notwehr und um zivilen Ungehorsam, die/der angesichts der vollkommen absurden Verweigerung der Regierung absolut gerechtfertigt ist.
(Selbst wenn diese Sachverhalte so nicht exakt im BGB etc. festgeschrieben sein werden: Die Biodiversitäts- und Klimakrise ist eine so noch nie dagewesene Bedrohung, die logischerweise auch ggf. neue juristische Sachverhalte schafft.)
Auch Harald Lesch verlautbarte bei Anne Will,
„dass die Demonstrationen [von Fridays for Future & Co] noch viel intensiver werden müssen“ – die Schulpflicht hält er in dem Zusammenhang im Vergleich zu der Bedrohung die der Klimawandel „für unerheblich“ (Anne Will 2019).
Das (seit langem beliebte) starre, beharrende Verweisen auf die (inhaltlich natürlich nicht falsche) Vielfliegerei von Jugendlichen:
Hier geht es in erster Linie um das Zeigen mit dem Finger auf andere, besonders dann, wenn sie sich nicht so edel verhalten, wie das ihre Kritiker*innen ‚erwarten‘. Die eigene Nase wird dabei lieber nicht angefasst (vgl. ‚Argumentum ad hominem‘ S. 19 u. 213).
Im Übrigen sind diese Jugendlichen von der Generation, die ihr das vorwirft, erzogen worden – und möglicherweise wird die Vielfliegerei auch gar nicht so selten von den Eltern finanziert (oder die Kinder/Jugendlichen ‚müssen‘ mit in die Ferien)?
Und, wenn man es sich mal genauer überlegt, wie pervers ist das denn? – Wir, bzw. viele von uns ‚Alten‘, hauen seit Jahrzehnten mit unserem Verhalten den jungen Menschen gerade die Welt komplett unter dem Hintern weg – und hinterlassen dabei Scherben, Scherben, Scherben – und sagen den jungen Menschen auf den Kopf zu, dass sie gefälligst keine Forderungen zu stellen haben, weil sie sich selbst nicht perfekt verhalten, Fleisch essen und auch mal geflogen sind? Das kehrt die Verhältnisse komplett um! (vgl. Pollmer 2022).
Die unangenehme Überbetonung der Frage des Umgangs mit Flüchtenden seit einigen Jahren im Allgemeinen und namentlich durch Bundesinnenminister Horst Seehofer im Herbst 2018 im Besonderen:
Hier steht die politische und mediale Ausreizung dieses Themas in keinem Verhältnis zu den Fakten und deren Bedeutung – daher hat die Frage zu lauten: Worum geht es hier eigentlich?
Wer Themen setzt, sorgt auch dafür, dass andere Themen unterrepräsentiert bleiben, d.h. …
Auch das Verharmlosen bzw. Nicht-Setzen eines Themas kann ein Ablenkungsmanöver sein:
Der Bundestagswahlkampf 2017 zeichnete sich massiv dadurch aus, dass ständig vor ‚Populismus‘ gewarnt wurde und die wirklich relevanten Themen nicht benannt wurden:
Die Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, Marlene Weiß, stellt hier die Frage, wie man das nennt, „was die meisten Parteien im [2017er] Wahlkampf beim Klima treiben?“ (2017)
Ihre Antwort:
„Dramatisierung kann man ihnen [, d.h. den Parteien,] nicht vorwerfen, im Gegenteil. Die größte globale Bedrohung wird einfach fast gar nicht erwähnt. Und wenn doch, dann so, dass es garantiert niemandem weh tut. Es ist ein Populismus, der die Gunst der Massen im Schweigen sucht… Wer sich davor um der Gunst der Massen willen drückt, der ist, so lange es kein besseres Wort dafür gibt, ein Populist der Verharmlosung“ (ebd.).
Politiker denken an die nächste Wahl, Staatsmänner an die nächste Generation. James F. Clarke (zit. nach Klimaschutz Baustelle)
Auch das Bonmot von den Verboten, der alten Fratze ‚Verbotspartei‘, der angeblich heraufdämmernden ‚Ökodiktatur‘ und der vermeintlich bedrohten Freiheit – insbesondere in Form der angeblich existierenden und zu verteidigenden FreienFahrtFürFreieBürger sind: Ersatzdebatten.
Werte*r Leser*in, ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Union sich nur und ausschließlich in dem Fall auf die Rechte des ‚Kleinen Mannes‘ (und für die ‚kleine Frau‘?) beruft, wenn gleichzeitig auch der Überfluss-Wohlstand des ‚großen Mannes‘ betroffen ist? Wenn also behauptet wird, dass eine Kerosinsteuer nicht möglich sei, weil dann die Bäckereiangestellte nicht mehr in den jährlichen Mallorca-Urlaub fliegen könne? Um die Bewahrung wessen Privilegs geht es hier eigentlich?
Robert Pausch sieht das ähnlich und nennt in der Zeit einige Beispiele für eine eher die ‚Ottilie Normalverbraucherin‘ weniger fokussierende Politik der letzten Monate vor dem Hochkochen der Verbote-Diskussion im Herbst 2019:
„[I]m ökonomischen Normalbetrieb lässt sich nicht so recht behaupten, dass die kleinen oder auch nur die mittelgroßen Leute das Ziel jener Kräfte wären, die sich ihnen nun so verbunden fühlen. Als die Paketboten für bessere Arbeitsbedingungen stritten, hieß es aus der CDU, jetzt sei ‚nicht die Zeit für neue Belastungen für die Wirtschaft‘. Ein höherer Mindestlohn war natürlich eine ‚Gefahr für den Wirtschaftsstandort‘. Und als in Berlin der Protest gegen die steigenden Mieten lauter wurde, reagierte die FDP mit der Forderung, das Grundgesetz zu ändern, um den ‚Respekt vor dem Eigentum‘ zu stärken. Das alles ist weder verwunderlich noch verwerflich. Es ist bloß ein bisschen erstaunlich wie sehr die bürgerlichen Kräfte ihrer Bürgerlichkeit entfliehen wollen, wenn es nicht um die Wirtschaft, sondern um die Umwelt geht“ (2019, 3).
Niko Paech macht dazu eine weitere Beobachtung:
„Um zu vermeiden, dass dieser Wohlstandsvorbehalt primitiv oder eigennützig erscheinen könnte, wurde und wird der schöngeistige Anspruch vorgeschoben, Nachhaltigkeit dürfe sich nicht zulasten der sozial Schwachen oder gar ‚Armen‘ auswirken“ (Folkers/Paech 2020, 121).
Und:
„Indes scheint das materielle Niveau, dessen Unterschreitung mit Armut gleichgesetzt wird, in Deutschland wöchentlich zu wachsen“ (ebd.).
Also, warum also jetzt? Warum erinnern sich – vor allem – Union und FDP ausgerechnet jetzt an Ottilie Normalverbraucherin?
Geht es wirklich um die Menschen mit nicht so hohen Einkommen?
Oder nicht doch eher um die Verteidigung des Status quo, der alten (fossilen) Industrien, der Merz’schen Aktionär*innen, der ‚oberen Zehntausend‘ – ergo: um die Profiteure des fossilen Zeitalters?
‚Ökodiktatur‘:
Eine ‚Ökodiktatur‘ könnte in der Tat kommen. Aber nicht wegen ein paar Leitplanken, einem Tempolimit oder Beschränkungen des HöherSchnellerWeiter. Eine Ökodiktatur droht dann, wenn die ökologischen Verhältnisse, die klimabedingten Katastrophen, Missernten, Versorgungsengpässe und die dadurch entstehenden Proteste Demokratie und Rechtsstaat verunmöglichen. Daher dient Klimaschutz definitiv der Bewahrung und Pflege der Demokratie.
Das sieht auch Bernd Ulrich so:
„Wenn es irgendwann einen grün gefärbten Notstandsstaat geben sollte, dann, weil die Klimakrise so dramatisch geworden ist, dass sie anders nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden kann. Die Ökodiktatur verdankte sich dann nicht einem politischen Sieg der Ökologen, sondern deren Niederlagen und dem aggressiven Attentismus ihrer Kritiker, nicht aus ökologischer Ideologie, sondern aus ökologischen Unterlassungen“ (2019b).
>> Attentismus = von Opportunismus bestimmte, abwartende Haltung
Sehr schön bemerkt dazu Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung über den freiheitspredigenden Liberalismus, d.h. vor allem über die FDP:
„Anstatt eine realistische Einschätzung der Klimakrise zu gewinnen, wird deren Dramatik wegmoderiert, um denen, die dringende, komplexe Reformen fordern, unrealistische, unterkomplexe Panikmache zu unterstellen. Anstatt nüchtern die Klimafolgenforschung zu analysieren und nach geeigneten politischen Instrumenten zu suchen, werden die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Lernens, der diskursiven Vermittlung notwendiger Veränderung ideologisiert als ‚Umerziehung‘. Das Erstaunlichste ist vielleicht, wie der gegenwärtige politische Liberalismus mit einem Repertoire an populistischen Trigger-Begriffen wie ‚Verbot‘, ‚Askese‘ und ‚Verzicht‘ das eigene Reflektionsdefizit zu maskieren sucht“ (Emcke 2019).
Ich möchte dazu anmerken, dass ich weniger erstaunt bin als die Redakteurin Emcke. Ein simpler, aber wesentliche Beweggrund so zu handeln ist wenig erstaunlich und in ein Wort zu fassen: Es geht hier neben kurzfristigem Denken m.E. vor allem um: Geld.
Etwa fantastisch mutet derweil an, dass – in den Worten von Michael Kopatz auf dem Ersten Hamburger Klimagipfel – heutzutage schon „die Vermeidung von Expansion als Verzicht diskutiert“ wird (20.1.2020, vgl. S. 284).
Die Taktik der ‚Freiheitskämpfer*innen‘ vornehmlich der CDU/CSU und FDP betont also die/den mündigen Bürger*in, der/dem man möglichst wenig vorschreiben sollte.
Das neoliberale Modell von der allumfassenden Deregulierung im Zeichen der Freiheit von Menschen und Märkten wird ganz bestimmt regeln, das wir
> zugunsten unserer Informationsgesellschaft künftig eine bessere Bildung in Kindergärten, Schulen und Universitäten bekommen, > es keine Armut mehr gibt auf der Welt, unsere Gesellschaft aus lauter zufriedenen Arbeitnehmer*innen besteht, > wir alle bezahlbaren Wohnraum in den Städten finden, > wir gesündere Dinge auf den Teller bekommen statt fettiger Billig-Fertignahrung, > alle Kindergärten in Deutschland endlich am tatsächlichen pädagogischen Bedarf orientiert ausreichend Erzieher*innen einstellen, > fossile Lobbyist*innen sich gleichermaßen edelmütig und uneigennützig für das Klima einsetzen, > die Renten steigen und > in politisch brisanten Gegenden der Welt mehr Wohlstand, Gerechtigkeit und demokratische Rechtssicherheit einkehren.
Es ist prinzipiell ja sicher auch nicht falsch, möglichst wenig vorschreiben zu wollen, verkennt aber, dass hier eine merkwürdige i.d.R. männlich-gewohnheitsrechtliche ‚Freiheit‘ als Ausrede in Anspruch genommen wird, die so gar nicht existiert – und von der wohl auch kaum jemand möchte, dass es sie wirklich gibt.
Festzuhalten ist, dass die Gesetze, Regeln, Verordnungen und Richtlinien Deutschlands ganze Wandschränke füllen:
Wir leben in einem äußerst regulierten Staat – und das ist – von der ausufernden Steuererklärung mal abgesehen – i.d.R. auch gut so. Das sind schlicht gesellschaftliche Vereinbarungen. Ob nun dazu noch ein paar Gesetze hinzukommen oder nicht, macht den Kohl nicht fett und rechtfertigt erst einmal nicht diese Aufschreie, wie wir sie beinahe täglich zu hören bekommen.
Mely Kiyak konstatiert dazu in der Zeit:
„Ja klar, Verbote. Was denn sonst? Es braucht nicht weniger Regulierung, sondern mehr. …Und bei Grenzübertritt fette Strafzahlungen. Geld ist die einzige Sprache, die Konzerne verstehen. Wenn man Herstellern nicht verbietet, ihren chemischen Schrottzucker in süchtig machende Lebensmittel zu kippen, wird sich nichts ändern… Freiheit nennen es jene Politiker, denen das Wohl der Agrarindustrie – nur ein Beispiel – näher ist als das Wohl der Wähler. Wie lächerlich. Was ist denn der Staat? Wann genau fing das eigentlich an, dass das Verbieten tabuisiert wurde?Kann es sein, dass die am Diskurs beteiligten gar nicht merken, dass der Staat auf dem Fundament von Verboten steht?“ (Kiyak 2019).
Es ist letztlich ein Schrei derjenigen, die das im Weltmaßstab ungeheuer hohe Maß ihrer Freiheit nicht zu schätzen wissen, wie Hatice Akyün ausführt:
„Wer glaubt, dass Rasen etwas mit Freiheit zu tun hat, sollte sich mal mit Menschen aus Nordkorea und Afghanistan unterhalten, um zu erfahren, was Freiheit für einen Menschen wirklich einschränkt. Ein Tempolimit gehört sicher nicht dazu“ (2019).
Rezo antwortet auf die Frage, ob er lieber ‚dafür‘ oder ‚dagegen‘ sei mit dem Hinweis:
„Das eine impliziert doch immer das andere. Ist nur Wording und Perspektive. Genau wie jedes ‚Verbot‘ auch als ‚Recht‘ und jede ‚Einschränkung‘ als Freiheit umformuliert werden kann. So was sind immer nur Framing1-Diskussionen, die vom eigentlichen Thema ablenken wollen“ (2019b, 9): Was in den Augen von Raucher*innen/Raser*innen ein Verbot ist, vermag in der Perspektive von Nicht-Raucher*innen/Fußgänger*innen ein Schutzrecht zu sein, welches darüber hinaus Sicherheit oder Freiheit bietet.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Framing/Wording gibt es selbstredend schon lange, genaugenommen mutmaßlich, seit dem es Sprache gibt. Bezogen auf Deutschland ist ein prägnantes Beispiel im Bereich der Atom- bzw. Kernenergie zu finden: So sprechen Gegner*innen der Atomkraft von selbiger, Befürworter*innen hingegen von Kernkraft. In den letzten Jahren ist Framing als rhetorisches Mittel verstärkt in den Fokus geraten. Dazu gehört auch die Nicht-Verwendung von Wörtern. So wurde Ende 2017 die US-Gesundheitsbehörde von der US-Regierung angewiesen folgende Wörter nicht mehr zu benutzen: „vulnerable“, „entitlement“, „diversity“, „transgender“, „fetus“, „evidence-based“ und „science-based“ (vgl. Sun/Eilperin 2017). „In manchen Fällen wurden Alternativen mitgeliefert, etwa [Alternativen] für ‚evidenzbasiert“ und ‚wissenschaftlich begründet‘: Die ‚CDC [= Centers for Disease Control and Prevention] gründet ihre Empfehlungen auf Wissenschaft unter Berücksichtigung von öffentlichen Standards und Wünschen‘, so soll die alternative Formulierung lauten“ (Welt 2017). Selbstverständlich sind auch Wörter wie „Climate Change“ unerwünscht: So wurden Anfang 2018 „Erwähnungen des Klimawandels offensichtlich systematisch von offiziellen Webseiten der US-Regierung entfernt“ (Spiegel 2018). Und weiter: „Das Wort ‚Klima‘ wird auch auf anderen Webseiten der US-Regierung umschifft. Ein Programm der US-Umweltbehörde Epa hieß beispielsweise früher ‚Climate Ready Water Utilities‘, was so viel bedeutet wie ‚an das Klima angepasste Wassernutzung‘. Das Programm heißt jetzt ‚Resilient Water Utilities“, also etwa ‚belastbare Wassernutzung‘“ (ebd.). Gewissermaßen erinnert dieses Vorgehen an George Orwells Buch 1984. In dieser Dystopie wird von den Machthabern die englische Sprache nach und nach durch eine sprachpolitisch umgestaltete Sprache, das sog. Neusprech ersetzt, um auf diese Weise systematisch sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zu beschränken und damit die Freiheit des Denkens aufzuheben (vgl. wikipedia 2020). Man erinnere sich hier an die Abschaffung der Steigerungsform und Ersetzung durch „plus“ und „doppelplus“ im Buch. Das ‚Beste‘ wäre demnach ‚doppelplusgut‘. Besonders spannend im Zeitalter der US-präsidentiellen Fake News ist „Doppeldenk“. Der Begriff beschreibt „die Fähigkeit, zwei einander widersprechende Denkweisen gleichzeitig als wahr zu akzeptieren“ (ebd.).
„[D]er Staat ist nicht immer der, der Freiheiten beschneidet, sehr oft ermöglicht er sie erst“ (Göpel 2020, 155).
Markus C. Schulte von Drach spannt einen größeren Bogen:
„Die Freiheit des einen hört nicht nur dort auf, wo die Freiheit des anderen anfängt. Sie hört dort auf, wo sie auf Kosten der Lebensgrundlagen anderer geht. Und die anderen sind hier die Menschen in den Entwicklungsländern und die kommenden Generationen“ (2017).
Graeme Maxton pointiert, dass „[d]ie heutige Auslegung von Freiheit … auf dem Irrglauben auf[baut], dass das Individuum über allem steht“ (2018, 150).
Maja Göpel sieht es so:
„Die Wahrheit ist: Ohne Regulierung gibt es keinen Markt. Nur durch Gesetzgebung sind Verträge, Standards, Verbindlichkeiten geschützt“ (zit. in Jung/Schießl 2020).
Neubauer/Repenning drehen – zu Recht – die althergebrachte Argumentation um:
„Was ist radikal daran, umwelt-, klima- und gesundheitsschädliche Geschäftspraktiken zu verbieten? Radikal ist es, sie nicht zu regulieren. Radikal ist es, stattdessen Anreize zu schaffen, die Unternehmen, die Umwelt, Klima und Gesundheit schädigen, steuerlich zu entlasten. Radikal ist es, einen anhaltenden ökologischen Wahnsinn im Namen der Freiheit zu verteidigen. Radikal, auf die denkbar destruktivste Weise.“ (2019, 144)
Harald Welzer findet, dass „wir viel offensiver [über Verbote] reden müssen. Ohne stabiles Ordnungsrecht würde unserer Gesellschaft nicht funktionieren. Es garantiert unsere Freiheit, man denke nur an das Schusswaffen- und Rauchverbot. Für mich ist klar, dass die Menschen erfahren müssen, was auf sie zukommt – aber eben mit der Betonung auf Zugewinn an Freiheit und Lebensqualität. Dafür braucht es einen Perspektivwechsel“ (2020, 10).
Und die Transformationsforscherin Maja Göpel entlarvt die Verbotsdebatte ein weiteres Mal souverän mit den Worten:
„Wir reden doch beim Steuersystem auch nicht davon, dass wir ein paar Anreize setzen müssten, dass die Leute vielleicht freiwillig Steuern zahlen. [Es hat gute Gründe, dass die Rentenversicherung gesetzlich zur Zahlung verpflichtet.] Gesellschaften sind immer mit Regeln strukturiert. Und jede Regel hat genau diese beiden Effekte: Es ist nie einfach einseitig ein Verbot, sondern es ist immer auch eine Entscheidung für etwas anderes. Ich finde es gut, wenn wir darauf verzichten, die Ökosysteme zu zerstören und gut leben können wir dabei allemal. Es ist doch inzwischen allzu sichtbar, dass diese Verbotsrhetorik fast immer nur aufgerufen wird, wenn es um Fragen des Konsums geht. Bei anderen Dingen ist die Verbotsfrage schnell im Raum – zum Beispiel, Demonstrationen in der Schulzeit zu untersagen“ (Göpel 2020a).
„Verzichten heißt in reichen Ländern… eigentlich nicht mehr und nicht weniger, als darauf zu verzichten, den Planeten zu ruinieren“ (Göpel 2020b, 127).
Übrigens:
Die positive Form des Verzichts ist die Genügsamkeit. Wer (selbst-)genügsam ist, verzichtet nicht.
Folkers ergänzt:
„Suffizienz… verspricht auch eine höhere Lebensqualität und Autonomie im Sinne einer Befreiung von Überfluss“ (Folkers/Paech 2020, 27).
Der Spiegel beobachtet in diesem Zusammenhang:
„In ihrer Verzweiflung über die Erfolge der Grünen greifen ihre politischen Gegner zum alten Klischee der ‚Verbotspartei‘ – und erkennen nicht, dass niemand mehr Angst davor hat… Bei den Wählern hat sich offensichtlich (auch dank ‚Fridays for Future‘) die breite Erkenntnis durchgesetzt, dass Spaß künftig nur noch zu haben ist, wenn wir die Erde nicht vorher unbewohnbar machen“ (Kuzmany 2019).
In diesem Sinne fügt Niko Paech hinzu:
„Früher oder später wird die Angst um die Überlebensfähigkeit unserer Zivilisation größer sein, als die Angst vor dem Wohlstandsverlust, der sich zudem begrenzen und ertragen ließe“ (2020, 3).
Die Klimakrise ohne Ordnungsrecht und Verbote lösen zu wollen, d.h. ausschließlich auf Vernunft, Anreize und den freiwilligen ‚Verzicht‘ von Bürger*innen zu setzen ist m.E.: weltfremd.1
Christian Stöcker wirft in diesem Zusammenhang eine rhetorische Frage auf:
„Wie groß glauben Sie, wäre das Ozonloch, wenn man es damals in den Achtzigern dem Konsumenten überlassen hätte, sich aus ethischen Erwägungen für Kühlschränke und Haarspray ohne Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zu entscheiden?“ (2019a).
… weltfremd… und verlogen: Jeder Mensch weiß aufgrund seiner Lebenserfahrung, dass
er selbst sogar mit Verhaltensänderungen bzgl. kleiner, lästiger, schlechter Angewohnten und Genügsamkeit meist große Mühe hat und dass
das auf die Gesellschaft und auf die Menschheit bezogen nicht klappen kann: Wir sind nicht rational.
Und hier hat man auch über die Freiheit der Anderen nachdenken:
Über das Recht der Bürger*innen auf körperliche Unversehrtheit, z.B. auf gesunde Luft in den Städten oder das Recht auf eine gleichberechtigte Teilnahme am Verkehr sowohl der Fußgänger*innen als auch der Radfahrer*innen – es geht also um einen Interessenausgleich und nicht um das angebliche Recht des am lautesten Plärrenden.
Es ist interessant, dass die Kontroversen um die Einführung der Gurtpflicht, der neuen deutschen Rechtschreibung und des Rauchverbots in Deutschland in Restaurants etc. zunächst mit gleicher Vehemenz wie die derzeitige Diskussion um Tempolimits und CO₂-Steuer geführt wurden – danach aber jeweils unerwartet gut und mit breitem Konsens angenommen wurden.
Soll heißen, wir sollten uns davon nicht zu sehr beeindrucken lassen, das Ding durchziehen, aber selbstverständlich bei Ökosteuern auf Sozialverträglichkeit in Form von intelligenten Steuern mit Rückvergütungen etc. achten – dann gibt es erwartbar auch keine ‚Gelbwesten‘-Dynamiken.
Und, bei der Gelegenheit: Ich möchte NIE WIEDER den Begriff ‚freiwillige Selbstverpflichtung‘2 hörenmüssen – dass ist nichts anderes als ein Euphemismus für aufschiebende sowie wirkungs- und folgenlose Lobbyismus-freundliche Parteipolitik, gekoppelt mit der Ausrede, dass
jede*r Bürger*in in einer Demokratie das Recht habe, sich durch tägliches Fastfood das Leben zu verkürzen und
es ihre/seine freie Entscheidung sei, ob sie/er (z.B. aufgrund einer Zigaretten-Plakatwerbung)3 zur Raucherin bzw. zum Raucher werde.
Noch ein Lieblingswort von Konzernchefs und Lobbyisten: ‚Nachhaltigkeit‘:
Wenn man den CEOs (=Chief Executive Officer = Hauptgeschäftsführer*in) der großen Konzerne zuhört, dann könnte man glauben, es sei ihnen nicht wichtiger als: Nachhaltigkeit.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 In diesem Sinne habe ich mehrfach mit Unionspolitiker*innen Kontakt aufgenommen und sie auf Basis z.B. auf Daniel Ludwigs Aussage „Klimaschutz … nicht mit Bevormundung und Verboten, sondern nur durch Sensibilisierung“ (KN-online 2019) um Auskunft gebeten mit Fragen wie: „Wie sollen Ihrer Ansicht nach Bundesbürger*innen so sensibilisiert werden, dass sie innerhalb von wenigen Jahren mehrheitlich so ‚vernünftig‘ werden, dass sie selbstmotiviert wesentlich weniger fliegen?“ – Oder: „Es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, dass dies mit purer Freiwilligkeit bei Themen wie Fliegen, Autofahren, Massentierhaltung/Fleischkonsum, Pestiziden in der Landwirtschaft, Energiewende/Windkraft etc. pp. gelingen könnte. Sie hingegen scheinen es für möglich zu halten. Bitte weihen Sie mich ein, geben Sie mir etwas von Ihrer Zuversicht ab: Wie soll das vonstatten gehen?“. Auf beide Fragen habe ich Antworten erhalten, die jedoch bedauerlicherweise nicht wirklich weiterführend waren, sodass ich entweder nicht die richtigen Ansprechpartner*innen erwischt habe oder es keine Antwort auf die Frage gibt. Ich bleibe am Ball…
2 Versuchen Sie eine solche ‚freiwillige Selbstverpflichtung‘ mal an ihrem Arbeitsplatz oder im Kindergarten einzuführen. Finden Sie diesen Vergleich hinkend? Ja. Aber ist er falsch? (vgl. dazu auch Abschnitt Sandkastenspiele im politischen Kindergarten Deutschland, S. 372f.)
3Die Bundesregierung handelt! Ab 2022 dürfen herkömmliche Tabakprodukte nicht mehr per Plakat-Außenwerbung beworben werden. Es sei denn, es handelt sich um einen Kiosk. Oder um eine Tankstelle. Oder um Tabakerhitzer. Oder um E-Zigaretten. Ab 1.1.2021 ist Kino-Zigarettenwerbung verboten. Es sei denn, es handelt sich um einen Film 18+… Und, liebe Eltern, Autofahren mit Baby an Bord und Kippe in der Hand ist weiterhin Teil Eurer Freiheit als freie Bürger*innen; vgl. Zeit 2020.
Exkurs zum Begriff ‚Nachhaltigkeit‘
Die allgemein anerkannte Definition des Begriffes aus dem sog. Brundtland Report1 von 1987:
Eine Entwicklung ist nachhaltig, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“
im englischen Original: „Sustainable development meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“ (UN-documents 1987, s.a. LdN 2019).
In einfacheren Worten drückt es Harald Welzer aus:
„Nachhaltigkeit bedeutet Wirtschaften in der Zeit: Also, ich darf zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht mehr verbrauchen als nachwachsen kann“ (2019).
Diese Definition hat mit dem Manager-Gewäsch (à la Green Washing) nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Interessant ist auch, dass – in den Worten von Felix Austen – „die Idee von ‚design or disaster‘ … im ursprünglichen Verständnis von Nachhaltigkeit bereits verwurzelt [ist]. Bei der ersten Nennung des Begriffs Nachhaltigkeit durch Hans Carl von Carlowitz im Jahr 1713 beschreibt der Oberberghauptmann es vereinfacht gesagt als ein Prinzip, nach dem einem Wald nur so viele Bäume entnommen werden sollten, wie im Wald im selben Zeitraum wieder nachwachsen können. Denn nur so kann der Wald seine Bewirtschafter dauerhaft mit Bäumen versorgen… Der konsequente Schluss daraus:
Wer in seinem Forst nicht nachhaltig wirtschaftet, in dessen Wald wird sich etwas ändern. Ob er das will oder nicht“ (2020, 157-158).
Und diese Veränderung wäre dann zu begleiten: By design or by disaster.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Der Report entstand ab 1983 unter der Leitung der ehemaligen Ministerpräsidentin Norwegens, Gro Harlem Brundtland.
Es steht m.E. zu befürchten, dass der nächste wie ein Hundeknochen zerkaute Begriff das Wort ‚Transformation‘ sein wird. Der Begriff ist ernstgenommen und wie er derzeit noch von Befürworter*innen einer sozial-ökologischen Transformation verwendet wird einfach zu explosiv, um nicht durch Vereinnahmung durch die ‚Weiter So’s‘ entschärft zu werden.
Zurück zu den Ablenkungsmanövern.
Luisa Neubauer:
Letztlich mache das alles deutlich, wie überfordert der öffentliche Diskurs ist,
„der sich an das Einzige klammert, was im weitesten Sinne klimapolitisch bedeutsam und irgendwo begreifbar ist: Autos und Flugzeuge. (2019a)
Dabei sind die großen Fragen doch ganz andere:
Woher kommt die Selbstverständlichkeit, dass es okay ist, dem Planeten und der Umwelt wissentlich so massiv zu schaden?
Auf Basis welchen Rechtes provozieren die Industrienationen Naturkatastrophen wie die Überschwemmungen z.B. in Mosambik?
Wieso dürfen Politik und Industrie die Freiheiten der heutigen und vor allem der zukünftigen Generationen derart bedrohen?
Übrigens ist auch die prioritäre Forderung nach Bildung zur Bewältigung von Biodiversitäts- und Klimakrise ein Ablenkungsmanöver. Bildung ist selbstredend ein hohes Gut und hat selbstverständlich bspw. nach finnischem Vorbild massiv ausgebaut und mit viel, viel Geld gepimpert zu werden. Doch aus dem Munde von konservativen Politiker*innen kommt der Ruf nach Bildung im Zusammenhang mit Klimakrise & Co m.E. allzu oft als Schlüssel zur Lösung der (Klima-)Probleme daher. Dieser ‚Vernunft-Ansatz‘ ist m.E. insofern ein Ablenkungsmanöver, als das wir schlicht keine Zeit mehr haben, auf die Ergebnisse dieser Bildungsoffensive zu warten. Hier geht es also ein weiteres Mal um das ‚Auf die lange Bank schieben‘.
„Maßstab für ein neues Bildungssystem kann nicht ein gemutmaßter Arbeitsmarkt sein, sondern das Ziel, unsere Kinder dazu befähigen, sich in der zukünftigen Welt gut zurechtzufinden.“ (Richard David Precht 2018, 168)
Die seit Sommer/Herbst 2019 in den Diskurs eingeführte aktuellste Nebelkerze der Bundesregierung oder auch: die neue Rückzugslinie lautet: Klimaschutz müsse sozialverträglich sein, niemand dürfe zurückgelassen werden.
Sonstdrohten Zustände wie im Frankreich der Gelbwesten.
Das blöde an solchen ‚Argumenten‘ ist, dass sie nie ganz falsch sind, also eine Teilwahrheit beinhalten, aber den Schwerpunkt grundlegend falsch setzen.
Der Vergleich zu Frankreich ist das typische Politiker*innen-Spiel mit der Angst – Macron hat schlicht absurde Fehler gemacht, die Deutschland – gerade auch auf Basis von Macrons Erfahrung – leicht vermeiden kann.
Natürlich soll Klimaschutz sozialverträglich sein – das hat auch keine einzige Partei links der Mitte in Frage gestellt.
Hier wird also eine Trivialität zur Message aufgeblasen, die letztlich unterstellt, es gäbe in der (linken) Politik Politiker*innen, die den sozialen Aspekt nicht sehen.
Tatsächlich besitzt das Wort ‚Sozialverträglichkeit‘ derzeit in Deutschland nach meiner Wahrnehmung einen Subtext, der da heißt „das Wohlstandsniveau halten‘ oder auch „keine Antastung des Lebensstils“ – was ein physikalisches Wunder erfordern würde (vgl. Folkers/Paech 2020, 195) – ergo lautet dieser Subtext faktisch: ‚Weiter so‘.
Sozialverträglichkeit ist ein hohes Gut. Klimaschutz soll sozialverträglich sein, und das haben wir immer auf dem Schirm zu halten – und richtig ist trotzdem: Die grundlegende Priorität hat logisch eine andere sein: Ohne Klima ist alles nichts, also können ungewünschte Veränderungen und auch – zumindest gemessen am derzeitigen Überfluss – soziale Abstriche erforderlich sein:
Noch nicht angekommen ist in der Politik und bei den meisten Bürger*innen, dass letztlich das CO2-Budget den Handlungsrahmen setzt, d.h. die planetaren Grenzen markieren die Leitplanken des Möglichen:
Alle Gesetzesvorhaben/Regulierungen/Rechtsverordnungen/Leitplanken haben unter einen Klima- und Zukunftsfähigkeitsvorbehalt gestellt zu werden. Alles andere ist Traumtänzerei. (vgl. S. 484)
Reduziert man das Thema auf „Planet oder Arbeitsplatz?“ entspricht diese Dichotomie „Sein oder nicht sein“. Und auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben.
…mehr
Es darf nicht übersehen werden, dass diese Dichotomie eine Geisterdebatte ist, weil z.B. im Bereich ‚Erneuerbare Energien‘ so viele Arbeitsplätze entstanden sind – die dann nachfolgend allzu oft ‚gealtmaiert‘ wurden, s. Aspekt Arbeitsplätze mit zweierlei Maß gemessen, S. 539).
Was kann ‚Sozialverträglichkeit‘ angesichts der drohenden Klimakatastrophe bestenfalls noch bedeuten?
Ich denke: Das Recht auf einen grundlegenden Wohlstand – und nicht etwa eine ‚Bestandsgarantie des Überflusses‘.
Auf die Vorbedingung ‚Sozialverträglichkeit‘ des Hamburger Bürgermeisters Tschentscher – der auch das ‚Klimapaket‘ großartig findet (Stand Herbst 2019) – reagiert Luisa Neubauer:
„‚So zu tun, als sei Klima eine Sache, die man verhandeln kann, das stimmt einfach nicht. Das ist annähernd leugnerisch’… Klimaschutz müsse stattdessen die Grundlage aller politischen Entscheidungen sein“ (NDR 2019).
Aber eigentlich, ein wenig mehr in die Zukunft gedacht, ist die Perspektive eine ganz andere:
Um soziale Härten zu vermeiden bedarf es nicht weniger und langsameren Klimaschutz, sondern mehr und schnelleren Klimaschutz:
Das Weiter so führt ins Aus. Beharren oder Bremsen ist daher keine Lösung.
Ein Sprung nach vorne, d.h. Veränderung um unseres Wohlstandes willen – ist anstrengend, aber unsere Chance. Übrigens unsere einzige. Unsere letzte.
Vielleicht ist das ja auch alles ein großes Missverständnis.
M.E. bedeutet Sozialverträglichkeit, dass wir Reformen in der Form vornehmen, dass die jungen Menschen und künftigen Generationen in Sinne der Generationengerechtigkeit nicht in den sozialen Absturz getrieben werden.
Möchte da jemand widersprechen?
Sozialverträglichkeit schließt Generationengerechtigkeit ein. Und damit ist die Besitzstandswahrungs-Argumentation der ‚Weiter So‘s sofort vom Tisch.
Um soziale Härten zu vermeiden bietet es sich an, als Gesellschaft gemeinsam unseren Lebensstil grundlegend zu überdenken und die große (vor allem finanzielle) Ungleichheit in Deutschland zugunsten einer weitgehenden, Steuer-ermöglichten Angleichung der Lebensverhältnisse zu reformieren.
Hier können Regeln, Verbote, Regulierungen und Ordnungsrecht im Sinne der großen Mehrheit der Bürger*innen wirken.
Zumal nicht einzusehen ist, dass ein Reicher z.B. das Klima weiterhin totfliegt ohne Einschränkung – nur weil er es sich leisten kann.
Zu letzterem Punkt schreibt Bernd Ulrich in der Zeit:
„Die Klimakrise stellt das bisherige System von Anreiz und Belohnung aber noch auf andere Weise infrage: Die Ungleichheit lässt sich vielleicht noch ökonomisch begründen, ökologisch keinesfalls. Warum sollte ein Reicher mehr Rechte haben, das Klima in Gefahr zu bringen, als ein Armer? Und was passiert mit der Motivation der Mittel- und Oberschicht, wenn Wohlstand oftmals nicht mehr bewundert wird, sondern ökologisch verpönt ist, was wird dann aus der Vorzeigbarkeit des Reichtums?“ (2019b).
Von einem solchen, großen Gesellschaftsprojekt, mit dem wir die alten Ungleichheiten gleichsam parallel zum Biodiversitäts- und Klimaschutz loswerden, spricht zurzeit rechts der Grünen niemand.
Kommen wir zu einem weiteren Nebenschauplatz, der es – unwichtig wie er ist – als Ablenkungsmanöver regelmäßig ganz weit auf die vordersten Seiten der Medien schafft:
Die stets aufkeimende Diskussion bei jedem Extremwetter nach dem Motto „Ist das noch Wetter oder doch schon Klima?“ – „Ist der Sturm X oder ein Extremwetter Y ein Resultat der Klimakrise oder einfach nur ein Sturm bzw. ein Unwetter, das auch ohne die Erderwärmung eingetreten wäre?“
Diese Diskussion ist an sich irrelevant, weil sie den wissenschaftlichen Fakten nichts hinzufügt oder deren Gültigkeit relativiert.
3,5 min: Attribution Science: Wieviel wahrscheinlicher ist ein Extremwetterereignis unter den Bedingungen der Erderhitzung?https://youtu.be/avUJp2uIfns (Abrufdatum 28.11.2023)
Seit einigen Jahren sind solche Fragen endlich gut und präzise zu beantworten, u.z. durch das neue wissenschaftliche Fachgebiet namens ‚Event Attribution Science‘: die ‚Attributions-Wissenschaft‘ oder auch ‚Zuordnungsforschung‘.
Hier berechnen die Forscher*innen – vornehmlich ein Kreis um die in England wirkende deutsche Klimaforscherin Friederike Otto – mit den etablierten Wetter- und Klimamodellen die Wahrscheinlichkeit eines Wetterereignisses zweimal:
Einmal unter den aktuellen CO₂-geschwängerten Bedingungen und
einmal unter den Bedingungen „einer simulierten [vorindustriellen] Welt, die eben nicht mit Unmengen an Treibhausgasen wie Kohlendioxid aufgeheizt worden ist“ (Evers 2017).
Eine deutliche Differenz der beiden Wahrscheinlichkeiten markiert den statistisch signifikanten Einfluss des Klimawandels bzw. der Erderwärmung.
Ein Beispiel: „So kamen durch die Gluthitze im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh im Jahr 2015 mit Temperaturen bis zu 48 Grad über 1.800 Menschen ums Leben, vor allem in den Elendsvierteln, wo es weder Klimaanlagen noch Schatten spendende Bäume gibt. Wir fanden heraus, dass eine solche Hitzewelle durch den Klimawandel dort etwa doppelt so wahrscheinlich geworden ist“ (Otto 2019, 105).
Hilfreich ist, dass der Befund der Klimaforscher*innen innerhalb weniger Tage erfolgt, was ihnen den Titel Climate SWAT Team, d.h. ‚Klima-Spezialeinheit‘ (vgl. Otto 2019, 76), eingebracht hat. Somit können sich Klimaforscher*innen nun mittlerweile doch zum Thema ‚Wetter‘ äußern – und das noch in der Phase, in der ein Thema für Mensch, Politik und Medien relevant ist.
Dieser neue Wissenschaftszweig ist derart erfolgreich (und wichtig!), dass der Deutsche Wetterdienst (DWD) als erste Wetterdienst weltweit spätestens ab 2020 regelmäßig entsprechende Studien zum „Fingerabdruck des Klimawandels“ (Otto 2019, 135) veröffentlichen wird.
Die Biodiversitäts- undKlimakrisen-Wahrheit, die Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier verschweigt:
„Es wie bei vielen Krankheiten: Je länger man wartet, desto unangenehmer wird die Therapie.“
>> Martin Kolmar, Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen – über die Erfordernis möglichst schnell umfassend zu handeln (2019).
Ein Zwischengedanke: „Wir müssen nicht ‚das Klima‘ retten – sondern uns!“ (Eckart von Hirschhausen in Koruhn 2019)
Zurück zur handfesten Klimawissenschaftsleugnung (vgl. S. 221): Dies ist eine Einstellung, mit der man sich heute ins Abseits stellt. Daher empfehle ich umgehenden Aufmerksamkeitsentzug und sofortige Rückkehr zum eigentlichen Thema z.B. der Party-Diskussion:
Es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen von etwas zu überzeugen, von dem sie nicht überzeugt werden wollen. Und: Wer z.B. schlicht nicht weiß, was unabhängige Wissenschaft bedeutet und meint, sich auf Basis von Nicht-Wissen eine Meinung1 über wissenschaftlich erwiesene Fakten bilden zu können, nur auf ihm genehme Meinungen hört oder Verschwörungstheorien anhängt, den wird man auf einer Party, bei einer Diskussion mutmaßlich nicht auf den Boden der Tatsachen holen können.2 Da erscheint es m.E. sinnvoller, wenn diese Person – anstatt auf sie einzugehen – im Kreis der übrigen Teilnehmer*innen mitbekommt, wie die weitere faktenbasierte Diskussion ihren Lauf nimmt und wie andere Menschen mit dem Thema umgehen.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti über Meinung und Wahrheit: „In der Welt gibt es so viele Meinungen wie Leute. Und Sie wissen, was eine Meinung ist. Sie selbst sagen dies, und ein andere sagt das. Jeder hat seine Meinung, aber Meinung ist nicht Wahrheit. Hören Sie deshalb nicht auf bloße Meinungen. Es spielt dabei keine Rolle, wessen Meinung es ist; finden Sie vielmehr selbst heraus, was wahr ist. Meinungen können über Nacht geändert werden, Wahrheit aber kann nicht verändert werden“ (1964, 148).
2 Schon die Grundannahme, man müsse einem Verschwörungsanhänger nur ausreichend Argumente und Fakten vorlegen, um zu überzeugen, ist falsch. Man begegnet sich schlicht nicht auf der gleichen Ebene: Das Rationale erreicht nicht den Gläubigen. Der Experte für Verschwörungstheorien Michael Butter führt dazu aus: „Sie glauben noch stärker daran, wenn man Gegenbeweise vorlegt.“ Und: „Wir wissen aus einer Reihe von Studien, dass überzeugte Anhänger irrationaler Ideen noch stärker daran glauben, wenn man Gegenbeweise vorlegt“ (2020).
Fazit des Abschnitts Eine neue Rückzugslinie: Klimawissenschaftsverweiger*innen – die immer gleichen ‚Argumente‘
Aber… Kein aber.
Lieber Aberer*innen, die Zeit des ‚aberns‘ ist vorbei. ‚Aber‘ gilt nicht mehr. Für ‚Aber‘ haben wir keine Zeit mehr.
… und da kommt auch niemand, der noch mal eben schnell was erfindet…
Die Party – La Boum – ist vorbei:
Maybe my foolishness is past / And maybe now at last / I’ll see how the real thing can be.
Ergo:
Wir brauchen „die kulturell bisher einmalige Leistung, … [auf die Klimakrise und das sechste Massenaussterben] nicht reaktionär, sondern progressiv zu reagieren. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.“ (Luthmann 2019)
Eine Wahnsinns-Idee.
Technologiegläubigkeit: Ein Konservatismus der besonderen Art
Unter denjenigen, die die Klimakrise, das sechste Massenaussterben, die Endlichkeit der Ressourcen und allgemein die Grenzen des Wachstums, nicht wirklich ‚auf der Pfanne‘ haben, gibt es Menschen, die alles beim Alten lassen möchten (und/oder noch gerne etwas länger mit fossilen Energieträgern Dollar, Dollar, Dollar verdienen möchten) – und die zu diesem Zweck tief und irreversibel in die Chemie und Physik des Systems ‚Erde‘ eingreifen würden: per Geo-Engineering. Da bliebe: Nichts beim Alten. Das würde einen ganzen Planeten inkl. Menschheit, Fauna und Flora zu Teilnehmern eines gigantischen Experiments mit ungewissem und potenziell vernichtendem Ausgang machen. „In der Antike nannte man das Hybris. … Wendell Berry nannte es ‚arrogante Ahnungslosigkeit“ (Klein 2015, 326)1.
Mehr möchte ich dazu nicht schreiben.
Obwohl… doch:
Mein derzeitiger Favorit unter all den wunderbaren, faszinierenden Projektideen: Eine Mauer um die Antarktis, damit die Eisberge nicht abbrechen und fort schwimmen können. Denn: Dann schmilzt das Eis auch ganz bestimmt nicht. Ich bin dabei! Gleich Morgen steig‘ ich in einen Fischkutter und bringe mal eben auf einen Sprung das Baumaterial für 17.968 Kilometer Küstenlinie da hin. Ein Klacks.
Bei den Daniel-Düsentrieb-Geschichten in den ‚Micky Mäusen‘ hat so etwas auch immer funktioniert.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Der Philosoph, Farmer und Dichter Wendell Berry fügte dieser Feststellung hinzu: „Wir erkennen arrogante Ahnungslosigkeit durch ihre Bereitschaft, in zu großem Maßstab zu arbeiten und daher viel aufs Spiel zu setzen“ (zit. in Klein 2015, 326).
Quellen des Abschnitts Eine neue Rückzugslinie: Klimawissenschaftsverweiger*innen – die immer gleichen 'Argumente' inkl. Technologiegläubigkeit: Ein Konservatismus der besonderen Art
Austen, Felix (2020): „Die Dinge werden sich ändern – ob durch Design oder durch Desaster“. in: Maxton, Graeme (2020): Globaler Klimanotstand. Warum unser demokratisches System an seine Grenzen stößt. Komplett-Media. S. 155-167.
Folkers, Manfred und Paech, Niko (2020): All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. oekom.
Göpel, Maja (2019): „Verbote können Menschen befreien“. [Harald Welzer u. Peter Unfried interviewen Maja Göpel]. in: tageszeitung/Futurzwei, 9.6.2019, online unter https://taz.de/Maja-Goepel-im-Interview/!169655/ (Abrufdatum 24.6.2020)
Grassegger, Hannes (2019): „Von der Klima-Angst radikalisiert“. [Die Story des Tages.]. in: Das Magazin, online unter https://mobile2.12app.ch/articles/20641537 (Abrufdatum 25.7.2019)
Haaf, Meredith (2020): „Schau genau. Seit wann ist die Wahrheit eigentlich etwas, das in mehreren Varianten existiert? Über die sinkende Bereitschaft, Tatsachen noch von Meinungen zu unterscheiden“. in: Süddeutsche Zeitung, 25./26.1.2020, S. 55.
Hagedorn, Gregor (2020): „Es wird eine andere Welt sein“. [Interview]. dm-Magazin alverde, Januar 2020, S. 10-11.
Maxton, Graeme (2018): Change. Warum wir eine radikale Wende brauchen. Komplett-Media.
Neubauer, Luisa (2019a): „Informiert euch! Viele Politikjournalisten haben eine Meinung zum Klima, aber leider wenig Ahnung. Auch deshalb werden Debatten lautstark ausgetragen – während die Regierung von kritischen Nachfragen verschont bleibt. Ein Gastbeitrag“. in: Die Zeit, Nr. 20/9.5.2019, S. 5.
Neubauer, Luisa u. Repenning, Alexander (2019): Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft. Tropen.
Neumann, Michael (2012): „Zum Glück wachsen: Sieben Weisheiten zu Wachstum, Wohlstand und Wohlbefinden“. in: Romanherzoginstitut.de, online unter https://www.romanherzoginstitut.de/publikationen/detail/zum-glueck-wachsen.html (Abrufdatum 22.6.2020) [pdf-Dokument]
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme. Ullstein, S. 105, 76, 135. [Buch über die Zuordnungswissenschaft/Event Attribution Science].
Paech, Niko (2020): „‚Die Coronakrise ist eine Krise der Digitalisierung‘“. [Jost Maurin interviewt Niko Paech]. in: tageszeitung, 27.4.2020, S. 3.
Pausch, Robert (2019): „Sieh an: Der kleine Mann!“. in: Die Zeit, Nr.43/2019 17.10.2019, S. 3.
Stanton, Andrew (2008): Wall-E – der Letzte räumt die Erde auf. Film. 2008. Ausschnitt online bei YouTube: www.youtube.com/watch?v=s-kdRdzxdZQ (Abrufdatum 2.10.2018)
taz (2018): „Spielhersteller entdecken Ökos als Zielgruppe“. in: tageszeitung, 17.12.2018, online unter https://taz.de/Archiv-Suche/!5556573/ (Abrufdatum 4.6.2020)
Thunberg, Greta (2018): „Greta Thunberg addressed the COP24 plenary session December 12th“. in: Youtube.com, 14.12.2018, online unter https://www.youtube.com/watch?v=Z1znxp8b65E (Abrufdatum 11.5.2020)
Ulrich, Bernd (2019a): „Die Ja-aber-Sager“. in: Die Zeit, Nr. 32, 1.8.2019, S. 1.
UN-documents (1987): „Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future“. [Brundtland Report: Our Common Future]. in: UN-documents.net, online unter http://www.un-documents.net/wced-ocf.htm (Abrufdatum 14.7.2019)
„Paradoxon: Um ein Problem verdrängen zu können, ist es nötig seine Existenz und seine moralischen Verwicklungen bis zu einem gewissen Grad anzuerkennen.“ Stanley Cohen, Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger (1922-2020), zit. in Folkers/Paech 2020, 66
Abgesehen davon, dass wir es wohl alle bevorzugen würden, dass die Sache nicht so brisant wäre, gibt es natürlich auch noch Menschen, die sich dem Thema ‚Klimakrise‘ bzw. ‚Artensterben‘ total verweigern: Ihnen begegnet man auch im Jahre 2020 immer wieder auf Partys oder bei Diskussionen… wie damit umgehen?
Weigern Sie sich, über das ‚ob‘ zu diskutieren – das Thema ist ‚durch‘. Verweisen Sie einfach darauf, dass die/der Gesprächspartner*in offensichtlich nicht Up to Date ist:
„Ouih, ich fürchte da bist Du aber so gar nicht auf dem aktuellen Stand. Mach Dich mal schlau.“
„Von den in den Parlamenten sitzenden Parteien vertritt in Deutschland nur noch eine diese Position.“
Bei Behauptungen des Gegenübers kann es hilfreich sein, nach dessen Quelle zu fragen – bitten Sie sie/ihn zu erzählen, wo sie/er die Information erhalten hat.
Bei zu allgemeinen Aussagen können Sie gezielter nachfragen und Präzision einfordern.
Wichtig ist, rhetorische rote-[bzw. grüne-]Socken-Ablenkungen à la „Das ist Sozialismus“ als solche zu benennen und dann wieder zum eigentlichen Thema zurück zu kehren.
Setzen Sie die Themen. Geben Sie den Themen Ihres politischen Gegners keinen Raum. Gehen Sie davon aus, das Themen an Gewicht gewinnen, je ausführlicher sie behandelt werden (vgl. S. 191), was nicht bedeutet, dass Sie Menschen ‚dichtquatschen‘ sollen – nur ist es hilfreich, wenn die Proportionen von Themen/Argumenten stimmen.
>> siehe auch: Schleichert, Hubert (1997): Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum subversiven Denken. Beck.
Eine ‚radikale Höflichkeit‘ kann hier hilfreich sein (vgl. Kleiner Fünf 2020). Das meint: Respektvoll sein, aber proaktiv Grenzen setzen… „Andere ernst nehmen, nicht provozieren lassen, gezielt nachhaken, konkret werden. Vielfalt anerkennen und klar machen, wenn dein Gegenüber sich wie ein Arschloch verhält“ (ebd., erstes Video von oben.)
Bitte haben Sie kurzzeitig (d.h. vorübergehend) Verständnis für ältere Menschen: Sie wurden in eine Welt hineingeboren, in der
es nur 1/3 der jetzigen Weltbevölkerung – hier wird der Unterschied zwischen der ‚leeren Welt‘ und der ‚vollen Welt‘ offenbar (vgl. Weizsäcker u. Wijkman 2019, 110f.), die komplett unterschiedlich sind
es in Relation wenig Konsumismus gegeben hat und
‚Fortschritt‘ und ‚Wachstum‘ noch Versprechen waren.
Da kann es dann schon mal schwerfallen, einzusehen, dass das jahrzehntelang als sicher geglaubte Wissen sich nunmehr als Lebenslüge, die zur Zerstörung des Planeten führen wird bzw. kann, entpuppt.
Unser Wirtschaftssystem funktioniert. Nicht. Beleg: jede Seite dieses Handbuches.
Machen wir uns auch klar, dass es schmerzvoll sein kann, anzuerkennen, dass das eigene gelebte Leben das Leben der eigenen Nachkommen und allgemeiner das Leben künftiger Generationen beeinträchtigt oder gar verunmöglichen könnte.
Gleichzeitig reden wir hier aber tatsächlich auch über die Generationen, die durch ihr Leben und die von ihnen mit verantworteten Entwicklungen bzw. Entscheidungen massiv zur heutigen Situation beigetragen haben.
(Das trifft natürlich mehr oder weniger auch auf alle Menschen 30+ zu.)
Denn:
„Wir haben’s nicht gewusst“ ist ein Satz, der noch nie gegolten hat, wenn man etwas, was man bei genauerem Hinsehen wissen könnte, nicht wahrhaben wollte.1
Spätestens seit der Veröffentlichung von The Limits to Growth (Die Grenzen des Wachstums) durch den Club of Rome im Jahre 1972 konnte jeder Mensch der westliche Industrienationen wissen, dass
die planetaren Grenzen definitiv endlich sind
somit die Wirtschaftswachstumsdoktrin falsch sowie das HöherSchnellerWeiter-Leben auf Dauer nicht machbar ist und massiv auf Kosten der eigenen Kinder, Enkel*innen und Urenkel*innen geht (vgl. Club of Rome 1972).
Die Rechnung für Deine Kreuzfahrt zahlen Deine Enkel*innen.
Alex King, Club of Rome, Pressekonferenz 1972:
„Wir stehen kurz vor dem Ende einer gesellschaftlichen Entwicklung, die etwa 2.000 Jahre andauerte. Wir haben ein Maß an Wohlstand erreicht,2 das den Keim der Zerstörung in sich trägt. Daher brauchen wir einen völlig neuen Blick auf unsere Welt“ (zit. in Opitz 2018, ca. Min 14).
Das ist an Deutlichkeit nicht zu überbieten.
Der Bericht „schreckt[e] die Menschen auf, einerseits. Doch schnell werden die Wissenschaftler angefeindet, ihre Berechnungen als unverantwortliche Schwarzmalerei angezweifelt – weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ (Opitz 2018, Min 14).
Hierzu kommentiert Ende 2019 die taz – bezogen auf den wachstumsorientierten und deshalb kritisierten 1-Billion-Euro-EU-Kommissions-Plan European Green Deal3:
„Es geht… eigentlich darum, den Kollaps der Ökosphäre zu verhindern. In dessen Folge Millionen, vielleicht Hunderte Millionen Menschen sterben könnten, weil wir Jetztmenschen ihnen [innerhalb von zwei Generationen] die Lebensgrundlagen weggeflogen, weggefahren und weggefressen haben“ (Arzt 2019, 1).
In der Konsequenz dieses Gedankenganges rege ich an, die älteren Menschen recht deutlich an das daraus resultierende Handlungsgebot zu erinnern, für die jüngeren Generationen wählen zu gehen.
Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass es aufgrund des Pillenknicks und den Babyboomern viel mehr ältere Menschen gibt als jüngere. Rezo hält dazu fest:
Rezo (2019): „Die Zerstörung der CDU“. in: Youtube.de, 18.5.2019, Min 53f., online unter www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ/ (Abrufdatum 24.6.2019)
„Die größte Wahlmacht haben die Alten. Allein die über 70-jährigen – also nur ein bestimmter Teil der Rentner – haben anderthalbmal so viel Stimmen wie alle unter 30-jährigen. Die Rentner entscheiden also mehr über unsere Zukunft, obwohl sie diese Zukunft gar nicht mehr miterleben werden“ (2019).
Hier ist die Frage aufzuwerfen und zu diskutieren, ob angesichts der eklatanten Ungleichverteilung von Stimmrechten in den Generationen das Wahlrecht gewichtet werden sollte – sodass jede Generation – oder jeder Jahrgang – die gleiche Wahlmacht erhält. Ich persönlich habe jedoch einige Bauchschmerzen damit, ein einfaches und aufgrund dieser Einfachheit und Grundsätzlichkeit auch schwerlich manipulierbares Prinzip aufzugeben: Das sollte nicht leichtfertig erfolgen und i.d.R. unterbleiben.
Es ist indes nicht einzusehen, dass Kinder kein Stimmrecht haben – in jungen Jahren könnten die Eltern dieses Wahlrecht wahrnehmen – aber ab einem bestimmten Alter können Kinder durchaus eigenständig eine Entscheidung in der Wahlkabine treffen. Hiermit wäre zumindest das Prinzip „Eine Stimme pro wahlberechtigter/m Bürger*in“ universaler als „Eine Stimme pro Mensch“ in seiner Einfachheit erhalten und insgesamt ein besonderer, wünschenswerter Fokus auf Familien bzw. Kinder gelegt – und Generationengerechtigkeit relativ leicht ein gutes Stück hergestellt.
Möglicherweise würde diese Art der Partizipation auch ein erweitertes Interesse an demokratischen Prozessen wecken können – auf jeden Fall würden sich unsere jüngeren Mitbürger*innen vermehrt ernst- und wahrgenommen fühlen. Dies entspricht dem Trend, den wir von Eltern-Lehrer*innen-Kind-Gesprächen etc. und von der Selbstermächtigung des Fridays for Future-Aufbruchs kennen.
„Wer die Erderwärmung leugnet, ist der eigentliche Feind der Freiheit.“ Naomi Oreskes, Harvard-Wissenschaftshistorikerin, 2014
>> weitere Gedanken zu ‚Ökodiktatur‘ siehe Aspekt Das Bonmot von den Verboten, S. 235. >> Älteren Menschen, die sich in die Situation junger Menschen nicht einfühlen können, empfiehlt die ARD-Satire-Sendung Kroymann in ihrer Sendung vom 28.1.2021 (ab Min 16:33) das Medikament „Empathie forte“: https://www.daserste.de/unterhaltung/comedy-satire/comedy-satire/videos/kroymann-video-142.html (Abrufdatum 21.2.2021)
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 ‚Gewissen‘ hat auch immer etwas mit ‚Wissen‘ zu tun. Deshalb vermeiden es viele Menschen, Dinge genauer wissen zu wollen. Oder berufen sich auf Ihr Nicht-Wissen, was im Zeitalter des Internets eine selbstentlarvende Aussage ist, die keine Gültigkeit besitzen kann. Im Übrigen wird die Verantwortung gerne an den Staat abgeschoben: Das mit den Kreuzfahrten, dem Fliegen und dem Fleisch kann ja sooo schlimm nicht sein, sonst würde der Staat ja was dagegen machen. Es ist ein Lernprozess, aber es ist bedauerlicherweise so: Der Staat lässt diese Dinge zu… Wir haben einen Rechtsstaat, und das ist gut so. Aber das bedeutet nicht, dass er stets vernünftig entscheidet oder unser ‚Freund‘ ist.
2 So richtig dieses Statement zunächst ist, so sehr zu kritisieren ist daran gleichzeitig die zutiefst eurozentristische Sichtweise, d.h. die vollständige Ausblendung der Bedürfnisse der Menschen des Globalen Südens.
3 Im Unterschied zum europäischen Green Deal heißt das US-amerikanische Konzept Green New Deal in Anlehnung an den New Deal der Regierung von Franklin D. Roosevelt nach der 1929er Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren. Doch auch in Europa gibt es das Vorhaben eines New Green Deal, begründet maßgeblich vom 2016 ins Leben gerufenen Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25), einer linken paneuropäischen Bewegung, die der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis mit gegründet hat und die nach eigenen Angaben die EU stärker demokratisieren möchte (vgl. DiEM25 2020). Aus der Selbstbeschreibung: „The Green New Deal for Europe will leave a greener, fairer and more just Europe for future generations by fighting the twin crises of austerity and climate change.“ (GNDE 2020). Interessant ist, dass hier nicht etwa das sechste Massenaussterben und die Klimakrise als Zwillingskrisen bezeichnet werden, sondern die Austerität als ‚Zwilling‘ daherkommt.
Quellen des Abschnitts Klimawissenschaftsleugner*innen auf Partys bzw. bei Diskussionen
Arzt, Ingo (2019): „Ein großer Plan mit Lebenslüge“. [Kommentar]. in: tageszeitung, 12.12.2019, S. 1, online unter https://taz.de/Green-New-Deal-der-EU/!5645937/ (Abrufdatum 12.12.2019)
Folkers, Manfred und Paech, Niko (2020): All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. oekom.
GNDE (2020): „10 Pillars of the Green New Deal For Europe“. in: Green New Deal For Europe, online unter https://www.gndforeurope.com/ (Abrufdatum 29.5.2020)
Club of Rome (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. [The Limits of Growth]. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Kleiner Fünf (2020): „Was ist radikale Höflichkeit?“. in: Kleiner Fünf, online unter https://radikalehoeflichkeit.de/ (Abrufdatum 15.6.2020)
Opitz, Florian (2018): System Error – Wie endet der Kapitalismus? [Film-Doku]. DVD. 2018.
Oreskes, Naomi (2014): „‚So wird die Ökodiktatur Realität‘“. in: tageszeitung, 29.11.2014, online unter https://taz.de/!260513/ (Abrufdatum 14.7.2019)
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2019): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Pantheon.
Welzer, Harald (2016): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer.
Alle wesentlichen und unbestrittenen naturwissenschaftlichen Daten siehe Faktenpapier auf Klimafakten.de (Abrufdatum 20.06.2023)
Realitätsverweigerung: „Weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf.“
Über die für viele Menschen unerträgliche Wahrheit, am eigenen Ast zu sägen:
Sind wir nicht (fast) alle mehr oder weniger kleine oder gar große Klimawissenschaftsleugner:innen?
6 min: Die Rechnung, Kurzfilm von Germanwatch bzw. Peter Wedel aus dem Jahre 2009, mit Benno Fürmann und Bjarne Mädel, online unter https://youtu.be/EmirohM3hac (Abrufdatum 21.2.2021) inhaltlich bestürzend aktuell, lediglich einige Zahlen sind etwas veraltet: CO2 pro Kopf pro Jahr Deutschland = 11,17 t CO2, vgl. Abschnitt Globales, nationales & individuelles CO₂-Budget, S. 56ff.
Wer viel zu verlieren hat, neigt dazu, Fakten und Nachrichten, die seinen Interessen entgegenstehen, zu verharmlosen, zu ignorieren, zu leugnen oder gar sich eine Art Gegenwelt aufzubauen – vgl. z.B. Raucher:innen, die gegen jegliche Statistik ‚anrauchen‘.
Der Soziologe Harald Welzer spricht hier von Dissonanzreduktion und meint damit, dass Menschen dazu neigen, sich ihre Welt ‚zurechtzudenken‘, sodass unangenehme Fakten/Geschehnisse sich wieder in die eigene Logik, ins eigene Denken und ins Weltbild passen: Menschen halten Widersprüche nicht gut aus und reduzieren dissonante Fakten durch Verharmlosung, gleichen sie also durch angebliche Lebenserfahrung oder Gedankenkonstrukte aus, sodass sie aushaltbar werden1: Raucher:innen zum Beispiel verweisen dann allzu gerne auf Helmut Schmidt.
„Daher wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit der eigenen Überzeugung angepasst, weshalb Raucher Lungenkrebsstatistiken für überbewertet halten und Anlieger von Kernkraftwerken das Strahlungs- und Unfallrisiko regelmäßig niedriger einschätzen als Menschen, die weit entfernt von Atommeilern leben“ (Welzer 2016, 32-33).2
Menschen, die sich per Dissonanzreduktion fest in ihrem Leben eingekerkert haben, sodass mit ihnen ein wirklicher Austausch von Argumenten kaum mehr möglich ist, strahlen oft eine seltsam satte Zufriedenheit aus.
Anselm Grün merkt dazu an:
„Die satte Zufriedenheit kommt zustande, wenn wir alles, was uns beunruhigt, verdrängen oder abspalten. Hinter der satten Zufriedenheit steckt die Angst vor allem Beunruhigenden. Daher reagieren satte Zufriedene oft sehr aggressiv auf Menschen, die sie kritisieren oder infragestellen“ (2019, 62-63).
„[E]s ist immer einfacher, die Realität zu leugnen, als zuzulassen, dass unsere Weltanschauung erschüttert wird – eine Wahrheit, die für eingefleischte Stalinisten auf dem Höhepunkt der politischen Säuberungen ebenso galt wie heute für die libertären Klimaleugner“ (Klein 2015, 52).
Eine typische Reaktion ist, die kritisierende Person (z.B. Greta Thunberg) oder die Quelle (z.B. dieses Handbuch oder den IPCC (Weltklimarat)) in Zweifel zu ziehen:
„In der Psychologie nennt man solches Verhalten übrigens ‚Versuch der kognitiven Dissonanzreduktiondurch Abwertung der Informationsquelle.‘“ (Stöcker 2019)
… oder auch ‚Argumentum ad hominem „Was willst Du mir über Alkohol sagen?“ – Selbst wenn der Gegenüber (ebenfalls) eher zu viel trinkt – seine Aussage wird dadurch nicht richtiger/falscher – die Aussage bleibt qualitativ gleich – und wenn wir schlau sind, hören wir dem Menschen lieber mal zu.
Insofern: Wenn ein ‚Ad hominem‘ fällt, sollte man nicht in die Falle gehen und stattdessen diese Unlogik ggf. im Gespräch benennen (vgl. Nguyen-Kim 2019).
Bedenke nur das Argument.
>> s.a. auch Vorwort S. 19
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Der Psychologe Dieter Frey von der Universität München: „Die Menschen verdrängen, wenn sie nicht wissen, was zu tun ist, oder wenn sie keine Chance sehen, ein Ziel zu erreichen.“ (zit. in Hermann 2020). „Unangenehmen Wahrheiten, das haben viele Studien gezeigt, gehen Menschen gerne aus dem Weg, indem sie den Kopf in den Sand stecken. Börsenhändler checken ihr Depot nicht mehr, wenn die Kurse fallen; Raucher blenden Informationen über die schädlichen Folgen ihrer Sucht aus; oder – noch konsequenter – man leugnet das Problem als Ganzes. Corona sei ein Fehlalarm, der Klimawandel eine Lüge, heißt es dann“ (ebd.). Oder man öffnet seine Post nicht mehr und wundert sich dann, wenn die/der Gerichtsvollzieher:in vor der Tür steht.
2 Wir alle sind – wenn es um uns betreffende Themen geht – massiv interessensgeleitet: Der Aussage, der Klimawandel sei wissenschaftlich belegt, „stimmen 75 Prozent der Befragten insgesamt zu, 25 Prozent widersprechen. In den Branchen Bergbau, Energie, Chemie und Metall jedoch liegt der Wert mit 44 Prozent fast doppelt so hoch“ (Steinwede 2019).
Insbesondere das Gewahrwerden der Klimakrise löst regelmäßig solche Reaktionen aus – und dann wird die Krise relativiert – die folgenden Sätze kennt jede:r von uns, wie Harald Welzer ausführt:
„Zum Beispiel lässt sich sagen, dass jede eigene Anstrengung ohnehin von den Chinesen, den Indern, den Russen und den Brasilianers unterminiert wird: Alle sind sie um die Vermehrung ihres Wohlstandes bemüht, um den Preis, dass alle eigenen Anstrengungen, die Welt doch noch zu retten, sich im Angesicht der jährlichen Emissionsstatistik von vornherein in Luft [besser: in CO₂] auflösen. Oder von ‚den Politikern‘ fordern, dass sie mal endlich ein transnationales Klimaabkommen beschließen sollen. Vorher könne man ja sowieso nichts machen. Oder, auch sehr beliebt, auf die ‚Menschheitsgeschichte‘ weisen und aufgeklärt mitteilen, dass ‚der Mensch‘ ja erst lernt, wenn die Katastrophe schon geschehen ist. Wahlweise: dass ‚dem Menschen‘ am Ende ja immer etwas einfallen sei, was die Katastrophe abgewendet habe. Was sind solche Sätze? Mentale Anpassungen an sich verändernde Umweltbedingungen“ (2016, 33).
Hiermit ist auch eine (Teil-)Erklärung gegeben, weshalb Aufklärungskampagnen gewöhnlich – und erst recht, was die für Europäer:innen nicht-gleich-morgen-unmittelbar-lebensbedrohliche Biodiversitäts- und Klimakrise betrifft – scheitern bzw. nur äußerst geringe Wirkung haben.
Welzer hält dazu fest, dass „negative Argumente [keine]… proaktiven Handlungen motivieren.1 Dass mag im Rahmen akuter Notfallsituationen funktionieren, aber nicht dann, wenn die Benutzeroberflächen der Konsumgesellschaften noch glänzen und zu funktionieren scheinen“ (ebd., 34-35).
Details: Erläuterungen zu (1)
Mojib Latif: „Wir als Forscher haben einen Kardinalfehler begangen. Wir haben naiv geglaubt, dass Wissen automatisch zum Handeln führt. Das ist aber nicht der Fall. Politikerinnen und Politiker wissen seit 30 Jahren, was Sache ist“ (2020).
In diesem Sinne kann auch Upton Sinclairs Feststellung
„Es ist schwierig, jemanden dazu zu bringen etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängig ist, es eben nicht zu verstehen.“
Upton Sinclair (1885-1951), „It is difficult to get a man to understand something, when his salary depends upon his not understanding it!“ (Sinclair, o.J.)
nahtlos auf das Verhalten von Menschen in der Biodiversitäts- undKlimakrise übertragen werden.
Denn es geht schlicht auch um Besitzstandswahrung:
So ziemlich jeder Mensch der Industrieländer hat eine Menge zu verlieren, wenn er sich wirklich auf die Wahrheit einlässt, die die Biodiversitäts- und Klimakrise für uns bereit hält.
Sich auf diese Wahrheit einzulassen, bedeutet im Grunde,
sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen,
das bisherige Leben mit all seinen Bequemlichkeiten, des Überflusses, der Shopping-Malls, der Entgrenzung – also: sich selbst – in Frage zu stellen und
das eigene bisherige Leben – will man sich künftig noch selbst in die Augen schauen können – was Konsumismus angeht, weitgehend hinter sich zu lassen.
Ein Zwischengedanke: Vielleicht ist ja die in Deutschland immer wieder heftig aufflackernde Diskussion um das Tempolimit unterschwellig mehr als ein Diskurs um die Geschwindigkeitsbegrenzung von Autos? Geht es möglicherweise vielmehr um die Frage, ob unsere Gesellschaft generell bereit ist, sich in Konsum- und Bequemlichkeitsfragen zurückzunehmen und zu reglementieren? Die irrationale Wut bei gleichzeitiger Anrufung des ‚gesunden Menschenverstandes‘ durch einen Verkehrsminister legt dies nahe.
extra 3: „Hallo Mensch, hier spricht dein Klima“, 8.3.2022 (Original: Musical Grease: „Summer Nights“, 1978, Filmversion https://youtu.be/ZW0DfsCzfq4 (Abrufdatum 18.3.2022)
Wichtig: Es geht hier bei alledem nicht nur ausschließlich um irgendwelche Millionäre oder Topmanagerinnen der fossilen Industrie – sondern um
Politiker:innen,
Angestellte,
Autobesitzer:innen,
Friseur:innen mit Wochenendhäuschen,
Eltern, die ihren Kindern etwas ‚bieten‘ möchten,
Steuerberater:innen mit dem Hobby ‚Tauchen‘,
Tauchlehrer:innen, die gern Lachs essen,
Professor:innen, die gern an internationalen Kongressen teilnehmen und
Rentner:innen, –
kurz: um (fast) jede:n von uns.
Um fast jeden von uns, außer vielleicht
den tatsächlich eher raren Ausnahmen, die oft mit verächtlichem Unterton als Gutmenschen1, Träumer:innen2 und Idealist:innen bezeichnet werden und
einigen noch in Ausbildung befindlichen jungen Menschen, die noch nicht established sind.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Hier sei die Frage gestattet, was eigentlich das Gegenteil von einem Gutmenschen ist? Und entspricht dieser angebliche Normalfall eines Menschen folglich dem Menschenbild eines Nicht-Gutmenschen? (s.a. Fußnote S. 391). Wesentlich konstruktiver ist wohl der Begriff ‚Weltverbesserer:in‘. Geo Perspektive hat im Herbst 2020 solchen Menschen eine ganze Ausgabe gewidmet.
2 Wer träumt hier eigentlich? Doch wohl eher diejenigen, die uninformiert-diffus an ein ‚Weiter so‘ glauben. Es kann zuweilen spannend sein, diese Frage mit Träumenden zu erörtern: Machen wir mal eine Dichotomie auf, die selbstredend nur ein grobes Modell sein kann – in der Praxis werden viele, viele Grau- und Zwischentöne existieren: Menschen, die für ein ‚Weiter so‘ stehen, halten Veränderungen im großen Stil angesichts noch nicht erfundener Erfindungen für nicht notwendig und können sich Veränderungen im großen Stil angesichts der angeblichen Gier von Menschen und angesichts der globalen Dimension der Herausforderung ‚Klima‘ nicht vorstellen – daher sind sie passiv-bequem und sehen sich selbst auf Basis des negativen Menschenbildes als Realisten und die Veränderungswilligen als Träumer. | Menschen, die für Veränderung einstehen, erkennen die heutige Situation als noch nie dagewesen an und halten deshalb den Veränderungssprung für nötig und, auf Basis eines possibilstischen Menschenbildes, mittels nicht-technischer Entwicklungen für möglich. Daher sind sie aktiv-unbequem und sehen sich als Realisten, die wissen, dass es das träumerische ‚Weiter so‘ nicht geben kann und nicht geben wird. Der Unterschied zwischen beiden Positionen liegt vor allem in den Chancen auf Zukunft: Ein ‚Weiter so‘ führt unweigerlich ins aus, Veränderung bewahrt eine Chance. Update August 2020: Thunberg/Neubauer et al. greifen diesen Gedanken ebenfalls auf: „Vielleicht erscheinen .. [unsere Forderungen] einigen unrealistisch. Doch anzunehmen, dass die Menschheit in der Lage wäre, die globale Erhitzung zu überleben, auf die wir aktuell zusteuern, ist um ein Vielfaches unrealistischer“ (2020).
Also, die Wahrheit ungeschminkt zuzulassen, bedeutet, wirklich zu akzeptieren, dass es nicht mehr so weiter gehen kann – und dass das bisherige Leben ein Stück weit zu Ende ist.
Und das ist etwas, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Ein Scheitern des Lebens, in das man sich eingerichtet hat, ist für die allermeisten Menschen keine Option, wie Harald Welzer und Niko Paech prägnant ausführen:
Auf Regierungsebene sieht das dann so aus:
„Die Regierung formuliert nur Ziele, die weit in der Zukunft liegen. Was wir sehen, ist eine Simulation politischen Handelns. Das ist wie bei einem Junkie, der ständig versichert: Nächstes Jahr hör‘ ich ganz auf“ (Welzer 2020).
Auch der Privatier hat sozusagen Drogenprobleme:
„Genauso wie ein Heroinabhängiger wider besseren Wissen den Dealer schützt, steigt beim [fremdversorgten] Geldabhängigen mit zunehmendem Konsumniveau die panische Angst davor, dass die Geld speiende Wachstumsmaschine auch nur ins Stocken geraten könnte“ (Paech 2012, 66).
Denn, wenn jemandem auf diese Weise der Boden unter den Füßen weggezogen wird – was bleibt dann?
Oftmals nur:
Leere.
„Natürlich hat gegenwärtig niemand eine [konkrete, detaillierte] Antwort darauf, wie eine postkapitalistische Wirtschaft aussehen und funktionieren würde, aber das ist kein Argument gegen den Befund, dass man mit dem Kapitalismus [wie er derzeit ‚funktioniert‘1] nicht durch das 21. Jahrhundert kommen wird. Oder besser gesagt, dass nur die wenigsten mit dem Kapitalismus durch das 21. Jahrhundert kommen werden. Eine Milliarde Menschen vielleicht. Eher weniger“ (Welzer 2016, 288).2
Wie es gesellschaftlich-wirtschaftlich weitergehen könnte, können sich viele Menschen nicht vorstellen – der Gedanke, dass das Leben keine Sicherheiten bietet und kein vorgezeichneter Plan existiert, überfordert viele Bürger:innen.
Aber, liebe Mitmenschen: Es war nie anders. Das Leben bietet prinzipiell keine Sicherheiten.
Alle Sicherheit, die Menschen (z.B. durch Job, Haus, Ehe, Geld etc.) verspüren, ist prinzipiell eine Illusion.
Und ein vorgezeichneter und dann verbindlich durchgezogener Lebensplan hat ebenfalls auch noch nie existiert.
Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti (1895-1986) merkt dazu an:
„Wir [Menschen] wollen … keinerlei wirkliche Veränderungen, also haben wir eine Gesellschaft aufgebaut, die uns die Dauer des Besitzes, des Namens, des Ruhms garantiert. … Wir fürchten uns, Dinge zu verlieren, die wir kennen. Aber das Leben ist nicht so, wie wir es gerne hätten. Leben ist überhaupt nicht dauerhaft. Vögel sterben, Schnee schmilzt, Bäume werden gefällt oder vom Sturm geknickt, und so weiter. Wir aber wollen, dass alles, was uns Befriedigung gibt, von Dauer ist; wir wollen, dass unsere Stellung und die Autorität, die wir bei Menschen haben, andauern. Wir weigern uns, das Leben so zu akzeptieren, wie es tatsächlich ist“ (1964, 116-117).
Der Psychotherapeut Jan Kalbitzer formuliert es als Aufgabe, an der wir selbst zu wachsen haben:
„Im Grunde geht es darum, sich immer wieder aus der Illusion einer heilen Welt zu lösen. Wir wissen im Grunde, dass die Welt nicht sicher ist. Wir müssen lernen, das auszuhalten“ (zit. in Mast 2020).
Ergo:
Wir haben nur eines ganz sicher: Diesen Augenblick.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Oft wird – auch von mir – geschrieben, der Kapitalismus befinde sich in der Krise bzw. funktioniere nicht. Thunberg/Neubauer et al. widersprechen dem in ihrem offenen Brief an die EU im Sommer 2020 vehement – und haben m.E. genau genommen mit nachfolgendem Satz vollkommen recht: „Unser derzeitiges System ist nicht ‚kaputt‘ – das System tut genau das, was es soll und wofür es geformt wurde“ (übersetzt zit. in Blome 2020) – und folgern daraus: „Es kann nicht länger ‚repariert‘ werden. Wir brauchen ein neues System“ (ebd.).
2 Auch Schellnhuber geht von etwa einer Milliarde Überlebenden aus, Kevin Anderson von nur 500 Millionen, Rahmstorf hingegen weist darauf hin, dass viele Kolleg:innen meinen, dass „wir niemals auf vier Grad Erwärmung kommen würden, weil uns vorher die Wirtschaft zusammenbricht und die Welt in Konflikten versinken würde“, vgl. Abschnitt Klimakrisen-Folgen zu Lebzeiten der derzeitigen Entscheider:innengeneration – in Deutschland, S. 121ff.
Was auf der persönlichen Ebene für Sicherheit= Beständigkeit gilt – nämlich, dass es sich hierbei um eine Illusion handelt – gilt auch auf der gesellschaftlichen:
Auch der Kapitalismus in seiner derzeitigen Ausprägung wurde nicht am Reißbrett entwickelt. „Der Markt ist ja kein Naturereignis, sondern ein Kulturprodukt“1 und hat sich – unvorhersehbar, d.h. ohne Sicherheiten – über Jahrzehnte und Jahrhunderte i.d.R. kleinteilig (weiter-)entwickelt. Und ist nie stehengeblieben.
Die aktuelle Erscheinung des globalen Finanzialismus-geprägten Neoliberalismus samt der den öffentlichen Sektor aushungernden Austeritätspolitik2 verdanken wir der politischen Ära von Margret Thatcher (und ihrem ‚eifrigen Nacheiferer‘ Ronald Reagan), ist aber selbstredend auch bereits schon wieder eine Weiterentwicklung, die für Thatcher & Co so nicht absehbar gewesen ist.
Das Glaubensbekenntnis des Neoliberalismus:
Wachstum! Deregulierung!! Shareholder Value!!!
Täglich als Affirmation in den morgendlichen Spiegel zu sprechen.
Und dann wird alles gut! Der Markt regelt das. Versprochen. Bloß nicht eingreifen.
Er will ja nur spielen, der Markt: Der tut nichts. Für die Umwelt. Für das Klima. Für die Ressourcenschonung. Für die Zukunft. Deiner Enkel:innen.
Waaaaaaaaaaachstum!!!!
>> siehe ausführlich Abschnitt Glaubenssätze dechiffriert:Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen, S. 379ff., Aspekt Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang, S. 391f.
Weiterentwicklung findet in diesem Moment statt – z.B. weil irgendein Parlament irgendwo auf der Welt bspw. ein den Handel oder den Finanzmarkt betreffendes Gesetz beschließt.
Anders ausgedrückt: Kapitalismus in seiner derzeitigen Ausprägung ist nichts Feststehendes und zudem historisch betrachtet eine sehr junge Erscheinung.
Das System bzw. das derzeitige Wirtschaftsmodell ist menschengemacht und daher auch von Menschen veränderbar.
Nicht-Veränderung führt ins Debakel.
Veränderung bietet eine Chance.
Und um diese Veränderung, um Schritte – vornehmlich in die richtige Richtung – geht es…
Oft wird beklagt, es gäbe kein definitiv funktionierendes Alternativmodell zum Kapitalismus, also könne man auch nicht raus aus dem System. (Das fühlt sich ausweglos an, wie eine Falle.)
Jörg Lange von CO2-Abgabe e.V. in der taz:
„Wenn wir uns nicht sicher sind, ob alternative Wirtschaftssysteme funktionieren – Konzepte gibt es genug –, dann machen wir einfach weiter mit dem System, von dem wir bereits seit Jahrzehnten definitiv wissen, dass es nicht funktioniert. Da können wir dann gleich alle kollektiv den Kopf in den Sand stecken.“
Der Verbleib im unveränderten, bisherigen System ist keine Option.
Die gute Nachricht aber ist, dass die Grundannahme, wir bräuchten ein definitiv funktionierendes Alternativmodell zum Kapitalismus, um raus aus dem bisherigen System zu können, bereits einen Irrtum darstellt: Es gibt viele Probleme auf der Welt, ja. Aber dieses gehört glücklicherweise nicht dazu. Es ist ein Problem, dass keines ist, weil es nicht existiert…
Folgende Überlegungen:
Selbst wenn es ein vielversprechendes Alternativsystem gäbe. Denken Sie, wir gehen alle am 31.12.20xx schlafen und am Morgen danach, am Neujahrstag, gilt plötzlich ein von der Menschheit geplantes neues Wirtschaftssystem?
Der Kapitalismus wurde nicht am Reißbrett entworfen – warum sollte es das System/Modell der Zukunft sein?
Es ist gar kein „heute dies morgen das“-Systemwechsel erforderlich. Er ist weder nötig noch möglich. Es geht darum, Schritt für Schritt und auch per Trial & Error möglichst in die richtige Richtung voranzuschreiten. Allerdings in diesem Fall in einem recht hohen Tempo, denn wir meißeln uns täglich genau die Zeit weg, die wir für einen solchen Wandel benötigen – und wir nähern uns unwiderruflich den planetaren Grenzen, die wir nicht überschreiten dürfen.
Schritte in die richtige Richtung…
Es liegt nahe mit Veränderungen im Finanzsektor und der Art, wie Geld, Zins und Zinseszins derzeit funktionieren anzufangen.
Ich gehe davon aus, dass schon einige wenige Regeländerungen im Finanzsektor bereits fundamentale Folgen haben und die Dynamiken auf dem Planeten grundlegend ändern werden. Zum Beispiel, wenn es sich nicht mehr mittelfristig lohnt, in die Fossilindustrie zu investieren.
Weitere Schritte könnten sein…
Eine Internalisierung von Kosten, d.h. die Vollkostenrechnung von Produkten unter Einbezug sämtlicher Umweltkosten mit dem Prinzip ‚Polluter pays‘ wäre auch so ein grundlegender Schritt.
Die Ausrufung der globalen Klimagerechtigkeit würde dafür sorgen, dass der Globale Süden beim Bewältigen der Biodiversitäts- und Klimakrise mitmacht – ohne ihn wird es nicht gehen.
>> vgl. Abschnitt Ideen für eine nachhaltige Zukunft, S. 484
Also, zurück zu dem Gedanken, dass der Kapitalismus nicht am Reißbrett entwickelt wurde und sich täglich weiterentwickelt, verändert, nicht stillsteht…
Und was für das Wirtschaftssystem und die Gesellschaft gilt, gilt gleichermaßen wiederum auch auf individueller Ebene, für den Menschen:
Das Leben auf persönlicher Ebene und
das Leben an sich
entwickeln sich –
es gibt keinen Stillstand – panta rhei (griechisch für ‚alles fließt‘)
niemand steigt zwei Mal in denselben Fluss –
wer es dennoch versucht, d.h.
wer sich dem Fluss des Lebens verweigert, lebt nicht wirklich.
Leben ist Veränderung.
Weniger ist mehr.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Zitat des grünen Politikers Reinhard Bütikofer, 2010, zit. in Folkers/Paech 2020, 22
2 Austerität = rigorose Strenge. Austeritätspolitik ist als eine neoliberale Sparpolitik darauf ausgerichtet, sich als Staat möglichst nicht zu verschulden (vgl. ‚Schuldenbremse‘) und möglichst wenig Geld in die öffentlichen Sektoren zu stecken (vgl. ‚Sozialabbau‘, ‚Agenda 2010‘), um auf diese Weise eine Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Situation eines Staates zu erreichen. Was oberflächlich durchaus vernünftig klingen kann, hat in Realität krasse Folgen für Bürger:innen, wie am Beispiel der sozialen Folgen in Griechenland durch die strikten Vorgaben der EU bei der sog. ‚Eurokrise‘ zu sehen – und wie an den durch eben diese strikten Vorgaben kaputtgesparten Gesundheitssektoren Südeuropas jetzt in der Coronakrise deutlich wird. Klein erwähnt, dass sich „in Griechenland … die Feuerwehr keine Ersatzreifen für ihre Löschfahrzeuge leisten [kann], die in die brennenden Wälder fahren“ (2015, 136).
…
Zurück zu dem Gedanken, dass so ziemlich jede:r Deutsche viel zu verlieren hat.
Ein Grundproblem ist, dass die meisten Menschen ihren Luxus als ‚normal‘ ansehen.1
Aber:
‚Normal‘ kann nur sein, was den Planeten nicht an die Wand fährt.2
Zu suchen ist auf gesellschaftlicher, politischer, philosophischer und individueller Ebene nach dem ‚menschlichen Maß‘3. Und dies hat sich – logischerweise – am CO₂-Budget der Menschheit, bzw. Am CO2-Budget des Landes bzw. am CO₂-Budget der Individuen zu orientierten.
Wer die Zahlen nicht kennt, wird mir vermutlich zustimmen.
Wer die Zahlen (z.B. auf Basis dieses Handbuchs) kennt, wird sich – immer wieder ist das zu erleben – jeder weiteren Diskussion verweigern: Weil unser derzeitiger Lebensstil in dieser Perspektive nicht zu halten ist.
Doch ist es so: Wir haben gar nicht die Wahl. Denn der Planet verhandelt nicht. Anpassen oder weichen (frei nach dem ‚Spatenrecht‘: ‚Deichen oder weichen‘). Ich rate zu ersterem.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Harari spricht von einem „ehernen Gesetz der Geschichte“ (2015, 114): Gemäß diesem wird „ein Luxus schnell zur Notwendigkeit … und [schafft] neue Zwänge… Sobald wir uns an einen Luxus gewöhnt haben, verkommt er zur Selbstverständlichkeit. Erst wollen wir nicht mehr ohne ihn leben, und irgendwann können wir es nicht mehr“ (ebd.) – Das „Können“ ist oft psychisch bedingt, aber teilweise sind uns zur Führung eines ‚einfacheren Lebens‘ schlicht notwendige Kulturtechniken abhanden gekommen.
2 Und, im Ernst, ‚normal‘ bzw. ‚statthaft‘ ist doch wohl eher der Lebensstandard unser (Ur-)Großeltern gewesen – mit denen auch ich nicht tauschen möchte. Aber so wie es gerade läuft, läuft es: nicht. Es geht mutmaßlich darum, ein CO2-armes Best-of-both-worlds-Szenario zu entwickeln.
3 Der Begriff ist hier im Sinne von Niko Paechs Ausführungen in seinem Buch Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie (2012) zu verstehen. Der Begriff wurde wohl erstmals von Ernst Friedrich Schumacher als deutscher Buchtitel seines wegweisenden Ökonomie-Buches Small Is Beautiful (1973) verwendet, welches 1977 unter dem Namen Small Is Beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß erschien. Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti gibt einen Fingerzeig, worin dieses ‚menschliche Maß‘, also das ‚Genug‘, bestehen kann: „Wenn Sie genug Kleidungsstücke, Schmuck und so weiter haben, müssen Sie darüber nicht philosophieren. Sobald sich aber Bedürfnissen auf das Gebiet der Habgier zubewegen, beginnen Sie zu philosophieren, zu rationalisieren und Ihre Habgier wegzuerklären. … Ein Reisender muss vielleicht ein Auto haben, einen Mantel und so fort. Das sind Bedürfnisse. Sie brauchen ein bestimmtes Wissen und Geschicklichkeit, um Ihr Handwerk auszuüben. Dieses Wissen aber kann zum Instrument der Habgier werden. Aus Habgier benutzt der Geist die Dinge des Bedarfs als Mittel zur Selbsterhöhung. Es ist ein sehr einfacher Vorgang, wenn Sie ihn beobachten. Wenn Sie sich Ihrer tatsächlichen Bedürfnisse bewusst sind und deshalb sehen, wie Habgier einsetzt, wie der Geist die Gegenstände des Bedarfs zu seiner eigenen Überhöhung benutzt, dann ist es nicht sehr schwierig, zwischen Bedürfnis und Habgier zu unterscheiden“ (1964, 152).
Quellen des Abschnitts Sind wir nicht (fast) alle mehr oder weniger kleine oder gar große Klimawissenschaftsleugner:innen?
Folkers, Manfred und Paech, Niko (2020): All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. oekom.
Grün, Anselm (2019): Vom Glück der kleinen Dinge. dtv.
Harari, Yuval Noah (2015): Eine kurze Geschichte der Menschheit. Pantheon.
Hermann, Sebastian (2020): „Teuflisches Duo: Die Corona-Pandemie hält die Menschheit in Atem – und die Klimakrise braut sich zu einer akuten Bedrohung zusammen. Wie man so viel Weltuntergang aushält, ohne zu verzweifeln“. in: Süddeutsche Zeitung, 26.9.2020, online unter https://www.sueddeutsche.de/wissen/klimakrise-coronavirus-psychologie-1.5044887 (Abrufdatum 26.9.2020) [paywall]
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
Krishnamurti, Jiddu (1964): Das Wesentliche ist einfach. Antworten auf Fragen des Lebens. [Think on these Things. Deutsche Ausgabe 1992]. Herder.
Lange, Jörg (2020): „So einfach ist das nicht, liebe Kinder…“. in: tageszeitung, 26.8.2020, S. 4.
Sinclair, Upton (o. J.): I, Candidate for Governor: And How I Got Licked (1935), ISBN 0-520-08198-6; repr. University of California Press, 1994, p. 109., 1935 – vgl. https://en.wikiquote.org/wiki/Upton_Sinclair (Abrufdatum 3.6.2019)
Die ganze Welt ist eine große Geschichte, und wir spielen darin mit. Michael Ende,1988, in: Momo, DTV. S. 100
Es gibt sowohl die individuelle Rückzugsebene à la „Was kann ich schon tun…“; „ob in China ein Sack Reis umfällt…“ als auch die gesellschaftliche Ebene, auf der dann etwa so lamentiert wird: „Das hat doch alles keinen Sinn, der Zug ist abgefahren, es ist zu spät, Deutschland ist zu machtlos bla-bla, bla-bla, bla-bla et cetera…“
Selbstverständlich hat Wirkung und Einfluss, was Deutschland beschließt, welche Normen es setzt, wie das Land mit seinen Partnern verhandelt, welche Waren es importiert, was es nicht exportiert und welche Innovationen es entwickelt.
Wir leben in einer der größten Volkswirtschaften der Welt. Und auch wenn China mächtiger wird – natürlich haben alle G7- und G20-Staaten bedeutenden Einfluss
>> vgl. dazu Aspekt Deutschlands herausragende Verantwortung S. 83
Und erst Recht hat die Europäische Union Einfluss auf das die politischen Entscheidungen und die Handlungen in der Welt.
Gerade stellt sich die EU einer der wichtigsten Herausforderungen:
„[D]ie neue Kommission [will] sofort mit der Arbeit an einer CO₂-Grenzsteuer [‚Carbon Border Tax‘ oder auch ‚Anpassungsmechanismus‘] starten. Die Abgabe soll für Importe gelten, die nicht gemäß den EU-Klimastandards produziert wurden. So soll sichergestellt werden, dass die Klimagesetze für EU-Firmen nicht zum Nachteil im globalen Wettbewerb werden“ (Becker/ Müller 2019), d.h. man möchte mittels eines Ausgleichsmechanismus‘ „das Risiko von CO2-Abwanderung reduzieren“ (EU-Kommission in Kaiser 2019, 9)
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Die Niederlande spielen mit dem Gedanken eine ‚Wegzugsteuer‘ einzuführen, um es Konzernen nicht zu leicht zu machen, den Steuersitz zu ändern: „Großunternehmen sollen 15 Prozent ihrer einbehaltenen Gewinne abführen, wenn sie in ein Land abwandern, das keine Dividendensteuer erhebt“ (Böcking/Hecking 2020, 74).
„Und gleichzeitig [soll dieses Instrument] EU-Firmen bezuschussen, die weniger klimaschädliche und deshalb zunächst teurere Produkte exportieren wollen. Aber noch weiß niemand, wie diese Grenzsteuer praktisch funktionieren soll, weil in einem VW [Volkswagen] eben Teile aus aller Welt stecken. Die EU muss also die Klimabilanz jeder einzelnen Schraube kennen“ (Arzt 2020, 12).
Unterschätzt wird jedoch, wie groß der Binnenmarkt der Europäischen Union ist mit seinen 500 Millionen Einwohnern… Etwa 2/3 des Warenverkehrs findet innerhalb der Union statt (vgl. bpb 2019)1. Was das Problem einer Grenzsteuer zumindest etwas weniger dramatisch erscheinen lässt, als allgemein angenommen.
Und wir Bürger*innen haben wiederum Einfluss auf den Kurs von Deutschland – und nicht nur auf dem Wahlzettel.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Hiermit ist die Situation vor Abschluss des Brexit umschrieben. Nachfolgend – vermutlich ab 2021 – wird der Binnenmarkt 66,65 Mio weniger Verbraucher*innen umfassen.
Dass da mehr geht, haben die wöchentlichen, seit nunmehr mehr als einem Jahr stattfindenden Fridays for Future-Demonstrationen sowie der ‚Paukenschlag 2019‘ des Rezo zweifellos bewiesen.
Einfluss als Individuen haben wir auch auf anderen Ebenen: Alles was wir tun (oder lassen) hat irgendwie einen Impact. Ich kann nur empfehlen, sich im Gespräch nicht auf diese Opferhaltung des Gegenüber einzulassen und erst recht nicht, diese Rolle selbst anzunehmen. Das macht depressiv.
>> vgl. Aspekt Was kann Ich tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten, S. 169.
Eingangs im ‚Intro‘ schon erwähnt, hier noch einmal zentral abgehandelt: Eine gute Nachricht:
Für die Durchsetzung einer politischen Agenda benötigt man nicht unbedingt die aktive Mehrheit der Bevölkerung.
„Es müssen drei bis fünf Prozent der Unternehmer und Vorstände sein, die sich in diese Geschichte [eines neuen Narratives wie es weitergehen soll] einschreiben, drei bis fünf Prozent der Unterhändler auf den internationalen Klimaverhandlungen, drei bis fünf Prozent der Staatschefs, drei bis fünf Prozent der Professorenschaft, der Lehrer, der Polizistinnen, der Anwälte der Journalisten, der Schauspielerinnen, der Hausmeister, der Arbeitslosen usw. Dann potenzieren sich die Kräfte, weil das, was die einen tun, von den anderen begleitet und gefördert werden kann“ (Welzer 2016, 285).1
Man denke in diesem Zusammenhang an die Dynamiken rund um die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Deutschland 2017 – da hat dieser Mechanismus ganz hervorragend funktioniert.
„Der Weg in eine nachhaltige Moderne … wird nur unter der Voraussetzung wirkungsmächtig werden, dass in jedem gesellschaftlichen Segment, in jeder Schicht, in jedem Beruf, in jeder Funktion ein paar Prozent der Beteiligten beginnen, die Dinge anders zu machen“ (Welzer 2016, 285).
Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.2 Hannah Arendt
Welzers Aussage „wenige Prozent der Bevölkerung können viel bewirken, wenn aus allen Gesellschaftsbereichen Menschen involviert sind“ (Robson 2019) wird bestätigt durch die Forscherinnen Erica Chenoweth and Maria J. Stephan, die umfassend belegen, dass
friedlicher Protest in etwa doppelt so effektiv ist wie Gewalt-beinhaltener Protest – und dass
die Aktivierung von 3,5% der Bevölkerung ausreicht, um relevante politische Veränderungen herbeizuführen (vgl. ebd.).
Anmerkung: 3,5% = 2,87 Mio Bundesbürger*innen – bei Fridays for Future waren am 20.9.2019 immerhin laut Veranstalter rund 1,4 Mio Menschen bundesweit auf den Straßen, also immerhin rund die Hälfte der erforderlichen ‚kritischen Masse‘ (vgl. Wenderoth/Koch).
Massenbewegungen bringen Veränderung, weil sie aus einem Zustand ein Problem machen.
>> vgl. Klein 2015, 15
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Auch die Soziologin und Ökonomin Ilona Otto erklärt, dass es, [u]m das System zu ändern, … mehr handelnde Personen [braucht]. Aber anders als bei Wahlen brauchen sie keine absolute Mehrheit für einen Wandel. Politik reagiert auf Strömungen, wenn sie auf reale Probleme hinweisen… Der Erfolg der AfD in Deutschland zeigt genau das: Eine kleine Minderheit bestimmt in einem Punkt, etwa der Flüchtlingsfrage, welche Politik gemacht wird…“ (2020, 3). In der Studie ‚Die Dynamik sozialer Kipppunkte zur Stabilisierung des Erdklimas bis 2050‘ kommt Otto zu folgender Liste ‚sozialer Kipppunkte‘, die einen disruptiven Wandel herbeiführen: „Streichung von Subventionen für fossile Brennstoffe, Förderung für dezentrale erneuerbare Energien, klimaneutrale Städte, Abzug des Kapitals aus fossilen Brennstoffen und eine moralische Debatte über diese, bessere Information zu dem Thema an Schulen und eine breitere Debatte über die schädlichen Folgen von Treibhausgasen“ (Pötter 2020, 3).
2 s. gleichnamigen Buchtitel von Florian Salzberger (2016) mit dem Untertitel: Hannah Arendts Philosophie des Umgangs im Anschluss an die Narrativitätskonzeption ihres Spätwerkes, vgl. Hinweis in https://falschzitate.blogspot.com/2017/07/niemand-hat-das-recht-zu-gehorchen.html (Abrufdatum 22.6.2020). Eine Anmerkung: Nur weil eine Aussage nicht auf sämtliche Lebensbereiche anwendbar ist, bedeutet das nicht, dass die Aussage unsinnig ist. Es reicht, wenn sie insgesamt relevant und zutreffend ist.
Quellen des Abschnitts Fatalismus und Artensterben/Klimakrise
Foer, Jonathan Safran (2019): Wir sind das Klima! Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können. Kiwi.
Kaiser, Tobias (2019: „Der heile Punkt im Klima-Deal“. in: Die Welt, 12.12.2019, S. 9.
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer. (Der Originaltitel ist besser gewählt: This Changes Everything: Capitalism vs. Climate.
Otto, Ilona (2020): „‚Sozialer Wandel ist ansteckend‘“. [Bernhard Pötter interviewt I. Otto]. in: tageszeitung, 22.9.2020, S. 3.
Pötter, Bernhard (2020): „Die Studie“. in: tageszeitung, , 22.9.2020, S. 3.
Klimawoche (2020): „Corona und Klima: Was wir wirtschaftlich und gesellschaftlich verändern müssen“. in: Hamburger Klimawoche, 25.9.2020, online unter https://www.youtube.com/watch?v=jeNuHttfMRw (Abrufdatum 29.9.2020)
„Zukunft ist nichts, was bloß vom Himmel fällt. Nicht, das einfach nur so passiert. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis unserer Entscheidungen.“
>> Göpel 2020, 14. Auf der Klimawoche 2020 in Hamburg wählte Göpel etwas andere Worte: „Wir reden immer so komisch ‚Zukunft kommt auf uns zu‘. Das stimmt ja nicht; sondern ein großer Teil von dem was Zukunft ist, ist die Konsequenz unserer Entscheidungen heute“ (Min 28).
Immer wieder begegne ich Aussagen der Hilfs-, Hoffnungs- und Machtlosigkeit.
Dazu ist zu sagen, dass
es zurzeit noch nicht zu spät ist, einen sog. gefährlichen Klimawandel abzuwenden (vgl. Abschnitt Intro S. 29 inkl. Fußnote),
der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber seinen Nachkommen durchaus empfiehlt, Kinder zu bekommen (vgl. Schellnhuber/Precht 2019),
wir unsere persönliche Macht und Ausstrahlung chronisch unterschätzen,
das vorschnelles Aufgeben fatalistisch ist und auf depressive Verstimmungen hindeutet und
ohnehin Aufgeben niemals eine Option ist – denn…
Es gilt:
„Es erscheint immer unmöglich, bis es vollbracht ist.“
Nelson Mandela zugeschrieben.
und:
„You’re never too small to make a difference.“
Greta Thunberg, schwedische Klimaaktivistin, bei der Klimakonferenz in Kattowice, Dezember 2018.
und auch Folgendes sollten wir auf der Reihe haben:
„Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“
Molière zugeschrieben, anders ausgedrückt: Man kann nicht Nicht-Handeln.
>> Erich Kästner ließ uns in Das fliegende Klassenzimmer im Jahre1933 (!) über den Deutschlehrer Professor Kreuzkamm wissen: „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern“ (95).
…mehr
Audrey Hepburn setzte sich in ihrer zweiten Lebenshälfte intensiv für diverse humanitäre Projekte ein und fungierte ab 1988 als Sonderbotschafterin für Unicef. Von ihr stammt der Satz: „Ich glaube nicht an Kollektivschuld. Aber ich glaube an Kollektivverantwortung“ (zit. in Klimaschutz Baustelle, o.J.)
Hans Joachim Schellnhuber:
„Das Argument, dass ich allein nichts ausrichten kann, ist natürlich die allertörichteste aller Schutzbehauptungen.“ (Haaf 2019)
Warum?
„Na, stellen Sie sich vor, Sie sagten Ihren Kollegen, Sie kämen auf absehbare Zeit nicht mehr in die Arbeit, weil der Einzelne ohnehin keinen Unterschied machen würde! Jeder Ozean besteht aus einzelnen Tropfen, und so ist es auch mit der Gesellschaft“ (ebd.).
Gleichwohl tut die Beschäftigung mit der Klimakrise und dem sechsten Massenaussterben weh. Natürlich. Wie sollte es anders sein? Niemand hat je behauptet, dass das Leben einfach ist. Aber:
„In Konfrontation mit unserem Klimadilemma habe ich gelernt, dass es keine Möglichkeit gibt, der Verzweiflung zu entkommen. Aber offenbar gibt es ein Weg durch die Verzweiflung: Liebe.“ (XR Handbuch: Bendell 2019, 88)
Neubauer und Repenning greifen in diesem Zusammenhang einige Gedanken des Philosophen Günther Anders auf, „der, unter dem Eindruck eines möglichen Atomkrieges, den ‚Mut zur Angst‘ gefordert hat“ (2019, 140) und „über den richtigen Umgang mit der Angst, wenn man so weit gekommen ist und den Mut aufgebracht hat, sie zuzulassen“ (Lassahn 2011) nachdachte. Er schrieb u.a. über „[E]ine liebende Angst, die sich um die Welt ängstigen soll, nicht nur vor dem, was uns [persönlich] zustoßen könnte“ (Neubauer/Repenning 2019, 140).
Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug. Hilde Domin
...mehr zu Hilde Domin
Hilde Domin (1909-2006), deutsche Lyrikern. „Wegen ihrer jüdischen Herkunft musste sie [ab 1932] immer wieder alle Sicherheiten aufgeben und von vorn beginnen… Was ihr … half, war die Zuversicht, dass ihr das Leben immer wieder aus dem Nichts ein Brücke bauen wurde – ‚mit nur einer Rose als Stütze‘, wie der Titel ihres erstes Gedichtbandes lautete“ (Schnabel 2018, 132).
Generell können wir mit unseren Ängsten umgehen, indem wir ihnen proaktiv begegnen, d.h. uns ihnen stellen. Die indische Philosoph Jiddu Krishnamurti bemerkt dazu:
„Und falls Sie sich dem stellen, was ist, es ansehen, sich darauf einlassen, obwohl es Ihnen Leiden bringt, und es verstehen, dann werden Sie feststellen, dass Ihr Geist außergewöhnlich einfach und klar wird; und in genau dieser Klarheit liegt das Aufhören der Furcht“ (1964,189).
Naomi Klein fragt sich ebenfalls, wie
„wir mit dieser Angst umgehen [sollen], die daher kommt, dass wir auf einem sterbenden Planeten leben, der jeden Tag unbewohnbarer wird? Zunächst einmal: akzeptieren, dass sie nicht mehr verschwinden wird… Und dann müssen wir sie benutzen. Angst ist eine Überlebensreaktion… Aber wir müssen ein Ziel haben, wohin wir rennen können“ (2015, 42).
Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen auch der Philosoph und Extinction Rebell Rupert Read und der Umweltökonom Samuel Alexander in ihrem 2020 erschienenen Buch Diese Zivilisation ist gescheitert:
„Gedankliche Klarheit hat einen therapeutischen, einen befreienden Effekt. Wer sich nichts vormacht, wer ‚das Verhängnis, das uns umgibt‘, nicht leugnet, wird handlungsfähig“ (Wenzel 2020).
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Hans Joachim Schellnhuber hat einmal gesagt: „Die Unschuld der Unwissenheit ging irgendwann verloren. Wer vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, muss das Paradies verlassen. Schon bald bin ich aus meinem Paradies vertrieben worden“ (zit. in Höhne 2020). Ein weiterer Fingerzeig, dass die Wahrheit wehtut – ich frage mich indes, ob das Paradies wirklich noch als solches empfunden wird, wenn man vor allem deshalb wenig weiß, weil man dem Wissen aus dem Weg geht, weil man latent um die Wahrheit Bescheid weiß: Kann das Paradies noch ein Paradies sein, wenn man ahnt/weiß, dass man sich in die Tasche lügt?
In die gleiche Richtung zielen die Autor*innen des Buches Zwei am Puls der Erde:
„Die Komplexität der Krise übersteigt unser Fassungsvermögen. Die einzige Sicherheit, die wir haben, ist unsere Vergänglichkeit. Das beides anzuerkennen, zu akzeptieren, dass wir nicht wissen, was die Zukunft schlussendlich bringen wird, ermöglicht uns eine neue Haltung zum Leben… [W]ir [haben] nichts zu verlieren. Außer einem Leben in Angst.“ (Leisgang/Thelen 2021, 305)
ca. 15 min: Jem Bendell, britischer Professor für Nachhaltigkeitsführung und Begründer des Deep-Adaptation-Ansatzes, stellt in diesem Video vier Prinzipien vor. Tipp: Automatisch erzeugte Untertitel einschalten.
Aktiv werden, darüber reden, nicht allein sein mit dem Thema, zu akzeptieren, was ist… darum geht auch auch beim Ansatz der Tiefen Anpassung, im englischen Deep Adaptation: Gemeint ist die eigene, persönliche Anpassung an die derzeitige Klima- und Artensterben-Realität auf einer tief liegenden emotionalen Ebene.
Die Gestalter*innen der Website tiefe-anpassung.de, Claudia Junker und Walter Oelschlaeger, nehmen diese Gedanken auf:
„Die unangenehme Wahrheit und die damit verbundenen Gefühle bewusst anzuschauen führt also in der Regel nicht wie angenommen in Depression und Apathie, sondern ins Handeln aus Liebe. Von da aus können neue Wege entstehen.“
Der Begründer des Deep-Adaptation-Ansatz, Jem Bendell, stellt – u.a. in dem nebenstehenden Video – vier Wegweiser bzw. Fragebereiche vor:
„Bewahren – Welche Normen und Verhaltensweisen unserer derzeitigen Systeme wollen wir bewahren und wie erreichen wir das?
Loslassen – Welche materiellen Dinge, Verhaltensweisen und Glaubenssätze gilt es loszulassen, um die Krise nicht zu verschlimmern?
Wiederherstellen – Welche bereits bestehenden oder vergessenen Praktiken, Ansätze und Haltungen können wir wiederherstellen, damit wir mit den auf uns zukommenden Schwierigkeiten fertig werden?
Versöhnen – Mit wem oder was wollen wir Frieden schließen, um das Leiden zu reduzieren? Wie versöhnen wir uns mit dem bestehenden kritischen Zustand der Welt? In welcher Hinsicht könnte es heilsam sein, dass wir uns mit uns selbst versöhnen?“ (zit. nach Junker/Oelschlaeger 2022)
In erster Linie gilt es im Sinne der Deep Adaptation, die Realität eines möglichen Absturzes der Zivilisation auf einer emotionalen Ebene anzuerkennen und zu begreifen – und sich klar zu werden, wie man mit dieser Tatsache umgeht – und was man deshalb künftig für sich persönlich anders handhaben möchte.
Noch einmal, weil es so befreiend zu wirken vermag:
„Wer sich nichts vormacht, wer ‚das Verhängnis, das uns umgibt‘, nicht leugnet, wird handlungsfähig“ (Wenzel 2020).
Auch die 2019er ‚Erklärung der Rebellion‘ von Extinction Rebellion greift diesen Gedanken auf, ergänzt um den Aspekt der absoluten Gewaltfreiheit. Die ‚Erklärung‘ zitiert die Umweltaktivistin und Buddhistin Joana Macy (*1929):
„Radikale Gewaltfreiheit ist die Entscheidung, im Angesicht von Angst aus Liebe zu handeln. Der erste Schritt ist, uns auf Fürsorge und Mitgefühl zu besinnen. Wenn du angesichts des Klimakollaps‘ Verzweiflung spürst, ist das ein Zeichen davon, dass etwas bedroht ist, das dir am Herzen liegt“ (zit. in Ebenhöh 2019, 135).
Gedankliche Klarheit und eine ebenso deutliche Entscheidung begünstigen eine widerständische innere Haltung.
Wolfgang Hubert, Professor für Ethik, den die Zeit als einen „der streitbarsten Kirchenmänner Deutschlands“ bezeichnet, meint dazu:
„Widerstand [ist] eine innere Haltung… Sie setzt voraus, dass ich bereit bin, zu dem zu stehen, was ich als wichtig erkannt habe. Dass ich auch öffentlich dafür eintrete. Und dass ich bereit bin, Risiken in Kauf zu nehmen“ (2019, 72).
Weder „stählernde[r] Optimismus“ (Schnabel 2018, 16), der oft kontraproduktiv sein kann, noch passiv-machender Pessimismus helfen uns weiter. Ulrich Schnabel hat 2018 ein hier weiterführendes Buch verfasst: Zuversicht – Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je.
Um die Unterschiede der drei genannten Begriffe zu illustrieren, bedient er sich der „Parabel von den drei Fröschen, die in einen Topf Milch fallen:
Der Pessimist denkt: ‚O je, wir sind verloren, jetzt gibt es keine Rettung mehr.‘ Sagt’s und ertrinkt. Der Optimist hingegen gibt sich unerschütterlich: ‚Keine Sorge, nichts ist verloren. Am Ende wird Gott uns retten.‘ Er wartet und wartet und ertrinkt schließlich ebenso klang- und sanglos wie der Erste. Der dritte, zuversichtliche Frosch hingegen sagt sich: ‚Schwierige Lage, da bleibt mir nichts anderes übrig, als zu strampeln.‘ Er reckt also den Kopf über die Milchoberfläche und strampelt und strampelt – bis die Milch zu Butter wird und er sich mit einem Sprung aus dem Topf retten kann“ (ebd., 16).
„Zuversicht heißt also nicht, illusionäre Hoffnungen zu hegen, sondern einen klaren Blick für den Ernst der Lage zu behalten; zugleich heißt Zuversicht aber auch, sich nicht lähmen zu lassen, sondern die Spielräume zu nutzen, die sich auftun – und seien sie noch so klein“ (ebd.).
Luisa Neubauer und ihr Mitautor Alexander Repenning definieren sich als Possibilisten1 und zitieren dazu Jakob von Uexküll, den Begründer des Right Livelihood Award, d.h. des sog. alternativen Nobelpreises, mit dem 2019 Greta Thunberg und ein Jahr zuvor Yacouba Sawadogo (vgl. S. 470) ausgezeichnet wurde:
„Der Possibilist… sieht die Möglichkeiten, und es hängt von jedem von uns ab, ob sie verwirklicht werden“ (zit. in Neubauer/Repenning 2019, 24).
„Possibilismus heißt: die Ärmel hochkrempeln. Während Pessimist*innen schnell in einen ebenso lähmenden wie selbstmitleidigen Fatalismus verfallen, und während es sich Optimist*innen in der Erwartung einer rosigen Zukunft bequem machen, werden wir Possibilist*innen aktiv. Solange eine, und sei es noch so kleine Chance auf ein besseres Morgen besteht, sollten wir heute alles daransetzen, sie zu nutzen. Es ist unbequem, Possibilist*in zu sein, es ist anstrengend, anzupacken. Das unterscheidet uns sowohl von Optimist*innen als auch von Pessimist*innen: Wir wissen, dass eine andere Zukunft möglich ist, aber wir wissen auch, dass wir sie nicht geschenkt bekommen“ (ebd., 25-26).
Possibilist*in sein bedeutet, den eigenen Möglichkeitssinn zu schulen.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 vgl. englisch ‚possible‘ = möglich/Möglichkeit; Hans Rosling nimmt für sich in Anspruch den Begriff ‚Possibilist‘ erfunden zu haben und definiert ihn wie folgt: „Er bezeichnet einen Menschen, der weder unbegründeten Hoffnungen anhängt noch sich durch unbegründete Befürchtungen ängstigen lässt, einen Menschen, der sich konstant der überdramatisierten Welt widersetzt“ (2018, 88). Zur medialen Überdramatisierung siehe Abschnitt Glaubenssätze dechiffriert: Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen Aspekt Zeitungen und Nachrichten bilden folglich nicht einmal ansatzweise die Realität ab, S. 381f.
Der Psychotherapeut und Experte für Angsterkrankungen, Dietmar Hansch, äußert sich zur Frage nach der großen Furcht vor Veränderungen von Menschen bzw. der Furcht „davor etwas grundsätzlich im Leben umzustoßen“ (2020, 75):
„Menschen sind aber auch sehr schlecht darin, ihre emotionale Befindlichkeit vorauszusagen. Und unsere Adaptionsfähigkeit ist enorm: Die meisten werden nicht unglücklicher, selbst wenn sie aus einem Haus in eine kleine Wohnung ziehen müssen, auch wenn sie das vorher als Katastrophe imaginieren. Wahrscheinlich haben sie dann weniger Arbeit und weniger Stress. Denn das, von dem wir meinen, dass es uns glücklich macht, macht uns am Ende nicht so glücklich wie wir dachten. Und das vor dem wir uns fürchten, macht uns nicht so unglücklich wie erwartet. Unsere Lebenszufriedenheit pendelt sich meist immer wieder in einer Mittellage ein. Also: weniger Angst vor Veränderung“ (ebd., 76).
Was ich nicht in der Hand habe, lasse ich los.
Das Schrifttum von Albert Schweitzer (1875-1965), welches maßgeblich durch die beiden Weltkriege und die atomare Bedrohung des Kalten Krieges sowie von seinen Erfahrungen als Arzt in Afrika geprägt ist, liest sich über weite Strecken, als wäre es für die heutige Situation verfasst. Er entwickelte als Antwort auf die Misere der Menschheit und des Planeten die Forderung bzw. die grundlegende Lebenshaltung der Ehrfurcht vor dem Leben. Vor allem Leben: „Es ging mir auf, daß die Ethik, die nur mit unserem Verhältnis zu den anderen Menschen zu tun hat [– wie bis dahin seit Jahrtausenden unter Philosoph*innen üblich –], unvollständig ist und darum nicht die völlige Energie besitzen kann (1963, 20). „Die fundamentale Tatsache des Bewußtseins des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ Der denkend gewordene Menschen erlebt die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen, wie dem seinen“ (ebd., 21). „Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen wir in ein geistiges Verhältnis zum Universum. Die Verinnerlichung, die wir durch sie erlebten, verleiht uns den Willen und die Fähigkeit, eine geistige, ethische Kultur zu schaffen, durch die wir in einer höheren Weise als der bisherigen in der Welt daheim sind und in ihr wirken. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben werden wir andere Menschen“ (ebd., 21). „Wir müssen uns von dem gedankenlosen Dahinleben frei machen“ (22). „Mag das Wort Ehrfurcht vor dem Leben als sehr allgemein etwas unlebendig klingen, so ist doch das, was damit bezeichnet wird, etwas, das den Menschen, in dessen Gedanken es einmal aufgetreten ist, nicht mehr losläßt. Mitleid, Liebe und überhaupt alles wertvoll Enthusiastische sind in ihm gegeben… Wie die durch die Wasser wühlende Schraube das Schiff, so treibt die Ehrfurcht vor dem Leben den Menschen an. [Es geht um die] Hingebung an Leben“ (1923, 38). „Ethisch ist [– der Mensch –] nur, wenn ihm das Leben als solches heilig ist, das der Menschen und das aller Kreatur [inkl. der Pflanzenwelt]. Nur die Ethik des Erlebens der ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung gegen alles, was lebt, läßt sich im Denken begründen“ (1963, 22). „Eine neue Renaissance muß kommen, viel größer als die, in der wir aus dem Mittelalter herausschritten: die große Renaissance, in der die Menschheit dazu gelangt, von dem armseligen Wirklichkeitssinn, in dem sie dahinlebt, zur … [Haltung] der Ehrfurcht vor dem Leben fortzuschreiten“ (23).
Nun, auf diese Weise gedanklich eingebettet in das Leben – auch im Sinne von Franziskus von Assisi (1182-1226) – kann es sehr sinnstiftend sein, über sich selbst hinaus zu denken und als Teil des Wunder ‚Leben‘ zu handeln.
>> weitere mögliche Leitlinien und ethische Grundsätze, an die man sich z.B. in den Zeiten der Klimakrise halten kann siehe LebeLieberLangsam: https://basics.lebelieberlangsam.de/leitlinien-und-aphorismen >> s.a. Ausführungen von Hartmut Rosa zum Thema ‚Resonanz‘ und die Anmerkungen von Gerhard Reese zur Sichtweise einer ‚Globalen Identität‘, S. 388f.
Aber wenn uns nun eine Klimakrisen-Depression erwischt hat, was dann?
Dies ist keine therapeutisches oder eine durch eine Ärztin bzw. einen Arzt oder eine Therapeutin oder einen Therapeuten verfasstes Buch, daher kann und möchte ich lediglich kurz und knapp nachfolgend auf zwei Websites, die hier über Zitate anmoderiert werden, verweisen:
„Aktives Handeln sei laut Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer die beste Lösung [gegen Klimaangst]. Besonders in Situationen, in denen es wenig Hoffnung gibt, sei es wichtig, die eigene Kontrolle zurückzugewinnen. ‚Die Patientinnen [sic!] müssen selbst aktiv werden und ins Handeln kommen, um zu merken, dass sie etwas gegen ihre Hoffnungslosigkeit tun können.‘ Dabei gehe es nicht darum, zu belehren, sondern auf sich selber zu achten und so einen positiven Impuls für andere zu schaffen. Trotzdem sei es okay, sich an manchen Tagen schlecht zu fühlen. Wichtig sei es laut Anke, sich darin nicht zu verlieren und sich mit anderen auszutauschen. Das gebe ebenfalls Hoffnung“ (Wittenberg 2019).[1]
Hier geht es also um das Thema ‚Selbstwirksamkeit‘.
Siehe auch Website „Klima-Angst – Alles rund um deine mentale Gesundheit im Klimawandel“ sowie diesen Instagram-Beitrag der gleichen Autor*innen:
„Heute [am 20. September 2019] ist ein wichtiger Tag für bzw. eher gegen deine Klima-Angst. Es ist internationaler Klimastreik und an kaum einem anderen Tag wirst du die heilsame Kraft der Gruppenzugehörigkeit so stark spüren wie heute. Mit zigtausend Gleichgesinnten zu rebellieren ist Balsam für unsere geschundenen Seelen. Der Effekt auf deine Psyche ist auch da, selbst wenn du nicht denkst, dass wir heute viel bewegen. Also hol dir deine Portion positiver Gruppenbestätigung. Du wirst mit dem guten Gefühl, es wenigstens versucht zu haben, nach Hause gehen“ (instagram 2019).
>> s.a. tiefe-anpassung.de (Abrufdatum 27.7.2022, vgl. dazu Ausführungen ein paar Absätze weiter oben)
Wenn es schlimm ist: Im Zweifelsfall empfehle ich Ihnen, eine Ärztin/einen Arzt oder eine Therapeutin/einen Therapeuten aufzusuchen: Sie würden dort garantiert nicht die/der Erste sein mit diesem Thema. Niemand von uns ist allein mit diesem Thema – es ist derart relevant, dass es schon Begriffe dafür gibt: Mit „‚Solastalgia‘ … [gibt es immerhin schon ein] englische[s] Wort für psychischen Stress, den die Klimawandelfolgen auslösen“ (Schneider 2020). In den USA ist mittlerweile von der ‚climate change grief‘ (‚Klimawandel-Trauer‘) die Rede (vgl. Mast 2020). Auch wird laut obiger Webpage von Lucie Wittenberg bereits versucht, ‚eco-anxiety‘ zu einer offiziellen Krankheit zu erklären.
Vorangehen…
…lohnt sich aus vielen Gründen – auch aus dem Folgenden: Eine persönliche Anpassung des eigenen Lebens an die Biodiversitäts- und Klimakrise ist ohnehin erforderlich. Early Adopters haben es gewöhnlich leichter, weil sie sich aktiv und in einem selbstverantworteten Tempo anpassen. Man vermeidet, gezwungenermaßen und abrupt angepasst zu werden.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Im Zusammenhang mit Covid-19 stellt die Psychotherapeutin Natalia Erazo fest: „Das psychische Leid rückt bei manchen etwas aus dem Zentrum des Erlebens … Es gibt nun Konkretes zu besprechen, zu organisieren, zu erschaffen“ (zit. in Dribusch 2020, 13) – auch hier geht es letztlich um Selbstwirksamkeit. Paech weist ebenfalls darauf hin, dass „[e]ine andere Konsequenz hochverdichteter Lebensstile … im Verlust von Selbstwirksamkeit besteht“ (2020, 152).
Quellen des Abschnitts Ohnmachtsgefühle & erlernte Hilflosigkeit: Klimakrisen-Depression
Bendell, Jem (2019): „Untergang und Lebensfreude: Anpassung an den Zusammenbruch“. in: Wann wenn nicht wir*. Ein extinction rebellion Handbuch. S. Fischer.
Dribusch, Barbara (2020): „Corona kann auch stützen PsychotherapeutInnen erzählen von überraschen vielfältigen Erfahrungen in der Coronakrise“. in: tageszeitung, 15.3.2020, S. 13.
Ebenhöh, Eva (2019): „Gewaltfreiheit: ‚The Revolution is Love‘“. in: Extinction Rebellion (2019): „Erklärung der Rebellion“. in: Wann wenn nicht wir*. Ein extinction rebellion Handbuch. S. Fischer, S. 135
Folkers, Manfred und Paech, Niko (2020): All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. oekom.
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein.
Hansch, Dietmar (2020): „Stress: ‚Wie kann ich mich distanzieren‘ – ‚Betrachten Sie das Leben als Theaterstück‘“ [Claus Peter Simon interviewt Dietmar Hansch]. in: GEO Wissen Nr. 67, Redaktionsschluss 24.1.2020, S. 68-77.
Hubert, Wolfgang (2019): „Glauben und Zweifeln: ‚Was ist eigentlich Widerstand, Herr Bischof?‘“. [Interview mit Wolfgang Hubert]. in: Die Zeit, 46, 7.11.2019, S. 72
Junker, Claudia u. Oelschlaeger, Walter (2022): Tiefe Anpassung. Kollektive Resilienz in der globalen Krise. Website, online unter https://tiefe-anpassung.de/ (Abufdatum 27.7.2022)
Kästner, Erich (1933): Das fliegende Klassenzimmer, 149. Auflage, 1992. Dressler.
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
Klimawoche (2020): „Corona und Klima: Was wir wirtschaftlich und gesellschaftlich verändern müssen“. in: Hamburger Klimawoche, 25.9.2020, online unter https://www.youtube.com/watch?v=jeNuHttfMRw (Abrufdatum 29.9.2020)
Krishnamurti, Jiddu (1964): Das Wesentliche ist einfach. Antworten auf Fragen des Lebens. [Think on these Things. Deutsche Ausgabe 1992]. Herder.
Leisgang, Theresa u. Thelen, Raphael (2021): Zwei am Puls der Erde. Eine Reise zu den Schauplätzen der Klimakrise – und warum es trotz allem Hoffnung gibt. Goldmann.
Schweitzer, Albert (1923): „Forderungen und Wege“. in: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. Beck, 2020.
Schweitzer, Albert (1963): „Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur“. in: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. Beck, 2020.
„I certainly never feel discouraged. I can’t myself raise the winds that might blow us or this ship into a better world. But I can at least put up the sail so that when the wind comes, I can catch it“ (E.F Schumacher, 1979)
Einige Inspirationen für ein nachhaltigeres, minimalistisches und in diesem Sinne von materiellen Dingen freieres Leben, das dem Umwelt- und Klimaschutz dient und dass – davon bin ich als Autor des Webportals LebeLieberLangsam überzeugt – das eigene Leben sinnstiftender und intensiver macht:
Erst einmal erkennen, was überhaupt Sache ist:
Der eigenen Entfremdung von der Natur, dem eigenen Leben1 und den Wünschen und Träumen, die man z.B. als junger Mensch hatte, auf die Spur kommen – in diesem Sinne auch:
Die eigene Endlichkeit annehmen – und daraus schöpfend andere und neue Prioritäten setzen.
>> siehe dazu z.B. Ware, Bronnie (2015): 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden. Goldmann.
Die eigenen Glaubenssätze erkennen rund um
‚Arbeitsplätze‘ als Totschlagargument (vgl. S. 323f.),
den vermeintlichem Wachstumszwang (vgl. S. 379ff. u. 391f.),
dem nie-nie-niemals funktionierenden bedingungslosen Grundeinkommen („Dann geht ja keiner mehr arbeiten“ | „Das ist nicht finanzierbar“ – Zu beiden Glaubenssätzen gibt es eine Reihe von Studien, die das Gegenteil nahelegen, vgl. Werner, Götz (2018): Einkommen für alle: Bedingungsloses Grundeinkommen – die Zeit ist reif, Kiepenheuer und Witsch, siehe auch Handbuch, S. 457)
dem HöherSchnellerWeiter-Dogma,
das tagtägliche Hamsterrad, welches das Leben zu leben vergessen lässt,
die ‚Werte‘ der Leistungsgesellschaft2 – und damit verbunden
das negative Menschenbild, dem zufolge den Menschen eigen sei, egoistisch und nur auf den eigenen Vorteil bedacht, also unsozial zu handeln und das ihn nur Gesetze bzw. die Angst vor Strafe einhegen3.
Außerdem
drüberstehen lernen, Reibungslosigkeit aufkündigen, ‚Nein‘ sagen lernen, bereit sein anzuecken,
das ewige Vergleichen mit ‚dem Nachbarn‘ unterlassen lernen,4
statt dessen den Vergleich mit der eigenen Person und der eigenen Geschichte suchen,
Trost- und Frust-Shopping sowie jegliches Süchteln als Signal begreifen, dass etwas im
eigenen Leben nicht stimmt – und selbiges ändern,5
niemals Dinge kaufen, weil jetzt alle sie haben, weil es zum ‚guten Ton‘ gehört, vermeintlich
Prestige bringt etc.,6
die Überzeugung pflegen, „dass das eigene Handeln nicht vom Ergebnis abhängt, sondern allein von dem, was man als richtig erkannt hat“ (Schnabel 2018, 58)7 – und
letztlich erfahren und erkennen, was für das eigene Leben sinnstiftend und wichtig ist – und was nicht. Durch ausprobieren (‚Trial & Error‘), durch lange Spaziergänge, durch eine Auszeit oder sogar mittels eines Sabbatical…
Eine Beobachtung: Wann immer Sie denken „Aber es ist doch so praktisch“ (oder diesen Satz von Anderen hören), sollte eine virtuelle Warnlampe in Ihrem Kopf angehen. Denn dieser Gedankengang ist nach meiner Erfahrung das Zeichen, dass der Gegenstand, das Produkt, die App etc. pp. locker verzichtbar ist. Es ging bislang auch ohne.
Überlegen Sie sich gut, ob Sie die App, Dienstleistung oder das Gerät, Produkt etc. in Ihr Leben lassen – es wird nicht nur ‚so praktisch‘ sein, sondern auch etwas kosten: Ihre Zeit, Ihre Energie,…8
Bleib erschütterbar und widersteh. Peter Rühmkorf (1929-2008) – Titel eines Gedichts.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (8)
1 Der Buddhist Manfred Folkers spricht hier von der „dreifache[n] Entfremdung des Menschen: von der Natur…, vom Mitmenschen … und von sich selbst (vgl. Folkers/Paech 2020, 79).
2 Existiert eine Leistungsgesellschaft in Deutschland?„Ein Versprechen liberaler Demokratien im globalen Norden lautet schließlich soziale Gerechtigkeit. Sie sind Meritokratien, behaupten also, gesellschaftliche Positionen würden allein auf individuellen Verdiensten basieren – so wie auf einem flachen Spielfeld“ (Prado 2020, 13). Dass das eine pure Illusion ist, macht Precht mit einem einzigen Satz überdeutlich: „Wenn heute in Deutschland pro Jahr 400 Milliarden Euro schlichtweg vererbt werden, ist der Begriff ‚Leistungsgesellschaft‘ kaum mehr als ein Euphemismus“ (2018, 115). Prado hingegen verdeutlicht im Weiteren, wie sehr es doch von (vor allem auch nicht-finanziellen) Privilegien abhängt, welche Chancen und Möglichkeiten man in seinem Leben erhält: „[Peggy] McIntosh beschreibt Privilegien als unsichtbaren Rucksack, man kann sie sich aber auch wie Puffer oder Rückenwind vorstellen. Privilegien sind historisch verankert, sie können sozioökonomisch oder materiell sein, sie können aber auch mit Geschlechtsidentitäten oder Gesundheit zusammenhängen, mit dem Wohn- oder Geburtsort, dem Nachnamen oder der Muttersprache – um nur ein paar zu nennen“ (Prado 2020, 13).
3 Wer sich hier angesprochen fühlt, dem sei das unlängst erschienene Buch von Rutger Bregman Im Grunde gut wärmstens empfohlen, in dem herausgehoben wird, das „[i]n Notsituationen … das Beste im Menschen zum Vorschein [kommt. Der Autor] kenne keine andere soziologische Erkenntnis, die gleichermaßen sicher belegt ist und dennoch gänzlich ignoriert wird. Das Bild, das in den Medien [über menschliches Verhalten] gezeichnet wird, ist dem, was [z.B.] nach einer Katastrophe tatsächlich geschieht, diametral entgegengesetzt“ (2020, 23; s.a. Abschnitt Glaubenssatz ‚Der Mensch ist im Grunde schlecht‘, S. 380ff.)
4 Zu dem „Frust des Aufwärtsvergleichens“ und zur „Selbstwertsteigerung durch Abwärtsvergleich“ s. Schnabel, Ulrich (2018): Zuversicht – Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je. Blessing, 37f. Søren Kierkegaard meint: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“ (zit. in Grün 2019, 33). Michael Kopatz macht daraus in seinen ‚Zehn Geboten zur Ökoerlösung‘ im „8. Gebot“ folgendes: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Auto, Handy, noch sonst alles, was dein Nächster hat. Sei deinem Nachbarn ein Vorbild für Bescheidenheit. Zeig‘, dass man auch mit einem leichten Auto oder ohne Auto glücklich leben kann. Und sorg dafür, dass die Stadt in deiner Straße einen Parkplatz für Carsharing einrichtet“ (2019, 8); s.a. Aspekt Standards setzen, um Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch zu entwickeln, S. 476.
5 Niko Paech hält fest, dass es „Ängste [gibt], die mit dem Wohlstand wachsen… [Diese] rufen nach Therapie oder zumindest emotionaler Kompensation. Es ist allzu naheliegend, auch diesen Bedarf systemkonform zu befriedigen, nämlich durch eine noch höhere Erlebnis- und Konsumdichte, die von allen Befürchtungen kurzfristig ablenkt, wenngleich sie diese langfristig nur verschärft“ (Folkers/Paech 2020, 157).
6 Der US-amerikanische Komiker Robert Quillen (1887-1948) steuert hier ein mittlerweile sehr bekanntes Bonmot bei: „Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen“, auf Englisch: „Using money you haven’t earned to buy things you don’t need to impress people you don’t like“ (zit. in Goodreads o.J., Übersetzung folgt Hamm 2019, 16). Dazu der Soziologe Philipp Staab: „Beim Kauf geht es in Gesellschaften materiellen Überflusses selten nur um den Gebrauchswert von Produkten, sondern meist auch um deren Distinktionspotential, das heißt um die Möglichkeit, sich durch den Besitz knapper oder sozial spezifisch konnotierter Produkte symbolisch von anderen abzusetzen. Aus ökonomischer Sicht hat dies den Vorteil, dass Konsumbedürfnisse unerschöpflich und gebrauchswertunabhängig sind“ (2016, 75-76). Womit wir also über die Bedürfnisweckungsgesellschaft und nicht mehr über die Bedürfnisdeckungsgesellschaft sprechen.
7 Ulrich Schnabel beschreibt mit diesem Satz die „vielleicht stärkste Kraft“ (2016, 58) des Trägers des alternativen Nobelpreises (‚Livelihood Award‘) Sawadogo Yacouba, der jahrzehntelang unbeirrt gegen alle Widerstände und Rückschläge seiner Arbeit, das desertifizierte Land seines Heimatortes in Burkina Faso wieder erfolgreich in einen Wald und in fruchtbaren Acker zu regenerieren (siehe Abschnitt Bäume pflanzen/globale Aufforstung, S. 468, ab ‚Mitten in den Sahel-Zone‘, S. 470).
8 … und noch viel mehr: Was auch immer wir besitzen, es hat ausgesucht, bestellt/besorgt, bezahlt, aufgebaut, angebracht, benutzt, gepflegt, sortiert, geordnet, weggepackt, abgestaubt, gewartet, wiedergefunden, repariert, verkauft oder entsorgt, und vielleicht ersetzt sowie evtl. versichert oder vertraglich verlängert zu werden. Das sind eine Menge Handlungen, Zeit, Energie und Aufmerksamkeit, die da hinein gehen (vgl. Schlenzig 2017 u. Fields Millburn/Nicodemus 2017).
Chancen und Grenzen des eigenen Handelns:
Persönliches Handeln ist notwendig aber nicht hinreichend: Es bedarf einer neuen Politik.
So wichtig es ist, voranzugehen durch eigene konkrete Verhaltensänderungen, so richtig ist auch, dass wir damit allein das globale Problem selbstredend nicht in den Griff bekommen.
Mit unserem persönlichen Vorweggehen in Sachen Haltung, Konsumverhalten, Engagement können wir die Stimmung, Zeitgeist und unsere Umgebung mitprägen – und so den Boden mit vorbereiten für politische Maßnahmen.
Positiv: Hans Joachim Schellnhuber, als renommierter Klimaforscher beteiligt an der Kohlekommission 2019 ist zwar ebenfalls ernüchtert vom Ergebnis der Kommission, hält dazu explizit fest:
„Ich sitze recht oft mit sogenannten Entscheidungsträgern zusammen, zuletzt als Mitglied der ‚Kohlekommission‘. Doch die Politik reagiert weniger auf gute Beratung [von Klimaforschern wie mir] als auf Stimmungen der Wähler und Debatten in den Medien. …
Was meinen Sie, wie wohl der Kohlekompromiss ausgesehen hätte, wäre nicht die Mehrheit der Deutschen laut Umfragen sogar zu persönlichen Opfern für den Klimaschutz bereit?“ (Haaf 2019).
Negativ: Ottmar Endenhofer hebt hervor:
„Wenn das alles auf die Individuen, auf uns Einzelne abgewälzt wird, dann passiert doch das, was wir eh schon wissen: Einige werden was tun. Andere werden nichts tun. Deswegen ist ein CO₂-Preis so wichtig, weil erst durch den CO₂-Preis addieren sich die individuellen Anstrengungen aller auf“ (Nguyen-Kim 2019).
David Wallace-Wells:
„Es ist nie falsch, verantwortungsvoll zu leben, und es ist gut, wenn das Umfeld mitbekommt, dass einem dieses Thema wichtig ist. Letztlich wird so ja auch der Politik signalisiert, dass es eine Wählerschaft gibt, die sich eine konsequente Klimapolitik und verantwortungsvolles Handeln wünscht. Aber rein mathematisch ist es einfach so, dass individuelle Handlungen bei einer Krise solchen Ausmaßes kaum einen Effekt haben. Selbst eine globale Bewegung für Veganismus oder gegen Flugreisen würde nicht ausreichen. Was wir brauchen, ist eine ganz neue Politik“ (zit. in Schlüter 2019).
Graeme Maxton:
„Es ist ein weiterer Trick neoliberaler Ökonomen, den Menschen zu suggerieren, dass jeder Einzelne für die Umweltprobleme wie Klimawandel, Meeresverschmutzung und Artenschwund verantwortlich sei“ (2020, 72).
In diesem Sinne führt Mai Thi Nguyen-Kim aus:
„Nur politische Maßnahmen können große Veränderungen bringen. Ohne diese politischen Maßnahmen, ohne diese großen kollektiven Veränderungen ist alles was wir so als Einzelpersonen machen – Radfahren, weniger Fleisch essen, wie auch immer – das ist [im weltweiten Maßstab] alles nur Pillepalle“ (Nguyen-Kim 2019).
Nicht nur die Politik, sondern auch die Industrie schiebt den Verbraucher*innen die Verantwortung zu:
„Die Konzerne … verweisen bei jeder Gelegenheit auf die Verantwortung der Konsumenten. Produziert werde doch nur, was der Verbraucher wolle und was auch gekauft wird. Doch so einfach ist das nicht. Die Industrie [in Deutschland] gibt schließlich pro Jahr mehr als 30 Milliarden Euro [bzw. weltweit mehr als500 Milliarden Euro] für Werbung aus, damit die Menschen Dinge kaufen, die sie eigentlich nicht brauchen“ (Kopatz 2019, 12, vgl. ebd., 31).
Roy Scranton:
„Das eigentlich Problematische an … [– der Abwälzung der Klimafrage auf das Individuum – ] seien nicht die Empfehlungen, sparsam zu sein, weniger zu fliegen oder sich vegetarisch zu ernähren, was alles gut und schön sei, sondern vielmehr das Gesellschaftsmodell, auf dem solche Empfehlungen beruhen: Die ‚Vorstellung, wir könnten die Welt durch individuelle Verbraucherentscheidungen retten. Das können wir nicht‘“ (zit. in Foer 2019, 228).
Diese Vorstellung einer ‚Weltrettung durch individuelle Verbraucher*innenentscheidungen‘ ist definitiv falsch:
Notwendig ist bekanntlich nicht nur ein anders-konsumieren, sondern ein weniger-konsumieren. Das würde aber unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen in die Rezession führen: Unsere Wirtschaft ist, wie sie aktuell aufgebaut ist, auf Überfluss angewiesen, um Wachstum zu generieren. Daher ist es mit kosmetischen Veränderungen oder eben einem anders-konsumieren nicht getan.
Und das bedeutet, dass Politiker*innen und Lobbyist*innen, die die Verantwortung für Klimaschutz auf das Individuum abwälzen, uns schlicht anlügen.
>> siehe auch Intro, S. 36f.
Wie schon im vorigen Was kann ich tun? – Haltung-Abschnitt (S. 168) angedeutet, ist es zwar großartig und hilfreich, voranzugehen, Nachhaltigkeit zu leben und durch die eigene Haltung idealerweise zu inspirieren, aber gleichzeitig hat jeder/jedem von uns ganz klar zu sein:
Wir werden das Klima nicht mit unserem persönlichen Konsumverhalten retten.
In Anlehnung an Adorno weisen auch Neubauer/Repenning darauf hin:
„Es gibt kein nachhaltiges Leben in einer nicht-nachhaltigen Gesellschaft“ (2019, 37).
…mehr
Selbstverständlich kann ich mein Dasein bis zu einem gewissen Grad in Punkto ‚Nachhaltigkeit‘ optimieren. Aber die Grenzen liegen spätestens dort, wo ich keinen Einfluss mehr habe z.B. bei der Nutzung meiner Steuergelder. Und da der Hebel des Steueraufkommens ungleich größer als mein individueller ist, sind meine Nachhaltigkeitsmöglichkeiten via Konsum und persönlichem Verhalten doch letztlich arg eingeschränkt. Also ist der o.a. Satz, den ich intuitiv abschwächen würde, alles in allem richtig.
Es bedarf systemischer Veränderungen:
„Sicherlich ist es großartig, wenn Menschen ein ökologisches Leben führen … – aber das wird nicht die Veränderung mit sich bringen, die wir brauchen in unserer heutigen Lage. Wir[, d.h. Luisa Neubauer und Alexander Repenning,] beschreiben das wie einen großen Raum, den wir vollgestellt haben mit fossiler Infrastruktur. Da ballern die Kohlekraftwerke und die Autos heizen über die Straßen und die Häuser werden geheizt mit alten Ölheizungen … und überall ballern wir diese Emissionen in die Luft in einer unglaublichen Summe. Und all das passiert um uns herum und da drin wandeln wir jetzt und halten uns auf. Und jetzt entscheiden wir uns, zu einen Ökostromanbieter zu gehen und unser Geld in einer nachhaltigen Bank anzulegen … und dann werden wir vegan und achten auf Plastik – und all diese Sachen passieren aber innerhalb von diesen Infrastrukturen, … die nach wie vor völlig ungehindert davon, was Du tust oder lässt, in ihrer eigenen Logik weiter funktionieren, d.h. wir machen es uns in unserer kleinen grünen Oase gemütlich innerhalb einer Welt, die durch diesen fossilen Kapitalismus angeheizt wird und die es überhaupt nicht interessiert am Ende des Tages, ob Du mit dem Fahrrad zur Arbeit fährst oder nicht… (2019a, ab Min 6).
„Die großen Veränderungen müssen systemisch sein. Lasst uns dafür sorgen, dass es normal ist, dass Produkte nicht mehr eingeschweißt werden“ (ebd., ca. 12:40).
Man sollte folglich nicht all seine Energie nur auf das eigene, möglichst richtige Verhalten fokussieren (vgl. ebd., Min. 12)
Der WDR5-Moderator Stefan Karkowsky bringt es auf die Formel: „Öffentlicher Protest ist sinnvoller als privater Konsumverzicht“ (zit. in. Kopatz 2019, 193). – Das bedeutet auch, dass man sich nicht angesichts des eigenen semioptimalen Lebensstils davon abhalten lassen sollte, sich zu z.B. per Teilnahme an Demos zu engagieren.
Eine Teilnehmerin an einem Vortrag von Michael Kopatz beschrieb es so:
„Ich kann mich richtig verhalten, also mit dem Bus fahren oder aufs Rad steigen. Doch wenn ich mir wünsche, dass die Radwege besser werden und die Busse häufiger fahren, muss ich die Verhältnisse ändern. Ich muss mich also einmischen, in die politische Diskussion gehen“ (ebd., 203).
Die ‚Privatisierung‘ der Verantwortung durch Industrie und Politik ist nicht statthaft, sondern definitiv zu viel verlangt, ja, geradezu gemein, wie der Schauspieler Hannes Jaenicke ausführt:
„Stell dir vor, du bist eine alleinerziehende Mutter, hast zwei Kinder. Denkst Du dann wirklich darüber nach, unverpackt einzukaufen…? Nein, Industrie und Politik müssen in die Puschen kommen. Das kann nicht an uns hängen bleiben – das kann nicht sein.“ (zit. in Klimaschutz Baustelle 2018)
Wir alle haben ein unterschiedliches Vermögen, auf die Welt zu reagieren und zu agieren und sind in sehr verschiedenen sozialen Umgebungen angesiedelt – vielleicht pflegen wir aktuell unsere Eltern?
Auch David Luys stellt in der tageszeitung dazu fest:
„Einer Hartz-IV-Empfängerin, die schon vor dem Ende des Monats jeden Euro zweimal umdrehen muss, vorzuwerfen, dass sie nicht ethisch korrekt konsumiert, ist an Zynismus kaum zu überbieten. So wird der Klimawandel auf das Individuum abgewälzt: Schuld ist nicht das System, schuld bist du. Das sorgt für Überforderung und Verzweiflung, bekämpft jedoch nicht den Klimawandel“ (Luys 2020, 6).
>> Kurz sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die besagte Hartz-IV-Empfängerin gar nicht die Mittel hat, um eine überbordende CO2-Emissionen zu generieren – dieses ‚Vermögen‘ wächst mit dem Einkommen, vgl. S. 254f.
Kurz: Es kann nicht funktionieren, sämtlichen (Welt-)Bürger*innen abzuverlangen eine ‚aktive Freiwilligkeit‘ durchzuhalten. Und selbst wenn wir das durchhalten würden – es würde nicht reichen… Auch der ehemalige Club of Rome-Generalsekretär Graeme Maxton weist
„ausdrücklich darauf hin, dass wir den fortschreitenden Klimawandel nicht verhindern werden, indem wir in der westlichen Welt plötzlich alle vegan leben oder nicht mehr fliegen. Dafür ist die Zeit viel zu weit fortgeschritten. Wir brauchen einen radikalen Wandel, der unser ganzes System verändert“ (2020, 17 u. 19).
„Auch wenn jeder in der gesamten EU – eine halbe Milliarden Menschen – möglichst nachhaltig leben würde – kein Fleisch, kein CO2, keine Einwegprodukte –, würde sich nahezu nichts ändern“ (2020, 71).
Mit einem Zitat von Jonathan Safran Foer möchte ich diesen Abschnitt beschließen:
„Die eigentliche Wahl, vor der wir stehen, ist nicht die, was wir kaufen, ob wir fliegen oder Kinder bekommen, sondern ob wir uns [als Gesellschaft] zu einem moralischen Leben in einer kaputten Welt verpflichten wollen, einer Welt, in der die Menschheit für ihr Überleben auf eine Art ökologische Gnade angewiesen ist.“ (2019, 234)
Fazit:
Der große Hebel liegt darin, die Politik anders zu gestalten – und für uns Nicht-Politiker*innen bedeutet das: Die Politik vor sich her zu treiben.
>> Der ehemalige Greenpeace-Chef Thilo Bode: „Der Konsument verändert gar nichts. Nur der Staatsbürger“ (2020, 92). Das ist politisch richtig – und doch ist es gut, im ‚Personal Life‘ voranzugehen.
Mit dieser Einschränkung kommen wir nun zu den…
Inspirationen für konkrete Verhaltensänderungen:
Top 1: Reiseverhalten ändern:
Nicht fliegen – stay grounded1, lebe terran!2 Wenn das nicht vorstellbar ist, dann nur alle paar Jahre (sorry!) für einen mehrwöchigen Reiseaufenthalt, die Flugreise stets bei Atmosfair, MyClimate3 o.ä. kompensieren (nicht toll, aber besser als nicht kompensieren, siehe S. 277f.) – und vor allem prinzipiell und ausnahmslos keine Kurztrips sowie keine Inlands- und sonstigen Kurzstreckenflüge, siehe Aspekt Klimakiller Flugverkehr, S.281f.
Kreuzfahrten unterlassen – insbesondere Kreuzfahrten mit Zubringer-Flügen ablehnen – das ist der ökologische Doppelschlag zzgl. des ethischen Problems der allzu oft unwürdigen Arbeitsbedingungen, siehe Aspekt Der ökologische Doppelschlag: Kreuzfahrten, S. 288ff.
Mobilitätsverhalten ändern:
Gerade als Städter*in: Kein eigenes Auto, Carsharing4, ÖPNV, Fahrrad, E-Bike (Pedelec), Lastenrad (Cargo-Bike), Deutsche Bahn (fährt im Personen-Fernverkehr mit 100% Ökostrom, vgl. Groll 2019)5,
kein SUV! (engl. ‚sport utility vehicle‘ – Sport? Sportlich zu nennen ist allenfalls der Ressourcenverbrauch der meisten Vehikel, die dieser Sparte zugerechnet werden.)
Ressourcen-, Platz- und Treibstoffverbrauch, massiv erhöhte Unfall- und Verletzungsgefährdung der nicht im Fahrzeug befindlichen Mitmenschen, Vermeidung von Aufrüstung im Straßenverkehr – und auch eigene erhöhte Unfallgefahr: „Besonders hoch ist das Risiko eines Überschlags für SUV, die einen hohen Schwerpunkt besitzen. 25 Prozent aller Todesfälle unter Insassen von Pkw und Minivans geschah durch Überschlag, doch in der Gruppe der SUV schnellt dieser Anteil auf 59 Prozent“ (Autobild, o.J.).6
SUV, Jeep, Landrover & Co sind eindeutige Statements: Sie offenbaren das komplett fehlende Umweltbewusstsein ihrer Besitzerin bzw. ihres Besitzers. Wer braucht so etwas? Eine Försterin? Ein Geologe? Das grenzt den Bedarf an solchen Autos in Deutschland auf eine niedrige dreistellige Zahl ein.
Der Politologe Markus Wissen dazu: „Sie sitzen in ihren kleinen Panzern und zerstören Natur.“ (Kolb 2017)
Katharina Thalbach: „SUV … bedeuten: Ich sitze in meinem Panzer und schütze mein Kind und haue alle um, die mir in den Weg geraten.“ (2020, 121)
Greenpeace ergänzt: SUV seien „nicht gerade ein Auto, eher eine Kriegserklärung[,] … eine Kampfansage an andere Verkehrsteilnehmer, Inselstaaten und zukünftige Generationen.“ (zit. in Kopatz 2019, 31)
Jaaaa, das gilt letztlich auch für E-SUV!
Stefan Aykut, Juniorprofessor für ökologische Krisen (Uni HH) wirft die Frage auf:
„Ist es okay, dass manche Leute mit diesen riesigen Autos durch die Gegend fahren und dadurch viel mehr CO₂ [als Andere] produzieren?7
Ist das noch private Freiheit, oder greift das schon in die Freiheit von anderen ein, weil die Umwelt verpestet und das Klima erwärmt wird?“ (Schmidt 2019).
Niko Paech beantwortet die Frage, inwieweit dies Teil einer privaten Freiheit sein kann, definitiv mit ‚nein‘ und schlägt vor, für künftige konstruktive Dialoge die Beweislast umzukehren:
„Wer gibt uns das Recht, in Deutschland noch Baugebiete auszuweisen, Sechsjährige mit Smartphones auszustatten und leistungslosen Wohlstand zu verteilen?“ (Folkers/Paech 2020, 222).
Und, durchaus mehr als eine Randbemerkung:
Elterntaxi vermeiden: Man tut seinen Kindern keinen Gefallen damit.
Kinder gewinnen an Selbstbewusstsein, wenn sie selbstständig – ob allein, in Begleitung oder per ‚Laufbus‘ – zur Schule gehen. Und das ist doch der ‚Job‘ von Eltern: Hilfe zur Selbsthilfe – und ansonsten Loslassen.
Damit gewöhnen wir die Kinder an die Pkw-arme Mobilitätszukunft, es werden Autoverkehre vermieden – und auch Unfälle, denn allzu schnell wird in diesen Tagen die Verkehrssituation vor Schulen unübersichtlich.8
Details: Erläuterungen zu (1) bis (8)
1Stay grounded ist ein Netzwerk, dass „weltweit daran [arbeitet], den Flugbetrieb zu reduzieren und ein klimagerechtes Verkehrswesen aufzubauen“, s. https://de.stay-grounded.org/ (Abrufdatum 18.7.2021)
2terran zu leben bedeutet, geerdet, bodenständig und ohne Flugzeug unterwegs zu sein. Das in Anlehnung an ‚vegan‘ und ‚Terra‘ (lat. ‚die Erde‘) kreierte Kunstwort ermöglicht es verneinungsfrei einen nachhaltigen Lebensstil zu beschreiben – oder darüber zu sprechen; vgl. https://www.terran.eco/ (Abrufdatum 18.7.2021).
4 Ein Carsharing-Auto ersetzt bis zu 20 private Pkw (vgl. VCD 2020, 9).
5 Anmerkung zu „Die Bahn fährt im Personenfernverkehr mit 100% Ökostrom“: Das kann man so rechnen – sie „kauft für den Betrieb ihrer Fernzüge ausschließlich Ökostrom ein“ (Bittner 2020, 1) – aber der Gesamtkonzern DB bezieht seine Energie lediglich teilweise aus Ökostrom: Der Strommix der Bahn AG besteht immerhin zu 44% aus Ökostrom – neben Atom-, Gas- und Kohlestrom (vgl. Groll 2019). Bezieht man obige Angaben nicht mit ein, gilt für den Fernverkehr der DB pro Person: 32g CO2/km (vgl. VCD 2020, 10). Nicht uninteressant: Die Bahn „hat sich 2007 mehr als 400 Megawatt Leistung [und damit mehr als ¼] des 1.100-Megawatt-Kraftwerks gesichert“ (Schwietering 2020). Fairerweise ist hinzuzufügen, dass die BD „probiert [hat], aus dem ungeliebten Datteln-4-Vertrag herauszukommen. Und zuletzt hatte sie gehofft, dass der Kohlekompromiss das Aus für Datteln 4 bringen würde“ (ebd.). Die Bahn will 2038 sämtlichen Strom aus regenerativen Quellen beziehen (vgl. Rohwetter 2019, 30). Und: „Geschäftsreisende seien schon heute CO2-neutral unterwegs: Die Bahn kompensiert [zusätzlich zu o.g. 44%-Ökostromanteil ihre Emissionen“ (ebd.). Allgemein braucht man nur an die vielen Diesel-Loks und die Schenker-Logistik-Lkws der Bahn denken, um klar zu ziehen, dass der Gesamtkonzern derzeit alles andere als klimaneutral agiert.
6 Das eigene Risiko nimmt des Weiteren bei immerhin einem Viertel aller Frontalunfälle zu, d.h. bei Unfällen, wo „das Auto nicht auf gesamter Breite oder mit einem Großteil der Front auf ein Hindernis prallt, sondern nur mit einer Ecke der Front beispielsweise in einen Laternenmast oder Baum einschlägt“ (Lübbehüsen 2014).
7 Leider nur eine Fußnote wert: Im Juni 2020 wurde vom Kabinett (d.h. nicht vom Bundestag!) beschlossen, dass ab 2021 neu zugelassene Benziner/Diesel-Autos zwischen 96 und 115 g Co2/km wie bisher 2 Euro Kfz-Steuer pro Gramm über 95 g/km zu entrichten haben und Autos mit hohem fossilem Verbrauch ab CO2 = 116 g/km stärker besteuert werden. „Der Höchstsatz von vier Euro wäre zu zahlen, wenn das Auto mehr als 195 Gramm Kohlendioxid je Kilometer ausstößt. Das betrifft etwa größere SUV-Modelle wie den Mercedes GLS 580 oder den Porsche Cayenne“ (Knuf 2020). Ein ‚sparsames‘ Auto z.B. wäre derzeit eines mit 100 g/km = 10 EUR CO2-Steuer pro Jahr. Besagter Mercedes GLS 580 = 229 g/km = 229-95=134 g/km x 4 Euro = 536 Euro CO2-Steuer pro Jahr (vgl. Mercedes Benz 2020). Dies sind die Werte für die CO2-Steuer innerhalb der Kfz-Steuer, in die des Weiteren die unveränderte Hubraumsteuer eingeht.
8 In Norwegen gibt es im Umkreis um Grundschulen keine Autos mehr (und allgemein im Jahre 2019 auch keine getöteten Schüler*innen unter 16 Jahren), vgl. Aspekt Direkte Opfer des Motorisierten Individualverkehrs (MIV), S. 298.
Stromanbieter wechseln:
Das ist eine einmalige Aktion und geht in wenigen Minuten. Den Satz „Geiz ist geil“ aus dem Kopf streichen und zu einem ‚echten‘ Ökostromanbieter wechseln: Ein Unternehmen wählen, dass ausschließlich Ökostrom anbietet und nicht gleichzeitig auch Kohle- oder Atomkraftwerke1 betreibt. Die jährlichen, i.d.R. nicht besonders groß ausfallenden Mehrkosten als Spende bzw. perfekte Investition in die Zukunft Deutschlands und in die seiner Kinder betrachten. Es kommt immer der gleiche Strom aus der Steckdose, schon klar – aber ich entscheide, wer meine Kröten bekommt und damit investieren kann (und wer nicht).
Details: Erläuterungen zu (1)
Atomenergie ist aufgrund des großindustriellen Uranabbaus, der langen Transportwege sowie aufgrund der langen Bauzeit und des dort verbauten Betons nicht so CO2-frei wie gerne behauptet wird (vgl. Klein 2015, 172). Auf die Gefährlichkeit von Atomkraftwerken kann hier nicht eingegangen werden, doch stellte der Komiker Bill Maher beim Vergleich der Technologien fest: „Wissen Sie was passiert, wenn ein Windrad im Meer umkippt? Es macht platsch“ (zit. ebd.).
Der Spiegel liefert im Juli 2019 eine Grafik, der zufolge die durchschnittlichen Strompreise für Haushaltskunden im Jahre 2018 wie folgt gestaltet waren:
Grundversorger, Standardtarif 31,47 ct/kWh | Grundversorger, anderer Tarif 29,63 ct/kWh | Tarif bei anderem Versorger 28,80 ct/kWh | Ökostromtarif 29,24 ct/kWh; als Quellen werden „Bundesnetzagentur, Finanztip“ angegeben.
Inwieweit in dieser Statistik echter Ökostrom gemeint ist, ist ungewiss – aber es ist klar: Ökostrom braucht in der Tat nicht oder nicht viel mehr zu kosten – und dessen Nutzung bringt eine Menge. Quasi nebenbei, in einer einmaligen Aktion, kann man seinen persönlichen CO2-Emissionen massiv runterfahren, durchschnittlich von 0,76 t auf 0,05 t, also quasi auf null (vgl. Gonstalla 2019, 111 u. Hage 2019, 15).
2019 = 12,67 Millionen Personen beziehen Ökostrom (vgl. Statista 2019a).
Die Bank wechseln:
Z.B. zu EthikBank, GLS Bank, Triodos Bank, UmweltBank (alphabetische Reihenfolge!) – diese Banken nehmen i.d.R. höhere Gebühren und auch einen Grundbeitrag – aber im Ernst, die anderen Banken können meist nur deshalb tiefere Preise bieten, weil sie ethisch fragwürdig arbeiten (Disclaimer: Die aufgeführten Banken sind Beispiele – und keine Geschäftsempfehlungen: Ich kenne diese Banken bis auf eine nicht wirklich.)
Die Bank zu wechseln, kann, je nachdem,
wie man aufgestellt ist, oder,
ob man schon zuvor Online-Banking betrieb oder nun bei dieser Gelegenheit auf die Online-Ebene wechselt, mehr oder wenig aufwändig sein.
Es ist indes eine hochwirksame Maßnahme, die zudem nach außen strahlt – und sie ist eine einmalige Aktion.
Bei Abschluss von Rentenverträgen und sonstigen Fonds- bzw. Aktien-basierten Versicherungen extrem stark aufdie Zusammensetzung dieser Fonds etc. achten – hier lauert die große Falle, dass unser Geld (wie eben auch bei einer konventionellen Spar-/Dispokredit-Bank) jahrzehntelang in Klimakillerbranchen rund um fossile Energien, unhaltbare Arbeitsbedingungen oder Kinderarbeit gesteckt wird – die o.g. Ökobanken bieten auch solche Versicherungen an, bestimmt ist auch hier nicht immer alles ideal, aber weniger schlimm ist es allemal.
>> siehe in diesem Abschnitt auch Aspekt Divestment, S. 480.
Rindfleisch vom Speiseplan verbannen:
besonders heftige Methan-Schleuder! „Es hat eine viermal so hohe CO₂[e]-Bilanz wie Geflügel- oder Schweinefleisch“ (Wintermantel 2019) – was am in CO₂-Äquivalente umgerechneten Methan liegt.
1kg Rindfleisch = 13,3kg CO₂e | Geflügel 3,5kg CO₂e | Schwein 3,2kg CO₂e (vgl. ebd., s. a. ZAL 2017a) (Das ‚e‘ steht für ‚Äquivalente‘ – Methan etc. werden in die Klimaschädlichkeit von CO₂ umgerechnet, vgl. Abschnitt Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase, S. 145).
„[R]otes Muskelfleisch von Säugetieren – also von Rind, Schwein, Schaf, Pferd und Ziege … [ist] als ‚wahrscheinlich krebserregend‘“ (Gruppe 2 = Acrylamid, Glyphosat) klassifiziert.
„Verarbeitete Fleischwaren wie Salami, Schinken, marinierte Steaks oder Brüh- und Bratwürstchen … [gelten] sogar als offiziell ‚krebserregend‘ [Gruppe 1 = höchste Stufe, in der auch Tabak und Asbest eingeordnet sind]… Auch dann, wenn sie aus Geflügelfleisch hergestellt wurden“ (Zinkant 2015).
Wichtig zur Einordnung dieser Klassifizierung durch die Internationale Krebsagentur (IARC) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der UNO:
„Krebserregend“ bedeutet NICHT, dass man auf jeden Fall Krebs bekommen wird. „Krebserregend“ bedeutet, dass der Stoff – in diesem Fall verarbeitete Wurstwaren – potenziell Krebs verursachen können.
„Wahrscheinlich krebserregend“ bedeutet NICHT, dass man wahrscheinlich Krebs bekommen wird. „Wahrscheinlich krebserregend“ bedeutet, dass der Stoff – in diesem Fall rotes Muskelfleisch vom Rind, Schwein, Schaf, Pferd und Ziege – nach derzeitiger Studienlage wahrscheinlich potenziell Krebs verursachen können. Dass diese zweithöchste Stufe alles andere als eine Entwarnung darstellt, wird verdeutlicht durch weitere Stoffe dieser Kategorie: Glyphosat und Acrylamid. (vgl. Verbraucherzentrale 2015 und Zinkant 2015)
Update Oktober 2019: Eine mannigfach von den Medien aufgegriffene (NutriRECS-)Studie gibt Entwarnung hinsichtlich des Krebsrisikos von rotem Fleisch. Doch letztlich weist diese Meta-Studie lediglich darauf hin, dass die Datenlage zur Frage ‚rotes Fleisch ja/nein?‘ alles andere als ideal ist – deshalb Entwarnung zu geben, geht reichlich weit (vgl. Ulmann 2019).
So hebt die taz hervor, dass diese NutriRECS-Studie in der Fachwelt sehr umstritten ist: „Ernährungswissenschaftler widersprechen vehement“ (Burger 2019).
Mir persönlich erscheint letztlich die geltende (‚amtliche‘) und erst nach langen Diskussionen erfolgte Einstufung der UN verlässlicher, zumal der Ernährungsmediziner Martin Smollich … in der Zeit darauf hinweist, dass „einer der größten Sponsoren des NutriRECS-Konsortiums … A&M AgrifLife [ist], ein Lobbyverband der texanischen Agrarindustrie. Ein erklärtes Unternehmensziel: die Rinderzucht in Texas zu fördern“ (2019).
… Immer wieder gilt die Frage: „Wer hat’s bezahlt?“
Der Spiegel weist in diesem Sinnzusammenhang auf Ausführungen des Präsidenten der Europäischen Gesellschaft für präventive Medizin, Michael Sagner, hin:
„Der Experte verweist auf Studien der Weltgesundheitsorganisation [WHO], denen zufolge 80 Prozent der Gesundheit des Menschen vom eigenen Lebensstil abhängen, besonders der körperlichen Bewegung und der Ernährung. Nur 20 Prozent seien vorbestimmt. Herzinfarkte, Schlaganfall, Diabetes und Krebs seien [statistisch gesehen] in erster Linie durch eigenes Fehlverhalten verursacht. Auch durch falsche Ernährung und zu viel rotes Fleisch“ (Amann et al. 2013, 72).
Befrei‘ Dich aus der Grillzange!
Vegetarisch (‚Alles was mal Augen hatte‘) oder sogar vegan leben:
…und wem das nicht erstrebenswert erscheint:
Bioland- oder Demeter-Biofleisch kaufen (Tierwohl, Antibiotika(-resistenzen), Arbeitsbedingungen, F) bis 4´(4
siehe Abschnitt Fleisch, Fisch & Ernährung, S. 549ff.),
der ärztlichen Empfehlung folgen: nicht mehr als 600g pro Woche inkl. Wurst = 31kg pro Jahr statt des deutschen Durchschnitts 60 kg1 (vgl. Spiegel 2017) und
deutlich weniger Fleisch essen, Fleisch- und/oder Fischtag (wieder) einführen. (Dann schlägt der Kauf von Biofleisch und Biofisch auch nicht aufs Portemonnaie, s.u. Aspekt Perspektive beim Fleischkauf wechseln, S. 183)
Anregung: Zu welcher Mahlzeit würden wohl die meisten Menschen Fleisch vermissen? Jonathan Safran Foer meint, es sei das Abendessen, daher schreibt er: „Keine tierischen Produkte zum Frühstück und Mittagessen zu konsumieren, spart jährlich 1,3 Tonnen [CO₂ pro Person]“ (2019, 117).
Statistiken von der Facts-Seite der Film-Doku Cowspiracy (2014):
Land, das benötigt wird, um eine Person ein Jahr lang zu ernähren: vegan = 674 qm | vegetarisch = 2.023 qm (=Faktor 3) | Fleisch-essend = 12.141 qm (Faktor 18) (vgl. Anderson/Kuhn 2019)
„A person who follows a vegan diet produces the equivalent of 50% less carbon dioxide, uses 1/11th oil, 1/13th water, and 1/18th land compared to a meat-lover for their food“ (ebd.).
Auf 6.070 qm können 170kg tierische Lebensmittel produziert werden.
Auf 6.070 qm können 16,8t pflanzliche Lebensmittel produziert werden (Faktor 44) (ebd.).
>> vgl. Aspekt Weitere Zahlen zum Thema ‚Fleisch & Treibhausgase‘, S. 552.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Omnivore (biologischer Fachausdruck für Allesesser/Allesfresser) verzehren in Deutschland statistisch gesehen durchschnittlich: 35,67kg Schwein | <10kg Rind | 13,19kg Geflügel (vgl. Börnecke 2019)
„Aus sieben Kilogramm Soja lassen sich rund 14 Kilogramm Tofu herstellen, dessen Nährwert dem von Fleisch entspricht. Das heißt, mit Tofu bekommt man 14-mal mehr Menschen satt als mit Fleisch. Man kann sich das ungefähr so vorstellen: Petra lädt 14 Freunde zu einer Grillparty ein. Einer davon bringt sein Steak mit. Dessen Herstellung war ungefähr genauso aufwendig wie die der Tofu-Burger aller übrigen Gäste“ (Kopatz 2016, 101).
„Nahezu 70 Prozent der direkten Treibhausgasemissionen unserer Ernährung sind auf tierische Produkte zurückzuführen“ (Kopatz 2019, 148).
Auch eine Zahl: Wer „rund 60 Kilogramm Fleisch im Jahr [isst]… kommt [statistisch gesehen] auf 1.000 Tiere in seinem Leben“ (Abé 2019, 31).
…mehr
Geo kommt auf die Zahl 748 Tiere („661 Hühner, 45 Schweine, 31 Enten, fünf Gänse, drei Schafe und drei Rinder“ (2020, 109), die ein 80-jähriger Mann statistisch gesehen gegessen hat – möglicherweise kommt hier zum Tragen, dass der als Beispiel angeführte Mensch in seiner Jugend generationsbedingt weniger Fleisch auf dem Teller hatte.
Absurd und abgründig: „Wir lieben unseren Haushund und legen gleichzeitig Billigwürstchen aus martialischer Tierhaltung auf den 800-Euro-Grill“ (Kopatz 2019, 12).
2018 gaben deutsche Verbraucher*innen 1,21 Mrd. Euro für Grillgeräte, -brennstoffe und -zubehör aus (Statista 2019b). 2014 waren es für Biofleisch 244 Millionen Euro (vgl. Kopatz 2019, 161).
„Haustiere werden wie ein Teil der Familie behandelt…, sind allgegenwärtiger Begleiter, Spielkamerad und nicht selten Gesprächspartner. Tiere empfinden Schmerzen, träumen, streiten, kuscheln, ängstigen sich. Dasselbe gilt auch für Schweine. Da macht der Deutsche aber einen Unterschied. Da haut er das Schnitzel für einen Euro in die Pfanne. Das ist gelebte Schizophrenie“ (ebd., 29).
Details: Apropos Haustiere
Apropos Haustiere: Auch diese haben CO2-Bilanzen, die – wem sonst – den Bilanzen der Besitzer*innen hinzu zu addieren sind. Beispiele: „Small Dog with LowLife Expectancy (7.5 kg, 8 years)“ = insgesamt 3 t CO2e | „Big Dog with HighLife Expectancy (30 kg, 18 years)“ = insgesamt 19 t CO2e (vgl. Yavor et al. 2020, 10) | Eine Studie aus der Schweiz nennt Werte für Katzen (0,39 t CO2e pro Tier pro Jahr) und Pferde (3,1 t CO2e pro Tier pro Jahr) (vgl. Bader 2020).
Gern übersehen:
„Wenn für mein Steak Menschen in Bangladesch ertrinken oder [Wild-]Tiere am Amazonas verbrennen, wird die Bedrohung sehr konkret“ (Klarmann 2019, 64).
Derzeit werden 80% der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Zusammenhang mit Fleischproduktion genutzt. Daher sind Veränderungen hin zu einer weniger Fleisch-lastigen Ernährung sowohl ein wichtiger Hebel
für die gelingende Ernährung der sich bis 2100 bei 11 Mrd. Menschen einpendelnden Weltbevölkerung (vgl. Abschnitt Gute Nachricht: Weltbevölkerungsentwicklung, S. 613f.) als auch
für eine globale Reduktion von CO₂-Emissionen und sonstiger Umweltbelastungen inkl. Entwaldung (vgl. Weindl et al. 2017 u. GN 2019).
Umgekehrt wird in Weindl et al. festgestellt, das „sich die durch Landnutzungsänderung [= Rodung für Weiden und Plantagen] entstehenden Kohlenstoffemissionen um fast 80 Prozent senken ließen, wenn die Menschheit ihre Ernährung bis 2050 auf einen Anteil von 15 Prozent tierischer Kalorien umstellt“ (Mast 2019).
Nicht vorenthalten möchte ich an dieser Stelle Rezos gewohnt-treffendes Statement zu Massentierhaltung:
„[N]ach meinen christlich-humanistischen Werten und meinem Anspruch auf logisch-konsistente Ethik ist es nicht gerade der coolste Move, wenn Kinder ihren Eltern nach der Geburt entrissen werden, Neugeborene in Kammern vergast und lebendig zerschreddert werden, die Überlebenden durch psychische Zerfickung teilweise zum Kannibalismus getrieben werden oder ihr Leben lang bewegungsunfähig in Dunkelheit verbringen – und das alles nicht vereinzelt ausgeführt wird, sondern strukturiert in einer hundertmilliardenfachen systematischen Tötungsmaschinerie“ (Rezo 2019).
Anzahl von Vegetarier*innen und Veganer*innen in Deutschland: Vegetarier*innen = 6% (5 Mio Menschen) | Veganer*innen = 1% (827.000 Menschen)
„Vegetarisch ernähren sich laut dem Ernährungsreport [2019] sechs Prozent der Deutschen, vegan lebt demnach nur ein Prozent. Unter den 14- bis 29-Jährigen ist der Anteil der Vegetarier mit 11 Prozent am höchsten“ (Mumme 2019).
Vegetarische Wurst besteht oftmals zu einem hohen Anteil Hühnerei-Eiweiß – was die Klimabilanz gegenüber rein pflanzlicher veganer Wurst deutlich schmälert. Auch ist die Frage aufzuwerfen, wo dieses Hühnerei-Eiweiß erzeugt wurde – und wie es um die Haltungsbedingungen bestellt ist (vgl. Aspekt Das Thema ‚Eier‘ auf der Reihe haben, S. 187).
Fleischersatzprodukte vermeiden, die im Unterschied zu einer Tofu-Bratwurst den Biss und den Geschmack von Fleisch imitieren.
„Studien belegen eine bessere Ökobilanz der [imitierenden] Veggieburger gegenüber Fleischprodukten. Die Inhaltsstoffe indes trüben die Bilanz merklich ein“ (Klawitter 2019, 73). Weiter zitiert der Spiegel den Mediziner Matthias Riedl: „‚Das sind Produkte aus dem Chemielabor‘. Ihren Geschmack erhielten sie durch Salz, Zucker, Fett und Aroma. ‚Der Nimbus der pflanzlichen Ernährung trügt… Das ist Astronautennahrung, als Bulette kaschiert und nicht wirklich gesund‘“ (ebd.).
Wenn es darum geht, Rind vom Speiseplan zu verbannen, geht es auch um die Reduzierung von Milch bzw. Milchprodukten – denn diese stammen nun mal von den tierischen Methan-Schleudern:
Die 13 größten Milchunternehmen der Welt = 338 Mio t CO2e (2017) = +11% innerhalb von 2 Jahren | Der Staat ‚Spanien‘ insgesamt = 344 Mio t CO2e (2017) (vgl. IATP 2020 u. Climatewatchdata 2020)
Wenn vegan, dann möglichst ohne sog. Superfoods – mit diesen exotischen Superfoods wird die eigene CO₂-Bilanz, die ohne tierische Produkte ja eigentlich relativ gut aussehen könnte, anderweitig relevant belastet, vgl. Açaí-Berre (Brasilien), Cashewnüsse (Brasilien), Chia-Samen (Lateinamerika), Goji-Beeren (Südostasien), Maqui-Beere (Anden), Moringa (Indien) und Quinoa (Anden)… sowie Avocado (ursprünglich Lateinamerika).
Ernte 1 kg Avocado= 2,5 Stück = 1.000 Liter Wasser | Ernte 1 kg Tomaten = 170-180 Liter Wasser (Raether 2019); Avocados kommen wie die meisten Superfoods aus Gegenden, in denen es ohnehin wenig Wasser gibt: „In Mexiko werden jedes Jahr bis zu 4.000 Hektar Wald illegal gerodet, um Avocadoplantagen anzulegen. 80 Prozent des knappen Trinkwassers fließen dort in die Landwirtschaft“ (ebd.).
Der Begriff ‚Superfoods‘ ist übrigens nicht geschützt (vgl. Umweltnetz Schweiz 2018). Daneben gibt es vielfach Hinweise auf erhebliche Belastungen durch Schadstoffe. Die Nutzung von Superfoods wird auch nicht besser, wenn man sie in Tablettenform zu sich nimmt.
Wie sich aus diesem Buch ergibt, gilt, dass die Rechnung – auch ohne die Ernährung mit Superfoods – „vegan leben, also kann ich fliegen“ nicht aufgeht.
Fleischkonsum genau analysieren und sich ‚ehrlich machen‘: Die oft gehörte Aussage „Wir essen selten Fleisch und wenn, dann Bio“ – und dann regelmäßig im Restaurant Fleischmahlzeiten bestellen ist: Selbstbetrug.
Das gleiche gilt für die Aussage „Wir kaufen nur beim Schlachter unseres Vertrauens und der kennt den Bauern“ – zumindest sollte man sich hier genau informieren, wie die Haltungsbedingungen konkret sind und vor allem wo bzw. wie die Schlachtung erfolgt.
Perspektive beim Fleischkauf wechseln:
Biofleisch ist nicht teuer: Der hier aufgerufene Preis ist der reale/realistische Herstellungs- bzw. Verkaufspreis für Fleisch1 (vgl. Fisch), wenn kein Schmu betrieben werden soll.2
Konventionelles Fleisch zu kaufen ist Tierquälerei, fördert stundenlange Tiertransporte, pre-käre Arbeitsverhältnisse z.B. auf Schlachthöfen, unwürdige Stress-verursachende Massenschlachtungen, schädigt aufgrund der Massentierhaltung das Trinkwasser durch Nitrat3, fördert Antibiotika-Resistenzen allgemein und bei entsprechendem Fleischgenuss direkt im eigenen Körper, was faktisch ein Lebensrisiko darstellt:
„In Europa sterben jährlich etwa 25.000 Menschen, weil Antibiotika nicht mehr wirken“. „[B]undesweit [werden] jede Minute 112 Schweine geschlachtet… 99 Prozent der Schweine stammen aus konventionellen Betrieben… [Resistenzen sind auch] Folge gnadenloser Preiskämpfe von Discountern und des gesamten Fleischhandels…“ (GN 2017) und dann fällt noch das Stichwort „multiresistente Keime in Gülle“, die auf den Feldern landen… Hm. Geiz ist geil?
Die Überschriften gleichen sich: So schreibt der Spiegel über einen Bericht der US-Gesundheitsbehörde CDC im November 2019: „In den USA sterben jährlich etwa 35.000 Menschen durch antibiotikaresistente Keime“ (Spiegel 2019).
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 „Ein Rewe-Supermarkt in Berlin: Im Kühlregal liegen in Plastikfolie eingeschweißte Fleischstücke: 100 Gramm Schweinenackensteak kosten 50 Cent. In der Gefriertruhe bei Netto findet sich im Angebot eine Großpackung Hähnchenkeulen. 1 Kilo für 1,24 Euro“ (Abé 2019).
2 Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik geht von „Erhöhungen der derzeitigen Produktionskosten um 13 bis 23% [aus], die allerdings zwischen den Produktionszweigen stark variieren“ (WBA 2015, 39). Wird also komplett auf Bio umgestellt und isst jeder Mensch nur die ärztlich empfohlene Menge, spart er/sie Geld.
3 vgl. dazu Abschnitt Zu viele Tiere auf zu wenig Raum >> Trinkwasserschädigung durch Nitrat, S. 591
Und noch einmal gesondert für Deutschland: „Bei einer bundesweiten Stichprobe in Supermärkten1 fand der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland [Nabu] kürzlich auf 88 Prozent des abgepackten Putenfleisches antibiotikaresistente Keime2. Die Keime gelangen mit dem Fleisch in die Küchen der Verbraucher, wo es zu einer Übertragung auf den Mensch kommen kann. Damit wächst die Gefahr, dass Antibiotika zunehmend wirkungslos werden – nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sterben in Deutschland jedes Jahr rund 10.000 Menschen, weil Antibiotika nicht mehr wirken“ (Kopatz 2016, 73-74). Und: „Sehr verbreitet ist inzwischen sogar die Verwendung von sogenannten Reserveantibiotika – sie sind das allerletzte Mittel gegen multiresistente Bakterien. Durch den Einsatz in deutschen Ställen verlieren sie womöglich bald auch im Krankenhaus ihre Wirkung“ (ebd., 82).
Update April 2020: Greenpeace veröffentlicht eine Studie, der zufolge „[i]n der Schweinemast … in großem Stil das Reserveantibiotikum Colistin eingesetzt [wird]“ (Hamburger Abendblatt 2020). Der Greenpeace-Landwirtschaftsexperte Dirk Zimmermann „nannte es unverantwortlich, Antibiotika und resistente Keime über die Gülle großflächig auf Äckern zu verteilen. Damit steige das Risiko, dass Bakterien oder ihre Resistenzen Menschen erreichten“ (BR24 2020).
>> vgl. Aspekt, dass Massentierhaltung Zoonosen wie z.B. Covid-19 begünstigen kann, S. 553.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Der Metzger und Ökolandwirt Sven Lindauer über vermeintlich besonders frisch bzw. gut aussehendes „Fleisch im Supermarkt[. Es] ist immer rot, weil es mit Sauerstoff begast wurde“ (zit. in Albig2020, 109).
2 Die Zahl passt zu der Feststellung des Spiegel, der zufolge „[ü]ber 90 Prozent der Tiere [= Hühner] in ihrem kurzen Leben Antibiotika bekommen, zum Teil bis zu acht unterschiedliche Wirkstoffe“ (Amann et al. 2013, 68).
Wenn Bio eigentlich das ‚Natürliche‘ und ‚Normale‘ ist, dann ist die Frage aufzuwerfen, warum eigentlich Bio-Produkte gesondert gekennzeichnet werden – und nicht die umweltschädigenden und Risiko-behafteten ‚konventionellen‘ Nicht-Bio-Produkte, wie Lisa Bauer-Gauss in einem facebook-Kommentar ausführt: „Alles, was mit Pestiziden behandelt, mit Zusatzstoffen vollgepumpt oder gentechnisch verändert ist, müsste dementsprechend ausgewiesen sein. Also statt der Kennzeichnung ‚Bio-Tomaten aus Österreich‘ bitte die Kennzeichnung ‚chemisch behandelte Tomaten aus Spanien‘. Statt der Kennzeichnung ‚Bio-Eier aus Freilandhaltung‘ bitte die Kennzeichnung ‚Eier aus Käfighaltung‘. Und statt der Kennzeichnung ‚Bio-Fleisch‘ bitte die Kennzeichnung ‚Fleisch mit Antibiotika‘. Das würde unser Einkaufsverhalten nachhaltig verändern. Von einer Sekunde auf die andere“ (Bauer-Gauss 2018).
Bei Lebensmitteln nur noch Bioland und Demeter als Bio-Siegel akzeptieren und/oder auf fairtrade achten – alles andere ist i.d.R. nur lala1, – es geht hier gar nicht ausschließlich um die eigene bessere Ernährung, sondern auch vor allem darum, optimal die ungiftige Pestizid-, Herbizid- und gänzlich Gentechnik-freie sowie bodenwahrende Agrarkultur zu unterstützen2 – und man schützt via Einkauf
die Ackerböden (und stützt den Humusaufbau; vgl. S. 567ff.)
das Grund- und Trinkwasser (vgl. S. 591ff.)
das Tierwohl (vgl. S. 555ff.),
sorgt für bessere Bedingungen von Insekten und insbesondere (Wild-)Bienen, d.h. fördert die Artenvielfalt (vgl. S. 673f.) und
entzieht den Großkonzernen in Landwirtschaft, Chemie- und Saatgutbranchen den Zugriff und das Kapital (vgl. S. 399ff., Fußnote auf S. 588).
Die fatalistische Frage „Was kann ich schon tun?“ ist hier trefflichst und ganz pragmatisch mit „eine Menge kannst Du tun!“ beantwortet.
Und wenn die/der ab sofort Bio-Einkaufende es gleichzeitig schafft, künftig keine Lebensmittel mehr wegzuwerfenund Fisch/Fleisch nur noch im gesundheitlich empfohlenen Mengen zu kaufen, dann wird das finanziell in etwa ein Nullsummenspiel.3
„[J]eder Bundesbürger [wirft] im Jahr durchschnittlich 55 Kilogramm Essen weg.“
>> Mumme 2019, s.a. Abschnitt Eine zweite gute Nachricht: Ernährung der Weltbevölkerung, S. 621f.
Mit anderen Worten – und bezogen auf Deutschland: Bio kann sich quasi jede*r leisten.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Das ist natürlich recht pauschal ausgedrückt, doch gilt zu bedenken: Siegel sind generell eine weitere Methode, Umweltschutz zu privatisieren – worauf der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) auch explizit hinweist: „Verbraucherinnen und Verbraucher haben es selbst in der Hand, sich für ein Produkt zu entscheiden, das unter menschenwürdigen Produktionsbedingungen, ökologisch und sozial vertretbar hergestellt wurde“ (zit. nach Holdinghausen 2015). Hört dieser Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland sich selbst zu? Er erklärt hier, dass in Deutschland zugelassene Standardprodukte i.d.R. unter menschen-unwürdigen Produktionsbedingungen, unökologisch und sozial nicht vertretbar hergestellt werden… Meines Erachtens ist es Aufgabe des Staates, dass – symbolisch gesprochen – kein Blut an in Deutschland zu kaufenden Waren klebt. Stattdessen „prangen mittlerweile so viele[, d.h. mehr als tausend] Unbedenklichkeitsbescheinigungen auf Konsumprodukten, dass selbst Verbraucherschützer den Überblick verloren haben“ (Hartmann 2018, 125). Insgesamt betrachtet sind Siegel m.E. derzeit mehrheitlich eine Art moderner Ablasshandel, lenken vom eigentlichen Problem ab und hemmen Reformen. Und Übersicht schaffen sie auch nicht wirklich: Weltweit gibt es allein für die Tourismusbranche mehr als 150 Nachhaltigkeitssiegel (vgl. fairunterwegs 2020). Machen wir uns klar, dass das auch richtig gut laufen könnte: Ein verlässliches Siegel pro Branche bedeutet bezogen auf Deutschland, dass eine Prüfanstalt dafür sorgt, dass 83 Mio Bürger*innen sich nicht mehr bei jedem Einkauf z.B. im Bereich Textil sich über die Produktionsweise Gedanken zu machen brauchen. Siehe auch „Textil-Siegel im Greenpeace-Check“, online unter https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/e01211-greenpeace-chemie-einkaufsratgeber-textil-siegel-2018.pdf (Abrufdatum 7.6.2020); Mit Labels sieht es ähnlich aus. Im Sommer 2020 wird eine Art Klimalabel für Lebensmittel diskutiert. Die/der Verbraucher*in würde so mittels einer farblichen Kennzeichnung sehen, dass Parmesan im Gegensatz zu Blumenkohl eine ungünstige CO2-Bilanz hat (vgl. Maurin 2020, 8). „Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft erklärte, angesichts der Klimakrise ‚ist eine Politik gefragt, die mutig umbaut und nicht mit einer Flut von Labeln die Verantwortung auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abwälzt‘“ (ebd.): Letztlich ist es eine Variante eine Variante der ‚freiwilligen Selbstverpflichtung‘, nämlich ein ‚Seht her wir tun so als tun wir etwas, und das Beste ist: Wir tun niemandem weh.“ Das ist m.E. ein Ablenkungsmanöver, für das wir keine Zeit mehr haben. Gleiches gilt für den ‚Nutri-Score‘, der voraussichtlich im Herbst 2020 in Deutschland eingeführt wird – Unternehmen können sich an dieser Kennzeichnungslabel für Lebensmittel, das farblich von grün = A bis rot = E auf einen Blick zeigt, wie schlimm es um Fertignahrung steht, freiwillig beteiligen (vgl. Verbraucherzentrale 2020). (Man könnte ja auch einfach rote Werte als unzulässig aus den Supermärkten verbannen.) Es könnte möglicherweise vielleicht eventuell passieren, dass eher ein Hersteller von Mineralwasser geneigt ist, sich das Label auf seine Produkte zu drucken, als ein Chipshersteller… Die Verbraucherzentrale bietet eine Grafik fürs Portemonnaie, die Sie davon abhalten wird, Fertignahrung zu kaufen: https://www.verbraucherzentrale.de/sites/default/files/inline-images/Verbraucherzentrale_Naehrwerte_Ampelkennzeichnung_0.jpg (Abrufdatum 2.9.2020).
2 Manuel Klarmann merkt dazu an: „Bio ist besser fürs Tierwohl und für die Böden, und die Bauern sind unabhängiger von der Industrie, was gut ist. Aber klimatechnisch ist es ein Nullsummenspiel, der Methangasausstoß pro Tier ist höher“ (2019, 64). Ein Stück Rindfleisch in Bioqualität hat aufgrund des größeren Flächenbedarfs einen tendenziell höheren CO2-Abdruck, wobei die Bandbreiten je nach Haltungsform sehr unterschiedlich ausfallen (vgl. ifeu 2020, 13). Da es aber insgesamt um eine erhebliche Einschränkung der kohlenstoffintensiven Massentierhaltung zu gehen hat, ist die möglicherweise etwas ungünstigere CO2-Bilanz von Bio-Rindern kein Argument gegen ebendiese – vgl. mannigfache o.g. Vorteile.
…auf Basis von frischen Grundnahrungsmitteln (‚Lebensmitteln‘) – industriell hergestellte Fertignahrung als seltene Ausnahme für Renovierungsarbeiten und Notsituationen sehen.
Der Sportmediziner Matthias Marquardt empfiehlt grundsätzlich frische Lebensmittel und meint dazu:
„Hören Sie auf ihre Nase“ (sic!), schreibt er, die Nase sei „ein formidables Organ zum Beurteilen von Speisen“ und das „seit Jahrtausenden“ (Marquardt 2007, 80 u. 2012).
Fertignahrung1 wird zusätzlich „auch noch verarbeitet, gekühlt, getrocknet, mit anderen Produkten kombiniert, verpackt, vorgekocht oder – gebraten und gefroren. Hinzu kommen sehr lange Transportstrecken zwischen diesen Prozessen“ (Kopatz 2016, 76-77). Das sind allesamt Prozesse, die den Einsatz von Energie erfordern.
„Schon der Weg des Fleischanteils in der Lasagne von der Schlachtung bis zur Weiterverarbeitung erstreckt sich über halb Europa; dasselbe gilt für die Herstellung von Futtermitteln für die Tierhaltung sowie für Züchtung, Haltung und Transport“ (ebd., 14) und weiter: „Die ‚Europa-Lasagne‘ zeigt: Die systemischen Probleme unserer Wirtschaft und Gesellschaft manifestieren sich sogar in einem banalen Schichtnudelgericht aus der Truhe“ (ebd., 15).
Kopatz weist des Weiteren darauf hin, dass „[d]urch die Globalisierung … die Produktionsmethoden gleichermaßen zentralisiert und diversifiziert wurden. Verstrickte Produktions-, Verarbeitungs- und Lieferketten haben ein System organisierter Verantwortungslosigkeit geschaffen“ (ebd., 14).
Mahesh Desai, vom Department für Infektion und Immunität des Luxembourg Institute of Health (LIH) wird im Spiegel mit folgenden Hinweisen betreffend die Notwendigkeit, seine Darmbakterien zu schützen, zitiert:
„Für jeden Menschen ist es ratsam auf industriell verarbeitete Nahrungsmittel zu verzichten und Ballaststoffe aus möglichst vielen verschiedenen Quellen zu verzehren. Man solle nicht nur so viel Obst und Gemüse wie möglich zu sich nehmen, sagt Desai. ‚Wenn man nur Kartoffeln oder eine Sorte Obst isst, dann ist das wahrscheinlich nicht das Allerbeste für die Mikrobiota. Man sollte eine breite Auswahl haben, mit Bohnen und verschiedenen Nüssen.‘ Vollkornbrot, Haferflocken und insbesondere Kleie, das vermeintliche Abfallprodukte aus der Getreidemühle, stecken ebenfalls voller Nahrungsfasern… [und Desai konstatiert:] ‚Pflege deine Bakterien, sonst fressen sie dich‘“ (Blech 2019, 102).
Hinsichtlich des Themas Fast Food ist hier nur kurz einzufügen:
„Ein Menu aus … [einem großen Burger], mittlerer Portion Pommes, 0,4 Liter Cola und Eis zum Nachtisch enthält 119 Gramm Zucker, Ketchup nicht mit eingerechnet. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für Kinder und Jugendliche maximal 25 Gramm pro Tag. Mit nur einer Mahlzeit hat ein Kind den Zuckerbedarf von fast fünf Tagen gedeckt.“ Der Autor dieser Sätze, Harald Sükar, vormaliger Geschäftsführer von McDonald’s Österreich, zitiert daneben auch einen britischen Politiker mit den pointierten Worten: „Fast Food ist Kindesmisshandlung“ (zit. in Köppe 2019).2 3
Letztlich entpuppt sich die groteske, klamaukige Satire der französischen Filmkomödie „Brust oder Keule“ (1976, Originaltitel ‚L’aile ou la cuisse‘) mit Louis de Funès als eine erstaunlich zutreffende und dabei reichlich düstere historische Zukunftsvision des heutigen Ist-Zustandes.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 Der ermäßigte Steuersatz von 7% (Grundnahrungsmittel) statt 19% (Genussmittel) gilt für Produkte, die der Grundversorgung dienen. Die Liste bedarf dringend der Überarbeitung unter Einbezug von Umwelt-, Energie und Gesundheitsaspekten. Empfehlenswert erscheint m.E. zwischen weitgehend unverarbeiteten non-tierischen gesunden Lebensmitteln (7% = Gemüse, Nudeln, Reis, Brot, Nüsse etc.), verarbeiteten, mehr als z.B. fünf Zutaten enthaltenen und CO2-/energieintensiv hergestellten Nahrungsmitteln (19% = tierische Produkte, Tiefkühlkost, Tütensuppen etc.) und sonstigen Genussmitteln (19% oder mehr = Süßigkeiten, Knabberkram, Alkohol, Zigaretten etc.) zu unterscheiden. Es macht insgesamt Sinn, dass Gemüse-basiertes Selbstkochen günstiger ist als Fertignahrung-in-den-Ofen-schieben und der Verzehr von zu viel Fleisch. | Update August 2020: Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) fordert nunmehr ähnliches: Fleisch sei mit 19% zu belegen. „Zugleich könnten die Steuersätze für gesündere und klimafreundlichere Alternativen, etwa Obst und Gemüse, gesenkt werden. Teil des Maßnahmenkatalogs ist zudem eine Zuckersteuer für Limonaden und stark gezuckerte Nahrungsmittel“ (Liebrich 2020). Die so beratende Ministerin Klöckner bedankte sich bei ihrem eigenen Beratungsgremium mit den Worten, „[s]ie wolle keine ‚Ernährungspolizei‘ einsetzen“ (ebd.).
2 Hier darf der Verweis auf die Kino-Doku Supersize Me von Morgan Spurlock aus dem Jahre 2004 nicht fehlen, in der sich Spurlock der damals noch nicht so benannten Challenge aussetzt monatelang morgens, mittags, abends Produkte des besagten Unternehmens zu essen und – wann immer er gefragt wird, ob er die extra große Portion wünsche (‚supersize‘), diese Frage zu bejahen. Er brach das Experiment auf dringenden ärztlichen Rat hin vorzeitig ab.
3 Thema „Reiz des Verbotenen“. Um selbiges nicht zum Tragen kommen zu lassen, rege ich an, mit den eigenen im Grundschulalter befindlichen Kindern (und nur mit diesen!) mal alle halbe Jahr mal in einem der typischen Fast-Food-Ketten-Restaurants einzukehren. Möglichst an einem Alltag, d.h. nicht gekoppelt mit einem besonderen Ereignis à la Zoo oder Zirkus.
Das Thema ‚Eier‘ auf der Reihe haben:
Viele Verbraucher*innen entscheiden sich bewusst dafür, zu (Eierkarton-)Eiern aus besseren Haltungsbedingungen zu greifen. Prima. Aber man sollte sich bewusst machen:
„[N]ur ganze Eier [werden] gekennzeichnet, nicht aber jene, die in Fertiggerichten, Backwaren oder Nudeln stecken… Mehr als ein Drittel aller Eier, die wir essen, sind in Fertigprodukten versteckt [und werden mit Chance mit Flüssigei-Tanklastern nach Deutschland gebracht] … Bei Eiern, die bereits im Ausland in Fertigprodukte gemischt werden, ist die Lage vollends unübersichtlich“ (Busse 2010).
Soll heißen:
Alle Eier, die wir nicht im Karton kaufen, sondern in Fertignahrungsprodukten, stammen i.d.R. von Hühnern, die – so nicht extra auf der Packung herausgestellt – mutmaßlich ein nicht ganz so schönes Leben hatten. Also genau das ‚Leben‘ hatten, gegen das wir uns mit dem Kauf von ganzen Eiern aus besseren Haltungsbedingungen entschieden hatten.
Die Planetary Health Diet umsetzen:
Gemeint ist damit keine Diät, sondern eine Ernährungsform, die zugleich gesund als auch nachhaltig ist. Die wissenschaftliche Kommission des ärztlichen Fachblatts Lancet hat herausgearbeitet, dass „[d]er Konsum von Obst und Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen … ungefähr verdoppelt werden [müsste], der Verzehr von Fleisch und Zucker [im globalen Durchschnitt] dagegen halbiert. Neben der veränderten Ernährungsweise müsste die Lebensmittelproduktion verbessert und Lebensmittelabfälle reduziert werden. [Und:] Der Report zeigt, dass es machbar ist, bis zum Jahr 2050 etwa 10 Milliarden Menschen auf der Erde gesund zu ernähren, ohne den Planeten zu zerstören“ (BzfE 2020, vgl. Abschnitt Ernährung der Weltbevölkerung, S. 620f.). Und wer sich schon gefreut hat, weiterhin ‚erlaubtermaßen‘ immerhin die Hälfte seines Fleischkonsums beizubehalten, wird nachfolgend enttäuscht sein: „Die weltweite Halbierung des Verzehrs von rotem Fleisch würde zum Beispiel für Nordamerika bedeuten, dass nur noch etwa ein Siebtel der heute üblichen Menge verzehrt werden dürfe“ (ebd.). Bei uns ist es ebenfalls deutlich weniger als die Hälfte: „Wer sich zum Beispiel alle zwei Wochen ein kleines Steak gönnt, liegt noch im Rahmen der Empfehlungen“ (ebd.). Nun, angesichts der UN-Einstufung von rotem Fleisch als ‚wahrscheinlich krebserregend‘ (vgl. S. 179) gehe ich mal davon aus, dass das Bundeszentrum für Ernährung hier hoffentlich z.B. ein Antibiotika-Resistenzen-freies Bio-Schweinenackensteak meint.
„In Deutschland würden ernährungsbedingte Treibhausgasemissionen um 63 Prozent sinken, hielten sich die Menschen an Eat-Lancet. Zudem gäbe es 165.000 weniger Todesfälle pro Jahr“ (Bartens 2020).
In der eigenen Wohnung verändern:
Duschen statt Baden.
„Wenn die [Wohnungs-]Temperatur nur um 1 Grad Celsius gesenkt wird, spart das rund 6 Prozent Energie … Nachts und wenn keiner zuhause ist, sollte die Temperatur in den Wohnräumen um 3 bis 4 Grad Celsius sinken“ (Stiftung Warentest 2008).
„Stoßlüftung statt Kipplüftung. Mehrmals am Tag sollten die verbrauchte Luft und die Feuchtigkeit etwa fünf Minuten lang durch weit geöffnete Fenster entweichen können. In der übrigen Zeit bleiben die Fenster besser geschlossen. Denn die Wärmeverluste durch ständig gekippte Fenster sind enorm! … [E]ine vierköpfige Familie [kann] durch richtiges Lüften rund 260 Euro Heizkosten im Jahr sparen“ (ebd.).
Im eigenen Haus verändern:
Z.B. Wärmedämmung und/oder Heizung optimieren, elektrische Wärmepumpe anschaffen, Solarzellen auf dem Dach montieren. Als Vermieter*in gleichartige Maßnahmen vornehmen – und fair und sozialverträglich mit Mieten umgehen. (Heizen = 2/3 des Energieverbrauchs von privaten Haushalten, vgl. DUHwelt 2019.)
Einkaufsverhalten ändern:
Einkaufen wie es die Großelterngeneration ihr Leben lang problemfrei getan hat:
Mit Einkaufszettel (=Struktur, minimiert Spontankäufe),
möglichst immer in den gleichen Läden (Zeitersparnis und verringert ebenfalls Spontankäufe)
zu Fuß mit ‚Hackenporsche‘,
per Rad mit Fahrradkorb,
mit Rucksack,
Plastik-, Verpackungs- und Müll-vermeidend auf dem Wochenmarkt,
Grundregel: ‚Mehrweg statt Einweg‘ beherzigen,1
große Baumwollbeutel oder Rucksack dabei haben,
einmalig Baumwoll-Einkaufsnetze für Obst und Gemüse ein Mal käuflich erwerben und dann immer dabei haben, statt die kleinen Einweg-Plastik- bzw. Papiertüten2 zu benutzen,
einmalig einen Brotbeutel kaufen oder Brot-Papiertüten stets erneut verwenden,
alte Eierkartons dabei haben für lose Eier,
unverpackte Dinge kaufen (evtl. im Unverpacktladen)3 4,
Tupperdosen mitführen etc. pp. und fies verpackte Waren aus Prinzip stehen lassen –
>> Vgl. dazu Abschnitt Ideen für eine nachhaltige Zukunft, Aspekt Lebensmittelverpackungen, S. 484.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 „Für die Herstellung einer Plastikflasche wird zweimal so viel Wasser benötigt, wie sie enthält“ (Gonstalla 2019, 87). Und, in ‚Grauer Energie‘ (vgl. S. 94) gerechnet benötigt „[e]ine 0,5 Liter Flasche Mineralwasser … 0,7 kWh Graue Energie – 1.000 Mal mehr Energie als die gleiche Menge an Leitungswasser“ (Grundmann 2018).
2 „Ohne Anteile an Sekundärmaterial und ein Recycling wird eine Papiertüte im Vergleich zu einer rohölbasierten Plastiktüte erst dann ökologisch interessant, wenn diese drei bis vier Mal wiederbenutzt wird“ (DUH 2020), alles über ‚Tütentypen‘ siehe https://www.duh.de/kommtnichtindietuete/tueten-typen/ (Abrufdatum 26.1.2020).
3 Eine interaktive Karte mit sämtlichen Unverpacktläden Deutschlands finden Sie unter: https://reuse-revolution-map.greenpeace.de/index.html#/ (Abrufdatum 24.8.2020). Allein in Hamburg gibt es mittlerweile etwa 25 Unverpacktläden bzw. Läden, die gezielt Möglichkeiten anbieten, Plastik zu sparen (vgl. ze.tt 2020).
4 Wasser können Sie ebenfalls und zu einem in Relation zu Flaschenwasser unglaublich günstigen Konditionen ‚unverpackt kaufen‘ – in dem Sie Trinkwasser dem Wasserhahn entnehmen und ggf. sprudeln. Das ist in Deutschland gesundheitlich vollkommen ok – derweil schmeckt tatsächlich nicht jedes Leitungswasser gleich gut. Wenn Sie Bottled Water kaufen möchten, dann bevorzugt aus der Region. Sinnvoll ist auch der kurze Check, welches Unternehmen hinter dem Verkaufswasser steckt, denn hier kann man es recht schnell mit einem Unternehmen zu tun bekommen, welches sich nach Auffassung diverser NGOs der Menschenrechtsverletzungen schuldig macht. Film-Empfehlung: Bottled Life – Nestlés Geschäfte mit dem Wasser. Film-Doku von Urs Schnell, 2012 – Haben Sie schon mal von der Wassermarke mit dem m.E. zynischen Namen Pure Life gehört? Nein? Zeit, das zu ändern: https://de.wikipedia.org/wiki/Bottled_Life_%E2%80%93_Nestl%C3%A9s_Gesch%C3%A4fte_mit_dem_Wasser (Abrufdatum 8.6.2020)
Für Fortgeschrittene:
Palmöl1 aus Küche und Bad verbannen (vgl. S. 603), d.h. sowohl bei Nahrung als auch bei Pflegeprodukten;
Das gleiche gilt für die Ächtung von Mikroplastik2 – hier hilft die Website bzw. App https://www.codecheck.info/ (Website: oben rechts Suchfunktion) sehr – man hat sogar die Chance, sofort das potenzielle Ersatzprodukt zu finden!);
Den Kauf von Produkten bestimmter Unternehmen meiden – und nicht mehr nachkaufen. Da reicht schon ein kurzer Blick auf die Website solcher Unternehmen, auf der sie i.d.R. gern ihr Marken-Portefeuille präsentieren (vgl. Fußnote auf S. 189);
Klamotten secondhand z.B. auf Flohmärkten kaufen;3
bei Solawi (‚solidarische Landwirtschaft‘) Mitglied werden und Gemüse etc. wöchentlich idealerweise zu Fuß oder per Fahrrad im Depot abholen (=möglichst nicht individuell vor die Haustür liefern lassen)4;
Repair-Cafés aufsuchen und Geräte reparieren lassen;
Upcycling betreiben, also die kreative Umwidmung, Umgestaltung und Kombinierung alter evtl. kaputter Gegenstände;
Zero Waste als Ziel anvisieren: Reduce, Reuse, Recycle (vgl. Witt 2018);
Bei Tauschkisten und/oder Tauschpartys mitmachen;
Waschmittel, Shampoo, Seife, Waschmittel etc. selbst herstellen (u.a. mit Hausmitteln wie Soda, Essig und Zitronensäure);
Minimalismus leben – entschlackendes Keep it simple-Leben, das offen macht für die wichtigen Dinge5 (vgl. Bemerkung der Songwriterin Anne Clark in Fußnote auf S. 230).
Details: Erläuterungen zu (1) bis (5)
1 Ausnahme: Codecheck kann hier im Zusammenhang mit Palm leider nur bei Produkten weiterhelfen, die in irgendeiner Form konkret das Wort ‚Palm‘ in der Zutatenliste aufführen, was bei sehr vielen auch der Fall ist. Glycerin hingegen kann, muss aber nicht, aus Palmöl hergestellt werden. Woraus jeweils das Glycerin hergestellt wurde, braucht in Deutschland derzeit bedauerlicherweise nicht angegeben werden.
2 Mikroplastik ist unvermeidbar? „Seit Anfang des Jahres [2017] dürfen in Großbritannien keine Kosmetika [inkl. Shampoo etc.] mehr verkauft werden, die Mikroplastik enthalten… Ab Mitte 2017 tritt ein solches Verbot auch in den USA [!] in Kraft“ (Greenpeace Magazin 2017, 40). Soll heißen: Es geht. Natürlich geht das – bis vor ein paar Jahren ging es auch ohne. Doch so richtig die Vermeidung mikroplastikhaltiger Pflege- und Textilprodukte auch ist: „Es ist der Reifen, nicht das Duschgel“ schreibt der MDR (Watzel 2018). Mit Recht: Der Abrieb von Pkw-Reifen ist mit Abstand die größte Mikroplastikquelle. Weiter in der pro Kopf-gerechneten Top 10: (2) Emissionen bei der Abfallentsorgung | (3) Abrieb von Polymeren und Bitumen in Asphalt | (4) Pellet-Verluste | (5) Verwehungen von Sport- und Spielplätzen (Kunstrasen!) | (6) Freisetzung auf Baustellen | (7) Abrieb von Schuhsohlen | (8) Kunststoffverpackungen | (9) Fahrbahnmarkierungen | (10) Faserabrieb bei der Textilwäsche (vgl. Fraunhofer 2018).
3 Die Textilindustrie „emittierte 2015 mehr als 1,2 Milliarden Tonnen an Treibhausgasen – mehr als alle internationalen Flüge und die weltweite Schifffahrt zusammen. Und 63 Prozent aller bei der Kleidungsproduktion verwendeten Materialien sind Plastik“ (Hage et al. 2019, 13).
4 „In Japan versorgen traditionsreiche ‚Teikei‘ (Partnerschaftshöfe) sogar ein Viertel aller Einwohner“ (Scheub/Schwarzer 2017, 193).
5 Mit gelebtem Minimalismus unterbleibt auch die Fear of Missing out (FoMO).
4 min – Thema Plastik: Jack Johnson: „You Can’t Control it“, 2017
Hochwertig einkaufen:
keine Produkte essen/erwerben, die mit dem englischen Wort fast konnotiert sind à la fast fashion, fast food – statt dessen idealerweise Once in your life-Einkäufe tätigen z.B. bei Küchengeräten;
Möbel und Kleidung mit dem Anspruch einkaufen, dass sie lange halten und nicht zu Saison-spezifisch aussehen (also allzu schnell aus der Mode kommen);
Fast-Fashion1-Läden meiden und wenige, Dumping-freie, hochwertige neue Klamotten von nachhaltigen Labels unter Beachtung von Siegeln wie Fairtrade und GOTS2 erwerben;3
mehr Bio einkaufen (insbesondere, wenn es um tierische Produkte geht (>Tierwohl, >Nitratbelastung des Wassers, s.o.), möglichst saisonal und regional4 5 mit kurzen Lieferketten, mehrfach in der Woche kleine, möglichst Mahlzeiten-genaue Lebensmitteleinkäufe z.B. auf dem Wochenmarkt tätigen und nichts mehr wegschmeißen.6 Dann kann man sich problemfrei hochwertiges Essen und das sogar in Bioqualität leisten;7
Eingeflogene Lebensmittel auslisten – dazu hält Manuel Klarmann fest: „Es geht vor allem um sonnengereifte Tropenfrüchte, frische Beeren, Kräuter und Feigen, aber auch um Fische. Zum Vergleich: Ein Kilo Papayas, die per Schiff aus Brasilien geliefert werden, hat etwa zwei Kilo CO2 auf dem Konto. Kommen die mit dem Flugzeug, sind es neun Kilo.8 … Wobei ich fairerweise sagen muss, dass wir die CO2-Bilanz eigentlich nicht am Gewicht, sondern am Nährwert eines Produkts messen, das ist korrekter, nur als Beispiel hier zu komplex. Und am Endergebnis ändert es nichts“ (2019, 64).
Tiefkühlkost meiden – die gesamte Kühlkette ist energieintensiv. Kühlgeräte funktionieren i.d.R. auf der Basis besonders klimaschädlicher Substanzen, die durch Leckagen und insbesondere durch unsachgemäße (Nicht-)Entsorgung in die Atmosphäre gelangen;
extrem sparsame Haushaltsgeräte und Smartphones (check it out: ‚Fairfone‘ und ‚Shiftphone‘) für den jahrelangen Gebrauch kaufen, ggf. reparieren und nur ersetzen, wenn sie unwiderruflich kaputt sind;
Wenn der energieintensive Wäschetrockner kaputtgeht (und die Kinder ein gewisses Alter haben) diesen nicht ersetzen, sondern Wäsche auf dem Wäscheboden, auf dem Balkon oder draußen trocknen; und,
Details: Erläuterungen zu (1) bis (8)
1 „Laut einer Greenpeace-Studie kaufen die Deutschen inzwischen im Schnitt 60 Bekleidungsstücke pro Jahr und tragen sie nur noch halb so lange – die Produktion hat sich seit 2000 mehr als verdoppelt“ (Hage et al. 2019, 14). „Etwa 40 Prozent der Kleidung in unseren Schränken wird selten oder nie getragen“ (Fischbeck 2020, 4).
3 Ein profundes Argument für den Einkauf von wenigen, dafür aber hochwertigen Klamotten: „Für die Herstellung eines Baumwoll-T-Shirts werden rund 2.500 Liter Wasser benötigt“ (Gonstalla 2019, 87). Zu Siegeln, die Nachhaltigkeit dokumentieren siehe Fußnote auf S. 185).
4 Manuel Klarmann betont in diesem Zusammenhang: „Regionalität ist vor allem sozial nachhaltig, was wichtig ist; Fair Trade gewissermaßen. Aber dem Klima bringt das nicht viel. Und nur, wenn der Kunde strikt saisonal kauft. Zwischen Oktober und Dezember steigt zum Beispiel die Klimabilanz von einem Kilo Tomaten von 0,3 auf 1,7 Kilo CO₂. Schon im November ist Importware aus Südeuropa klimafreundlicher; Dosentomaten übrigens auch. Grund ist die hohe Energie für Gewächshäuser. Im Februar ist die Diskrepanz am krassesten. Ab Mai sollte man Tomaten wieder regional kaufen“ (2019, 64).
5 Zur Frage ‚Apfel außerhalb Erntesaison regional eingelagert oder lieber Neuseeland?“: Apfel, aus der Region im Herbst = 0,3 kg CO2e/kg | Apfel, aus der Region im April = 0,4 kg CO2e/kg | Apfel, aus Neuseeland = 0,8 kg CO2e/kg (‚an der Supermarktkasse‘, vgl. ifeu 2020, 8)
6 s.a. den Aspekt Es gibt genug Nahrung auf der Welt – es wird nur zu viel weggeschmissen, S. 621
7 Hierzu ist auch herauszustellen, dass die Deutschen in den letzten 20 Jahren nur etwa 14% der gesamten Konsumausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren ausgeben (vgl. Statista 2020), für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke liegt der Wert bei 10,8% – in Frankreich hingegen bei 13,1% (vgl. Statista 2019c).
8 Ananas per Schiff = 600 g CO2e/kg | Ananas per Flugzeug = 15,1kg CO2e/kg (‚an der Supermarktkasse‘, vgl. ifeu 2020, 8); CO2-Fußabdruck von Wintererdbeeren etc. siehe Fußnote S. 271
Die Klimakrise und das sechste Massenaussterben zum Thema machen:
Mit Freunden, Bekannten, Zufallsbekanntschaften drüber reden, es zum Thema machen.
Dabei lieber ‚Fragen statt Dozieren‘ – oder einfach mal offene Frage stellen wie z.B. ‚Was denkst Du über die Klimakrise?‘ – oder: ‚Was weißt Du über die Klimawandel?‘ – und die Mitmenschen zum Reden und Reflektieren bewegen.
Aus der Ich-Perspektive erzählen, wie es mir mit der Klimakrise und dem Artensterben geht.
Soweit innerhalb eines guten Gesprächs möglich: Setzen Sie die Themen. Reden Sie nicht aktiv über die Themen der (politischen) Gegner*innen. Geben Sie Schwärmereien über Flugreiseziele keinen Raum mehr. Gehen Sie davon aus, dass Themen an Gewicht gewinnen, je ausführlicher sie behandelt werden.
Zeit verschenken mit gemeinsamen (umweltverträglichen) Erlebnissen statt aufwändiger Präsente1, über die sich die/der Gastgeber*in – wenn wir mal ehrlich sind – oftmals nur genau so lange freut, wie die/der Schenkende im Raum ist – und die dann allzu oft ungelesen, ungehört, ungesehen, unbenutzt auf dem Dachboden, im Keller, auf dem Flohmarkt oder im Müll landen. Unsere Wohnungen sind knalledichte voll – und wir haben i.d.R. alles. Alles und noch viel mehr.
Vorleben: Es macht einen riesigen Unterschied, ob ich mit SUV oder mit dem Fahrrad an der Uni vorfahre, ob Einwegplastikwasser auf meinem Pult steht oder eine langfristig-nachhaltige Stahlflasche (vgl. Abschnitt Was kann ich tun? – Haltung!, S. 165f.) Den eigenen suffizienten Lebensstil humorvoll-einladend einbringen (vgl. Folkers/Paech 2020, 203),
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Wie viele (meist) materielle Geschenke habe ich in meinem Leben schon verschenkt gesehen, nur deshalb, weil die/der Schenkende ihrem/seinem Geltungsdrang frönte? Hier ging es also eher um die/den Schenkende*n als um die/den Beschenkte*n. Und wieviele geistlos-unpersönliche Geschenke, die nur verschenkt wurden, weil ‚man das so macht‘ werden in Deutschland jährlich gekauft/weggeschmissen? Auch die Beendigung dieser materialistischen Praxis gehört zum Thema ‚Nachhaltigkeit‘.
unsplash/Bernard Hermant
Im Garten:
Insektenhotels und Bienenstöcke aufstellen. Kies vermeiden – statt dessen ein Pflanzenbuffet für Insekten herrichten, keinen Torf bzw. keine Pflanzerde mit Torf kaufen. (Moore sollen bestehen bleiben bzw. renaturiert werden, weil sie sehr gute CO₂e-Senken sind und umgekehrt ihre Trockenlegung massiv Treibhausgase freisetzt, vgl. Aspekt ‚Moore‘ in Weitere politische Ziele bzw. hochwirksame Maßnahmen zum Klimaschutz, S. 471).
Engagieren:
Veränderung „gelingt tatsächlich nur praktisch, nie appellativ… Es gelingt nur durch praktiziertes Nichteinverstandensein“ (Welzer 2016, 287), d.h. z.B. durch Engagement in Form von:
Demonstrationen (vgl. S. 195) | Vorträge bzw. Podiumsdiskussionen | Dokus im Kino mit Freundeskreis besuchen,
Teilnahme an Veranstaltungen wie z.B. der Klimawoche, der Wandelwoche o.ä.
„Mach Dir immer klar: Du bist nicht allein – auch viele andere fliegen nicht – such Kontakt.“ – so Umweltpsychologe Gerhard Reese (2020; vgl. Netzwerk Stay Grounded, https://de.stay-grounded.org/ (Abrufdatum 9.9.2020)),
die/den eigene*n Bundestagsabgeordnete*n um einen Termin für ein persönliches Gespräch bitten,
Politiker*innen/Parteien Briefe/Mails schreiben mit gut belegten Argumenten (Quellen unter Brief/Mail angeben – das ist seriös und steigert das Gewicht der eigenen Aussagen) – und, eine Anregung:
DokuDinner mit dem Freundeskreis veranstalten (sooo aufwändig braucht das Essen nicht zu sein).
Und wenn ein bisschen größer gedacht werden soll:
eine Klimaschutz-Bürgerinitiative gründen und als solche den Anspruch erheben, den eigenen Stadtteil bis 2030 klimaneutral zu machen – so wie im Frankfurter Ortsteil Riedberg geschehen, vgl. http://www.klimaschutz-initiative-riedberg.de/ (Abrufdatum 2.8.2020, vgl. Wagner 2020).
Apropos Demonstrieren: Interessant ist, dass in Deutschland derzeit stets Gelbwesten, bislang aber nicht Stör-Aktionen wie die von Extinction Rebellion gefürchtet werden:
„Mir scheint, dass unsere Politik auch deshalb eine stärkere Klimapolitik scheut, weil sie Angst vor Gelbwesten hat.1 Da scheint es mir ein guter Gegenpol zu sein, dass eine zu schwache Klimapolitik dann Extinction Rebellion auf den Plan ruft – auch wenn das nicht meine Art des Protestes ist“, schreibt ein Leser der Süddeutschen Zeitung im klimafreitag-newsletter vom 18.10.2019.
Eine interessante Aufforderung zur Selbstreflektion von Michael Hengstenberg zu befürchteten Gelbwesten aufgrund steigender ‚Spritpreise‘:
„Die Auto-Traditionalisten sehen soziale Unruhen heraufziehen. Dabei ist den Deutschen der Benzinpreis egal. Sonst würden sie andere Wagen kaufen“ (2019).2
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Macron hat nachfolgend progressiv die Flucht nach vorn angetreten und sehr erfolgreich einen Klimabürgerrat ins Leben gerufen, vgl. S. 488.
2 „Fakt ist: Wäre der Spritpreis eine kritische Größe und von derart existenzbedrohender Bedeutung, wie es Hillebrand und Gesinnungsgenossen beschwören, würden die Deutschen andere Autos kaufen. Es würde nicht Quartal für Quartal steigende Absatzzahlen für SUV geben. Der Lupo 3L, das erste echte Dreiliterauto von Volkswagen, wäre nicht als kompletter Flop in die Automobilhistorie eingegangen. Das Angebot der Hersteller wäre ein vollkommen anderes“ (Hengstenberg 2019).
Rechenzeit zur Verfügung stellen:
(am besten unter der Voraussetzung, dass man Strom aus erneuerbaren Quellen bezieht):
Man kann „sich als Bürger-Wissenschaftler*in an der weltgrößten Klima-Modellsimulation beteiligen und die Arbeit der World Weather Attribution unterstützen“ (Otto 2019, 240): www.climateprediction.net.
Konkret bedeutet das, dass die „Freiwilligen … [dem Team um Friederike Otto] Rechenzeit auf ihren Computern zur Verfügung stellen und damit im Grunde Geld, das sie für eine etwas höhere Stromrechnung ausgeben. Damit steht … [dem Team] der mit Abstand größte Großrechner der Welt zur Verfügung… Würden wir diese Zeit in der günstigsten Cloud kaufen, müssten wir [pro Jahr] sechs Milliarden Dollar dafür ausgeben“ (ebd., 99). Der so entstehende Großrechner errechnet innerhalb weniger Tage, inwieweit ein Extremwetterereignis durch den Klimawandel bedingt gewesen ist – oder auch nicht und gibt damit Politiker*innen, Geschädigten, Rechtsanwält*innen, Journalist*innen und natürlich Forscher*innen wesentliche Informationen und Argumente an die Hand (vgl. ebd.).
Reduzieren:
Letztlich und alles in allem eine Rückkehr vollziehen zu den Tugenden unserer Eltern und Großeltern, beim Einkauf Tüten, Beutel und Eierkartons dabeihaben (vgl. S. 189), no to go, Take–away meiden bzw. optimieren durch Brotdosen und hochwertige Edelstahl-Trinkflaschen, keine Anschaffungen auf Kredit tätigen, Dänemark statt Dubai-Urlaub, allgemein Überfluss meiden, kurz: zu einem Leben in den Maßstäben der 1970er und frühen 1980er Jahre, optimiert durch die gesellschaftlichen Freiheiten von heute und maßvoll aufgehübscht durch die heutigen Technologien.
>> vgl. LebeLieberLangsam: „Das Hamsterrad – und wie wir da rauskommen“. in: https://blog.lebelieberlangsam.de/das-hamsterrad-und-wie-wir-da-rauskommen >> vgl. Hodgkinson, Tom (2009): Die Kunst, frei zu sein. Handbuch für ein schönes Leben. Heyne. >> vgl. Wringham, Robert (2016): Ich bin raus. Wege aus der Arbeit, dem Konsum und der Verzweiflung. Heyne.
… und um Himmels willen nicht alles auf einmal versuchen: Anfangen, einüben, zur Gewohnheit machen, Pausen einlegen und Durchatmen, Humor in die Sache bringen, Rückschläge als normal akzeptieren (‚Hinfallen. Krone richten – weitergehen.‘) und alles: Schritt für Schritt.
Ein Zwischengedanke: Die eigene Bequemlichkeit aufkündigen. Konsequenz statt Bequemlichkeit.
Derweil hat man seine eigenen Grenzen zu achten. Ein bisschen raus aus der Komfortzone – klar, wir wollen und sollen ja auch mit den Herausforderungen wachsen. Aber: Ein Burnout dient weder der/dem Engagierten noch der Sache. Daher empfiehlt der Aktivist und Bildungsreferent Timo Luthmann, auf „Nachhaltigen Aktionismus“ zu setzen. Es „geht es darum, was ich als Individuum tun kann, um mit schwierigen Situationen besser umgehen zu können. Um besser in Balance zu bleiben und mehr Energie für einen langen Atem zu haben“ (Luthmann 2019). Es gilt zudem, sich in Bereichen zu engagieren, die dem eigenen Wesen, den persönlichen Stärken und Kapazitäten entsprechen. Nur so wird man langfristig motiviert und gegen Rückschläge resilient bleiben.
Konfuzius sagt: Es ist besser ein kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen. (zit. nach Schnabel 2018,162)
„Die dritte Säule [der nachhaltigen Resilienz] sind [nach Luthmann] kollektive Resilienzstrategien. Also die Frage, was wir gemeinsam tun können, um nicht auszubrennen… Soziale Bewegungen haben das Problem, dass sie keine starken Institutionen haben. Das bedeutet, wenn Menschen ausscheiden – aus welchen Gründen auch immer – entstehen dort zum Teil riesige organisatorische Lücken. Wissen geht verloren und Netzwerke. Und dann fängt alles wieder von vorne an und der oder die Nächste muss alles wieder aufbauen… Ein ganz wichtiger Faktor ist die Kommunikation: Wie gehen wir miteinander um? Wie reden wir miteinander? Wie wird Wertschätzung verteilt? Wie geben wir Feedback? Wie kritisieren wir uns? Und wie gehen wir mit Konflikten um?“ (Luthmann 2019).
>> Säule 1 ‚Reflexion über soziale Veränderungen‘; Säule 2: ‚individuelle Resilienzstrategien‘ (vgl. Luthmann 2019) >> siehe Timo Luthmann: Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Unrast, 2019
Auch eine Luisa Neubauer braucht Pausen:
„Ich kann nicht Leuten erzählen, was wir für das gute, ökologische Leben tun sollten und dabei selber vergessen, was das gute Leben ist. Manchmal gehe ich nicht zu einer Konferenz, damit ich mit Freunden Kaffee trinken kann. Manche finden das dann krass und sagen: ‚Total wichtige Leute, total wichtiger Termin!‘ Aber mein Leben ist auch total wichtig. Man muss vorsichtig sein und auf sich selbst achten, weil man sonst mitgerissen wird“ (2019b).
unsplash/Markus Spiske
Noch ein Wort zu Demonstrationen: Es ist ja im Vergleich zu 1968ff. lange Jahre stark aus der Mode gekommen, auf Demos zu gehen. Und auch ich kenne und verstehe diesen Widerstand in mir, d.h. diesen inneren Schweinehund, der nicht so recht zur Demo möchte. Aber:
Demonstrieren ist wie Sportmachen: Es mag mühsam sein, sich aufzuraffen, aber hinterher fühlt man sich prima, versprochen. Und man ist nicht mehr so allein mit dem ganzen Mist. Und man genießt, für seine Ideen und Meinungen sichtbar einzustehen. (Bei der nächsten Demo ist der innere Schweinehund dann schon leiser!)
Und wenn man es nicht für sich selbst macht, dann vielleicht aber doch für die eigenen (zukünftigen) Kinder, für die Enkel*innen, für die Neffen, Cousinen – oder für die Kinder von Freunden etc. pp.?
„Gleich zu Jahresbeginn können Sie nach Berlin fahren[, einen Akzent setzen und bei der Demo ‚Wir haben es satt‘] mitmarschieren. Parallel zur Grünen Woche, der wichtigsten Messe der weltweiten Agrarindustrie, fordern dort zehntausende Menschen bessere Standards in der Landwirtschaft. Ohne dieses Engagement von Verbänden und Bürgern wüsste heute niemand, was Glyphosat überhaupt ist“ (Kopatz 2019, 16).
Fridays for Future-Aktivistin Lynn: „Es ist wie Angebot und Nachfrage: Wenn genug Menschen für das aufstehen, was sie wollen, müssen uns die Regierungen zuhören und handeln“ (zit. in Kainz 2019).
Diese Einschätzung ist m.E. äußerst zutreffend, denn allzu schnell vergessen wir, wie machtvoll friedliche Massendemonstrationen sein können. Würden die Fridays for Future-Demos regelmäßig die (auf die bundesrepublikanische Bevölkerung hochgerechneten) Ausmaße der Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989 in Leipzig erreichen und von einem repräsentativen Bevölkerungsschnitt getragen werden, wäre es der Bundesregierung m.E. relativ egal, was der Vorstand von VW über die Forderungen zu sagen hat.
Naomi Klein geht alles in allem davon aus, dass „[n]ur eine soziale Massenbewegung [ähnlich der Anti-Sklaverei- und Bürgerrechtsbewegung] … uns jetzt noch retten [kann]“ (2015, 541).
Wir haben nur rund sieben Jahre Zeit, die Komfortzone zu verlassen:
Das Gemeine ist: Nichthandeln führt ins Aus.
Das Tolle ist: Handeln bewahrt die Chance.
Zusammenfassung des Abschnitts Was kann Ich tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten
Die Versuche von Politik und Wirtschaft, die Krise zu privatisieren, d.h. die Verantwortung auf die Bürger*innen bzw. Verbraucher*innen abzuwälzen, sind unstatthaft. Gleichwohl entlässt uns Bürger*innen und Verbraucher*innen dies noch lang nicht aus der Verantwortung.
Die Transformationsforscherin Maja Göpel bringt die Dinge, die man abseits des eigenen politischen Engagements – und ohne auf die Politik zu warten – tun kann, auf die wohl kürzeste Formel überhaupt:
Die vier F:
„Fliegen, Fleisch, Finanzen und Fummel, also Fummel … für Textilien, wo ich natürlich einen Einfluss drauf habe, wo lege ich mein Geld hin, ist das eine Bank, die sich für ökologische und soziale Kriterien interessiert und genau solche Projekte finanziert“ (2020).
In diesem Sinne sind m.E. die vier F bzw. die hier aufgesetzte Top 7
Reiseverhalten ändern. | Mobilitätsverhalten ändern. | Stromanbieter wechseln. | Die Bank wechseln zu einer Ökobank. | mindestens Rindfleisch vom Speiseplan verbannen oder Vegetarier*in oder Veganer*in werden. | Saisonal, lokal und Bio einkaufen, keine Lebensmittel wegschmeißen. | Reduzieren. Keep it simple. Zeitwohlstand statt Konsum.
durchaus Teil dessen, was wir Bürger*innen und Verbraucher*innen – sofern es unsere soziale Situation zulässt – einzubringen haben.
Letztlich sind all diese vorgenannten Handlungsoptionen Schlüssel zu einer grundökologischen Verhaltensweise – Sie alle sind unabhängig von der Frage, inwieweit sie Klimaschutz und sechstes Massenaussterben konkret vermeiden helfen, sinnvoll – und das waren sie schon immer.
9 min – Marc Pendzich: Pecha Kucha „’Wohlstand‘ neu gedacht: Gemeinwohl & soziales Miteinander statt HöherSchnellerWeiter“, gehalten bei der Veranstaltung „Jedes Zehntel Grad, jede Art zählt: Die globale Umweltkrise als Chance“ des Zukunftsrat Hamburg, 16.2.2021 – https://youtu.be/GA4RImiZQsU (Abrufdatum 17.2.2021)
Schlussgedanke zu: Was kann ich konkret tun?
Nun, wir alle können – wo immer das Thema ‚Klimawandel/Massenaussterben‘ aufkommt – folgende von Stefan Aykut stammende Frage in die Diskussion einbringen:
„Wie wollen wir eigentlich zusammenleben in einer Welt, die zunehmend unter dem Zeichen des Klimawandels steht?“
>> Schmidt 2019. Michael Brüggemann fügt dieser Frage zwei weitere hinzu: „Was können wir tun, um diese Welt zu bekommen? [Und:] Wie kann ich meinen Bedürfnissen zum Beispiel nach Genuss oder Selbstverwirklichung nachgehen, ohne das Klima zu schädigen?“ (2019).
Wozu eigentlich weit weg fahren?
aus: Marc Pendzich: Pecha Kucha „’Wohlstand‘ neu gedacht: Gemeinwohl & soziales Miteinander statt HöherSchnellerWeiter“, gehalten bei der Veranstaltung „Jedes Zehntel Grad, jede Art zählt: Die globale Umweltkrise als Chance“ des Zukunftsrat Hamburg, 16.02.2021 – https://youtu.be/GA4RImiZQsU (Abrufdatum 17.02.2021)
Quellen des Abschnitts Was kann ich tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten
Abé, Nicola (2019): „Wie lebende Maschinen“. in: Der Spiegel, Nr. 33/2019, 10.8.2019, S. 29ff.
Albig, Jörg-Uwe (2020): „Die Zeit des schwarzen Goldes“. in: Geo, 7/2020, S. 58-75.
Amann, Susanne et al. (2013): „Schlacht-Plan“. in: Der Spiegel, 43/2013, S. 64-72.
Anderson, Kip u. Kuhn, Keegan (2019): Cowspiracy – the facts, online unter http://www.cowspiracy.com/facts/ (Abrufdatum 1.7.2019)
Bittner, Jochen (2020): „Nicht von Putin“. in: Die Zeit, Nr. 40/24.9.2020, S. 1.
Blech, Jörg (2019): „Iss gut jetzt!“ [Über die Notwendigkeit, seine Darmbakterien zu schützen]. in: Der Spiegel, 27.29.6.2019, S. 97-102.
Bohde, Thilo (2020): „Wir sind gescheitert. Dass muss man so deutlich sagen“. [Jans Rosenkranz und Max Arens interviewen Annemarie Botzki und Tilo Bohde]. in: Stern, 24.9.2020, S. 86-92.
BzfE (2020): „Nachhaltiger Konsum: Planetary Health Diet“. in: Bundeszentrum für Ernährung [Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE)], online unter https://www.bzfe.de/inhalt/planetary-health-diet-33656.html (Abrufdatum 2.2.2020)
Greenpeace Energy (2020): Nachhaltig besser. 99 Nachhaltigkeitstipps von Greenpeace Energy. [Flyer].
Greenpeace Magazin (2017): [ohne Titel]. in: Greenpeace Magazin, 2/2017, S. 40.
GN (2017): „Billigfleisch. Verräterisches Leuchten“. in: Greenpeace Nachrichten 4/2017. S. 12-13.
GN (2019): „Amazonas: Konsum frisst Regenwälder“. in: Greenpeace Nachrichten 3/19, S. 12.
Grün, Anselm (2019): Vom Glück der kleinen Dinge. dtv.
Groll, Stefanie (2019): „Kosten: Falsche Abrechnung – zahlen sollen die Anderen“. in: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. S. 33. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download]
Holdinghausen, Heike (2015): Dreimal anziehen, weg damit: Was ist der wirkliche Preis für T-Shirts, Jeans und Co? Westend.
IATP (2020): „Milking the Planet. How Big Dairy is heating up the planet and hollowing rural communities“ [Autor: Sharma, Shefali]. in: Institute für Agriculture und Trade Policy, 15.6.2020, online unter https://www.iatp.org/milking-planet (Abrufdatum16.6.2020)
Luys, David (2020). „Ausbruch wagen: System Change!“. in: tageszeitung, 26.6.2020, S. 6.
Maxton, Graeme (2020): Globaler Klimanotstand. Warum unser demokratisches System an seine Grenzen stößt. Komplett-Media.
Marquardt, Matthias: Warum Laufen erfolgreich macht und Grünkernbratlinge nicht. Spomedia, 2007. (für Einsteiger) > für Fortgeschrittene: Marquardt, Matthias: Instinktformel. Das Erfolgsprogramm, das Sie wirklich glücklich macht. Random House, 2012. [Das Wort ‚Erfolg‘ scheint eher ein Verkaufsargument des Verlags zu sein, als das unmittelbare Anliegen des Autors – der möchte m.E. vor allem, dass seine Leser*innen Sport machen.]
Nguyen-Kim, Mai Thi (2019): „Klimawandel: Das ist jetzt zu tun! (feat. Rezo)“. in: maiLab, 14.9.2019, online unter https://www.youtube.com/watch?v=4K2Pm82lBi8/ (Abrufdatum 30.9.2019)
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen Hochwasser und Stürme. Ullstein.
Precht, Richard David (2018): Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann.
Prado, Simon Sales (2020): „Nicht nur zugreifen, sondern auch mal verzichten“. in: tageszeitung, 4.9.2020, S. 13.
Rezo (2019): „Der politische Fragebogen“. in: Die Zeit, Nr. 39, 19.9.2019, S. 9.
Rohwetter, Marcus (2019): „Bahnfahrt mit Nebenkosten“. in: Die Zeit, 46/7.11.2019, S. 30.
Scheub, Ute u. Schwarzer, Stefan (2017): Die Humusrevolution. Wie wir den Boden heilen, das Klima retten und die Energiewende schaffen. oekom.
Schlenzig, Tim (2017): „Die wahren Kosten von Besitz“. in: mymonk.de, 24.10.2017, online unter http://mymonk.de/wahre-kosten/ (Abrufdatum 24.7.2020)
Schlüter, Nadja (2019): „Klimawandel: ‚Wir bewegen uns nach wie vor in die falsche Richtung‘“. [Interview mit David Wallace-Wells, Autor von Die unbewohnbare Erde]. in: Süddeutsche Zeitung, 1.10.2019, online unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/wallace-wells-interview-klimawandel-1.4621977/ (Abrufdatum 1.10.2019) [paywall]
Schnabel, Ulrich (2018): Zuversicht – Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je. Blessing.
Schumacher, Ernst Friedrich (1979): „About us“ [Zitat aus Good Work, 1979]. in: The Schumacher Institute, 2020, online unter https://www.schumacherinstitute.org.uk/about-us/ (Abrufdatum 1.6.2020)
Thalbach, Katharina (2020): „Ohne uns Schauspieler würden die Leute doch durchdrehen“. [Spiegel-Gespräch mit Katharina, Anna und Nellie Thalbach]. in: Der Spiegel, 22/23.5.2020, S. 118-121.
„Macht’s wie wir: Werdet erwachsen“ (frei nach: Fridays for Future)
… gesehen in Fulda, 9/2022
Missionieren funktioniert nicht – das mündet eher in eine Verweigerungshaltung des Gegenüber und reduziert vor allem eines: den Freundeskreis.1
Aber:
Wir können mit gutem Beispiel vorangehen – und uns nicht mehr darum kümmern, was die anderen lassen oder tun: Das Prinzip ‚Ich geh‘ schon mal voraus‘ – oder: ‚Wir fangen schon mal an.‘2
Details zu (1) und (2)
1 „Klimakommunikation, die die Identität, Werte und den Lebensstil anderer Menschen pauschal angreift, heizt dies an. Vorwürfe und die Titulierung als Sünder werden niemanden überzeugen, sondern Gegenvorwürfe erzeugen“ (Brüggemann 2019). In a nutshell: Meide es, zu polarisieren.
2 Der Buddhist Manfred Folker fasst es in andere Worte und meint, „dass das Ziel einer Aktivität in der Aktivität selbst liegt und nicht im Bestreben, andere Menschen ändern zu wollen. Es reicht, absichtslos das Beste zu geben“ (Folkers/Paech 2020, 81).
Dazu ist etwas vollkommen Unmodisches erforderlich: Haltung.
„Sei du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt.“
Mahatma Gandhi zugeschrieben
Natürlich ist es ein riesiger Unterschied, ob ich beim Institut mit dem Porsche oder mit dem Fahrrad vorfahre, ob ich auf meinem Dozentenpult eine Plastikflasche mit Wasser hinstelle oder eine jahrelang verwendbare Edelstahl-Trinkflasche. Gerade wenn wir irgendwo im Fokus des Interesses stehen – und da reicht schon ein Vortrag – schauen die Menschen genau hin.
Selbstverständlich ist es ein riesiger Unterschied, ob ich versuche mit meinem Bali-Urlaub anzugeben oder von meiner Harz-Trekkingtour erzähle.
Eine solche Haltung bzw. Selbstveränderung im Sinne Gandhis mag im Weltmaßstab und hinsichtlich der CO₂-Emissionen von marginaler Bedeutung sein, aber sie fördert mindestens das eigene Bewusstsein.
Und:
Wir speichern – wenn wir aktiv Dinge tun – die Dinge im Kopf leichter ab, die wir uns ohne praktische Anwendung nur schwer merken können, sodass wir, wenn wir proaktiv handeln, an uns selbst wachsen und auf dieser neuen Basis weiter voranschreiten können auf unserem Weg.
In diesem Sinne auch der Spiegel:
„Wenn niemand mehr Bewunderung dafür erntet, dass er mit dem Auto in unter fünf Stunden von Berlin nach München geheizt ist, sondern nur noch die irritierte Nachfrage hört, warum er nicht gleich den Zug genommen hat, dann kann den Verbrennungsmotor auch kein CSU-Verkehrsminister mehr retten. Wenn man die Bilder von der luxuriösen Fernreise keinem mehr zeigen mag, weil es peinlich geworden ist, mit seinem persönlichen Beitrag zur Klimakatastrophe auch noch zu protzen, dann wirkt das stärker als jede Erhöhung der Flugpreise“ (Kuzmany 2019).
Ähnlich argumentiert auch die Journalistin Julia Kopatzki, wenn sie schreibt, dass viele Menschen trotzig reagieren, wenn sie z.B. hören, dass der Anbau von Avocados enorme Mengen Wasser verschlingt (vgl. S. 182) und sie dann trotzdem (!) kaufen.
Aber:
„Trotz heißt zugleich, dass wir etwas begriffen haben. Nicht im Kopf – emotional. … Unser Verhalten sei abhängig von vier Faktoren, erklärt … [der Umweltpsychologe Andreas] Ernst.
Gewohnheit.
Die Möglichkeit einer guten Alternative.
Die Überzeugung, dass diese sich für uns lohnt.
Und der soziale Einfluss derer, die uns wichtig sind. ‚Wenn nur einer der vier Punkte ausfällt, kann unser Verhalten kippen‘, sagt … Ernst“ (2019, 48).
Halten wir fest:
Das Verhalten der Menschen unseres sozialen Umfeldes färbt auf uns ab. So wie die Wahrscheinlichkeit dick zu werden größer ist, wenn sich im Freundeskreis Menschen mit entsprechenden Körpermaßen befinden (vgl. Tagesspiegel 2007 u. Bartens 2010), so gilt das auch für anderes Verhalten: Besitzen Menschen in unserem Umkreis Autos – wie oft kaufen sie ein Neues? Zahlen unsere Freunde und Bekannten einen Lebenskredit für ihr Einfamilienhaus – leben sie vor den Toren der Großstadt? Wohin reist unser Umfeld, welche Ernährungsgewohnheiten sind charakteristisch, wo wird was geshoppt? – All diese Lebensaspekte werden latent von unserem jeweiligen Umfeld beeinflusst und inspiriert.
Jetzt kommt’s:
Das funktioniert auch umgekehrt: Wenn wir bewusst kein Auto haben, nicht fliegen, Vegetarier*in sind etc. pp. – dann bekommt das unser Umfeld mit (obwohl wir damit nicht hausieren gehen, ergo: nicht missionieren!), stellt Fragen, kommt manchmal ins Nachdenken, trotzt, wägt ab, beobachtet, ob auch andere Menschen des Umfeldes ähnlich wie wir agieren…
Und noch eins:
Wir rechtfertigen uns alle gegenseitig. Das wird immer dann augenfällig, wenn man als Einzelperson den stillschweigenden Konsens rund um eine ‚soziale Norm‘ aufkündigt – z.B., in dem man nicht mit Sekt auf den Geburtstag von Person X anstoßen möchte.
Die Reaktionen sind – etwas pauschal ausgedrückt – voraussehbar: Dem jüngeren weiblichen Teil der Bevölkerung wird dann allzu gern unterstellt, dass sie schwanger ist – ich kann es nicht mehr hören –, und es ertönt quasi unvermeidlich das „ach komm, ein Schluck geht doch“-bla-bla-bla.
Hier wird sofort von der Gruppe sanktioniert, dass ein Gruppenmitglied sozusagen gegen die Gruppe aufsteht. Sogar bei so etwas harmlosen wie, heute mal keinen Alkohol zu konsumieren, wird dieses abweichende Verhalten seismographisch erkannt und sanktionierend reagiert. Kein Wunder, dass es vielen Menschen, die ja Gruppentiere sind, schwerfällt, non-konform zu sein, d.h. gegen die Gruppe aufzutreten.
>> Und deswegen ist es vielen Menschen so verdammt wichtig, was andere Menschen von ihnen denken. >> vgl. auch Aspekt Menschen sind soziale Wesen – und wollen vor allem eines: Sinnstiftung und Anerkennung, S. 386.
Eigentlich geht es darum, dass die/der Andere ein leises schlechtes Gewissen hat – spätestens, wenn es darum geht, dass Person Y kein Fleisch isst, kann es am Grill u.U. sogar zu aggressiven verbalen Ausbrüchen kommen, obwohl die/der Vegetarier*in nichts weiter möchte, als ihre/seine Veggie-Bratwurst nicht unter die anderen gemischt zu sehen…
Wenn nun im Freundeskreis weitere Menschen keinen Sekt wollen, nicht fliegen, kein Fleisch essen – aber zu Demos gehen, aufs Fahrrad steigen, das Auto abschaffen, die Bahn nehmen, an die Nordsee statt in die Südsee reisen – dann wird dieses etablierte Rechtfertigungsschema schwieriger.
Zu diesem Schluss kommt auch der Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Matthias Sutter:
„Mein Eindruck ist, dass das soziale Umfeld den stärksten Einfluss hat. Wenn alle meine Freunde aufs Fliegen verzichten, ist der Druck auf mich hoch. Dazugehören und so leben zu wollen wie andere ist ein sehr starkes Motiv menschlichen Verhaltens. Öffentliche Personen sind dagegen sehr weit weg“ (2020).
Wir rechtfertigen uns alle gegenseitig | handbuch-klimakrise.de
Egal, um welches Thema es geht:
Anecken ist wichtig! Reibungslosigkeit aufkündigen!
Jeder kann etwas tun, jede Handlung färbt ab. Nicht 1:1 – und selbst, wenn der Freundeskreis immun sein sollte – das eigene Bewusstsein für die Dinge nimmt zu. Und vielleicht braucht man auch mal neue Leute um sich?
Das gleiche gilt für das Einkaufsverhalten. Selbstverständlich ist jede (Nicht-)Kaufentscheidung eine Abstimmung an der Ladenkasse.
Und auch hier gilt: Natürlich erzähle ich im Freundeskreis, dass wir Palmöl mittlerweile komplett aus unserer Wohnung verbannt haben und Nestlé von uns keinen Cent erhält.
Aber wichtig ist auch:
Die Forderung nach einer weitgehenden Privatisierung/Individualisierung der Klimakrise ist ein Ablenkungsmanöver der CDUcsuSPDfdp-Politik und der Industrie samt ihrer Green Washing-Produkte.
Deren Aufforderung:
„Kauf nachhaltige Produkte und die Welt wird gerettet sein. Und Du kannst weiter unbesorgt shoppen“ ist: Schwachsinn
Was ich hier bezogen auf die Möglichkeiten individuell zu Handeln schildere, rettet definitiv nicht die Welt und kann so verstanden sehr frustrierend sein.
>> Zum Thema Abschiebung der Verantwortung durch Industrie und Politik, d.h. zu dem Versuch, die Klimakrise zu ‚privatisieren‘ bzw. zu ‚individualisieren‘, siehe S. 171f. >> s.a. Abschnitt Ausreden, Ablenkungsmanöver und Ersatzdebatten: Die Zeit des ‚Aberns‘ ist vorbei, S. 234.
Sinnvoll erscheint hier m.E., dass eine zu tun, ohne das andere zu lassen.
Konkret geht es darum,
durch eigenes Alltagshandeln ein Bewusstsein für sich (und teilweise auch für sein Umfeld) zu schaffen,
wach zu werden,
proaktiv in die Welt hineinzugehen,
an sich selbst zu glauben,
die gegenseitige Negativ-Rechtfertigung und Reibungslosigkeit zu durchbrechen,
um auf dieser Basis z.B.
ins Gespräch zu kommen,
miteinander zu diskutieren,
Themen zu setzen,
zu Demos zu gehen,
Podiumsdiskussionen zu besuchen,
Mitglied einer Umweltschutzorganisation zu werden,
politisch aktiv zu werden und/oder
in einer NGO (Non Governmental Organization) mit zu arbeiten… (s.a. Kuzmany 2019).
„Doch manche Dinge kann man nicht durch Nachdenken ergründen, man muss sie erfahren.“ Michael Ende in: Die unendliche Geschichte
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)
1 Anders ausgedrückt: Wie vergewissern uns ständig durch Beobachtung des Verhaltens Anderer, ob unser eigenes Verhalten ‚ok‘ ist – und entscheiden dann unter Umständen neu, wie wir uns zukünftig verhalten.
2 Wenn man die Reibungslosigkeit und ggf. das Ja-Sagertum aufgibt, ist sozialer Gegenwind erwartbar.
3 Zum Thema Green Washing ist das Buch von Kathrin Hartmann, Die Grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell, sowie der Film von Werner Boote, Werner und Kathrin Hartmann, Die Grüne Lüge. Die Ökolügen der Konzerne und wie wir uns dagegen wehren können, beide 2018 erschienen, sehr empfehlenswert.
4 So werben mittlerweile Fluggesellschaften damit, dass sie in neue, modernere Flugzeuge investieren, sodass sie künftig weniger CO2 ausstoßen als andere Fluggesellschaften. Das ist Green-Washing: Auch die modernsten Flugzeugmotoren emittieren viel zu viel CO2 – das ist keine Problemlösung (vgl. Abschnitt Klimakiller Flugverkehr, S. 252 und Aspekt Exkurs: Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion, S. 265. Da die anderen, älteren, verkauften Flugzeuge irgendwo auf der Welt weiterfliegen, haben neue Flugzeuge zusätzlich gebaut zu werden – ein klassischer Rebound-Effekt: Dann gibt es noch mehr Flugzeuge. Ergo: Wir kommen um das Weniger nicht herum (vgl. Rebound-Effekt, S. 256).
Quellen des Abschnitts Was kann ich tun? – Haltung!
Es gibt kein Recht auf FreieFahrtFürFreieBürger – es gibt lediglich ein Recht auf Teilhabe und allgemein gefasst ein Recht auf Mobilität, um eben am sozialen Leben teilhaben zu können.
Problematisch ist, wie derzeit Überfluss- und Wohlstandsgesellschaft i.d.R. gleichgesetzt bzw. als gleichbedeutend verstanden werden.
„Dem Wirtschaftswissenschaftler Martin Kolmar zufolge definiert sich diese Art des [Überfluss-] Wohlstandes dadurch, dass er nicht mehr der Befriedigung von Grundbedürfnissen dient, sondern in erster Linie der Befriedigung von Bedürfnissen nach Selbstverwirklichung und Status. Diese aber sind nicht nur nie zu befriedigen, sie erschaffen vielmehr stets neue Bedürfnisse: So wird Luxus zur Massenware. Wir sind gefangen in einer ‚Ressourcenverbrennungsmaschine‘“ (Neubauer/Repenning 2019, 165-166).
Es ist durchaus erstaunlich: So weist Paech zu Recht hin auf ein binnen Kurzem entstandenes materielles Anspruchsniveau, dass er für skandalös hält (vgl. Folkers/Paech 2020, 13) und spricht von einer „lebensbedrohliche[n] Wohlstandsverwahrlosung“ (ebd., 188). Dies sei schlicht „ökologischer Vandalismus, der die humanen Ziele der Moderne verhöhnt“ (ebd., 186).
„Blue Marble“ live mit der hellblau schimmernden, unendlich dünnen Atmosphärenschicht – in Relation nicht einmal die Haut eines Apfels… per NASA-live-stream (https://youtu.be/EceyCgxG1c8 (Abrufdatum 28.11.2023)
Ökologischer Vandalismus?
Ilija Trojanow fasst es in andere Worte:
„Das, was sich Wohlstand nennt, basiert auf einer noch nie dagewesenen Ausbeutung von Natur und Mensch.“ (2020, 12)
Es folgt:
Wir haben den Überfluss, der uns nie zugestanden hat, loszulassen, um die Chance zu wahren, einen grundlegenden Wohlstand zu erhalten.
... mehr
Mit diesem Gedanken wähnte ich mich lange allein, doch Maja Göpel greift ihn 2020 in Unsere Welt neu denken auf: „Ich kann ja nur auf etwas verzichten, das mir nach Lage der Dinge zusteht. Der Wohlstand, in dem die westliche Welt lebt und an dem sich viele Entwicklungsländer orientieren, hätte nach den Regeln der Nachhaltigkeit aber gar nicht erst entstehen dürfen“ (127).
Die Biodiversitäts- undKlimakrise ist kein Luxusproblem. Die Biodiversitäts- undKlimakrise basiert auf einem Problem mit dem Luxus.
>> in diesem Sinne s.a. Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. oekom.
Auch die Analysen des britischen Ökonoms Daniel O’Neill
„zeigen: Schon heute gibt es kein einziges Land, das soziale Grundbedürfnisse wie Bildung, medizinische Versorgung und sauberes Wasser auf ökologisch nachhaltige Weise befriedigt. … ‚Das ist unser Weckruf, Dinge radikal anders zu machen‘… Der Wissenschaftler hat auch einen Vorschlag, was das sein könnte: der Verzicht auf Luxus. Denn nach seinen Berechnungen hat Luxus zwar einen hohen ökologischen Preis, steigert das Wohlbefinden der Menschen aber kaum“ (Possemeyer 2018).
Der deutsche Kabarettist Hagen Rether bringt es gewohnt gekonnt auf den Punkt:
Rether, Hagen (2018): „3sat Festival – Hagen Rether Liebe Update 2018 – Wir wundern uns /Ausschnitt 03.10.2018“ in: Youtube.de, online unter https://www.youtube.com/watch?v=7GcYDBaIQn8 (Abrufdatum 9.6.2020)
„Fleischessen und Urlaubsflüge haben doch nichts mehr mit persönlicher Freiheit1 zu tun. Wir dürfen nicht die Freiheit haben, die Welt zu ruinieren, Millionen Menschen verhungern zu lassen und 21 Hühner pro Quadratmeter zu halten. Hier geht’s längst nicht mehr um persönliche Freiheit. Hier geht’s um die Wurst. Das sind doch Straftaten. Das muss man per Gesetz regeln. Vernünftige Dinge machen die Menschen nicht freiwillig. Kein Mensch zahlt [altruistisch] freiwillig Steuern, damit das Gemeinwesen erhalten bleibt“ (zit. in Bonner/Weiss 2017, 297).
„Und man muss das mit Gesetzen machen, anders geht’s nicht. Ich bin kein Freund von großen Verboten… manchmal muss man die Gesellschaft vor sich selber retten“ (2018).
Details: Erläuterungen zu (1)
1 „Gut möglich, dass mit Freiheit Bequemlichkeit gemeint ist. … Doch Bequemlichkeit ist im Gegensatz zur Freiheit kein Grundrecht, nichts, was jemandem zusteht“ (Pinzler 2020, 3).
Quellen des Abschnitts Unhaltbarer Lebensstil in Deutschland
Bonner, Stefan u. Weiss, Anne (2017): Planet planlos. Sind wir zu doof die Welt zu retten? München: Knaur.
Folkers, Manfred und Paech, Niko (2020): All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. oekom.
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein.
Neubauer, Luisa u. Repenning, Alexander (2019): Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft. Tropen.
Pinzler, Petra (2020): „Laufen und laufen lassen“. in: Die Zeit, Nr. 39/17.9.2020, S. 2-3.
Possemeyer, Ines (2018): „Das Leben der anderen“. In: GEO Perspektive 2018, S. 21.
Rether, Hagen (2018): „3sat Festival – Hagen Rether Liebe Update 2018 – Wir wundern uns /Ausschnitt 03.10.2018“ in: Youtube.de, online unter https://www.youtube.com/watch?v=7GcYDBaIQn8 (Abrufdatum 9.6.2020)
200 Jahre Wissen. Und politisch kaum einen Schritt weiter:
1824 hält der Physiker Jean-Baptiste Joseph Fourier fest:
„[D]ie Auswirkungen der menschlichen Industrie und alle versehentliche Änderungen der Oberflächen der Erde ändern die Temperaturen in jedem Klima. … [E]s sind die Auswirkungen auf die Temperatur zu beobachten, die sich von denen unterscheiden, die ohne den Einfluss der zusätzlichen Ursachen auftreten würden.“1
>> Anmerkung zur historischen Einordnung des Zeitpunkts dieser wissenschaftlichen Erkenntnis: Napoleon 3 Jahre tot | Beethoven schrieb an der 9. | 8 Jahre vor dem Bau der ersten Eisenbahn in Hamburg | Mr. Glühlampe Thomas Alva Edison (*1847) war noch nicht einmal geboren.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Quelle: Fourier, Joseph (1824, 1827): Über die Temperaturen der Erdkugel und den Planetenräumen. Kommentierung und Übersetzung: Jochen Ebel, 2014. S. 11 des PDF-Dokuments, Punkt 50 http://www.ing-buero-ebel.de/Treib/Fourier.pdf (Abrufdatum 14.6.2019) | Das vollständige Zitat: „Das Ausmaß der Bewegungen von Luft und Wasser dessen Menge, die Höhe und die Form des Oberfläche, die Auswirkungen der menschlichen Industrie und alle versehentliche Änderungen der Oberflächen der Erde ändern die Temperaturen in jedem Klima. Die Ursachen für Phänomene erzeugen beobachtbare Wirkungen, aber es sind die Auswirkungen auf die Temperatur zu beobachten, die sich von denen unterscheiden, die ohne den Einfluss der zusätzlichen Ursachen auftreten würden.“ | Der französische Originaltext: „Les mouvements de l’air et des eaux, l’étendue des mers, l’élévation et la forme du sol, les effets de l’industrie humaine et tous les changements accidentels de la surface terrestre modifient les températures dans chaque climat. Les caractères des phénomènes dus aux causes générales subsistent; mais les effets thermométriques oberservés à la superficie sont différents de cuex qui auraient lieu sans l’influence des causes accessoires“ (Fourier 1824 u. 1827).
1861 beschreibt John Tyndall den natürlichen Treibhauseffekt auf Basis von Gasen wie CO₂, Ozon, Lachgas und Methan (vgl. Bonner/Weiss 2017, 78 u. Kriener 2015).
1896 formuliert der spätere Nobelpreisträger Svante Arrhenius ein erstes Klimamodell. Dies markiert den Beginn der eigentlichen Klimaforschung.
„Dabei sind seine Kalkulationen … so genau, dass sie erstaunlich nahe an jene heutiger Supercomputer herankommen“ (Bonner/Weiss 2017, 81).
1950er Jahre – Der endgültige und eindeutige Beweis für den anthropogenen (=menschengemachten) Klimawandel wird erbracht:
Der seit der industriellen Revolution in die Atmosphäre gelangte „Kohlenstoff hat eine besondere Isotopenzusammensetzung, daher konnte Hans Suess bereits in den 1950er Jahren nachweisen, dass das zunehmende CO₂ in der Atmosphäre einen fossilen Ursprung hat“ (Rahmstorf/ Schellnhuber 2018, 34).
Anders gefasst: Natürlicher Kohlenstoff ist chemisch etwas anders aufgebaut als der technisch verfeuerte Kohlenstoff – und so kann man die beiden Stoffe auseinanderhalten.
1958 läuft im US-Fernsehen folgende populärwissenschaftliche Sendung von Frank Capra – von der Sie sich einen zweiminütigen Ausschnitt unbedingt anschauen sollten! – hier der Text:
„‚Maybe now man may be unwillingly changing the world’s climate through the waste products of the civilization due to our release through factories and automobiles every year of more than six billion [dt. = Mrd.] tons of carbon dioxide, which helps air absorb heat from the sun. Our atmosphere seems to be getting warmer‘ – ‚Is this bad?‘ – ‚Well, it’s been calculated a few degrees rise in the earth’s temperature would melt the polar ice caps and if this happens an inland sea would fill a good portion of the Mississippi Valley…‘“
>> 2 min – Die Sendung The Unchained Goddess innerhalb The Bell Telephone Science Series im Jahre 1958 (!) über den Klimawandel; Backgrounds siehe wikipedia.de: Bell_Laboratory_Science_Series#The_Unchained_Goddess_(1958)/ (Abrufdatum 4.7.2019), ganze Sendung: https://www.youtube.com/watch?v=x1ph_7C1Jq4 (Abrufdatum 22.2.2021)
1964 bohren Wissenschaftler*innen einen 1.390 Meter langen Eiskern, der auch Luftbläschen von vor über 100.000 Jahren enthält, aus dem Grönlandeis heraus, Ergebnis: Selbst in warmen Jahren lag der CO₂-Wert zehntausende Jahre nie über 300 ppm“ (vgl. Bonner/Weiss 2017, 91).
1965 erhält US-Präsident Lyndon B. Johnson die Studie ‚Restoring the Quality of our Environment‘, in der der heutige Forschungsstand der Dinge weitgehend korrekt vorhergesagt wurde: „Der Mensch… hat unwissentlich ein ungeheures geophysikalisches Experiment in Gang gesetzt“ (Kriener 2015).
1971 kommt das Thema definitiv in der Bundesrepublik Deutschland an: Unter der Überschrift „Industrialisierung und Bevölkerungswachstum beeinflussen das Klima“ ist bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zu lesen, dass bei einem ‚Weiter so‘ „spätestens in zwei bis drei Generationen der Punkt erreicht [wird], an dem unvermeidlich irreversible Folgen globalen Ausmaßes eintreten“ (DPG 1971).
1982 weiß der US-Ölkonzern Exxon exakt1, was 2019 los sein wird:
2020 = weltweit ca. 420 ppm CO₂ in der Atmosphäre laut Exxon
korrekt ist: 2020 = weltweit ca. 414 ppm CO₂ in der Atmosphäre (ppm = parts per million = Anteile pro Million)
2020 = weltweit ca. 0,9 Grad Celsius mehr als in der vorindustriellen Zeit mit weiter ‚exxonponentiell‘ ansteigender Kurve, projiziert bis 2100 – laut Exxon
korrekt ist: 2020 = weltweit ca. 1,1 Grad Celsius mehr als in der vorindustriellen Zeit. (Aktuell, Stand 2021, geht man von ungefähr 1,2 °C aus.)
1 Stefan Rahmstorf erörterte 2019 im Spiegel, dass auch schon vorher, bereits im Juli 1977, der „leitende Exxon-Wissenschaftler James Black [noch ohne konkrete Zahlen] ein ‚Super-Interglazial‘ vorhergesagt [hat], das durch den hohen CO2-Ausstoß zustande kommen könnte. Interglaziale sind Warmzeiten, die zwischen den Eiszeiten vorkommen… [Der Wissenschaftler hat d]ie Exxon-Führungsriege … informiert, in internen Unterlagen des Konzerns findet man sein Briefing-Papier, das davor warnt, dass wir in diesem Jahrhundert das Temperaturniveau des Eem-Interglazials überschreiten werden – und dass unser Heimatplanet damit heißer als seit mindestens 150.000 Jahren werden wird“ (ebd.). Hinzuzufügen ist, dass Exxon bereits seit 1979 wöchentlich große Anzeigen in der New York Times schaltete, in denen Klima-Greenwashing betrieben wurde, vgl. S. 403.
1988 gibt es eine geheime Shell-Studie, die die anstehende Katastrophe genau beschreibt: „Es ist möglich, dass die Umwelt in einem derartigen Ausmaß geschädigt wird, dass einige Teile der Erde unbewohnbar werden könnten“ (geleakt u. zit. in Climate Files 2019).
1995 ist die promovierte Physikerin Angela Merkel als deutsche Umweltministerin Gastgeberin der ersten UN-Klimakonferenz (COP 1) in Berlin. Sie hat seither viel über Klimaschutz geredet.
1997 wurde das erste rechtsverbindliche Klimaschutzabkommen, das sog. Kyoto-Protokoll, vereinbart und „wurde von 191 Staaten ratifiziert, darunter alle EU-Mitgliedstaaten sowie wichtige Schwellenländer wie Brasilien, China, Indien und Südafrika. Die USA haben das Kyoto-Protokoll bis heute nicht ratifiziert. Kanada ist im Jahr 2013 ausgetreten“ (BMU 2017).
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Naomi Klein bezeichnete – zeitlich vor ‚Paris‘ – die jährlichen UN-Klimagipfel als „kostspielige und CO2-lastige Gruppentherapiesitzung, wo die Vertreter der am meisten gefährdeten Länder der Welt ihren Kummer und ihren Zorn herauslassen, während niederrangige Vertreter der Länder, die an ihrer Tragödie größtenteils Schuld sind, auf ihre Schuhspitzen starren“ (2015, 21-22).
2006 erscheint der sog. Stern-Report (Stern Review on the Economics of Climate Change), ein ca. 650-seitiger Bericht, der federführend von Nicholas Stern verfasst wurde, dem vormaligem Weltbank-Chefökonom im Auftrag der britischen Regierung, der die ökonomischen Folgen der Erderwärmung untersucht. Alles in allem wurde hier vor allem die zu dieser Zeit als neu wahrgenommene These vertreten, dass Wachstum und Klimarettung sich nicht ausschlössen und somit wurde in diesem Bericht die Idee eines Green Growth befördert. Berühmt wurde der Statement, dass „[d]er Klimawandel das größte Versagen des Marktes [ist], das die Welt je gesehen hat“ (Stern-Report 2008 [auf Deutsch]).
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Benannt wurden – mit Stand 2006 – die zu erwartenden erheblichen Klimaschäden. Gewarnt wurde vor den daraus resultierenden gravierenden Kosten für die Weltwirtschaft: Effektiver Klimaschutz würde 1% des weltweiten BIP, einer ‚Weiter so‘ hingegen 5 bis 20%, sodass schnelles entschiedenes Handeln zu empfehlen sei. Empfohlen wurde u.a. die Einführung eines wirksamen Emissionshandels bzw. einer ebensolchen CO2-Steuer, die Förderung klimaneutraler Technologien, höhere Energieeffizienz sowie eine bessere Öffentlichkeitskommunikation (vgl. ebd. sowie wikipedia 2019).
2015 findet die UN-Klimakonferenz in Paris 2015 (COP 21) statt – die einundzwanzigste ihrer Art. Das daraus resultierende, von 197 Staaten unterschriebene, von 189 Ländern ratifizierte und völkerrechtlich bindende ‚Übereinkommen von Paris‘, welches bestürzende 50 Jahre nach dem 1965er Expertenbericht erreicht worden ist, legt die Begrenzung des Anstiegs der globalen Durchschnittstemperatur auf ‚deutlich unter 2 °C‘ über dem vorindustriellen Niveau fest. Die Weltgemeinschaft sagt des Weiteren zu, Anstrengungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.
„The Parties to this Agreement… have agreed as follows… Art. 2 1. This Agreement, … aims to strengthen the global response to the threat of climate change, in the context of sustainable development and efforts to eradicate poverty, including by:
(a) Holding the increase in the global average temperature to well below 2°C above pre-industrial levels and pursuing efforts to limit the temperature increase to 1.5°C above pre-industrial levels, recognizing that this would significantly reduce the risks and impacts of climate change…“ (UN 2015).
Amtliche Übersetzung ins Deutsche:
„1. Dieses Übereinkommen zielt darauf ab, [das] …der Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau gehalten wird und Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, da erkannt wurde, dass dies die Risiken und Auswirkungen der Klimaänderungen erheblich verringern würde…“ (BMU 2015)
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Syrien war im November 2017 das letzte Land, das dem Pariser Abkommen beigetreten ist (vgl. Bojanowski 2017). So gesehen sind die USA die einzigen, die erklären nicht (mehr) mitmachen zu wollen und damit im Jargon der 1980er Jahre sozusagen das ‚Klassenarsch‘. Derweil bedeutet ‚beigetreten‘ noch lange nicht ‚in Kraft gesetzt‘. Nicht ratifiziert wurde das Abkommen mit Stand Mai 2020 von Angola, Eritrea, Irak, Iran, Jemen, Libyen, Südsudan und die Türkei. „Vier dieser Länder – Angola, Irak, Iran und Libyen – sind Mitglied der Opec, der Organisation erdölexportierender Länder“ (Kern 2020). Bislang sind die USA das einzige Land, das offiziell erklärt hat, wieder aus dem Pariser Abkommen wieder auszusteigen: „Der formelle Austritt wird nach UN-Regeln am 4. November 2020 gültig – am Tag nach den nächsten US-Präsidentschaftswahlen. Ein neugewählter Regierungschef könnte also in letzter Minute erklären, die USA noch im Abkommen halten zu wollen (Pötter 2019, 5).
2018 – Am 20. August setzt sich Greta Thunberg das erste Mal und alleine vor das schwedische Parlament. Am nächsten Tag setzt sich jemand spontan dazu.
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Nicht allen erging es so wie Greta Thunberg, deren ungeheure Leistung sicher auch durch die ebenso große Gruppen- und Mediendynamik sowie von bspw. in Deutschland „Tausende[n] Menschen in über 600 Ortsgruppen“ (FFF-Aktivistin Lou Töllner 2020, 31) beflügelt wurde und wird. So möchte ich an dieser Stelle insbesondere auch den vielen Fridays for Future-Aktivist*innen meinen Respekt zollen, die in ihren Ländern weitgehend Alleinkämpferinnen (geblieben) sind. Beispielsweise bezeichnet die SZ die 17-jährige chinesische Klimaaktivistin Ou Hongyi als ‚Ich-AG‘. „Auf Twitter, das in China gesperrt ist, folgen ihr mehr als 10.000 Menschen, im Land aber kennt sie kaum jemand… Inzwischen schwänzt Ou die Schule nicht mehr, sie darf gar nicht mehr kommen… Der Druck auf die Familie ist groß. Wenn sie mit Journalisten aus dem Ausland spricht, rufen die Sicherheitsbehörden an, drohen Ous Eltern mit beruflichen Konsequenzen“ (Deuber 2020).
Quellen des Abschnitts Forschungs-Historie Klimawandel
Fourier, Joseph (1824, 1827): Über die Temperaturen der Erdkugel und den Planetenräumen. Kommentierung und Übersetzung: Jochen Ebel, 2014. PDF: S. 11, Punkt 50 http://www.ing-buero-ebel.de/Treib/Fourier.pdf (Abrufdatum 14.6.2019)
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen Hochwasser und Stürme. Ullstein.
Pötter, Bernhard (2019): „Die Klimafrage“. in: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung, 2019, S. 4-7.
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. München: Beck. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage.
Töllner, Lou (2020): „Alles zurück auf normal?“. [Urusa Ott u. Nils Husmann interviewen Lou Töllner u. Sebastian Pufpaff]. in: Chrismon, 9/2020, S. 29-31
>> s. a. https://showyourstripes.info/ (Abrufdatum 30.9.2022). Hier findet man zusätzlich auch die „warming stripes“ für Deutschland.
Anmerkung: Auf der Grafik beträgt die Differenz 1,35° Celsius, weil die Zahlen bis 1850 zurückreichen. Als Referenzwert für die aktuelle Erwärmung dient das Jahr 1900 – wo es eben global „nur“ 1,2° Celsius kühler war als heute.
Diese Grafik gibt es mittlerweile auch in dieser Variante:
Daneben gibt es u.a. noch die sog. „Hockeyschlägerkurve“ von Michael E. Mann, Raymond S. Bradley und Malcolm K. Hughes, 1999, bezogen auf die letzten 2000 Jahre, deren Verlauf einem rechts aufragenden Hockeyschläger ähnelt, d.h. nach langer relativer Stabilität bricht die „Gerade“ als exponentielle Kurve immer steiler nach oben aus.
Hier zunächst ein Blick auf die deutliche Entwicklung seit 1850 bis heute:
Quelle bzw. Rahmstorf, Stefan (2019): eigene Webpage der University of Potsdam, Institute of Physics and Astronomy, online unter http://www.pik-potsdam.de/%7Estefan/ (Abrufdatum 11.6.2019)
Wie dramatisch diese Steigerungen der °C- und CO2-Werte tatsächlich ausfallen, wird sichtbar, wenn man den Zeithorizont Stück für Stück aufzieht:
1) Zeithorizont 1.000 Jahre (CO2):
Author: Mrfebruary; used by Creative CommonsAttribution-Share Alike 3.0 Unported – Anmerkung: Mit Stand 2020 sind wir bei 414 ppm CO₂-Konzentration in der Atmosphäre. [ppm = parts per million = Anteile pro Million]
2) Zeithorizont 2.000 Jahre (°C):
Sehr gut zu erkennen: Der Hockeyschläger.
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic license.
Dies ist die sog. ‚Hockeyschlägerkurve‘ von Michael E. Mann et al. aus dem Jahr 1999 bezieht sich auf die letzten 2.000 Jahre, deren Verlauf einem rechts aufragenden Hockeyschläger ähnelt, d.h. nach langer relativer Stabilität (mit einer leichten, wenige Zehntelgrad repräsentierenden Delle nach unten) bricht die ‚Gerade‘ als exponentielle Kurve immer steiler nach oben aus.
Und schließlich gibt es noch die berühmte Keeling-Kurve, die der Klimaforscher Charles Keeling erstmals 1962 veröffentlichte und die seither regelmäßig aktualisiert wird.
Die Keeling-Kurve zeigt den steigenden CO₂-Gehalt der Erdatmosphäre seit 1958:
Die Keeling-Kurve mit den Messwerten des atmosphärischen Gehalts an Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre, gemessen am Mauna Loa. Von Delorme – Eigenes Werk. Data from Dr. Pieter Tans, NOAA/ESRL and Dr. Ralph Keeling, Scripps Institution of Oceanography., CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46146497 s.a. Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Gehalt der Atmosphäre…
>> s.a. Abschnitt Temperaturen und CO2-Konzentrationen, S. 49ff. >> Hinweis: Diverse Graphiken zu den Temperaturentwicklungen in Deutschland stellt der Deutsche Wetterdienst mit Stand Januar 2020 zur Verfügung, Suchwörter Google: „dwd rückblick langfristige“, siehe hier. >> Stefan Rahmstorf analysiert die Historie der Erderwärmung mit Grafiken unter https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/palaeoklima-das-ganze-holozaen/ (Abrufdatum 25.1.2020)
„Ohne Treibhausgase würde die von der Erde emittierte Strahlung zum Großteil ungehindert zurück ins Weltall strahlen. Das Leben hier wäre ziemlich ungemütlich und kalt… Weil es Treibhausgase [grundsätzlich] gibt, es die Erdatmosphäre um 30 Grad wärmer, als sie es ohne Kohlendioxid, Wasserstoff und Methan wäre“ (Otto 2019, 28).
>> Ohne Treibhausgase gäbe es uns Menschen mutmaßlich gar nicht. Wenn es denn überhaupt eine Evolution gegeben hätte: Der Planet sähe vollkommen anders aus, s.a. Abschnitt CO₂-Gehalt der Atmosphäre, S. 49f.
Kohlendioxid | CO2
Oft wird im Zusammenhang mit klimaschädigenden Emissionen nur von Kohlendioxid CO₂ bzw. CO₂e gesprochen.
Das „e“ hinter CO₂ steht für „Äquivalente“:
Zur Vereinfachung werden die anderen Treibhausgase wie z.B. Methan und Lachgas i.d.R. nicht gesondert aufgeführt, sondern auf Basis ihrer bekannten klimaschädigenden Wirkung in CO₂-Äquivalente (CO₂e) umgerechnet.
>> In englischsprachigen Publikationen findet man auch die gleichbedeutende Bezeichnung CO2eq.
CO₂-Verweildauer variabel: „Je nach freigesetzter Menge verbleiben zwischen 15 und 40 Prozent bis zu 2.000 Jahre in der Atmosphäre.“ (Klimafakten 2020, 20)
… und heizen (wie die anderen Treibhausgase) den Planeten via Treibhauseffekt auf. Wäre dies der einzige Effekt, der die Emission von CO2 nach sich ziehen würde, gäbe es uns schon längst nicht mehr, weil es viel zu heiß wäre auf der Erde. Tatsächlich nehmen die Ozeane eine riesige Menge an Wärmeenergie aus der Atmosphäre auf: 93% zwischen 1971 und 2010 (vgl. S. 132). Zudem ist es so, dass etwa ¼ des anthopogenen CO2 von den Weltmeeren absorbiert wird (vgl. S. 133) – um den hohen Preis, dass deren ph-Wert sinkt und sie versauern.
Methan | CH4
Durchschnittliche Verweildauer von Emissionen in der Atmosphäre: ca. 12,4 Jahre
25x so klimaschädigend (‚klimawirksam‘) wie CO₂. bei einer Betrachtung über 100 Jahre1 84x so klimaschädigend (‚klimawirksam‘) wie CO₂bei einer Betrachtung über 20 Jahre, was sinnvoller ist, weil Methan in Relation zu CO2 relativ schnell abgebaut wird – und es wichtig ist, um für die relativ zeitnah erforderliche Klimaneutralität Deutschlands 2035 bzw. 2037 und weltweit 2050 einen bestimmten ppm-Gehalt an CO2e nicht zu überschreiten (vgl. Fischer et al. 2020).
>> 1kg Methan trägt innerhalb der ersten 100 Jahre nach der Freisetzung 25 Mal so stark zum Treibhauseffekt bei wie 1kg CO₂. Die Freisetzung von 1 kg Methan entspricht also der Freisetzung von 25 kg CO₂; vgl. infraserv o.J.
„Methan entsteht immer dort, wo organisches Material unter Luftausschluss abgebaut [zersetzt] wird. In Deutschland vor allem in der Land- und Forstwirtschaft, insbesondere bei der Massentierhaltung. Eine weitere Quelle sind Klärwerke und Mülldeponien“2 (UBA 2019).
weitere Entstehungsursachen von Methan:
„Reisanbau, Viehzucht, … Steinkohlenbergbau (Grubengas), Erdgas- und Erdölproduktion, Zerfall von Methanhydrat-Vorkommen durch die globale Erwärmung, Feuchtgebiete“ (wikipedia 2019a).
„Die Konzentration des … Methans stieg [2019] auf ein Rekordniveau und liegt nun um 259 Prozent über dem Niveau der vorindustriellen Zeit.“ (Zeit 2019, vgl. WMO 2019)
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Hier weichen die genannten Zahlen in den verschiedenen Quellen ab – die Größenordnung – zwischen Faktor 20 und Faktor 34 – bleibt dabei grob erhalten. Die hier verwendete Zahl basiert auf den Angaben des Umweltbundesamtes.
2 Apropos Müll: Ein nahezu unbekannter Fakt ist, dass die hochgiftigen Überbleibsel (Filterstäube/Filteraschen, getrocknete Rückstände aus der chemischen Rauchgasreinigung, vgl. wikipedia 2020) aus der ‚thermischen Verwertung‘ von Müll – gemeint ist die Verbrennung in Müllverbrennungsanlagen und betrifft etwa ¾ des Mülls in Deutschland (vgl. Kopatz 2019, 115) – „seit den 1980er Jahren … in alten deutschen Salzbergwerken eingelagert [werden]“ (Hünerfeld 2019). Als Laie macht man sich nicht klar, wie groß die Hohlräume untertage sind. Allein im „Bergwerk Heilbronn-Kochendorf … kann man über 700 Kilometer unter Tage zurücklegen“ (ebd.). Um Geld zu sparen, „nutzte man [teilweise] einen juristischen Kniff: Man nahm beispielsweise gefährliche Abfälle wie die Filteraschen, vermischte sie mit anderen Abfällen und machte daraus einen ‚Baustoff‘, um das Bergwerk zu verfüllen. Der enthielt zwar noch immer die Giftstoffe aus der Müllverbrennung, war aber auf dem Papier ein Baustoff und kein Abfall mehr. Damit galten auch nicht mehr die strengen Abfallgesetze, sondern das damals wesentlich laxere Bergrecht“ (ebd.). Derweil besteht die Gefahr von Wassereinbrüchen – was schon mehrfach passiert ist – und des Weiteren ist die Langzeitstabilität unklar: Derweil werden Fakten geschaffen (vgl. ebd.) – und wie so oft die Risiken an die nächsten Generationen weitergereicht. In Bleicherode in Thüringen werden „Rückstände aus den Filtern der Müllverbrennung… Dioxine, Blei und Furane [– die toxischen Überreste der Überflussgesellschaft –]… in Salzlösung verflüssigt … [und] in den Eingeweiden des ehemaligen Bergwerks …, eingelagert … Die Lösung fließt irgendwann ab, zurück bleibt eine lehmige Masse – die konzentrierten Reste, der Abfall vom Abfall. Unbenutzbar und hochgiftig… 20 Jahre dauere es, bis sich eine Salzkruste um die Säcke gelegt habe, sagt [der Betriebsleiter Matthias] Schmidt. Dann seien die Stoffe für immer versiegelt, ein Austreten sei unmöglich. ‚Wir könnten hier auch Atommüll lagern, das Bergwerk ist sicher.‘ 350.000 Tonnen Staub und Asche kommen jedes Jahr [allein] in Bleicherode an. Sieben derartige Bergwerklager gibt es in Deutschland“ (Asendorpf et al. 2018). Krass ist, dass das zur Untertagedeponie umgewidmete ehemalige Bergwerk mittels Sprengungen ständig erweitert und mit anderen Abbaugebieten verbunden wird: „Wer Müll verbrennt, ist ihn nicht los. Die giftigen Rückstände bleiben. Unter Bleicherode lagert das gute Gewissen der Deutschen“ (ebd.).
Lachgas | Distickstoffoxid | N₂O
Durchschnittliche Verweildauer von Emissionen in der Atmosphäre: ca. 121 Jahre
298x so klimaschädigend wie CO₂ bei einer Betrachtung über 100 Jahre
„Es gelangt vor allem über stickstoffhaltigen Dünger und die Massentierhaltung in die Atmosphäre, denn es entsteht immer dann, wenn Mikroorganismen stickstoffhaltige Verbindungen im Boden abbauen. In der Industrie entsteht es vor allem bei chemischen Prozessen (u.a. der Düngemittelproduktion und der Kunststoffindustrie)“ (UBA 2019, vgl. Dambeck 2019).
Lachgaskonzentration seit ca. 1920 um ein Drittel gestiegen (rund 260 ppb >> knapp über 330 ppb) (vgl. Maxton 2020, 32)
Halogenierte Treibhausgase (Halone, F-Gase)
wie u.a. FKW, FKW, SF6, NF3 kommen in der Natur nicht vor.
„F-Gase werden produziert um als Treibgas, Kühl- und Löschmittel oder Bestandteil von Schallschutzscheiben (insbesondere SF6) eingesetzt zu werden“ (UBA 2019).
Ebenfalls zu dieser Gruppe gehört
FCKW (Fluorkohlenwasserstoff), welches in mehreren chemischen Verbindungen existiert, die beiden wichtigsten: CFC-11 und CFC-12
Durchschnittliche Verweildauer von Emissionen in der Atmosphäre:
45 Jahre =CFC-11 100 Jahre = CFC-12
10.000x so klimaschädigend wie CO₂bei einer Betrachtung über 100 Jahre (vgl. Kasang 2019)
FCKW wurde bis Ende der 1980er Jahre vielfach als Kältemittel in Kühlschränken, als Treibmittel in Spraydosen und zur Produktion von Kunststoffschäumen (=Schaumstoffen) eingesetzt.
FCKW ist wie alle F-Gase ein äußerst starkes Treibhausgas, verursacht also Erderwärmung, aber es zerstört darüber hinaus massiv die uns Menschen vor ultravioletter (Sonnen-)Strahlung (=UV-Strahlung) schützende Ozonschicht in der Stratosphäre, sodass durch die Ausdünnung des Ozonanteils bzw. das (von den Erdpolen aus) entstehende ‚Ozonloch‘ in bedrohlicher Dimension Hautkrebs verursacht wird/würde. Angesichts der eindeutigen großen Bedrohung erwies sich die Weltgemeinschaft als ungewöhnlich handlungsstark: Die Produktion, Einfuhr und der Verbrauch von FCKW wurde via des am 1.1.1989 in Kraft tretenden völkerrechtlich bindenden multilateralen Umweltabkommens ‚Montreal Protokoll‘ verboten (vgl. Baumann 2017).
>> unilateral = einseitig, von einer Seite ausgehend, nur eine Seite betreffend | bilateral = zweiseitig, von zwei Seiten ausgehend, zwei Seiten betreffend | multilateral = mehrere Seiten, mehr als zwei Vertragspartner betreffend, mehrseitig
Leider steigt der Atmosphärengehalt von FCKW seit etwa einem Jahrzehnt wieder an.
Der Spiegel konstatiert:
„Forscher kalkulieren, dass von 2008 bis 2012 pro Jahr rund 64.000 Tonnen Trichlorfluormethan [=CFC-11] ausgestoßen wurden, von 2014 bis 2017 sogar 75.000 Tonnen. Berechnungen und Simulationen mit Atmosphärenmodellen ergaben, dass knapp zwei Drittel dieser Emissionen aus China stammten. Die Wissenschaftler grenzten die Herkunft der Stoffe mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die ostchinesischen Provinzen Shandong und Hebei ein… Wie aus einem Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep) hervorgeht, haben chinesische Behörden zuletzt mehrere illegale CFC-11-Produktionsstätten geschlossen und gegen vier Firmen Geldstrafen verhängt“ (Spiegel 2019a).
„2019 war das Ozonloch über der Antarktis so klein wie vor 30 Jahren. Dieser Prozess [der Abnahme des Ozonloches] könnte sich durch die zusätzlichen Emissionen nun deutlich verlangsamen… Bisher haben die illegalen Emissionen kaum Auswirkungen… Bleibt der Wert ausgestoßener FCKW-Emissionen … [weiterhin] gleich, könnte sich die Erholung der Ozonschicht um bis zu 18 Jahre verzögern“ (Spiegel 2019b).
>> vgl. Aspekt illegale Importe von Kühlmitteln, S. 123.
Ein klimaschädigendes Gas, das derzeit vermehrt industriell eingesetzt wird:
Durchschnittliche Verweildauer von Emissionen in der Atmosphäre: 36 Jahre
4732 bis 4780x so klimaschädigend wie CO2bei einer Betrachtung über 100 Jahre (IPCC 2013, Seite 8SM30 u. Papadimitriou et al. 2008, Seite A) 6.965 so klimaschädigend wie CO2 bei einer Betrachtung über 20 Jahre (vgl. IPCC 2013)
Sulfurylfluorid „ist ein farb- und geruchsloses Gas, welches als Insektizid bei Lebensmitteln wie Getreide, Nüssen, Schalen- und Trockenfrüchten … [und] zur Bekämpfung von Holzschädlingen in Gegenständen, Räumen oder Gebäuden [eingesetzt wird. Es kommt in der Natur nicht vor und]… wurde Anfang der 1950er-Jahre als Begasungsmittel zur Vernichtung von Holzschädlingen entwickelt und wird seit 1961 in den USA vertrieben“ (wikipedia 2019b). Es wurde seit den 1990er Jahren als Ersatz für das Ozonschicht-schädigende Methylbromid verwendet – sein Treibhausgaspotenzial indes wurde offensichtlich lange Zeit grob unterschätzt (vgl. ebd.).
Vor allem im Rahmen der sog. Containerbegasung wird es im Hamburger Hafen „für die Begasung von Getreide, Nüssen und insbesondere von Nutz- und Verpackungsholz“ (Meyer-Wellmann 2020a) in den letzten Jahren verstärkt eingesetzt. „Bis zu 24 Stunden lang wirkt das ‚Borkenkäfer-Gas‘ in verschlossenen Containern – bis es ungefiltert in die Umwelt entlassen wird“ (Götze 2021):
Der Zuwachs in den letzten Jahren ist beträchtlich:
2015 = 17t | 2016 = 24,5 t | 2017 18,9 t | 2018 = 51,2 t | 2019 = 203,7 t (Meyer-Wellmann 2020a u. Götze 2021)
>> 2015 — 2020 = Faktor 13
„2019 wurden [in Hamburg] 203,7 Tonnen des Gases eingesetzt, was mehr als 833.000 Tonnen CO2 oder einer Menge entspricht, die im Durchschnitt von mehr als 92.000 Hamburgern pro Jahr abgegeben wird“ (Meyer-Wellmann 2020b).
„Hinzu kommen die Emissionen aus anderen Häfen wie Bremerhaven… Das entspricht in etwa den jährlichen Emissionen des innerdeutschen Flugverkehrs. Im größten europäischen Hafen Rotterdam geht man von einer Vielfachen der Menge aus, weil dort ein Großteil der deutschen Holzexporte abgewickelt wird“ (Götze 2021).
Das macht sich natürlich nicht gut in Zeiten, in denen Weniger Mehr sein sollte.
Ein Grund für den zusätzlichen und seit 2018 besonders drastischen Anstieg ist laut dem Hauptgeschäftsführer des Unternehmensverbands Hafen Hamburg (UVHH), Norman Zurke, „dass seit 1. September 2018 alle Seefrachtladungen nach Australien und Neuseeland gegen die Stinkkäfer [Stink Bug] behandelt werden müssen“ (Meyer-Wellmann 2020b).
„Einer gewissen Tragik entbehrt nicht, dass der Grund für den SF-Boom das Waldsterben in Deutschland ist. Viele Waldbesitzer müssen die geschädigten und kranken Bäume nach mittlerweile drei trockenen Jahren loswerden. Da der deutsche Markt längst gesättigt ist, verkaufen viele ihr Holz zu niedrigen Preisen ins Ausland“ (Götze 2021).
Die Hamburger Umweltbehörde geht ebenfalls davon aus, dass 2018/19 vermehrt mit Sulfurylfluorid zu behandelndes Bruchholz aus den dürrebedingten Waldschäden nach China und Australien exportiert wurde – und will sich nun laut Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) für ein entsprechendes Verbot einsetzen (vgl. Meyer-Wellmann 2020a).
Das bedeutet, dass klimabedingt entstandenes Bruchholz nicht nur einmal CO2-emittierend um die Welt befördert wird, sondern zu diesem Zweck auch noch mit einem besonders starken Treibhausgas versandfertig gemacht wird. Es handelt sich also um ein ganz eigenartiges Beispiel für einen Rebound-Effekt.
>> s.a. Aspekt Rebound-Effekte, S. 257
„[B]isherige[] Prognosen weltweit [hatten] eine wesentlich geringere Freisetzung von SF vermuten lassen, als es die Zahlen aus Hamburg jetzt ergeben … Bei den Verhandlungen zum [1997er-] Kyoto-Protokoll waren Experten von einer [jährlichen] weltweiten Emission von 2.000 Tonnen SF ausgegangen. Da 2019 allein zehn Prozent davon in Hamburg gemessen wurden, ist dieser Wert aber wohl überholt“ (NDR 2020).
Es geht hier um ein Treibhausgas, welches im für unsere Klimaziele besonders relevanten zeitlichen Nahbereich von 20 Jahren einen CO2-Äquivalenz-Wert von 6.965 (vgl. IPCC 2013) aufweist, dessen Nutzung offensichtlich weitgehend unterhalb des öffentlichen Wahrnehmungsradars stattfindet, weder im Pariser Abkommen von 2015, in den Klimabilanzen Deutschlands (vgl. Götze 2021) noch im 2019er Hamburger Klimaplan berücksichtigt ist und dessen Nutzung sich in den letzten Jahren z.B. in Hamburg verdreizehnfacht hat, und zwar im Bereich „internationale Warenfracht“, sodass m.E. alles in allem davon auszugehen ist, dass es sich hier um ein durchaus relevantes, internationales Problem handelt.
So mächtig die bisher genannten Treibhausgase auch sind…
Wasserdampf ist das wichtigste Treibhausgas
„Es taucht in der obigen Diskussion nur deshalb nicht auf, weil der Mensch seine Konzentration nicht direkt verändern kann…. Warme Luft kann nach dem Clausius-Clapeyron-Gesetz der Physik [pro Grad 7%] mehr Wasserdampf enthalten. Daher erhöht der Mensch indirekt auch die Wasserdampfkonzentration der Atmosphäre, wenn er das Klima aufheizt. Dies ist eine klassische verstärkende Rückkopplung, da eine höhere Wasserdampfkonzentration wiederum die Erwärmung verstärkt“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 35).
Konkret: „Zwei Drittel des natürlichen Treibhauseffekts wird durch Wasserdampf verursacht“ (Gonstalla 2019, 8).
Maxton betont, dass „[d]iese Feuchtigkeitszunahme … eine Folge des Klimawandels [ist], nicht dessen Ursache“ (2018, 25; Hervorhebung Maxton).
Friederike Otto nutzt zur Illustration dieses thermodynamischen Effektes das Bild eines Schwammes:
„Je größer dieser ist, desto mehr Wasser kann er aufsaugen – einmal zusammengepresst, entlässt er die Menge wieder. Unsere Atmosphäre ist wie ein Schwamm, der ständig wächst“ (Otto 2019, 30).
>> Mehr Wasserdampf = mehr Extremwetterereignisse.
„[A]ufgrund des Clausius-Clapeyron-Gesetzes der Physik [nimmt] die Luft für jedes Grad Erwärmung 7% mehr Wasser auf…“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018 69, 71).
Das bedeutet auch, dass Hurricanes deutlich stärkere Extremniederschläge als früher verursachen können (vgl. Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 70).
…mehr
Wirbelstürme werden hinsichtlich der zirkulierenden Luftbewegung immer schneller (Hurricane-Rekordhalter: ‚Patricia‘, 2015, 345 Km/h) (vgl. BR 2019) – und hinsichtlich ihrer Fortbewegungsgeschwindigkeit langsamer. Hurricanes bewegen sich statistisch gesehen 20% langsamer als früher vom Fleck, Taifune sogar 30%. Der Spiegel zitiert James Kossin (NOAA) mit den Worten: „Diese Trends steigern mit ziemlicher Sicherheit bereits die lokalen Regenmengen und begünstigen die Überflutungen, die mit großer Lebensgefahr einhergehen“ (2018).
… allgemeiner gefasst und vereinfacht, aber prinzipiell richtig:
Höhere Temperatur = Mehr Energie bzw. mehr Kraft im Gesamtsystem.
„Mit der steigenden Temperatur der Meeresoberfläche verstärken sich die Winde und die mittlere Höhe der Wellen steigt, ihr Tempo wächst. Vor allem extreme Wellen wachsen, wie Satellitenaufnahmen zeigen, um bis zu 0,9 Prozent pro Jahr. … [D]ie mittlere jährliche Energie, die von Wellen transportiert wird, [ist] seit 1950 um rund ein Drittel gestiegen…“ (Weiß 2019).
Update Februar 2020:
Eine neue Studie ergänzt obige Aussagen um den Aspekt, dass in Folge der stärkeren Winde auch „die Geschwindigkeit der [Meeres-]Strömungen bis in eine Tiefe von 2.000 Metern in 76 Prozent der globalen Ozeangewässer zugenommen [hat]. … Windgeschwindigkeiten über den Weltmeeren hätten seit den Neunzigerjahren um etwa zwei Prozent pro Jahrzehnt zugenommen, was zu einer Beschleunigung der Meeresströmungen um etwa fünf Prozent pro Jahrzehnt führe“ (Spiegel 2020).
Zudem nehme die Zahl der Stürme zu (vgl. ebd.).
Dieser Mehr-Niederschlag kann ganz woanders fallen als bislang gewohnt oder gewünscht:
„Da die Verdunstungsrate steigt[,] … werden allein deshalb [Dürren] wahrscheinlicher.
Zusätzlich verändern sich Niederschlagsmuster – und obwohl insgesamt die Regenmengen in einem wärmeren Klima zunehmen, nehmen sie leider gerade in ohnehin trockenen Regionen ab“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018 69, 71).
Nelles und Serrer halten dazu allgemein fest:
„Trockene Gebiete, wie z.B. die Subtropen, werden häufig noch trockener und feuchte Gebiete, wie die mittleren Breiten oder die Tropen, werden noch feuchter“ (2018, 81).
Deke Arndt von der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) bemerkt dazu:
„Dass es in manchen Gegenden immer trockener werde, lasse sich durch die höheren Temperaturen leicht erklären:
Warme Luft sei durstig…
Und sauge Feuchtigkeit in sich auf, um sie anderswo als Starkregen wieder fallen zu lassen, der dann zu Überschwemmungen führt“ (Landwehr 2020).
Das gilt zum Beispiel für den Südwesten Australiens. Die Klimaforscherin Friederike Otto, Spezialistin für Event Attribution Science (Zuordnungswissenschaft), kann unterscheiden, ob und inwieweit meteorologische Extremereignisse dem Klimawandel bzw. den Folgen der Erderwärmung zuzurechnen sind:
„Der Südwesten Australiens etwa erlebt seit über einen halben Jahrhundert eine dramatische Abnahme an Regenfällen – und das lässt sich teilweise auf den Klimawandel zurückführen“ (Otto 2019, 31; vgl. Aspekt Waldbrände in Australien, S. 136).
Und:
„Aktuell können … ca. 18% der weltweiten Starkregenereignisse über Land auf die globale Erwärmung zurückgeführt werden“ (Nelles/Serrer 2018, 81).
Noch einmal zur Frage:
Warum regnet es plötzlich mehr an Orten, an denen es bisher üblicherweise nicht bzw. wenig regnete – und umgekehrt?
Antwort:
Nicht nur Temperatur und die Wasseraufnahme-Menge ändert sich, sondern aufgrund der anderen Zusammensetzung der Atmosphäre (=mehr Treibhausgase) auch die Luftzirkulation (‚dynamischer Effekt‘).
„Das heißt, [es ändert sich,] wann und wo Tief- und Hochdruckgebiete entstehen und wohin sie ziehen, wann und wo es regnet, wie stark der Wind weht, zu welcher Jahreszeit er weht und aus welcher Richtung er kommt“ (Otto 2019, 31).
Und weiter:
„Wirbelstürme können sich heute an Orten aufbauen, wo es sie früher nicht gegeben hat. Denn die Ozeane erwärmen sich, und damit wird an bestimmten Orten überhaupt erst die Schwelle überschritten, ab der die Wirbel genügend Energie aus dem Wasser ziehen können, um sich zu bilden“ (ebd.).
Mehr Wetterextreme:
Das kann auch bedeuten, dass die jeweilige kalte/heiße/nasse/trockene Wetterlage historisch betrachtet (und nach eigener Wahrnehmung) ungewöhnlich stabil ist, d.h. dass bspw. ein Hoch- oder Tiefdruckgebiet über Wochen wie angenagelt über einem Land oder Kontinent verharrt.
An solchen Prozessen ist der Jetstream beteiligt.
Jetstream erklärt in 2,5 Minuten: Spektrum der Wissenschaft Folge 9: Jetstream: Der Jetstream kommt ins Schwanken und löst dadurch Wetterextreme aus. Doch was genau passiert dabei?; https://www.youtube.com/watch?v=xglILBZXq2Q (Abrufdatum 8.11.2020)
Marco Evers fasst das Phänomen im Spiegel in einfache Worte:
„Dieses Starkwindband bewegt sich auf der Nordhalbkugel in sieben bis zwölf Kilometer Höhe, es bläst wellenförmig von West nach Ost und prägt das Wetter maßgeblich. Die Stärke des Jetstreams wird von den Temperaturunterschieden zwischen Arktis und Tropen bestimmt. Weil das Polargebiet nun so viel wärmer geworden ist, kommt der Jetstream leichter aus der Spur. Geschwächt ufert er [wie ein bei einem bei niedriger Geschwindigkeit schlingerndes Fahrrad] weit nach Norden und Süden aus[, sodass sehr warme Luft bis hoch in den Norden vordringen und lange dort verharren kann], sein Verlauf ähnelt nicht mehr dem einer Autobahn, vielmehr mäandert er nun stark verlangsamt, gen Osten. Diese ‚Rossby-Wellen‘ führen dazu, dass Wettersysteme nicht wie ehedem ziemlich flott weggepustet werden, sondern dass sie oft über lange Zeit an einer Stelle verharren“ (2019, 105, vgl. Langer 2020).
Stefan Rahmstorf:
„Die starke Erwärmung der Arktis verringert diese Temperaturdifferenz. Daher schwächt sich vor allem im Sommer der polare Jetstream ab, … in dessen Windungen die Hoch- und Tiefdruck-gebiete eingebettet sind, die unser Wetter bestimmen. Dadurch wird das Wetter im Sommer stabiler und weniger wechselhaft, bestimmte Wetterlagen dauern länger an“ (2020).
>> zu Folgen von Wetterextremen siehe auch S. 134f. im Abschnitt Klimakrisen-Folgen zu Lebzeiten der derzeitigen Entscheider*innengeneration – in Deutschland, S. 121ff.
Kein Treibhausgas, aber ein wichtiger Faktor bei der Erderwärmung: Aerosole
Aerosole sind kleine Schwebeteilchen in der Luft, die
sowohl aus natürlichen Quellen wie z.B. vulkanischer Asche, von Waldbränden, Wüsten und trockenen Flussbetten stammen,
als auch vom Menschen durch Schornsteine, Triebwerke, Auspuffe etc. in die Biosphäre gepustet werden (vgl. Maxton 2020, 33). Das Verbrennen fossiler Energieträger fabriziert neben vielem Anderen auch Aerosole. Sie „sind eine Mischung aus winzigen festen oder flüssigen Partikeln, die für die Wolkenbildung eine wichtige Rolle spielen“ (ebd.).
„Seit Beginn der Industriellen Revolution ist die Gesamtmenge an atmosphärischen Staubpartikeln um rund 60 Prozent gestiegen“ (ebd.).
Sie bleiben „– je nach Größe, Emissionsort und chemischen Eigenschaften – tage- bis wochenlang in der Luft“ (ebd.) – und belasten die Gesundheit der Menschen gerade in großen Metropolen massiv.
>> vgl. Aspekt Feinstaubbelastung in überwärmten Städten, S. 125, Abschnitt Indirekte Opfer des motorisierten Individualverkehrs (MIV), S. 302 und Klimawirkung von Flugemissionen in Abschnitt Fliegen ist mehr als CO₂ in die Luft zu jagen, S. 262).
„Das Problem, das diese winzigen Partikel im Kontext des Klimawandels verursachen, ist ihre kühlende Wirkung. Aerosole reduzieren die Temperatur des Planeten, da sie die Wolkendecke vergrößern, die die Sonnenstrahlen und Hitze in das Weltall zurückreflektiert“ (ebd., 32-33).
Das bedeutet, dass Aerosole der Menschheit letztlich die aktuelle Erderwärmung von ungefähr 1,2 °C nur vortäuschen. Ohne die Aerosole wäre schon längst wärmer – wohl etwa bei den 1,5 °C, die wir eigentlich nicht überschreiten dürfen:
„Die Aerosole, die die Luftverschmutzung ausmachen, kühlen die Erde. Ohne sie wäre die globale Erwärmung, die heute ein Temperaturplus von ungefähr einem Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit erreicht hat, womöglich bereits um ein drittel oder halbes Grad höher, stellen Klimaforscher fest“ (Schrader 2018).
„Genau genommen ist also die durchschnittliche Erderwärmung bereits höher als die 1,5 °C, die der Weltklimarat … für unbedenklich hält“ (Maxton 2020, 35).
Bjørn Samset vom Forschungszentrum Cicero in Oslo bemerkt dazu:
„Die Menschheit hat den Klimawandel durch die Luftverschmutzung gebremst“ und nennt diese Tatsache einen ‚faustischen Pakt‘ (Schrader 2020). Denn: Schrauben wir die Verbrennung fossiler Energien zurück und schließlich auf Null – und das müssen wir – reduzieren wir auch erheblich die Feinstaubbelastung bzw. den Ausstoß von Aerosolen. Mit dem Ergebnis, dass es automatisch und umgehend noch wärmer wird als ohnehin berechnet: „Die globalen Klimavorhersagen berücksichtigen die Effekte dieser Aerosole nicht“ (Maxton 2020, 34).
Dies liegt u.a. daran, dass man die Wirkung von Aerosolen lange nicht berechnen konnte. Einer Studie des Teams um den Atmosphärenforscher Daniel Rosenfeld vom Institut für Erdwissenschaften an der Universität Jerusalem zu Folge ist der „Kühleffekt durch die Aerosole … fast doppelt so hoch wie bislang angenommen“ (Brackel 2019).
Die Klimaziele
sind somit noch schwieriger zu erreichen und
der Handlungsbedarf noch größer und zeitlich noch dringender,
als bislang angenommen.
Quellen des Abschnitts Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase
Landwehr, Arthur (2020): „Klimabericht von NASA und NOAA Heißestes Jahrzehnt der Geschichte“. in: tagesschau.de, 16.1.2020, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/klima-nasa-101.html (Abrufdatum 18.1.2020)
Nelles, David u. Serrer, Christian (2018): Kleine Gase – große Wirkung. Der Klimawandel, s.a. www.klimawandel-buch.de
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen Hochwasser und Stürme. Ullstein.
Papadimitriou, Vassileios et al.: Experimental and Theoretical Study of the Atmospheric Chemistry and Global Warming Potential of SO2F2. In: J. Phys. Chem. A, 2008, 112, S. 12657–12666, https://pubs.acs.org/doi/10.1021/jp806368u (Abrufdatum 4.5.2020)
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: Beck.
27.7.2021: 26 min – Spiegel TV: Zwischen Hoffnung, Wut und Trauer: Das Leben nach der Flut, https://youtu.be/XYW7dtOPOLo (Abrufdatum 28.7.2021)
Update 16.7.2021
Ein katastrophales Extremwetterereignis ist in diesen Tagen über viele Menschen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in Belgien, in Luxemburg und in den Niederlanden hereingebrochen. Ich bin tief betroffen und in Gedanken bei den Opfern, Hinterbliebenden und Betroffenen.
Im heutigen ARD-Brennpunkt wird ein kleiner Fluss namens Kyll erwähnt, der in der Ortschaft Kordel (Rheinland-Pfalz) normalerweise eine Höhe von 70 Zentimetern hat und dann in Folge extremer Regenfälle auf einen Pegel von 8 Metern anschwoll (vgl. Minute 11, vgl. n-tv 2021).1
Diese absurd erscheinende Zahl („8 statt 0,7m“) – sowie die Tatsache, dass mancherorts ganze Häuserzeilen regelrecht weggespült wurden – werden rational erfassbarer durch folgende Angabe der taz vom gleichen Tag: „Im Wolkenstau vor Eifel und Hohem Venn regnete es über 200 Liter pro Quadratmeter binnen 48 Stunden, mehr als sonst den ganzen Sommer.“
Manche Reporter*innen reden in diesen Tagen von einer Naturkatastrophe – richtiger ist hier m.E. von einer durch den Klimawandel begünstigten sowie darüber hinaus durch Flächenversiegelung beförderten anthropogenen Umweltkatastrophe zu sprechen.
Es ist schwierig/bedenklich, Katastrophen zu vergleichen, weil sich jegliche Relativierung verbietet. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass uns vor rund zwei Wochen Bilder aus Japan erreichten von einer durch Extremregenfälle indizierten Schlammlawine – die ebenfalls ganze Häuserreihen mit sich riss, siehe rechts den kurzen Tagesthemen-Beitrag.
„In den zurückliegenden zehn Jahren gingen nach amtlichen Angaben jährlich im Schnitt fast 1.500 Erdrutsche in dem bergigen Inselreich ab – das sind fast doppelt so viele wie in den zehn Jahren zuvor“ (Tagesspiegel 2021).
>> Ausführlicher zu Extremwetterlagen siehe nachfolgendes Kapitel. Zum Extremregen von 2017 im Harz-Vorland siehe ganz unten auf dieser Webpage.
1 2003 hatte die Kyll in Kordel mit 4,82 m den bisherigen Rekord erreicht (vgl. n-tv 2021).
Klimakrisen-Folgen zu Lebzeiten der derzeitigen Entscheider:innengeneration – in Deutschland
Hitzeticker 2022
Eine kleine Auswahl von Zitaten aus ungezählten Kurzmeldungen aus dem „Liveblog Hitze“ der Zeit und dem „Liveblog zur Hitzewelle“ der Süddeutschen Zeitung im Juli und August 2022.
12.07.2022, 14:27 Alena Kammer Die Zeit Liveblog Hitze
„Der Sommer in Europa hat gerade erst begonnen, und doch wurde Frankreich bereits im Juni von einer Hitzewelle heimgesucht, früher als je zuvor seit Beginn der offiziellen Aufzeichnungen. In Spanien wüten Waldbrände und in Norditalien herrscht eine Rekorddürre, die die Ernten ruiniert. Sogar im Januar mussten Wasserkraftwerke in Portugal wegen des anhaltenden Niederschlagsmangels abgeschaltet werden.“
12.07.2022 15:41 Johannes Süßmann Die Zeit Liveblog Hitze
„Durch den Klimawandel mitverursachte Überschwemmungen wie im Ahrtal seien in der Öffentlichkeit sehr präsent, sagte [Franziska] Matthies-Wiesler [vom Helmholtz Zentrum München]. Hitzetote hingegen ’sterben leise‘. Kaum ein großes Krankenhaus oder eine Universitätsklinik in Deutschland verfüge über konkrete Maßnahmepläne für den Hitzeschutz.“
14.07.2022 13:35 Kassian Stroh Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„An derfranzösischen Atlantikküste nahe der Großstadt Bordeaux sind bereits mehr als 3.700 Hektar [=5.128 Fußballfelder] Land den Flammen zum Opfer gefallen [… und, über Portugal heißt es:] ‚Das ganze Land brennt‘, titelt die [portugiesische] Zeitung Jornal de Notícias.“
14.07.2022 14:34 Alena Kammer Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Europa brennt.“
14.07.2022 15:26 Alena Kammer Die Zeit Liveblog Hitze
„Rund 80 Prozent der 299 Landkreise […] haben kein Hitzeschutzkonzept oder einen Hitzeaktionsplan entwickelt – obwohl Bund und Länder ihnen das vor mehr als fünf Jahren nahegelegt hatten.“
14.07.2022 18:16 Alena Kammer Die Zeit Liveblog Hitze
Griechenland: „…brannten Wälder unkontrolliert. In den vergangenen sieben Tagen wurden landesweit 264 Waldbrände registriert. Seit dem 1. Mai – der Tag markiert für die Feuerwehr den Beginn der Brandsaison – wurden 2.454 Waldbrände gezählt. Die meisten werden schnell eingedämmt; schwierig wird es bei starkem Wind.“
15.07.2022 06:21 Philipp Saul Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„[Griechenland:] Allein in den vergangenen sieben Tagen gab es nach Angaben der Rettungskräfte 264 Waldbrände – seit Beginn der Brand-Saison Anfang Mai waren es fast 2.500.“
15.07.2022 10:31 Oliver Klasen Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„In ganz Italien herrscht seit Wochen große Hitze und extreme Trockenheit. Der Po führt extrem wenig Wasser und ist vielerorts nur noch ein kleines Rinnsal.“
15.07.2022 10:40 Katharina Heflik Die Zeit Liveblog Hitze
„Die italienischen Einsatzkräfte sind in diesem Jahr mit ungewöhnlich vielen Bränden konfrontiert. Durch die extreme Trockenheit und den Wind werden Wald- und Buschbrände begünstigt. Die Behörden in Bozen in Südtirol meldeten bereits doppelt so viele Feuer (40) in Wäldern wie sonst im Schnitt im gesamten Jahr. ‚Ein Viertel der Waldbrände wurde heuer vermutlich durch Zigarettenstummel verursacht‘, sagte der Landesrat für Forstwirtschaft, Arnold Schuler.“
15.07.2022 16:13 Alena Kammer Die Zeit Liveblog Hitze
„Die britische Behörde für Meteorologie hat […] erstmals eine Hitzewarnung der Alarmstufe Rot ausgegeben. Die Warnung gilt für Montag und Dienstag, wenn die Temperaturen […] zum ersten Mal in der Geschichte auf bis zu 40 Grad Celsius steigen könnten. Selbst gesunden Menschen drohten dann ernste Schäden oder gar der Tod, hieß es.“
16.07.2022 7:18 Robert Gast Die Zeit Liveblog Hitze
„In Portugal kämpfen laut Zivilschutz derzeit 900 Feuerwehrleute gegen insgesamt zehn Waldbrände. Seit Jahresbeginn brannten bereits etwa ein Dutzend Häuser und mehr als 30.000 Hektar [=42.016 Fußballfelder] nieder.“
16.07.2022 10:33 Robert Gast Die Zeit Liveblog Hitze
„Acht Touristen sind im norditalienischen Adria-Badeort Bibione wegen eines Waldbrandes ins Meer geflohen und mussten dort von der Küstenwache gerettet werden. Der Brand brach […] am Freitagnachmittag aus und schloss die Wanderer offenbar so ein, dass die einzige Fluchtmöglichkeit in Richtung Wasser war.“
16.07.2022 15:51 Julian Erbersdobler Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
Opfer würden meist „Menschen, die wegen ihres hohen Alters oder einer Vorerkrankung bereits geschwächt gewesen seien […]. Am Freitag sei allerdings auch ein 60-jähriger Mitarbeiter der Straßenreinigung plötzlich zusammengebrochen.Notärzte hätten eine Körpertemperatur von 41,6 Grad gemessen.Der Mann sei noch in ein Krankenhaus gebracht worden, dort aber gestorben.“
16.07.2022 18:53 Sophia Reddig Die Zeit Liveblog Hitze
„Allein im Südwesten Frankreichs vernichteten die Brände nach Angaben der Behörden seit Dienstag mehr als 10.000 Hektar Wald [=14.005 Fußballfelder], rund 12.000 Menschen mussten bislang in Sicherheit gebracht werden.“
17.07.2022 13:41 Sarah Vojta Die Zeit Liveblog Hitze
„In Griechenland schätzt die Feuerwehr das Risiko für Waldbrände in vielen Teilen des Landes weiterhin als sehr hoch ein. Von Samstag auf Sonntag registrierten die griechischen Einsatzkräfte 119 Waldbrände. Die meisten Brände seien recht schnell gelöscht worden, manche würden sich jedoch zu Großbränden auswachsen.“
17.07.2022 16:46 Johannes Süßmann Die Zeit Liveblog Hitze
„Rasensprenger verteilten in einer Stunde bis zu 800 Liter Trinkwasser, sagte [Gerd] Landsberg [vom deutsche Städte- und Gemeindebund]. ‚Das kann die Versorgungsinfrastruktur in manchen Regionen an ihre Grenzen bringen.'“
17.07.2022 18:43 David Rech Die Zeit Liveblog Hitze
„Nachdem Premierminister Boris Johnson gestern eine Krisensitzung zu dem Thema [Dauerhitze] geschwänzt hatte, sorgte sein Stellvertreter Dominic Raab nun für Empörung mit verharmlosenden Aussagen über die Hitze. Er erweckte den Anschein, sich über die Temperaturen zu freuen, die in der kommenden Woche erstmals seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in England die 40 Grad übersteigen könnten. ‚Wir sollten den Sonnenschein genießen‘, sagte er […]. Das Land sei widerstandsfähig genug, um mit der Hitze umzugehen. Es gebe keinen Grund, Schulen zu schließen.“
18.07.2022 06:00 Philipp Saul Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„Neben immer wieder aufflammenden Waldbränden macht Italien auch der ausbleibende Regen zu schaffen. Der Bauernverband Coldiretti warnt vor Ernteverlusten von gebietsweise bis zu 70 Prozent. Obst und Gemüse verbrenne auf den Feldern. Betroffen seien Sorten von Paprika bis zu Melonen, Aprikosen, Tomaten und Auberginen.“
18.07.2022 10:19 Ivana Sokola Die Zeit Liveblog Hitze
„In ganz Griechenland verzeichnete die Feuerwehr von Sonntag auf Montag 108 Brände innerhalb von 24 Stunden.
18.07.2022 12:44 Dagny Lüdemann Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift „Europa im Feuersommer.“
18.07.2022 14:41 Sarah Vojta Die Zeit Liveblog Hitze
Der spanische Regierungschef Pedro Sánchez: „[D]er ‚Klimawandel „tötet Menschen […], aber er tötet auch unser Ökosystem, unsere Biodiversität. Und er zerstört auch wertvollste Güter unserer Gesellschaft: ihre Häuser, ihre Wohnungen, ihre Unternehmen, ihren Viehbestand.‘ […] Insgesamt zerstörten die Brände in Spanien in den vergangenen Tagen nach amtlichen Schätzungen insgesamt 25.000 Hektar Wald [=35.014 Fußballfelder] sowie Dutzende Häuser, Läden und Fabriken. Tausende Menschen mussten in Sicherheit gebracht werden, unzählige Tiere starben in den Flammen.“
18.07.2022 15:23 Alexander Eydlin Die Zeit Liveblog Hitze
„Die Waldbrände in Südwestfrankreich halten seit Dienstag an, mehr als 16.000 Menschen mussten schon zuvor in Sicherheit gebracht werden. Südlich von Bordeaux haben die Flammen bislang 14.800 Hektar Land [= 19.607 Fußballfelder] verbrannt.“
18.07.2022 18:23 Johann Stephanowitz Die Zeit Liveblog Hitze
„Die extreme Hitze im Süden Englands hat am Londoner Flughafen Luton für erhebliche Störungen gesorgt[, da] die Oberfläche des Rollfeldes beschädigt worden [sei …] Laut einer Militärquelle ist [beimMilitärflughafen Brize Norton] die Landebahn geschmolzen.„
19.07.2022 0:00 Johann Stephanowitz Die Zeit Liveblog Hitze
„‚Wir brauchen dringend ein Krisenkonzept für Hitzeereignisse, die gerade Menschen in Pflegeheimen und Krankenhäusern besonders belasten'[…]. Laut [der VdK-Präsidentin] Bentele sollte dieses Konzept alles ‚von der Medikamentenlagerung bis hin zu baulichen Maßnahmen wie Thermofenstereinbau und Verschattungssystemen‘ regeln.“
>> Ja, brauchen wir. Wir brauchen jedoch gleichzeitig auch ein zukunftsfähiges und generationengerechtes Konzept, damit die jungen bzw. die zukünftigen Generationen menschenwürdig auf diesem Planeten leben können.
19.07.2022 9:33 Claudia Thaler Die Zeit Liveblog Hitze
„Derweil kämpften Einsatzkräfte gegen zwei große Feuer in der Nähe von Bordeaux. Fast 1.700 Feuerwehrleute aus ganz Frankreich waren gegen die Brände im Einsatz. Mindestens 17.000 Hektar Wald [= 23.809 Fußballfelder] sollen zerstört worden sein.“
19.07.2022 10:29 Claudia Thaler Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „EU-Löschflugzeuge in Portugal, Frankreich und Slowenien im Einsatz.“
„Die EU will angesichts der Häufung von Waldbränden Löschflugzeuge kaufen. ‚Die Flugzeuge werden von den Mitgliedstaaten beschafft, aber zu 100 Prozent von der Europäischen Union finanziert‘, sagte EU-Kommissar für Krisenschutz, Janez Lenarcic.“
19.07.2022 11:08 Claudia Thaler Die Zeit Liveblog Hitze
„Schwere Brände haben auf Kreta große Flächen landwirtschaftlich genutzten Landes zerstört. Bislang seien mehr als 1.850 Hektar [= 2.591 Fußballfelder] landwirtschaftlich genutztes Land verbrannt […]. ‚Es handelt sich hauptsächlich um Olivenbäume. Viele Menschen haben gar kein Einkommen mehr.'“
19.07.2022 11:22 Karin Geil Die Zeit Liveblog Hitze
„Die Feuer an der französischen Atlantikküste haben sich weiter ausgebreitet. […] In der Nacht musste ein Altenheim bei Teste-de-Buch geräumt werden. Insgesamt mussten im gesamten Gebiet mehr als 34.000 Menschen vorsichtshalber ihre Häuser und Wohnungen verlassen. In der Gegend wurden auch ein Zoo teilweise geräumt und etwa 370 Tiere in einem anderen untergebracht.“
>> Man mache sich klar: Katastropheneinsätze kosten jedes Mal Ressourcen und Energie – die wir Menschen tatsächlich künftig weniger zur Verfügung haben – wenn wir die Zivilisation bewahren möchten.
19.07.2022 12:17 Lisa-Marie Eckardt Die Zeit Liveblog Hitze
„Bundesbauministerin Klara Geywitz [stellt] […] das Programm ‚Anpassung urbaner Räume an den Klimawandel‘ vor[] […], um neben der sozialen Entwicklung der Städte gezielt auch ihre Klimaresilienz zu fördern […]. ‚Wenn Quartiere saniert oder neu errichtet werden, gehören Frischluftschneisen, Parks und Flüsse dazu‘ [… So]. ‚machen wir unsere Städte für die Herausforderungen des Klimawandels fit.'“
>> Diese Ausdrucks- und Sichtweise „fit für den Klimawandel durch Investitionen“ provoziert mich.
19.07.2022 13:02 Oliver Klasen Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„Wegen der hohen Temperaturen [von bis zu 40 Grad Celsius müssen [in den Niederlanden]… viele Straßen und Brücken gekühlt werden. Ein ungewohntes Bild bei der Rekordhitze sind Streuwagen auf den Straßen. Das Salz aber wird nicht wegen Glätte gestreut, sondern um den Asphalt zu kühlen […]. Das Salz entzieht der Luft Feuchtigkeit, und die wiederum kühlt den Asphalt ab. Auf diese Weise sollen Schäden verhindert werden.
19.07.2022 13:20 Bettina Schulz Die Zeit Liveblog Hitze
„Krankenhäuser ohne Klimaanlage und Bahnschienen, die sich verziehen: England spürt die Rekordhitze im Alltag. So müssen Operationen verschobenwerden, weil viele Kliniken nicht klimatisiert sind. […] Spanien oder Saudi-Arabien verbauen Stahl, der mehr als 45 Grad aushält. In England wird es schon ab 35 Grad Celsius riskant für Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer.“
19.07.2022 14:38 Kassian Stroh Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„In Großbritannien haben die Temperaturen erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen die Marke von 40 Grad überstiegen. […] Schulen bleiben geschlossen, teilweise machen auch Geschäfte oder Restaurants dicht. Züge kommen nur mit großen Verspätungen voran oder fallen sogar ganz aus, weil die Infrastruktur nicht auf so hohe Temperaturen ausgelegt ist.“
19.07.2022 15:33 Kassian Stroh Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„Seit einer Woche gibt es auch in Spanien vermehrt Waldbrände, sie haben dort seitdem mindestens 60 000 Hektar Wald [= 84.033 Fußballfelder]zerstört – eine Fläche zweimal so groß wie das Stadtgebiet München. […] In diesen zwei Provinzen […], sind seit Sonntag insgesamt rund 10 000 Menschen aus etwa 50 Ortschaften vor den Flammen in Sicherheit gebracht worden. Allein in Zamora machten zwei Brände bereits 30 000 Hektar Wald [=42.016 Fußballfelder] dem Erdboden gleich.“
19.07.2022 18:05 Oliver Klasen Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„Wegen der Hitze in Belgien ist die Kapazität der Atommeiler Doel 1 und Doel 2 […] um die Hälfte reduziert worden. Es bestehe die Gefahr, dass das Kühlwasser zu warm werde.“
20.07.2022 02:12 Philipp Saul Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„Zunehmende Trockenperioden stellten jedoch die Wasserwirtschaft vor Herausforderungen. Bei großer Hitze steige der [Wasser-]Bedarf der Haushalte um 40 bis 60 Prozent. ‚Die Menschen bewässern ihren Garten, duschen häufiger, und immer mehr Haushalte besitzen Pools, die mit mehreren Tausend Litern Wasser befüllt werden.‘ [so Martin Weyand, der für Wasser zuständige Hauptgeschäftsführer des Branchenverbandes BDEW]. Das könne etwa Pumpen oder Speicher überfordern.“
20.07.2022 9:02 Julia Macher Die Zeit Liveblog Hitze
„Ein Kältestadtplan […]: Rund 200 schattige Schulhöfe, Parks, Bibliotheken, Stadtteilzentren: Das sind die offiziellen Klimarefugien, die Barcelona bereits Mitte Juli geöffnet hat. An diesen Orten finden die Menschen Schutz vor der Hitze.“
20.07.2022 14:17 Larissa Kögl Die Zeit Liveblog Hitze
In „Baden-Baden hat die Hitze die Ummantelungen von Stromkabeln zum Schmelzen gebracht. Daraufhin kam es heute Nacht zu einem großflächigen Stromausfall […]. Der Notruf sowie Ampelanlagen fielen aus, das Internet im gesamten Stadtgebiet sei gestört […]. Etwa 10.000 Menschen sind betroffen.“
20.07.2022 17:21 Celine Chorus Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
Überschrift: „Brände aus Italien erreichen Slowenien.“
„Die Waldbrände im Nordosten Italiens haben sich nun auch auf das slowenische Karstgebiet ausgeweitet… Italien half dem Nachbarland mit zwei Löschflugzeugen und zwei Helikoptern aus.“
20.07.2022 17:46 Xaver Bitz Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„In sechs Bundesländern sind nach vorläufigen Angaben […] die dort höchsten Temperaturwerte seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gemessen worden… Spitzenreiter war um 15.30 Uhr Bad Mergentheim-Neunkirchen mit 40,3 Grad […]. Damit wurde auch der bisherige Rekord für Baden-Württemberg von 40,2 Grad in Freiburg im August vor 19 Jahren (13.8.2003) eingestellt. Außerdem wurden 40,1 Grad in Hamburg-Neuwiedenthal gemessen, was ein Rekord für Hamburg war, sowie 40,0 jeweils in Barsinghausen-Hohenbostel (Niedersachsen-Rekord) und Huy-Pabstorf (Sachsen-Anhalt-Rekord).“
21.07.2022 4:51 Anne Schwedt Die Zeit Liveblog Hitze
„Wir werden Flächen wie Parkplätze, Straßen und gepflasterte Plätze entsiegeln müssen und Platz schaffen für kühlendes Grün“, erläuterte [Dirk] Messner [vom Umweltbundesamt]. Dies helfe im Kampf gegen Hitze und Starkregen, verbessere allgemein die Lebensqualität und schaffe Platz für klimaschonende Mobilität wie den Radverkehr.“
21.07.2002 18:48 Ivana Sokola Die Zeit Liveblog Hitze
„In Europa haben Waldbrände in diesem Jahr bereits [jetzt, im Juli] mehr Fläche vernichtet als im gesamten Jahr 2021. So sind in der Europäischen Union seit Jahresbeginn 517.881 Hektar [=725.323Fußballfelder] verbrannt – also etwas mehr als 5.000 Quadratkilometer […] Falls sich diese Tendenz fortsetzen sollte, könnte dieses Jahr an das [bisher schlimmste] Jahr 2017 heranreichen oder es sogar übertreffen.“
21.07.2022 19:09 Tobias Bug Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat seinen Hitzerekordwert für dieses Jahr nachträglich korrigiert: Die bisher höchste Temperatur sei am Mittwoch in Hamburg und nicht wie zunächst berichtet in Baden-Württemberg gemessen worden. Der bundesweit höchste Wert im Jahr 2022 wurde mit 40,1 Grad an der Messstelle Hamburg-Neuwiedenthal ermittelt, teilte der DWD mit.“
22.07.2022 11:33 Alena Kammer Die Zeit Liveblog Hitze
„Die italienische Feuerwehr [… hat in diesem Jahr bislang] landesweit mehr als 32.900 Einsätze gezählt, was etwa 4.000 mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres waren […]. Am häufigsten griffen die Feuerwehrleute bislang auf Sizilien und in Apulien ein.“
22.07.2022 13:44 Kassian Stroh Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
„Es komme immer wieder vor, dass ein Waldstück oder ein Feld bereits großflächig in Flammen stehe und dennoch ’stundenlang‘ über einen angeforderten Helikopter diskutiert werden müsse. ‚Das ist keine moderne Gefahrenabwehr“, kritisiert [Ulrich] Cimolino[, der Vorsitzende des Arbeitskreises Waldbrand im Deutschen Feuerwehrverband …] Er spricht von einem ‚Behördenmikado‘. In manchen Bundesländern müssten in solchen Notlagen sogar noch Formulare ausgefüllt werden. Keine Feuerwehr in Deutschland verfüge über eigene Löschhubschrauber, sie würden bei Bundespolizei oder Bundeswehr angefordert, schildert der Waldbrand-Experte die Lage.“
22.07.2022 17:33 Jona Spreter Die Zeit Liveblog Hitze
„2022 ist für Spanien schon jetzt das verheerendste Waldbrandjahr seit Aufzeichnungsbeginn: In den ersten knapp sieben Monaten des Jahres hätten die Flammen mehr als 197.000 Hektar Wald [= 275.910 Fußballfelder]zerstört […]. Demnach wurde damit der bisherige Höchstwert aus dem Jahr 2012 übertroffen, als die Waldbrände 189.376 Hektar [= 265.232 Fußballfelder] vernichteten.“
23.07.2022 9:46 Leon Holly Die Zeit Liveblog Hitze
„In China wachsen die Sorgen vor den Auswirkungen der extremen Sommerhitze. Die […] Hitzewelle sei mit bislang zehn Tagen nun schon außergewöhnlich lang und betreffe zudem weite Teile der Region. Die Provinz Xinjiang ist zweimal so groß wie Frankreich […] In der Stadt Turpan […] werden in den kommenden 24 Stunden Spitzentemperaturen um die 45 Grad Celsius erwartet.“
25.07.2022 12:26 Johannes Süßemann Die Zeit Liveblog Hitze
„Die hohen Temperaturen und der entsprechend gestiegene Verbrauch für Klimaanlagen belasten die Stromversorgung in China. Mitte Juli produzierten die größten Kraftwerke des Landes […] so viel Energie wie nie zuvor. Manche Lokalverwaltungen haben inzwischen die Straßenbeleuchtung abgeschaltet und die Strompreise für Unternehmen erhöht.“
25.07.2022 12:51 Lisa-Marie Eckardt Die Zeit Liveblog Hitze
„Arbeiter stünden ‚an vorderster Front der Klimakrise‘ und müssten wegen ‚der immer größer werdenden Gefahr durch extreme Temperaturen‘ geschützt werden, teilte der ETUC mit.“
26.07.2022 17:18 Jona Spreter Die Zeit Liveblog Hitze
„Auch am Nachmittag waren die Feuer in Brandenburg und Sachsen noch außer Kontrolle. In Brandenburg brannte es auf einer Wald- und Wiesenfläche von 8,5 Quadratkilometern – das entspricht fast 1.200 Fußballfeldern. Bei Rehfeld […] unweit der sächsischen Grenze kämpften 450 Einsatzkräfte gegen ein 850 Hektar [=1.190 Fußballfelder] großes Feuer. Sorge bereiteten ihnen angekündigte Windböen bis 60 Kilometer pro Stunde. ‚Alles steht und fällt mit der Wetterlage‘ […]. ‚Wir reden hierbei von einem Baumkronenbrand, das Feuer läuft von Krone zu Krone und findet sehr viel brennbares Material wie Nadeln‘, sagte Haase. Das Feuer brenne über den Spitzen der Bäume in einer Höhe von bis zu 25 Metern. Dort seien die Windgeschwindigkeiten auch höher als am Waldboden, die Flammen könnten sich schneller ausbreiten.“
29.07.2022 13:56 Celine Chorus Süddeutsche Zeitung Liveblog zur Hitzewelle
Überschrift: „Temperaturen im Juli 2,3 Grad zu hoch – DWD spricht von einem Endlos-Sommer.“
02.08.2022 7:54 Katharina Heflik Die Zeit Liveblog Hitze
„Beim Waldbrand in der Sächsischen Schweiz hat sich die Lage auch in der zweiten Woche noch nicht entspannt. Das Feuer breche immer wieder aus, teilte der Sprecher des Landratsamtes Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, Thomas Kunz, mit. Bei steigenden Temperaturen und Trockenheit werde auch die Flammenbildung stärker.“
02.08.2022 7:57 Katharina Heflik Die Zeit Liveblog Hitze
„Die schwüle Sommerhitze macht auch den Japanern schwer zu schaffen. Die Regierung Japans warnte die Bevölkerung vor der Gefahr durch Hitzeschlag. In weiten Teilen des Landes wurden die Menschen aufgerufen, genug Wasser zu trinken und sich in klimatisierten Räumen aufzuhalten.“
02.08.2022 14:25 Fabian Albrecht Die Zeit Liveblog Hitze
„In Griechenland haben Großbrände allein im vergangenen Juli eine Fläche von rund 13.000 Hektar [=18.207Fußballfelder]zerstört. […] Der größte Waldbrand in Deutschland in den vergangenen Tagen in Brandenburg hat bis zu 800 Hektar erfasst. […D]ie 13.000 Hektar [machen] rund 60 Prozent der insgesamt in diesem Jahr abgebrannten Fläche aus, die mehr als 21.000 Hektar [=29.411 Fußballfelder] beträgt.“
03.08.2022 11:08 Leon Holly Die Zeit Liveblog Hitze
„Wegen der anhaltenden Trockenheit dürfen in den südenglischen Regionen Kent und Sussex vorerst keine Gartenschläuche und Rasensprenger mehr benutzt werden. Der Versorger South East Water kündigte ein temporäres Verbot an […]. Bei Verstößen drohen Bußgelder von bis zu 1.000 Pfund (rund 1.200 Euro). In einer Mitteilung ließ [der Wasserversorger] South East Water verlauten, man habe täglich zusätzliche 120 Millionen Liter aufbereitet – so viel, als würde man vier zusätzliche Städte versorgen. Nun sehe man sich gezwungen, den Verbrauch zu beschränken. Damit wolle man den Alltagsgebrauch absichern und die Umwelt schützen[…].“
03.08.2022 16:22 Leon Holly Die Zeit Liveblog Hitze
„Bei der Verteilung des Süßwassers hat [in den Niederlanden] die Sicherheit der Deiche höchste Priorität. Sie drohen durch Trockenheit instabil zu werden.“
04.08.2022 10:59 Hohannes Süßmann Die Zeit Liveblog Hitze
„In China sind die Durchschnittstemperaturen über die letzten 70 Jahre fast doppelt so schnell gestiegen wie im Rest der Welt. […] In Teilen Chinas herrschen bereits seit Wochen Extremtemperaturen von mehr als 44 Grad. Besonders betroffen sind der Südwesten und der Norden des Landes. Insgesamt wurden an 131 Wetterstationen Temperaturen gemessen, die auf dem Niveau bisheriger Höchstwerte lagen oder diese übertrafen.“
05.08.2022 10:14 Ivana Sokola Die Zeit Liveblog Hitze
„Die französische Premierministerin Élisabeth Borne […:] ‚Diese Trockenheit ist die schlimmste, die in unserem Land jemals verzeichnet wurde‘ […]. Der Mangel an Regen werde durch aufeinanderfolgende Hitzewellen verschlimmert, die zum einen die Verdunstung verstärkten, aber auch den Bedarf an Wasser. […] In den kommenden zwei Wochen könnte die Situation anhalten oder sich noch verschlimmern.“
06.08.2022 11:07 Angelika Finkenwirth Die Zeit Liveblog Hitze
Sächsische Schweiz, Waldbrand: „Der Boden müsse [beim Löschen] in mühsamer und kräftezehrender Arbeit aufgerissen und dann stark gewässert werden. Schwere Geräte oder Fahrzeuge könnten in dem felsigen und steilen Gelände nicht eingesetzt werden. […] Das Feuer wandert in einer Tiefe von bis zu einem halben Meter weiter. […] Das Einsatzgebiet erstreckt sich auf eine Fläche von […] rund 210 Fußballfeldern. Ein Ende sei nicht in Sicht, solange nicht ergiebige Regenfälle die Arbeiten unterstützten. […] [F]ür die gesamte kommende Woche [wird] kein Regen erwartet.“
08.08.2022 6:22 Ivana Sokola Die Zeit Liveblog Hitze
Feuer „[i]m Berliner Grunewald […:] Ziel sei es momentan, den Gefahrenbereich ausgehend von dem auf einem Sprengplatz ausgebrochenen Brand zu verkleinern. […] Allerdings ist der Boden immer noch sehr heiß. Bisher gilt für die Feuerwehrleute ein Sicherheitsbereich von 500 Metern. Inzwischen ist aber der Einsatz von zwei Löschrobotern und einem Löschpanzer möglich.“
08.08.2022 19:49 Johnnes Süßmann Die Zeit Liveblog Hitze
„Laut dem Europäischen Waldbrand-Informationssystem war das Jahr 2022 sowohl mit Blick auf die verbrannte Fläche als auch die Zahl der Feuer das bislang schlimmste in Spanien. Demnach wurden bei mehr als 370 Bränden bislang etwa 240.000 Hektar Land [=336.134 Fußballfelder]verbrannt.“
09.08.2022 12:58 Isabelle Daniel Die Zeit Liveblog Hitze
„Seit Mai liegen die Temperaturen in Italien 3,2 Grad Celsius über dem saisonalen Durchschnitt […]. Allein im Juli habe die landesweite Sterblichkeitsrate um 21 Prozent höher gelegen. […] Besonders stark stieg die Rate […] demnach in Latina mit einem Plus von 72 Prozent und im nahe Rom gelegenen Viterbo mit einem Plus von 52 Prozent.“
11.08.2022 12:54 Leon Holly Die Zeit Liveblog Hitze
„In Frankreich halten Hitze und Dürre weiter an. Die Loire, ein rund 1.000 Kilometer langer Fluss, führt stellenweise kaum noch Wasser – mancherorts kann man sie scheinbar sogar zu Fuß überqueren. Bilder […] nahe der Stadt Nantes [unweit der Mündung] zeigen ein fast gänzlich ausgetrocknetes Flussbett.“
11.08.2022 17:27 Anna-Lena Schlitt Die Zeit Liveblog Hitze
„Die Gletscherschmelze hat in der Schweiz einen [auf rund 2.800 Meter Höhe gelegenen] Pass teilweise freigelegt, der seit mindestens 2.000 Jahren mit Eis bedeckt war. Über dem Zanfleuronpass sei noch 2012 eine Eisdicke von 15 Metern gemessen worden […]. Der Pass werde bis Ende September wahrscheinlich vollständig eisfrei sein.“
12.08.2022 16:02 Anna-Lena Schlitt Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Französische Waldbrände setzen so viel CO₂ frei wie 790.000 Autos.“
„Die anhaltenden Waldbrände in Frankreich geben […] Höchstwerte an Kohlenstoff in die Atmosphäre ab. Die Feuer in der Region Gironde im Südwesten des Landes hätten von Juni bis August fast eine Million Tonnen CO₂ freigesetzt.“
16.08.2022 6:28 David Rech Die Zeit Liveblog Hitze
„Im Jahr 2053 könnten in den USA einer Studie zufolge mehr als 100 Millionen Menschen in Gebieten leben, in denen mindestens einmal im Jahr Temperaturen von rund 52 Grad Celsius erreicht werden. Forscher […] warnen […] vor der Entstehung eines ‚Extremhitzegürtels‘. […] Schon im kommenden Jahr dürften demnach 8,1 Millionen Menschen in entsprechenden Gebieten leben.“
16.08.2022 9:21 Lisa-Maria Eckardt Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Rheinpegel bei Emmerich erreicht Tiefststand von 0,0.“
„Der Pegelstand des Rheins in Emmerich kurz vor der niederländischen Grenze hat einen Tiefststand von null Zentimeter erreicht. […] Das sei ein Rückgang von vier Zentimeter im Vergleich zur Messung von gestern Morgen. Bereits am Montagmittag waren nur noch zwei Zentimeter gemessen worden.“
17.08.2022 13:00 Katharina Benninghoff Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Menschen im Südwesten Chinas wegen Dürre ohne Strom.“
„Im Südwesten Chinas [ist d]er Pegel in vielen Stauseen […] wegen der Hitze stark gesunken. Die Stromversorgung [durch Wasserkraft] werde dort heute für bis zu drei Stunden unterbrochen […]. In der Provinz Sichuan wird bereits seit Montag in 19 von 21 Städten der Strom für Fabriken rationiert. Der japanische Autobauer Toyota, aber auch einer der größten Batteriehersteller der Welt haben die Produktion zum Teil stillgelegt. […] In der Provinz Jiangxi wurden 140.000 Hektar Ernte [=196.078Fußballfelder] vernichtet.„
18.08.2022 11:00 Chi Nguyen Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Regenfälle sorgen für Erleichterung in Spanien.“
„Regenfälle haben die Lage bei den verheerenden Waldbränden in der spanischen Urlaubsregion Valencia vorerst stabilisiert. Die Ausbreitung der Brände habe gestoppt werden können und vielerorts seien die Flammen sogar erloschen […].“
18.08.2022 16:30 Max Skowronek Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Kronberg hat ein Wasserproblem – doch die Pools der Wohlhabenden sind voll.“
„Kronberg ist eine der wohlhabendsten Städte in Deutschland. Die Dichte an Millionärinnen und Millionären sowie Villen ist hier mit am höchsten in der Bundesrepublik. […] Während der Viktoriapark in Kronberg austrocknet, läuft das Wasser auf den Privatgrundstücken der Wohlhabenden. Trotz höchster Warnstufe verbrauchen sie für die Bewässerung ihrer Gärten sowie das Füllen ihrer Pools zu viel Wasser.“
19.08.2022 6:50 Chi Nguyen Die Zeit Liveblog Hitze
„An der französischen Côte d’Azur macht sich die anhaltende Dürre in Frankreich bemerkbar. Die vielen Touristen verstärken den Wassermangel noch mehr. In […] den fast 90 […] Gemeinden im Departement Var gilt die höchste Dürre-Alarmstufe. Die Pegelstände der Flüsse haben Tiefstwerte erreicht. Dem französischen Wasserinformationszentrum zufolge verbrauchen Franzosen im Urlaub besonders viel Wasser. Sind es normalerweise 148 Liter Wasser am Tag, liegt der Wert im Urlaub bei 230 Litern täglich.“
19.08.2022 12:41 Konstantin Zimmermann Die Zeit Liveblog Hitze
„Wegen der extremen Trockenheit [und Temperaturen bis 45 °C] ist der chinesische Fluss Jangtsekiang nur noch halb so breit wie üblich. In der Millionenstadt Chongqing dürfen Fährschiffe den Fluss nicht mehr überqueren. Das Flussbett ist größtenteils freigelegt. […] In China hat es noch keinen derart trockenen Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen […] gegeben. […] Tausende Unternehmen, […], mussten ihre Produktion für mehrere Tage stoppen.“
23.08.2022 5:41 Sophia Boddenberg Die Zeit Liveblog Hitze
„Der Europäischen Dürrebeobachtungsstelle [der Europäischen Kommission] zufolge wird für 47 Prozent des europäischen Gebiets vor Dürre gewarnt. Darüber hinaus sei der Zustand bereits auf 17 Prozent der Fläche alarmierend. Die Dürre habe stark negative Auswirkungen auf die Ernte von Sommerkulturen, am stärksten betroffen seien Mais, Sojabohnen und Sonnenblumen.“
23.08.2022 5:55 Sophia Boddenberg Die Zeit Liveblog Hitze
„Wie chinesische Staatsmedien berichteten, durften die meisten Einkaufszentren in der südwestchinesischen Metropole Chongqing [aufgrund von Stromknappheit] nur noch zwischen 16 und 21 Uhr öffnen, um so den Stromverbrauch von Klimaanlagen zu reduzieren.“
24.08.2022 14:46 Isabelle Daniel Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Rheinland-Pfalz warnt vor Kontakt mit Mosel-Wasser.“
„In der Mosel gibt es so viele Blaualgen wie noch nie. Der für das Badeverbot maßgebliche Grenzwert von 75 Mikrogramm Blaualgen-Chlorophyll A pro Liter werde teilweise um das Doppelte überschritten […] Es werde dringend geraten, Gewässer- und Uferbereiche mit deutlich grüner Färbung zu meiden und nicht in Kontakt mit dem Wasser zu kommen. Keinesfalls solle das Wasser getrunken oder verschluckt werden. [A]uch Hunde und Pferde [seien] vom Wasser fernzuhalten.“
26.08.2022 13:27 Alexander Eydlin Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift „Amazonas: So viele gleichzeitige Brände wie zuletzt vor 15 Jahren.“
„Wie die brasilianische Weltraumbehörde Inpe mitteilte, zeigten Satellitenbilder am vergangenen Montag 3.358 Brände in der Regenwaldregion.“
26.08.2022 16:09 Lisa-Marie Eckardt Die Zeit Liveblog Hitze
Überschrift: „Waldbrände in Australien vergrößerten das Ozonloch.“
„Die Waldbrände in Australien in den Jahren 2019 und 2020 haben […] bedeutend zur Vergrößerung des Ozonlochs beigetragen. ‚Millionen Tonnen Rauch und Gas‘, die durch die Waldbrände in Australien freigesetzt worden seien, seien in die obere Troposphäre und die untere Stratosphäre eingedrungen […] Die[s …] führte demnach zu einer Erwärmung der Stratosphäre […, die] zu einer Ausweitung des Ozonlochs über der Antarktis auf eine neue Rekordgröße geführt [habe].“
Innerhalb dieses Themenbereichs ‚Klimakrisen-Folgen‘ vermeide ich gewöhnlich bewusst die Nennung von Celsius-Durchschnittswerten:
Viele Menschen neigen dazu, innerlich die genannte Gradzahl auf die typischen Sommertemperaturen – auf ihre alltäglichen ‚Erfahrungswerte‘ – draufzuschlagen und sind dann: eher beruhigt.
Doch besteht definitiv kein Grund zur Beruhigung.
Klimaforscherin Friederike Otto dazu:
„Um es zugespitzt auszudrücken:Die veränderte globale Mitteltemperatur bringt niemanden um. Jedenfalls nicht direkt.Wohl aber durch ihren Einfluss auf das Wetter“ (2019, 29).
Durchschnittstemperaturenverschweigen, dass mit zunehmender (Wärme-)Energie eine höhere Neigung zu stärkeren Extremwetterereignissen besteht, u.a. zu mehr, längeren und wärmeren Hitzewellen1, aber auch zu Extremniederschlägen:
Der Sommer 2018 war eine leise Andeutung dessen, was auf uns zukommt mit dem Zeithorizont 2050, also zu einer Zeit, in der die derzeitigen Entscheider*innengenerationen der Jahrgänge 1960 und jünger noch durchaus präsent sein werden – und Temperaturen aushalten werden müssen, an die sie in jungen Jahren nicht gewöhnt wurden und die sie als dann ältere/alte Menschen umso schlechter vertragen werden können.
Dies gilt übrigens auch, wenn wir sofort global quasi sämtliche CO₂-Emissionen unterbinden würden:2 Dieser Zug ist bereits abgefahren.
Um ein anderes Bild zu zeichnen: Das Klima ist wie ein riesiger Ozeandampfer oder wie ein Mega-Containerschiff: Einmal in Schwung, hat es einen langen, langen Bremsweg.3
In diesem Bild bleibt auch Stefan Rahmstorf:
„Das Klimasystem ist ein träges System. Es erinnert an die Titanic, die auf den Eisberg zufährt. Legen wir erst zehn Meter vorher das Ruder um, ist es zu spät“ (zit. in Klimaschutz Baustelle 2018).
Mittels eines anderen Ansatzes verdeutlicht eine Studie der ETH Zürich die für 2050 in diversen Städten/Regionen Deutschlands zu erwartenden klimatischen Veränderungen:
1:30 min – Angèle: „On est dans la merde jusqu’au cou“ [„Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße“] – Song ohne Titel, veröffentlicht auf instagram angesichts von 42° Celsius im Sommer 2019
Herausgegriffen:
„Ort (Erhöhung der Durchschnittstemperatur im wärmsten Monat) >> 2050 Klima wie in… in 2018″:
Berlin (+6,1 °C) >> Canberra
Hamburg (+5,4°) >> San Marino
München (+4,6°) >> Mailand
Amsterdam (+3,4°) >> Paris | Barcelona (+3,4°) >> Adelaide | Edinburgh (+4,3°) >> Paris | Kopenhagen (+5,0°) >> Paris | Marseille (+5,2°) >> Algier | Stockholm (+5,9°) >> Budapest (Spiegel 2019)
2050 werden die jetzigen Fridays For Future-Kinder und -Jugendlichen zwischen ca. 47 +-5 Jahre alt sein.
>> In der nachfolgenden Quelle sind bereits erfolgte Veränderungen und Ihre Folgen in Städten/Regionen nachzulesen: > Kayser-Bril, Nicolas u. Wallentin, Leonard (2019): „Interaktive Karte zur Erderwärmung: So stark trifft der Klimawandel Ihren Ort“. in: Der Spiegel, 24.9.2018, online unter https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimawandel-wetter-analyse-fuer-ueber-500-staedte-in-europa-a-1224569.html (Abrufdatum 12.7.2019) >> s.a. Aspekt Urban Heat Islands S. 125f.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (3)
1 In den USA arbeitet eine „stiftungsfinanzierte Allianz“ (Stöcker 2020) daran, „dass Hitzewellen künftig Namen bekommen, so wie Hurrikane. Im Kern geht es dabei um ein psychologisches Ziel: Hitzewellen sollen endlich als die Gefahr ins öffentliche Bewusstsein dringen, die sie tatsächlich darstellen“ (ebd.).
2 Graeme Maxton dazu: „Das Klimasystem reagiert … nur langsam auf Veränderungen. Deshalb wird die Temperatur auch dann, wenn die Menschheit keine Emissionen mehr produziert, noch viele Jahre weiter steigen“ (2020, 27); vgl. dazu die physikalischen Eigenschaften von CO2 & Co, die einige Jahrzehnte bis viele Jahrhunderte in der Atmosphäre verbleiben, s. Abschnitt Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase, S. 145).
3 Das bedeutet auch, dass es „sehr lange dauern [wird], bis sich ein merklicher Effekt einstellt, nachdem die Menschheit radikale Veränderungen eingeführt hat“ (Maxton 2020, 33).
In diesem Zusammenhang passt die folgende Zahl:
„Im sog. ‚Jahrhundertsommer‘ 2003 sind europaweit 70.000 Menschen an den Folgen der Hitze gestorben.“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 69)
Im Einklang mit diesem Zitat statuiert die EuroHEAT-Studie:
„In der europaweiten EuroHEAT-Studie zu den Auswirkungen von Hitzewellen auf die Mortalität in Großstädten wurden während Hitzewellen Werte der Übersterblichkeit zwischen 7,6 und 33,6%, in extremen Einzelfällen auch über 50% gefunden“ (Brasseur et al. 2017, 139).
Die Klimaforscherin Friederike Otto dazu:
„Die Bestattungsinstitute in Paris waren so überfüllt, dass auf dem Großmarkt Rungis ein Kühllager für Lebensmittel zur Leichenhalle umgewidmet wurde“ (Otto 2019, 103).
Berlin im Sommer 2018 = 490 Hitzetote (laut Robert-Koch-Institut, vgl. Evers 2019, 98)
Noch einmal zu den genannten 70.000 Hitzetoten im Jahr 2003:
„Stellen Sie sich mal vor, Terroristen würden in Europa 70.000 Menschen umbringen – wir wären bereit, den Rechtsstaat aufzugeben, nur um dagegen anzukämpfen! Bei einer extremen Hitzewelle aber zucken die Leute mit den Schultern“ (Rahmstorf 2018).
…mehr
Beim finalen Lektorat ist mir aufgefallen, dass es einen weiteren Lebensbereich gibt, der eine skandalöse Opferzahl hervorbringt, das mit gesamtgesellschaftlichem Schulterzucken bedacht wird: Gemeint ist der Bereich ‚Verkehrsopfer‘, vgl. Abschnitt Thema ‚Verkehrsopfer inkl. Luftverschmutzung‘: Direkte Opfer des Motorisierten Individualverkehrs (MIV), S. 300.
Machen wir uns klar:
Hitze kann man nicht wirklich ausweichen. Da helfen letztlich auch keine Klimaanlagen: Irgendwann muss man mal raus.
Logischerweise haben sich in Deutschland im Sommer 2018 die Verkäufe von Klimaanlagen deutlich erhöht:
„‚Mit jeder Hitzewelle entscheiden sich mehr Menschen zum Kauf‘, sagt Energieexpertin Tanja Kenkmann“. Und „Energietechnologieexperte John Dulac von der Internationalen Energieagentur (IEA) sagt: ‚Viele Deutsche arbeiten heute in klimatisierten Büros und fahren klimatisierte Autos – so wollen sie diese Temperaturen auch zu Hause‘“ (Spiegel 2018).
>> Die Welt gibt nunmehr Tipps, wie man für seinen Haushalt die richtige Klimaanlage findet (29.7.2019). Eine Boulevardzeitung fordert im Juli 2019 konkreten Klimaschutz unter der Überschrift „Tödliche Gluthitze in den Altenheimen“: „Schützt endlich unsere Omis und Opis mit Klimaanlagen“, so gesehen auf Seite 1 des in Deutschland meistgelesenen Boulevardblattes am 27.7.2019).
>> Da beißt sich die Katze in den Schwanz: Höhere Temperaturen führen zu mehr Klimageräten führen zu höherem Stromverbrauch führt in der fossilen Welt zu mehr CO₂ und damit zu höheren Temperaturen.
>> Hinzu kommen die bislang i.d.R. klimaschädlichen Kühlflüssigkeiten in der Klimaanlage, die durch Beschädigung oder nicht fachgerechte Entsorgung in die Atmosphäre gelangen können – also realistisch betrachtet viel zu oft tatsächlich in die Atmosphäre gelangen. Es gibt funktionierende klimaschonende, alternative Kühlflüssigkeiten, die sich aber bislang nicht durchgesetzt haben (vgl. Hoferichter 2019).
>> Seit einigen Jahren „stoßen EU-Fahnder oder Zollbehörden … auf Behälter mit geschmuggelten Kältemitteln… Dem steht jedoch ein Vielfaches an illegalen Importen gegenüber, die unentdeckt bleiben. [Unlängst] stellten im Hafen von Rotterdam [Fahnder] 14 Tonnen sogenannter teilfluorierter Kohlenwasserstoffe (HFKW) aus China sicher, die illegal in die EU eingeführt werden sollten… [D]er Schwarzmarkt für HFKW-Kältemittel[, der vornehmlich von organisierter Kriminalität betrieben wird, hat geschätzt] ein Volumen von bis zu einem Drittel des legalen Marktes… [D]as Volumen der jährlich illegal importierten HFKWs in die EU [entspricht] einem CO[2]-Äquivalent von bis zu 34 Millionen Tonnen“ (Diermann 2020). Treibhausgas-Emissionen Deutschlands 2018 = 858,4 Mio t CO₂e (vgl. S. 76). Das sind weitere 34 Mio t CO2e = ca. 4% des ‚offiziellen‘ CO2e-Emissionen Deutschlands, die in keiner Statistik auftauchen, die jedoch potenziell (irgendwann in der Zukunft) die Atmosphäre belasten. Es ist davon auszugehen, dass solche illegalen Importe auch in andere Häfen, Staaten und Kontinenten stattfinden, sodass die Dimension dieses Aspektes nicht unterschätzt werden sollte. Dieser illegale Handel ist zudem ein Hinweis darauf, dass mit zunehmender klimaschützender Regulierung auch die Bestrebungen selbige zu unterlaufen zunehmen (werden) – weil hier Geld gespart/ generiert werden kann. Damit ist auch angedeutet, dass Klimaschutz nur funktionieren kann, wenn Regulierungen auch überprüft bzw. durchgesetzt werden: Jobs, Jobs, Jobs.
>> vgl. Aspekt illegale FCKW-Produktion, S. 148f.
Nebenbei: Ich gehe davon aus, dass in die Klimapläne Deutschlands der künftige Mehrbedarf an Energie bzw. an (bis auf Weiteres) treibhausgashaltigen Kältemitteln für Klimaanlagen bislang nicht eingerechnet ist.
>> Interessant: „China und Südkorea beschlossen, öffentliche und staatliche Gebäude nie auf weniger als 26 Grad zu kühlen“ (Spiegel 2018).
>> Ikea macht derweil im Mai 2020 TV-Werbung für ein Klima-Anpassungsprodukt in Form von einem kühlenden Kissen, die in den deutschen Tropennächten (vgl. S. 125) das nächtliche Wohlbefinden steigern sollen (vgl. IKEA 2020).
Evers, Marco (2019): „‚Jeder kann etwas ändern‘: Hitzetote, Hungernde, Flutopfer – die Epidemiologin Sabine Gabrysch warnt vor drastischen Auswirkungen der Erderwärmung. Aber noch könne die Menschheit umsteuern“. in: Der Spiegel, Nr. 32/3.8.2019, S. 98, beruft sich auf eine Schätzung des Robert-Koch-Instituts.
Maxton, Graeme (2020): Globaler Klimanotstand. Warum unser demokratisches System an seine Grenzen stößt. Komplett-Media.
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen…. Ullstein.
Rahmstorf, Stefan (2018): „Stellen Sie sich mal vor…“ [Rahmstorf zitiert im Artikel „Willkommen in der Heißzeit“, o.V.]. in: Klimanetz Jena, 7.8.2018, online unter https://klimanetz-jena.de/index.php?/archives/2018/08.html (Abrufdatum 24.6.2020)
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. München: Beck. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage.
Die konkreten Folgen der Klimakrise in Deutschland für die derzeitige Entscheider*innengeneration:
Das Eingangskapitel basiert im Wesentlichen auf Fakten aus dem 350-seitigen Ergänzungsbericht Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven (Brasseur et al. 2017) zum fünften Sachstandbericht des Weltklimarates (IPCC):
Temperaturen: Abnahme der Frosttage; Hitzewellen und Tropennächte
Abnahme der Frosttage:
Man geht bei einer „gemäßigten Entwicklung der atmosphärischen Treibhausgaskonzentrationen … davon aus…, dass die Zahl der Frosttage im Vergleich zum Bezugszeitraum 1971-2000 bis zum Ende des 21. Jahrhunderts abnehmen wird: um voraussichtlich rund 30 Tage pro Jahr im nordwestdeutschen Bereich und um bis zu 50 Tage pro Jahr in der Alpenregion. Für den Fall eines hohen Treibhausgasausstoßes … ergeben sich sogar Werte zwischen 40 und 70 Tagen pro Jahr“ (Brasseur et al. 2017, 51).
Erinnert sei dazu, dass 30 Tage ein Monat sind und somit vom althergebrachten Frostwinter im nordwestlichen Deutschland nichts übrig bleibt.
„The Snow Must Go On!“ >> Gesehen auf einem Plakat beim globalen Klimastreik am 25. März 2022.
Friederike Otto hebt hervor, dass das Ausbleiben von Kältewellen – gefühlt ein Nicht-Ereignis – es kaum in die Schlagzeilen schafft:
„Über Kälte wird nur dann gesprochen, wenn es dann doch mal richtig kalt wird. Dabei sollte man es viel stärker thematisieren, dass unsere Winter aufgrund des Klimawandels immer milder und Frosttage zunehmend selten werden. … Wenn es allerdings einen ganzen Winter lang keinen Frost gibt, hat das gravierende Konsequenzen… Parasiten treten häufiger auf, die Nutztieren und Getreide, Obst und Gemüse zusetzen – um sie in Schach zu halten, kippen die Bäuer*innen dann umso mehr Pestizide auf die Felder und Äcker. Ein weiteres Problem: Viele Nutzpflanzen sind darauf programmiert, nach dem Frost zu knospen und zu blühen. Oder, wenn es keinen Frost gibt, eben nicht“ (2019, 107-108).
Hitzewellen und Tropennächte:
Die Häufigkeit von ‚gemäßigten Hitzewellen‘ steigt bei einem mittleren Szenario „bis zum Ende des 21. Jahrhunderts in Deutschland weitverbreitet um das 6- bis 18-fache an. In der Alpenregion könnte die Zunahme sogar noch größer ausfallen.
Zudem ist davon auszugehen, dass auch die Intensität von Hitzewellen in Mitteleuropa zukünftig deutlich zunehmen wird“ (Brasseur et al. 2017, 52).
Die Autor*innen ergänzen, dass die deutlich vermehrt auftretenden sog. Tropennächte aus medizinischer Sicht besonders relevant seien (vgl. ebd., 51). Dies gelte erst Recht für „Städte[, die auch heute schon] bis zu 10 °C wärmer als ihre Umgebung sein können“ (ebd., 139), sodass man von Urban Heat Islands (vgl. ebd., 226) spricht.
Die derzeit in Deutschland erfolgende extreme Nachverdichtung der (Groß-)Städte wirkt hier stark problemverschärfend.
Die Attribution Science konstatiert für die oben beschriebene 70.000-Opfer verursachende Hitzewelle von 2003 (!) bereits eine Verdopplung der Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses in Europa.
„Sommer wie diese – sie sind gekommen um zu bleiben“ (Otto 2019, 130).
Apropos „Ab in den Süden…“: Marianne Wellerhoff 2022 im Spiegel:
Wir sind „nach Südfrankreich gefahren,… zu dem … Bauernhof, wo ich als Teenager mit meinen Eltern war. Eine wunderschöne Anlage auf einem Bergrücken, so hatte ich es in Erinnerung, abgelegen und ruhig, und ich sah das Bild vor mir, wie meine Eltern … im Schatten riesiger Bäume sitzen und lesen. Alles war wirklich so, wie ich es in Erinnerung hatte… Natursteinmauern, Dachziegel… Blick ins Tal, die liebevoll eingerichteten Räume… Und doch war etwas ganz anders. Unangenehm anders. Es war wahnsinnig heiß. Und wahnsinnig trocken. Das Gras war nicht nur braun, es knisterte unter den Füßen. Die Bäume standen zwar noch genauso imposant im Garten und warfen große Schatten, aber unter ihnen entspannt zu lesen war undenkbar.“
Hagen Rether 2009: „Hab‘n wir’s geschafft, hä? Sind wir so lange mit dem Flieger in den Süden geflogen bis es warm genug wurde, dass wir hier bleiben können.“
Höhere Temperaturen sind mehr als ‚mehr Wärme‘:
„Die Überwärmung des urbanen Bodens kann für Stadtbewohner … negativ sein,… weil es durch die höhere Temperatur in einer Vermehrung hygienisch relevanter Mikroorganismen kommen kann, wodurch die Qualität des Trinkwassers herabgesetzt wird“ (Brasseur et al. 2017, 226).
„Die gesundheitlichen Risiken von thermischen Belastungen können [gerade in Städten] durch eine verringerte Luftgüte bei erhöhten Konzentrationen von Stickoxiden, Ozon und Feinstaub verstärkt werden“ (ebd., 139).
Doch mit diesen beiden Aspekten sind die möglichen und erwartbaren gesundheitlichen Probleme und Risiken nicht annähernd umrissen – und bedürfen eines eigenen Abschnitts:
Gesundheit: Die Klimakrise ist ein medizinischer Notfall
Zu den möglichen und erwartbaren unmittelbar hitzebedingten akuten gesundheitlichen Problemen und Risiken kommt die zunehmende Verbreitung von Krankheiten, die temperaturbedingt in der Vergangenheit nur weiter südlich vorkamen (vgl. Warnsignal Klima 2019a).
Neben der wachsenden Gefahr Allergien zu bekommen…
…sind Zecken, die Borreliose und Hirnhautentzündung/FSME verursachen können, das wohl bekannteste Beispiel für neue bzw. klimabedingt höhere gesundheitliche Risiken:
„Die Verbreitung der Zecken nach Norden wird durch die globale Erwärmung und die milden Winter begünstigt“ (Warnsignal Klima 2019b).
„Vergleicht man die durchschnittlichen FSME-Inzidenzen der Zeiträume 1974/1983 und 1994/2003 in den 10 wichtigsten FSME-Ländern so stellt man eine Steigerung auf 411% fest“ (Warnsignal Klima 2019c).
„Dauerte die Zeckensaison früher von etwa März bis Ende Oktober, so sind die Spinnentiere [=Zecken] inzwischen ganzjährig aktiv, wie der Jenaer Zeckenforscher Jochen Süss sagt. ‚Bei Bodentemperaturen ab sieben Grad marschieren sie los‘“ (Spiegel 2020a).
>> Eine gute Übersicht über ‚Zecken in Deutschland‘ bietet der Spiegel-Artikel „Wo die Zeckengefahr am größten ist“ von Irene Berres vom Juli 2021 [paywall].
Im Juni 2019 schrieb die Zeit: „Tropische Zeckenart überwintert erstmals in Deutschland: Nach dem Fund von sechs Exemplaren halten es Wissenschaftler für möglich, dass sich die [fast zwei Zentimeter große] Hyalomma-Zecke in Deutschland ansiedelt. Die Art überträgt ein gefährliches Virus…[, dass das] Krim-Kongo-Hämorrhagische-Fieber verursacht. Diese Viruskrankheit ist die am weitesten verbreitete Viruskrankheit des Menschen, die durch Zecken übertragen wird. Zehn bis 40 Prozent der Erkrankungen enden tödlich, einen Impfstoff gibt es bisher nicht“ (Zeit 2019a).
Eher unangenehm: „Anders als europäische Zecken jagt die Hyalomma-Zecke aktiv und kann Warmblüter über mehrere hundert Meter verfolgen“ (ebd., s.a. auch Schumann 2018).
Doch gilt: „Eine Infektion ist allerdings nur möglich, wenn die Zecken zuvor Blut von einem Wirt gesaugt haben, der mit dem Virus infiziert war. Das ist in Deutschland unwahrscheinlich. Hierzulande wurden bisher nur vereinzelte eingeschleppte Fälle der Krankheit nach Reisen bekannt“ (Spiegel 2020a).
Auch invasive (=eingewanderte) tropische Mücken siedeln sich zunehmend an:
„Um sich mit dem Dengue-Virus, dem Zika-Virus oder dem Chikungunya-Virus zu infizieren, muss man längst nicht mehr in die Tropen reisen… ‚Der Sommer 2018 brachte nicht nur eine Hitzewelle mit sich – sondern auch neue Krankheiten‘, sagt Renke Lühken, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. So konnte 2018 erstmals die Übertragung des Westnil-Virus‘, das für das sogenannte Westnil-Fieber verantwortlich ist, nachgewiesen werden“ (BR24 2019).
In der 2019er Filmreportage ‚Wetter extrem – Hitzewellen und Wassermassen‘ des NDR (Teil 2, ab ca. Min 19) wird letzterer Aspekt möglicher Übertragungen des tropischen West-Nil-Virus‘ genauer behandelt:
„Seit der Jahrtausendwende fühlt sich … die Asiatische Tigermücke auch bei uns in Europa wohl… [Die Viren-Forscherin Anna Heitmann vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin untersucht,] ob unsere deutschen Mücken in der Lage sind, tropische Viren zu übertragen. Andererseits untersuchen wir dann auch im Vergleich tropische Mücken [zur Beantwortung der Frage unter] welche[n] klimatischen Bedingungen … die Viren sich in der Mücke vermehren, sodass eine Übertragung stattfinden kann‘… Mit diesem Verfahren kann Heitmann sehen, ab welcher Temperatur Viren in den Mücken überleben… Es gibt in Europa das West-Nil-Fieber-Virus, das letzten Sommer [, d.h. 2018,] einen großen Ausbruch in Europa hatte – da sind über 200 Menschen dran gestorben innerhalb von ganz Europa – und wir konnten in unseren Untersuchungen zeigen, dass die deutsche Hausmücke das [West-Nil-Fieber-Virus] übertragen kann‘ und zwar, wenn es über einen längeren Zeitraum deutlich über 24 Grad heiß ist. ‚Und das ist eben letztes Jahr[, d.h. 2018,] durch den langen warmen Sommer möglich gewesen und deshalb hatten wir die ersten Fälle auch in Deutschland, zum Glück nur bei Vögeln und Pferden… [und bei kommenden heißen Sommern] können [wir] nur hoffen, dass es nicht auch Humanfälle gibt innerhalb von Deutschland.‘“
>> Auf dem Webportal Mückenatlas.com kann man mittels einer interaktiven Karten die Ausbreitung der asiatischen Buschmücke zwischen 2012 und 2016 sehen: https://mueckenatlas.com/unsere-forschung/#verbreitung/ (Abrufdatum 4.9.2019) (etwas hinunter scrollen, rechts kleine Karte anklicken).
Update September 2020:
Nachdem 2019 erstmals innerhalb Deutschland (mindestens) drei Menschen per Mückenstich an West-Nil-Fieber erkrankt waren, haben sich nunmehr mit Stand September 2020 nachgewiesenermaßen zehn Menschen innerhalb Deutschlands (konkret Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin) mit dem West-Nil-Fieber infiziert – drei von ihnen liegen mit Gehirnhautentzündung im Krankenhaus.
„Bei unter einem Prozent aller Betroffenen – in der Regel bei älteren Menschen mit Vorerkrankungen – kommt es zu einer Hirnhautentzündung (Meningitis) oder seltener zu einer Entzündung des Gehirns (Enzephalitis), die tödlich enden kann“ (Spiegel 2020c).
Daraus ist abzuleiten, „dass sich noch Hunderte weitere Menschen infiziert haben, ohne dass die Erkrankung erkannt wurde“ (ebd.)
Und die Hitze sorgt über die eingangs gemachten Bemerkungen hinaus im weltweiten Maßstab für weitere Erkrankungen und Todesfälle:
„Vor Kurzem erst hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgerechnet, dass in den Jahren 2030 bis 2050 mit ungefähr 250.000 zusätzlichen Todesfällen durch die Erderwärmung zu rechnen sei. Nicht in dem genannten Zeitraum über zwei Dekaden, sondern in jedem Jahr. Dazu gehören die sogenannten nicht übertragbaren Leiden wie Herzinfarkt, Kreislaufversagen, Niereninsuffizienz, Hitzschlag“ (Bartens 2019, 2).
Zusammenfassend formuliert eine britische Medizin-Fachzeitschrift:
„Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für die globale Gesundheit des 21. Jahrhunderts.“ (zit. in Evers 2019, 98)
Die Inhaberin des einzigen Lehrstuhls für Klimawandel und Gesundheit in Deutschland, die Epidemiologin Sabine Gabrysch, bestätigt diese Aussage und führt aus:
„Leider ist die Schwere dieser Diagnose noch nicht richtig verstanden worden in der Gesellschaft. Die Klimakrise ist ein Thema, dass erste Priorität haben muss. Wir haben es hier nicht mit einer leichten Grippe zu tun…, sondern mit einem planetaren medizinischen Notfall“ (Evers 2019, 98).
Die medizinische Fachzeitschrift The Lancet hebt im Herbst 2019 gemeinsam mit 120 Wissenschaftler*innen von 35 Institutionen hervor, dass insbesondere die Gesundheit von Kindern durch die Gefahren, die mit den steigenden Temperaturen der Klimakrise einhergehen, gefährdet ist,
„weil sich ihr Körper und ihr Immunsystem noch in der Entwicklung befinden“ (Baier 2019). Es fallen dann die Stichwörter Vibrio-Bakterien, Cholera, Dengue, West-Nil-Virus, Unterernährung inkl. geschwächtes Immunsystem, Luftverschmutzung inkl. Asthma, Allergien und, wenig überraschend: Hitze.
„Wenn es nicht gelingt, die Klimakrise zu stoppen, wird ein Kind, das heute zur Welt kommt, an seinem 71. Geburtstag in einer Welt leben, die durchschnittlich vier Grad wärmer ist als heute“ (ebd., vgl. auch Weber 2019).
Eigentlich geht die UN von einem Einpendeln der Weltbevölkerung von etwa 11 Milliarden Menschen im Jahr 2100 aus (vgl. Abschnitt 11 Milliarden Menschen, S. 613). Doch diese Schätzung geht von einer klimatisch nicht desaströsen Entwicklung aus. Würde sich die Menschheit im Jahr 2100 in einer drei bis vier Grad wärmeren Welt befinden, fallen die Schätzungen zur Anzahl der existierenden Menschen komplett anders aus:
„Kevin Anderson considers that ‚a 4°C future [relative to pre-industrial levels] is incompatible with an organized global community, is likely to be beyond ‚adaptation‘, is devastating to the majority of ecosystems, and has a high probability of not being stable‘… He says: ‚If you have got a population of nine billion by 2050 and you hit 4°C, 5°C or 6°C, you might have half a billion people [=500 Mio] surviving‘“ (zit. in Dunlop/Spratt 2017, 5).
„Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hält es für schwierig, dass unter solchen Bedingungen eine Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen überleben kann. Das entspricht der Vernichtung von 90 Prozent des menschlichen Lebens“ (Maxton 2018, 35).
Harald Welzer spricht ebenfalls von „eine[r] Milliarde Menschen vielleicht. Eher weniger.“
>> vgl. Abschnitt Sind wir nicht (fast) alle mehr oder weniger kleine oder gar große Klimawissenschaftsleugner*innen?, S. 216.
Hier hakt auch Stefan Rahmstorf ein, der 2019 in der Zeit verlauten ließ:
„Viele Kollegen, die ich kenne, glauben, dass wir sowieso niemals auf vier Grad Erwärmung kommen würden, weil uns vorher die Wirtschaft zusammenbricht und die Welt in Konflikten versinken würde.“
Zurück zum ‚planetaren medizinischen Notfall‘:
Abseits der körperlichen Erkrankungen sind schon jetzt auch Zunahmen bei Klimakrisen-bedingten psychischen Erkrankungen zu sehen.
>> siehe dazu Aspekt Klimakrisen-Depression/Eco-Anxiety S. 206, und vgl. Aspekt vermehrte (u.a. psychisch bedingte) Gewalt gegen Frauen in der Klimakrise z.B. bei akuten Klimakatastrophen S. 423.
Die auftauenden Permafrostböden könn(t)en zudem längst vergessene bzw. überwunden geglaubte Krankheiten zurückbringen. Diesen Aspekt hielt der Autor dieses Handbuches lange Zeit für zu spekulativ, um ihn im Buch zu erwähnen. Die Bemerkung Graeme Maxtons, dass „[a]uf der sibirischen Halbinsel Jamal … ausgetretene tödliche Anthrax-Sporen [= Milzbrand] bereits lokale Rentierherden sowie einige Menschen infiziert haben … [und ü]ber 650.000 Rentiere … 2018 geimpft wurden, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern“ (2020, 31) veranlasst ihn nun doch die Aufnahme dieses Aspektes in dieses Handbuch.
Und auch die Covid-19-Pandemie macht ein weiteres Mal überdeutlich, worauf Forscher*innen seit Jahren dringend und weitgehend ungehört hinweisen: Dass Umweltzerstörung Virenausbrüche und Pandemien begünstigt.
Dazu ist es zunächst wichtig, hervorzuheben, dass ein Großteil der schlimmsten Krankheiten von gestern und heute in einem erweiterten Sinne eigentlich „Zivilisationskrankheiten“ des sesshaft gewordenen Menschen sind:
„Masern, Pocken, Tuberkulose, Syphilis, Malaria, Cholera, die Pest: All diese Plagen entstanden erst, nachdem wir unseren nomadischen Lebensstil aufgegeben hatten. Wir bekamen die Krankheiten [– Zoonosen genannt –] von unseren neuen Haustieren geschenkt. Oder um es genau zu sagen: von ihren Mikroben. Masern stammen von der Kuh, und die Grippe ist das Ergebnis einer Ménage à trois zwischen Menschen, Schweinen und Enten“ (Bregman 2020, 128).
„[S]chätzungsweise 70 Prozent aller humanen Infektionskrankheiten [sind Zoonosen]“ (Rigos 2020, 10).
…mehr
Auch die Schweinegrippe, genauer gesagt die Tatsache, „[d]ass Schweine überhaupt an Grippe leiden, die ja ursprünglich von Vögeln stammt, geht höchstwahrscheinlich ebenfalls auf das Konto des Menschen, der Hühner und Schweine auf Bauernhöfen in engen Kontakt brachte“ (Rigos 2020, 13).
Mit diesem Vorwissen kommen wir nun zu den konkreten Umwelt- und damit auch Klima-bedingt begünstigten Krankheiten bzw. Krankheitsrisiken:
Fledermäuse – von denen wahrscheinlich das aktuelle Corona-Virus übergesprungen ist – suchen sich, wenn ihr Lebensraum schwindet, ‚anthropisierte Nischen‘ und sind dem Menschen daher räumlich näher als früher (vgl. Eichhorn 2020, s.a. Rigos 2020, 10), was grundsätzlich eine Übertragung von Viren wahrscheinlicher macht.
„Vor allem der Verlust von Wäldern erhöhe das Risiko … [für das Überspringen von Krankheitserregern von Fledermäusen]. So gingen in Südostasien in den vergangenen 40 Jahren 30 Prozent der Waldbedeckung verloren, während sich Plantagen und Städte ausdehnten. Weltweit werden zudem mehr als 160 Fledermausarten für ihr Fleisch oder aus medizinischen Gründen gejagt“ (ebd.).
Das Problem beschränkt sich keineswegs auf Fledermäuse. Im Rahmen dieses Handbuches sei nur kurz ein weiteres Beispiel genannt:
In Indonesien ziehen Flughunde auf der Suche nach Nahrung vermehrt in die Städte, nachdem ihr natürlicher Lebensraum, der Urwald bzw. die Regenwälder immer weiter und flächendeckend gerodet werden. Hier lässt der für sie selbst unschädliche Paramyxovirus Schweine
„reihenweise [erkranken] – und nicht nur sie. Eineinhalb Jahre später hatten sich in Malaysia 265 Menschen bei den Schweinen mit dem Virus angesteckt, 105 starben an einer schweren Gehirnhautentzündung. Das Nipah-Virus ist geblieben: Mittlerweile flammt es regelmäßig auch in Indien und Bangladesch auf. Bis zu drei Viertel aller Erkrankten sterben. Vom ursprünglichen Wirt hat es sich emanzipiert, es kann auch von Mensch zu Mensch weitergegeben werden“ (Eichhorn 2020).
Richard David Precht hebt zudem vollkommen zurecht hervor, dass, „so richtig es ist, dass Menschen ihrer physikalischen und biologishen Umgebung heute größere Wunden schlagen als je zuvor in der Geschichte der Menschheit – ein neuartiges Virus erschafft die Natur deswegen nicht, allenfalls geschieht die Übertragung und Ausbreitung im Zeitalter schwindender Naturräume, dichter Bevölkerung sowie universaler Luftfahrt und Luftfracht schneller. Aber dafür sorgen immer noch Menschen… Corona ist nicht die Antwort auf verletzte Rechte [der Natur]“ (2021, 9).
Alexandra Rigos hält derweil für Greenpeace fest:
„Fest steht …, dass die Kombination aus Fledermäusen, Waldzerstörung und Massentierhaltung eine tickende Zeitbombe ist – und wir Menschen tragen dafür die Verantwortung“ (2020,13).
>> vgl. auch den Aspekt Viren, veränderte Landnutzung und Rindfleisch, S. 553.
Eckardt von Hirschhausen gebührt das Fazit dieses beklemmenden Kapitels mit den Worten:
„Gesunde Menschen gibt es nur auf einem gesunden Planeten“ (Alverde 2020, 74).
Hitzestress der Fauna
Alles gerät durcheinander: Zugvögel bleiben im Norden, Fische weichen in nördlichere Meere aus, andere Tiere finden keine Nahrung mehr, weil ihr Futter in die nördlichen Meere ausgewichen ist, Vögel brüten oder Fische laichen früher, aber die Nahrung für die Brut ist noch nicht gereift… etc. pp. etc. pp.
Hagen Rether 2009: „Ich habe im November gespielt in Berlin. In Köpenick sind Krokusse gesprungen – und die Maikäfer sind geschlüpft im November – weil sie doof sind.“
Hitzestress der Flora
Blick auf den Südhang vom Brocken im Harz, August 2020, eigene Aufnahme.
Nicht nur für Menschen ist die Einschleppung von Viren, Bakterien, Pilze, Schädlingen, Parasiten etc. von Bedeutung. Man denke hier im Bereich der Flora an den Borkenkäfer.
„Durch den Klimawandel werden … häufiger dem Borkenkäfer zuträgliche Temperaturen (> 18 °C) erreicht. Je länger die Sommerperiode ist, desto mehr Generationen können sich pro Jahr entwickeln. In natürlichen Fichtenwäldern in borealen Zonen oder im Gebirge, kann der Buchdrucker [– eine Unterart des Borkenkäfers –] oft nur eine Generation anlegen. Ein warmes Frühjahr mit Temperaturen über 18 °C und ein warmer Herbst können bis zu drei Generationen pro Jahr erzielen, was zur massenhaften Verbreitung der Buchdrucker führt… Zudem verursachen extreme Witterungen, dass Bäume verstärkt durch Sonnenbrand, Windwurf und Stress durch Wassermangel geschwächt werden. Solche Bäume werden dann auch leichter vom Borkenkäfer befallen“ (Greenpeace 2019).
Forstwirtschaftliche Monokulturen begünstigen den Befall:
„Der Borkenkäfer wird erst in Monokulturen zum Schädling.“ (Alexa Gräfin von Plettenberg zit. in Faller/Grefe 2020, 16)
Borkenkäfer brauchen für einen Baum sechs bis acht Wochen (vgl. Köppe 2019) – dann ziehen sie weiter.
Mir persönlich drängt sich da das Bild von Loriots Steinlaus auf – nur geht es halt nicht um Beton.
Aber das Bild, das die riesigen Flächen mit toten kahlen Bäumen sich mir im Harz des Jahres 2019 im Unterschied zum Vorjahr geboten hat, ist schon beeindruckend – um nicht zu sagen: schockierend.
>> Das Ganze kann man sich auch auf einer interaktiven Karte namens ‚Global Forest Change‘ anschauen, hier herausgegriffen das Beispiel Harz (wenn Sie nicht wissen, wo Sie sind, mal rechts den Haken“ von „Data Products“ wegklicken oder darunter den Transparent-Layer-Schiebebutton verschieben. Sie können sich auf dieser Karte jeden Wald der Welt anschauen, oder auch Ihre unmittelbare Lebensumgebung: http://earthenginepartners.appspot.com/science-2013-global-forest/ (Abrufdatum 27.7.2019)
„Warnung vor dem Walde“, bei Bad Suderode, unterhalb von Thale, Juni 2022 – solche Warntafel finden sich überall im nördlichen Ostharz. In diesem Fall geht es nicht um den Borkenkäfer, da der Ostharz zu großen Teilen aus Mischwald mit hohem Buchenanteil besteht: Hier geht es um den allgemein schlechten Zustand des Waldes in Deutschland.
‚Waldsterben 2.0‘
So nennt der Förster und Vorsitzende des Bundes Deutscher Forstleute (BDF), Ulrich Dohle, das, was zurzeit in Wäldern Deutschlands abgeht: Mittlerweile ist übereinstimmend von einem erneuten, schon begonnenen Waldsterben die Rede, denn auch abseits von den Borkenkäfer-Opfern Fichten gibt es z.B. von Pilzen befallene Eschen. „[E]ine ähnliche Entwicklung zeichnet sich bei Ahorn ab“ (Köppe 2019). Das Hauptproblem sei [2019] vor allem die Trockenheit – im zweiten Jahr in Folge.
Details
Stand 2019. Auch im Jahr 2020 ist es in Deutschland mit Stand September deutlich zu trocken. Wir befinden uns abweichend von obiger Aussage nunmehr also im dritten Jahr. Bezogen auf 2018 und 2019: „Im Ergebnis zeigte sich, dass es seit 1766 in Mitteleuropa keine solchen zwei aufeinanderfolgenden Sommer-Dürren dieses Ausmaßes gegeben hat. Mehr als 50 Prozent der Fläche Mitteleuropas waren davon stark betroffen“ (SZ 2020a; vgl. Schwarz 2020, 9).
Auch die eigentlich widerstandsfähige Buche sei von Waldschäden betroffen (ebd.), was ein gewaltiges potenzielles Problem darstellt, weil die Buche einer der wichtigsten und weitverbreitesten Baumarten Deutschlands ist.
Henrik Hartmann vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena:
„Wirklich intakte Bestände sehe ich kaum noch. Stattdessen sehe ich Eschen sterben, ich sehe Buchen und Kiefern sterben. Und von der Fichte brauchen wir gar nicht zu reden“ (Seidler 2020b).
Forstwissenschaftler Jörg Ewald dazu:
„Die Buchen sind stark geschädigt und das ist wirklich beunruhigend, denn die Buche gilt eigentlich als eine robuste, gut an unsere Breiten angepasste Baumart… Aber jetzt sehen wir…, dass sie sehr stark von der Trockenheit betroffen ist… Die Dürre trifft den deutschen Wald im Herzen. Das Klima hat sich in einer Weise verschoben, dass es uns schwerfällt, damit umzugehen“ (zit. in Endres 2019).
Im Vergleich zu den 1980er Jahren ist
„das Sterben … viel dramatischer. Betroffen sind viel größere Flächen – und nicht nur einzelne Baumarten, sondern viele.“ „Viele Bäume sterben, auch alte Exemplare, und an manchen Orten sterben ganze Baumbestände. Davor kann einem schon angst und bang werden. So eine Situation kannten wir bisher nicht“ (ebd.).
Klöckner: „Jetzt ist er in weiten Teilen am Sterben, und kaum einer redet davon.“ Eine Analyse: „Look up“ Gary Turk – 61 Mio views, Stand Juli 2019 https://youtu.be/Z7dLU6fk9QY
CDU-Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner erklärt im Juli 2019 in einem Moment ungewohnter Offenheit – ohne dass daraus eine m.E. angemessene Aktivität erwachsen wäre:
„In den Achtzigerjahren habe das Thema Waldsterben alle beschäftigt. ‚Jetzt ist er in weiten Teilen am Sterben, und kaum einer redet davon.‘“ (Zeit 2019b)
Christian Stöcker hat dazu die Zahlen:
„Schon im Mai 2020 lag die Expertenschätzung für die Waldfläche, die dieses Jahr zugrunde gehen wird, bei 400.000 Hektar. Das ist, sorry, zweimal so viel wie die Fläche des Saarlandes“ (2020).
Alexa Gräfin von Plettenberg, Agraringenieurin und Vorsitzende des Vereins Waldbesitzerinnen NRW hat
„60 Prozent Nadelhölzer in unserem Betrieb, vor allem Fichte… [E]twa ein Drittel des Waldes ist kaputt… [Wir machen im Moment] nichts anderes als … tote Bäume markieren, die gefällt werden müssen.“ (zit. in Faller/Grefe 2020, 16)
Pierre Ibisch, Biologe und Professor für Nature Conservation:
„Was wir jetzt erleben, hat neue Dimensionen… Das Modell der Monokultur aus Kiefern oder Fichten ist am Ende. Denn genau die verlieren wir sehr schnell durch die Folgen des Klimawandels. Und ich sehe tatsächlich extreme Szenarien: Es kann sein, dass diese Monokulturen in zehn, zwanzig Jahren nicht mehr stehen… [I]m schlimmsten Fall gibt es auf großen Flächen nur [noch] langsam nachwachsendes Gebüsch. Der Wald bekommt Druck von vielen Seiten, und es kann durchaus Synergieeffekte geben, die ihn großflächig kollabieren lassen, wo es besonders monokulturell und trocken ist… Zu viel Stickstoff aus dem Verkehr und Landwirtschaft verändert die Böden, Pestizide von den Feldern verringern die Zahl der Waldlebewesen1. Der Wald ist durch Straßen zerschnitten, und zu allem Übel legen die Förster auch noch ein dichtes Netz von Rückegassen an, um Bäume rauszutransportieren. Im Boden ist das lebenswichtige Geflecht aus Pilzen und Baumwurzeln gestört. Wald, das sind zunehmend Inseln in der offenen Landschaft, die sich besonders leicht erwärmen. So geschwächt, hat der Klimawandel mit ihnen leichtes Spiel“ (zit. in Faller/Grefe 2020, 17).
Details: Erläuterungen zu (1)
Eine im September 2020 veröffentlichte Studie zeigt, dass sich „Pestizide und deren Abbauprodukte … kilometerweit durch die Luft [verbreiten]… Glyphosat sei in allen Regionen Deutschlands und weit abseits von potenziellen Ursprungsäckern nachgewiesen worden… Selbst auf der Spitze des Brockens im Nationalpark Harz seien zwölf Pestizide nachweisbar“ (Zeit 2020c).
Gewissermaßen ist leider auch von einem ‚Förstersterben‘zu sprechen – es fehlt offensichtlich an Nachwuchs und finanziellen Mitteln. Warum der Harz so aussieht, wie er aussieht hat auch mit fehlenden Förster*innen zu tun:
„Es gab nicht genug Leute, um das Holz [der nach einem Sturm gefallenen Bäume] rechtzeitig aus den Wäldern zu holen“ – also bevor der Borkenkäfer zuschlagen konnte, sagt der schon eingangs zitierte Förster Ulrich Dohle im betreffenden Spiegel-Artikel (Köppe 2019, vgl. auch Endres 2019).
Auch interessant: In privaten Wäldern „ist die Lage jetzt besonders dramatisch“ (Endres 2019), weil hier vielfach im Unterschied zu öffentlichen Wäldern keine Investitionen unternommen wurden, um die Monokultur der Nadelbäume aufzubrechen (vgl. ebd., s.a. Aspekte Aufforstung und Verbiss, S. 469f.).
Ich stelle fest: Was nicht dem ‚Wachstum‘ bzw. Shareholder Value dient, fällt hinten rüber. Wälder, Bildung, Pflege, die nächste Generation, die Umwelt, das Klima… die Zukunft.
Es bedarf hier deutlicher Worte:
Ich schließe mich Rezo an, wenn er konstatiert, dass die CDU/CSU mit Stand 2019 in den letzten 36 Jahren 29 Jahre an der Macht war und somit maßgeblich unser Land geprägt hat – maßgeblich in einer zutiefst zerstörerischen Weise geprägt hat.
Denn egal, was unsere Merkel’sche Regierung vielleicht in der Vergangenheit in anderen Themenbereichen durchaus richtig gemacht hat: Sie hat wider besseres Wissens nicht relevant versucht die Klimakrise zu verhindern, sodass wir nun auf den Abgrund zurasen. Und was nützt es, als Regierung andere Dinge richtig gemacht zu haben, wenn die Lebensgrundlagen der Bevölkerung durch die Klimakrise und Artensterben unmittelbar und existenziell gefährdet werden?
Packen wir das in ein Bild: Nehmen wir an, Angela Merkel ginge zur Schule und würde neben 9 typischen Fächern wie Deutsch, Mathe und Musik auch im Hauptfach ‚Überlebenskunde‘ unterrichtet. Nehmen wir weiter an, am Ende des Schuljahres bekäme Angela Merkel überall eine „1“ – nur nicht in ‚Überlebenskunde‘: Da prangte im Zeugnis eine „5“ = ungenügend. Nun ergäbe sich folglich ein Schnitt von 1,4. Das Zeugnis sähe also soweit prima aus – aber: Kann man das Fach ‚Überlebenskunde’ ausgleichen?
Was wird man sich eines Tages über Angela Merkel erzählen?
Wir hatten mal sechzehn Jahre lang eine promovierte Naturwissenschaftlerin als Kanzlerin, die hat wider besseres Wissen erheblich und massiv dazu beigetragen, den Planeten an die Wand zu fahren?
>> vgl. auch Rezo (2019): „Die Zerstörung der CDU“. in: Youtube.de, 18.5.2019, Min 25f., online unter www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ/ (Abrufdatum 24.6.2019), s. a. Aspekt Der Realitäts-Schock in Abschnitt Intro S. 35.
>> Definition ‚Shareholder Value‘ = Unternehmensprinzip, demzufolge Gewinnmaximierung zu Gunsten der Dividenden der Aktionär*innen ‚über allem‘ stehe. Der ‚Erfinder‘, Jack Welch, bezeichnete dieses wohl 1981 entstandene Prinzip im Jahre 2010 als „die blödeste Idee der Welt“ (Büschemann 2010). „Man könne eben nicht auf Gewinnmaximierung abzielen, sondern müsse Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Wettbewerbsfähigkeit erhält man dadurch, dass man ein gewisses Ansehen hat“ (Fischer 2018, 498).
Exkurs ‚Waldsterben der 1980er Jahre‘
Wie war es da, wie schlimm war das wirklich?
War es – wie so Viele glauben – eine falsche Prognose?
„‚Viele halten das [aufgrund des sog. sauren Regens] prognostizierte Waldsterben von damals noch immer für eine Spinnerei… Doch das stimmt nicht.‘ Vielmehr hätten politische Maßnahmen wie der verpflichtende Einbau von Katalysatoren die Katastrophe verhindern können“ (Förster und Vorsitzender des Bundes Deutscher Forstleute (BDF), Ulrich Dohle, zit. in Köppe 2019).
Der Biologe Pierre Ibisch:
„Dass der Wald in den Achtzigerjahren nicht gestorben ist, war ja ein Erfolg dieser [wissenschaftlichen] Warner. Die Hauptursache, Schwefeldioxid, wurde mit Filtern aus der Luft genommen“ (zit. in Faller/Grefe 2020, 16).
Folgen der Zunahme von Extremwetterereignissen
Die Klimaforscherin Friederike Otto vom ‚World Weather Attribution‘-Team stellt grundlegend fest:
„Das Wetter ist heute ein anderes, weil wir Menschen das Klima verändert haben“ (2019, 12).
„Jedes Wettergeschehen – ein Hurrikan genauso wie ein leichter Sommerregen – findet heute unter anderen Umweltbedingungen statt als noch vor 250 Jahren“ (ebd., 10-11). Und:
„Inzwischen hat jeder Sturm mit dem Klimawandel zu tun“ (ebd., 17) – mal mehr, mal weniger, aber der Einfluss ist prinzipiell immer vorhanden.
Mit mehr Energie im System ‚Erde‘ steigt die Häufigkeit von Extremwetterereignissen an, betreffend Temperaturen, Wind, Niederschlag und dauerhafte Wetterlagen inkl. Dürreperioden:
„Übereinstimmend wird eine hohe Verletzlichkeit der Hochspannungsnetze gegenüber Extremwetterereignissen, Stürmen und Schneelasten angenommen, welche in größeren Gebieten die Versorgungssicherheit beeinträchtigen kann. Auch können Hitzewellen zu einer verminderten Leistungsfähigkeit und zu Kapazitätsengpässen bei konventionellen Grundlastkraftwerken führen, da diese auf ein kontinuierliches Wasserangebot zur Kühlung angewiesen sind“ (Brasseur et al., 244).
>> vgl. in Abschnitt Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase, S. 145 den Aspekt Extremwetterereignisse, S. 149
Man denke dazu an das Jahr 2018 und die
wochenlange Nicht-Schiffbarkeit des Rheins wegen zu niedrigen Flussständen mit großen Auswirkungen auf die Wirtschaft, die von Zulieferungen abhängig ist und die
Zwangsabschaltungen bei Atomkraftwerken aufgrund zu hoher (Fluss-)Wassertemperaturen in Frankreich.
Naomi Klein leitet ihr Grundlagenwerk Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima mit dem Beispiel eines Flugzeugs ein, dessen Räder 2012 vor dem Abflug aus Washington 10 cm „in dem schwarzen Asphalt versunken [waren] wie in frischem Beton“ (2015, 10).
Hitzeschäden auf Straßen („Betonfahrbahnen“) in Form von sog. Blow-Ups sind insbesondere für Motorradfahrer*innen lebensgefährlich – und sogar der Sonne ausgesetzte Bahnschienen können verbiegen [=Gleisverwerfung] – mit gleichfalls potenziell tödlichen Folgen.
Österreich testet nunmehr Eisenbahnschienen weiß anzustreichen. Auch in der Schweiz und in Deutschland laufen derartige Versuche (vgl. Spiegel 2019a).
Zusammengefasst ist von einer größeren bzw. zunehmenden Vulnerabilität der Infrastruktur und damit auch der Gesellschaft zu sprechen. Gemeint ist damit, dass die Verletzlichkeit der Systeme und damit die Versorgungsunsicherheit – in jeder Hinsicht – zunimmt.
>> Der Politologe Dirk Messner hebt hervor, dass die Gesellschaft via Covid-19 erneut gemerkt hat, wie vulnerabel „selbst die wohlhabendsten Länder sind“ (2020).
3 min – Waldbrände auf Rhodos Juli 2023
Waldbrände, Missernten und Meeresspiegel
„Scott Morrison gehört zu der Garde rechtskonservativer Machtmenschen, die mit ihrer kurzsichtigen Politik den ganzen Planeten in Haft genommen haben. Er ist wie Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien…“ „[W]er Rechtsradikale und Erzkonservative wählt, wählt die Klimakrise“ (Hahn 2019).
Waldbrände
Aufgrund von längeren trockenen Phasen, erkrankten Bäumen und höheren Temperaturen kommt es vermehrt zu Waldbränden – auch in Deutschland:
„Schon unterhalb von einem Grad Erwärmung dehnt sich demnach ‚mit hoher Konfidenz‘ [d.h. mit hoher (Forschungs-)Sicherheit] die Waldbrandsaison aus…“ (2019).
kommentiert dies Stefan Rahmstorf.
2 min – Waldbrände auf Rhodos Juli 2023
Das Erleben wir seit einigen Jahren ganz konkret
in Kalifornien, worüber bedauerlicherweise in Deutschland erst dann medial intensiv berichtet wurde, als die Promisiedlungen der Ortschaft Paradise als „Hölle auf Erden“ (Alt 2020, 14) abfackelten und auch Thomas Gottschalk sein ‚Anwesen‘ verlor (vgl. Spiegel 2018).1 2
2020 an der US-Westküste in den Staaten Kalifornien, Oregon und Washington – also letztlich von Mexiko bis Kanada –, wo Trockengewitter mit Stand September eine Gesamtfläche quasi der Größe Schleswig-Holsteins in Flammen setzten (vgl. Buchter 2020). Die Luft ist vielerorts „‚gesundheitsgefährdend‘ oder ‚sehr ungesund‘“ (SZ 2020b). Der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom wandte sich inmitten einer abgebrannten Landschaft u.a. Richtung Washington mit den Worten: „Wenn Sie nicht an wissenschaftliche Erkenntnisse glauben mögen, dann vielleicht an die erkennbare Realität“ (zit. in Buchter 2020).
September 2020: Neue Sachverhalte bringen neue Begriffe hervor: Zu den Bränden Kaliforniens zitiert die Zeit den Gouverneur von Washington, Jay Inslee, mit den Worten, es handele sich nicht um Waldbrände, sondern um Climate Fires, d.h. Klimabrände(vgl. Gaul 2020).
Ein Blick an den Himmel reichte im September 2020, um die Dramatik der Klimakrise sichtbar zu machen: „Der Rauch der Waldbrände in Kalifornien zog in der Erdatmosphäre bis nach Deutschland. Das ist der Grund, warum die Sonnenuntergänge bei uns gerade besonders kräftig strahlen. Obwohl Kalifornien 9000 Kilometer entfernt ist“ (Traufetter 2020).
2018 in Schweden, wo etwa 40 Waldbrände wüteten und Schweden nicht über Löschflugzeuge verfügte, weil sie zuvor noch nie erforderlich gewesen waren (vgl. Welt 2019 u. Hermann 2019).
in Russland, wo seit vielen Jahren und überall im Permafrostgürtel, soll heißen im Polarkreis, in der Arktis, 2019 riesige Flächen von Wäldern in Flammen stehen (vgl. Kramer 2019): „Die wohl größten Brände, die unser Planet je gesehen hat – in einer der kältesten Regionen, die unser Planet kennt“ (ebd.; vgl. Aspekte Waldbände im Polarkreis, S. 109, Abschnitt Permafrost S.106).
im Amazonasgebiet, wo u.a. wegen legaler und illegaler Rodungen gewaltige Flächen von Regenwald abbrennen (vgl. Blickle et al. 2019) und
in Australien 2019/20,
wo noch vor dem australischen Sommer und dem gewohnten Beginn der Waldbrandsaison aufgrund von jahrelanger heftiger Dürre und extrem hoher Temperaturen gewaltige Flächen brennen, ja, gefühlt ganz Ost-Australien ‚in Flammen steht‘ (vgl. Spiegel 2019b). „Heute sind selbst Sümpfe so trocken, dass sie brennen“ (Deininger 2020, 3)3.
Besagte australische Waldbrände verursachten seit August 2019 (allein bis Mitte Dezember) rund 240 Mio t CO₂: „195 Millionen Tonnen davon entfallen auf den Bundesstaat New South Wales…“ (Spiegel 2019c). 240 Mio t CO₂ markieren knapp die Hälfte der gesamten jährlichen CO₂-Emissionen Australiens.4
Anfang Januar 2020, also noch während der andauernden Buschfeuer, schätzte der Ökologe Chris Dickman „highly conservative“, dass allein in New South Wales 800 Millionen Tiere in den Feuern verendet sind (vgl. Mannix 2020). Euan Ritchie, associate professor of wildlife ecology at Deakin University, schätzt die Sache insgesamt wie folgt ein: „Realistically, the number of animals killed in these fires is many, many, many billions. And we’ll never know what that true number is, because for some species we don’t know their abundance and what we have lost” (ebd.).
Zum Symbol geriet das Foto eines kleinen (d.h. jungen) aufrecht ‚stehenden‘, „sich offenbar in einem Maschendrahtzaun verfangen[en ‚Joey‘ genannten Kängurus, dessen Körper verkohlt war]“ (Rydlink 2020). Der Fotograf des Bildes, Brad Fleet, ergänzte: „‚Für die Tiere, die überlebt haben, wird es von jetzt an noch schwieriger‘… Das Feuer habe ihnen jegliche Lebensgrundlage genommen, es gebe kein Futter mehr und keine Unterschlüpfe“ (ebd.).5
Laut der Attribution Science (Zuordnungswissenschaft) erhöhte „[d]er menschengemachte Klimawandel [in Australien] die Wahrscheinlichkeit für eine feuerfreundliche Wetterlage um mindestens 30 Prozent“ (Götze 2020).
9 min – Waldbrände auf Rhodos und Korfu Juli 2023
In Deutschland herrschte im Jahr 2020, nachdem es seit einem Monat so gut wie gar nicht geregnet hat und im April lediglich „vier Prozent des langjährigen Mittels“ (Seidler 2020a) fielen, in einigen Regionen bereits Mitte April 2020 die höchste Stufe für Waldbrandgefahr:
„In mehreren Regionen Deutschlands rücken Feuerwehrleute aus, um Waldbrände zu löschen“ (Zeit 2020b). Bei einem dieser Waldbrände wurde in der Grenzregion die „[n]iederländische Ortschaft Herkenbosch evakuiert“ (Spiegel 2020b).
Wohlgemerkt: Das alles geschieht bei ‚nur‘ 1,2 °C weltweiter Erderwärmung und entsprechenden Änderungen der Niederschlagsregimes.
1,2 °C: Was wird bei noch höheren Werten passieren?
>> vgl. in Abschnitt Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase, S. 145 den Aspekt Extremwetterereignisse, S. 149
Details: Erläuterungen zu (1) bis (5)
1 „Von den 20 schlimmsten Waldbränden in der Geschichte Kaliforniens ereignete sich die Hälfte seit 2015“ (Buchter 2019, 21). Weil es dort so knochentrocken im „heißeste[n] Sommer, den Meteorologen für Kalifornien jemals aufgezeichnet haben“ (ebd.) war, reichten marode (Überland-)Transmissionsleitungen und Hochspannungsmasten, um – wie schon rund 1.500 Mal zuvor seit 2014 – Waldbrände auszulösen. Die börsennotierte Firma Pacific Gas and Electric (PG&E) „kommt mit der Instandhaltung nicht hinterher… [hat aber] seit 2014 Dividenden im Wert von 3,5 Milliarden Dollar ausgeschüttet“ (ebd.). Das Unternehmen steht seit vielen Jahren „in der öffentlichen Kritik. Explosionen von PG&E-Gaspipelines töteten in den vergangenen Jahren neun Menschen“ (ebd.), die 2018er Brände kosteten 84 Menschen das Leben (vgl. Zeit 2020a). Und wer sich angesichts der verantwortungslosen Firmenpolitik an den im Jahr 2000 erschienenen Julia-Roberts-Film bzw. an den authentischen Fall rund um Erin Brockovich erinnert fühlt, liegt richtig: In den 1950er und 1960er Jahren verseuchte giftiges Chrom (VI) vom PG&E-Firmengelände bei Hinkley (Kalifornien) das Grundwasser (vgl. wikipedia 2020) und führte zu extremen Gesundheitsbeeinträchtigungen der Bewohner*innen und vieler Kinder. „Lab tests showed that the chemical could cause breast, brain, lung, and other cancers, along with miscarriages, birth defects, and tumors“ (Pearl 2015). „In 1996, Erin and her lawyer Edward L. Masry settled their class-action lawsuit for $333 million, the largest settlement of a direct-action lawsuit in U.S. history (encaptioned Anderson, et al. v. Pacific Gas and Electric – Superior Ct., County of San Bernardino, Barstow Division, file BCV 00300)“ (SkillMD o.J.). Und wie sieht es heute dort in Hinkley aus? „The town Erin Brockovich rescued is basically a ghost town now there’s still hexavalent chromium in the water, the town’s houses are being knocked down, and the only place to buy beer is about to close“ (Pearl 2015).
3 Diese Trockenheit führte u.a. auch dazu, dass ein Viertel von Sydney über eine Entsalzungsanlage mit Trinkwasser versorgt wurde/wird (vgl. Spiegel 2019d).
4 Ein beliebtes Argument in Australien ist, dass man „nur für 1,6 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sei. Wenn aber die Verschmutzung durch Exporte seiner fossilen Brennstoffe dazu gerechnet wird, sind es 5 Prozent“ (Wälterlin 2020, 5). Aber: ‚Nur‘ 1,6% bei 25 Mio Einwohner*innen = 0,32% der Weltbevölkerung ist aber auch für sich genommen ganz schön knackig.
5 Kurz zuvor war ein Video eines Koalas viral gegangen, der eine Radlerin (erfolgreich) um Wasser anbettelte: https://www.jetzt.de/umwelt/koala-bettelt-radfahrer-in-australien-um-wasser-an (Abrufdatum 18.5.2020) [ursprünglich auf instagram am 29.12.2019 von bikebug2019 gepostet]. In solchen Momenten, in denen ich das Video oder o.a. Foto anschaue, fällt es mir schwer sachlich zu bleiben… obwohl, eine Frage an Sie: Ist es unsachlich, die Frage aufzuwerfen, inwieweit es uns Menschen bzw. der Menschheit zusteht, bei unserem eingeleiteten kollektiven Suizidversuch (vgl. S. 686) auch noch die überwältigende Mehrheit aller biologischen Lebensformen dieses Planeten mit in den Tod zu reißen?
Missernten
All die vorgenannten Faktoren rund um höhere Temperaturen und Extremwetterereignisse haben neben dem Einfluss auf das Wohlbefinden und die Gesundheit des Menschen auch einen Impact auf die Landwirtschaft:
Mehr Starkwetterereignisse (inkl. Hagel, Starkniederschlagereignisse, Überflutungsgefahren) bedeuten mehr Ernteausfälle – Hitze bedeutet Hitzestress für das Vieh (insbesondere für das Rind).
„Auch Parasiten treten häufiger auf, die Nutztieren und Getreide, Obst und Gemüse zusetzen – um sie in Schach zu halten, kippen die Bäuer*innen dann umso mehr Pestizide auf die Felder und Äcker.
Ein weiteres Problem: Viele Nutzpflanzen sind darauf programmiert, nach dem Frost zu knospen und zu blühen. Oder, wenn es keinen Frost gibt, eben nicht“ (Otto 2019, 107-108, bewusst hier noch einmal zitiert).
Meeresspiegel
Und schließlich geht es bei den konkreten Folgen für die derzeitige Entscheider*innen-Generation (und deren Grundstücke in Küstennähe) auch um höhere Wasserpegel:
Über den zunehmend höheren Meeresspiegel ist zu sagen, dass die Norddeutsche Tiefebene gleich zweifach von der Nordsee und der Ostsee von steigenden Meeresspiegeln bedroht ist.
Womit allenfalls zart angedeutet ist, dass der Klimaschutz als Anpassungsmaßnahme z.B. durch Küstenschutz oder Erosions-Anpassungsmaßnahmen in Gebirgen eine Menge Geld kostet:
Die so investierten Gelder werden damit für andere Dinge wie z.B. für Soziales, Kulturelles oder sonstiges Infrastrukturelles nicht mehr zur Verfügung stehen.
Hier wird künftig auch so manche Immobilie betroffen sein – für einen fundamentalen Wertverlust reicht vollkommen, wenn die umliegende Infrastruktur bedroht, beschädigt oder zerstört wird. Oder das Haus in der Nähe der Küste bzw. auf Meeresspiegelhöhe steht.
>> s.a. Aspekt ‚Ewiges‘ Eis, Meeresspiegelanstieg & Gletscherschmelze, S. 99ff.
Apropos ‚Meeresspiegel‘:
Eine Beruhigungspille für die Menschen: Ein Artikel des Hamburger Abendblattes zum Thema ‚Meerespiegel in Norddeutschland‘ vom 8. Februar 2022 in der Analyse.
„Klimawandel als Herausforderung für Schleswig-Holstein. Umweltminister stellt Generalplan Küstenschutz vor. 330.000 Menschen leben an den Küsten“. (S. 10, linke Spalte).
Auszüge aus dem Artikel:
Norddeutschland hat eine Küstenlinie von rund 1.100 Kilometern. Mit dem Generalplan „soll die Grundlage geschaffen werden, dass die Menschen an den Küsten auch in den nächsten Jahrzehnten in Sicherheit leben könnten… So sollen 74 Kilometer Landesschutzdeiche zu ‚Klimadeichen‘ umgebaut werden. … 360 Mio Euro… Bis Ende 2024 wollen Küstenschutz, Naturschutz und Tourismus gemeinsam eine Strategie für die Ostseeküste entwickeln, die nachhaltig und langfristig am die Folgen des Klimawandels angepasst ist… Bereits in den vergangenen zehn Jahren wurden etwa 25 Kilometer Landesschutzdeiche sowie drei Halligwarften verstärkt und 14,7 Millionen Kubikmeter Sand aufgespült. Etwa ein Viertel der Landesfläche von Schleswig-Holstein ist potenziell durch Sturmfluten gefährdet. Mehr als 330.000 Menschen leben in den überflutungsgefährdeten Landesteilen an Nord- und Ostsee.“
Analyse:
Der Bericht stellt die machtvoll betitelten Pläne „Generalplan“ und „Entwicklung Ostseeküste 2100“ vor. Wenn wir die Sicherheit der künftigen Generationen und der Menschen bis zum Jahr 2100 als Maßstab anlegen, dann ist festzuhalten, dass die absurd offensichtlichen Widersprüche der im Artikel benannten Zahlen nicht beleuchtet werden:
So werden für 360 Mio EUR 74 Kilometer Klimadeiche gebaut – während die Küstenlinie – wohlgemerkt die Festküstenlinie – 1.100 Kilometer umfasst. Klar ist, dass 74 km nicht reichen werden, sondern mindestens weite Teile der Küstenlinie zu ‚Klimadeichen‘ umgebaut werden müssen.
Würde man alle 1.100 Km umbauen, liegen wir bei: 1 km = 4.864.865 EUR; 1.100 km = 5.351.351.351 EUR. Mit dem Investment von rund 5,4 Mrd. EUR würde die Küstenlinie nach gegenwärtigen Prognosen (laut Artikel) noch für rund 80 Jahre zu halten sein.
Eine Drittelmillion Menschen ist gefährdet, wenn nicht weite Teile der Küstenlinie mit rund 5 Mio EUR pro Kilometer verstärkt werden.
Eine logische Folgerung wäre, dass wir um der Sicherheit willen und der Wahrung der derzeitigen Küstenlinie wegen unsere Art, Geld als Staat auszugeben, überdenken müssten. Diese Schlussfolgerung unterbleibt.
Die Tatsachen, dass 80 Jahre nicht viel sind und weitere Investitionen notwendig sein werden und es physikalische Grenzen beim Deichbau gibt, bleiben ungenannt.
Der Artikel verbleibt auf einer rein (nach-)erzählenden Ebene, Kritik an den Zuständen wird nicht geübt, die Folgerung, dass Deutschland derzeit weder die Ressourcen an Baumaterial noch die Fachkräfte noch die Energie dafür hat, diese Maßnahmen umzusetzen, bleibt unerwähnt.
Stattdessen wird einzeln aufgeschlüsselt hervorgehoben, was bereits an (unzureichenden) Maßnahmen – ich gestatte mir das Wort: ‚Beruhigungspillen‘ – durchgeführt wurde.
Auch die Erwähnung, dass der Tourismus an der Ostsee offensichtlich mitreden darf inmitten der Überlebenskrise der Menschheit bei der Deichgestaltung, wird nicht hinterfragt.
Alles in allem handelt es sich um einen m.E. bizarr unkritischen Artikel.
Die Kritik richtet sich folgerichtig auch an die unzureichenden Maßnahmen der staatlichen Behörden, die ihrer grundgesetzlichen Aufgabe in keiner Weise gerecht werden.
Es tritt allgemein hinzu:
Klimawandel gilt allgemein als threat multiplier oder auch als „Risikoverstärker in komplexen Systemen.“ (Brasseur et al. 2017, 287)
Er gilt als „Bedrohungsmultiplikator, der die Folgen durch komplexe Wirkungsketten in vernetzten Systemen verstärkt“ (ebd., 293);
Allgemein ist aus den vorherigen Ausführungen zu schließen, dass die Versorgungssicherheit, deren Gewährleistung so viele Bundesbürger*innen derzeit hinsichtlich des Themas ‚Energiesicherheit‘ umtreibt1, auch betreffend
die Ernährung und
lebenswichtige Medikamente für akut und chronisch Kranke,
schwieriger, mit mehr Aufwand als bisher und unter nur unter hohem finanziellen Einsatz – und möglicherweise aufgrund von instabilen globalen Lieferketten auch weniger zuverlässig – zu gewährleisten sein wird. Auch das wird Geld kosten, das an anderer Stelle fehlen wird.
Details: Erläuterungen zu (1)
Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und Mitglied des Club of Rome hebt hervor, dass das Argument der unbedingt zu gewährleistenden Versorgungssicherheit insofern quatsch ist, weil ausgeblendet wird, dass diese auch mit den Ansprüchen der Bürger*innen gekoppelt ist: Der Strombedarf wächst ständig – und es bleibt vollkommen unhinterfragt, dass ein ‚Genug‘ eben auch das erforderliche Grundniveau der Energieversorgung deckeln würde. „Versorgungssicherheit von Energie, von Nahrung, von allem bleibt implizit eine wachsende Größe. Die darf nicht gefährdet werden, egal auf welchem Niveau sie aktuell ist. Niemand macht sich die Mühe, zu erläutern: Was ist denn eigentlich Versorgungssicherheit? Wann ist genug? Das ist das nie ausgesprochene Selbstverständnis der Wohlstandsgesellschaft“ (2020).
Ein letzter Aspekt zum Thema ‚Klimafolgen für die Entscheider*innengeneration in Deutschland‘:
Aber die Renten, die sind sicher?
Dazu ist im 2017er „Wir sind dran“-Club of Rome-Bericht folgender Hinweis zu finden:
„Dass Umweltschäden nicht eingerechnet werden, heißt, dass sich der Druck auf jetzt schon knappe natürliche Ressourcen beschleunigt: Bäume werden gefällt, Gewässer verschmutzt, Feuchtgebiete trockengelegt und die Ausbeutung von Kohle, Öl und Gas forciert, wenn es dafür Käufer gibt. Und große Vermögen, etwa Pensionsfonds, sind gefangen in Fossilwerten, die man zunehmend als Hochrisiko einstufen muss“ (Weizsäcker 2017, 34 vgl. Böcking 2020).
Zu ergänzen ist, dass bei sich zunehmenden Ausmaßen der Klimakrise die Weltwirtschaft angesichts von drohenden (regionalen) Katastrophen, Ernteausfällen etc. pp. erwartbar in eher unruhige Fahrwasser geraten wird – was mutmaßlich auch Folgen für die angeblich so sicheren Renten hätte.
Deutschland ist ‚Exportweltmeister‘ – das macht uns aber gleichzeitig auch besonders abhängig von funktionierenden internationalen Märkten und könnte uns künftig auf die Füße fallen.
>> s.a. LebeLieberLangsam-Beitrag Kommen wir zur: Unbequemen Wahrheit. Hier geht es ebenfalls darum, dass es eine Illusion ist, zu glauben, wir Deutschen/Europäer*innen/Bewohner*innen und Rentner*innen der Industrieländer lebten auf einer ‚Insel der Seligen‘ >> https://blog.lebelieberlangsam.de/kommen-wir-zur-unbequemen-wahrheit
Doch nicht nur die Renten sind gefährdet:
Versicherungen neigen dazu, nur das zu versichern, was mit guter Chance kein Versicherungsfall wird.
Ein prägnantes Beispiel dazu führt die Filmreportage ‚Wetter extrem – Hitzewellen und Wassermassen‘ des NDR (Teil 2, ab ca. Min 11) auf: Vor dem ‚Jahrhundertsommer‘ 2018 hatte es im Sommer 2017 im Harz katastrophal viel geregnet mit dem Ergebnis, dass im Harzvorland ganze Städte unter Wasser gesetzt wurden. Mir persönlich ist aus der Zeit eine (aus Sicherheitsgründen im Schritttempo erfolgende) Bahnfahrt von Goslar nach Hannover in lebendiger Erinnerung geblieben, bei der sich mir der Eindruck aufdrängte, ich führe bei Springflut über den Hindenburgdamm nach Sylt: Rechts und Links über weite Strecken nur Wasser.
…mehr
Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg (1847-1934) hat einen rückblickend eher als problematisch einzuordnenden Lebenslauf. Der 1927 eingeweihte Damm sollte daher – wie dieser Tage oft gefordert – umbenannt werden.
„vor den Toren Hildesheims“, stieg „der Pegel der Innerste [– eines Nebenflusses der Leine –] … auf sieben Meter“. In der Folge liefen Keller und Erdgeschoss des Hauses der im Film vorgestellten Familie Wiebel voll, die Öltanks der Heizung schwammen auf. Zwei Jahre später hat „die Sanierung ihres Hauses bereits mehr als 100.000 Euro gekostet. Drinnen riecht es nach ausgelaufenem Heizöl, das in die Wände gezogen ist… ‚Wir haben komplett alles rausgerissen nach dem Hochwasser: Estriche raus, Fußbodenheizung raus, Elektrik … Es hat sich … Öl in den Leitungen hochgezogen… im Erdgeschoss haben wir komplett auf einen Meter die Steine austauschen müssen, also wirklich rausmauern und dann wieder reinmauern. Die Möbel waren sowieso … alle hin, wir haben alles einmal komplett entsorgt‘… Vier Monate musste die Familie bei Freunden wohnen. Und ihr Haus ist [zwei Jahre später] immer noch eine Baustelle… Auszuziehen, verkaufen, irgendwo anders nochmal neu anzufangen… ‚war nie richtig eine Option für uns. Das Haus war noch nicht ganz bezahlt – und wer kauft so ’ne Immobilie, die so beschädigt ist? Da hätten wir nichts für gekriegt und die Schulden wären trotzdem noch da gewesen, von daher war nur die Option, wir bauen es wieder auf und machen es für uns so zurecht, wie wir es haben wollen und versuchen es einigermaßen zu schützen mit den Mitteln, die wir haben‘. … [Familie] Wiebel wohnt seit 20 Jahren hier. Damals schien die Lage unbedenklich. Durch … [den Ortsteil] fließt nur ein kleiner Bach, die Innerste ist einen Kilometer entfernt. Deshalb war … [die Familie] nicht gegen Hochwasser versichert. ‚Vor 20 Jahren habe ich absolut nicht daran gedacht, so was in der Form abzuschließen. Und als man es dann machen wollte, hat mans nicht mehr gekriegt, weil auf einmal dann sind entsprechend die Zonen so eingeteilt sind, dass man keine Versicherung mehr bekommt.‘“
Ich habe großen Respekt davor, dass bzw. wie die Familie Wiebel ihr Schicksal so entschieden und tatkräftig in die Hand genommen hat. Doch bedeutet das alles auch: Ein weiteres Wetterextremereignis dieser Art hätte für viele Menschen im Harzvorland mutmaßlich den finanziellen Ruin zur Folge. So würde es Menschen dort ergehen, so ergeht es angesichts anderer Extremwetterereignisse auch Menschen in anderen Landstrichen Deutschlands, Europas, etc. pp.
Versicherungen schließen Wetten ab, die sie möglichst gewinnen möchten. Manager*innen des Versicherungswesens und erst recht von den die Versicherer absichernden Rückversicherungen wissen daher überdurchschnittlich genau darüber Bescheid, wie es um die globale Klimakrise tatsächlich bestellt ist. Ihnen sollte man genauer zuhören.
Also: Versicherungen versichern nur, was erwartbar nicht eintritt. Daher werden in Deutschland mehr und mehr Objekte/Projekte nicht mehr oder zu immer ungünstigeren Konditionen versichert (werden).
Das bedeutet, dass
„[n]ationale und lokale Regierungen … sich um Probleme kümmern müssen, die der freie Markt nicht lösen kann. Zur Deckung der Kosten für Krankenhausaufenthalte von Hitzeopfern… und für die Erfüllung der Funktion eines Versicherers, wenn sonst niemand mehr einspringt, müssen höhere Steuern erhoben werden“ (Maxton 2018, 52).
>> s.a. Pendzich, Marc (2019): „Antrag auf Beiladung zur Greenpeace-Klimaklage gegen die Bundesregierung“. in: LebeLieberLangsam.de, online unter https://blog.lebelieberlangsam.de/klage/
Quellen des Abschnitts Die konkreten Folgen der Klimakrise in Deutschland für die derzeitige Entscheidergeneration
Alt, Franz (2020): Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt: Schützt unsere Umwelt. [Der Dalai Lama im Gespräch mit Franz Alt]. Benevento.
Alverde (2020): „Gemeinsam Handeln“. [Statement von Eckart von Hirschhausen]. in: dm-Magazin alverde, Januar 2020, S. 74-75.
Deininger, Roman (2020): „War was? Australien rappelt sich gerade wieder auf nach diesem Sommer des Feuers. Aber wer glaubt, dass das Land sich verändert hat, kennt es nicht“. in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 44, 22./23.2.2020, S. 3.
Evers, Marco (2019): „‚Jeder kann etwas ändern‘: Hitzetote, Hungernde, Flutopfer – die Epidemiologin Sabine Gabrysch warnt vor drastischen Auswirkungen der Erderwärmung. Aber noch könne die Menschheit umsteuern“. in: Der Spiegel, Nr. 32/3.8.2019.
Faller, Heike u. Grefe, Christiane (2020): „Der Wald der Zukunft“. in: Die Zeit [Magazin], Nr. 34, 13.8.2020, S. 14-24.
Fischer, Ernst-Peter (2018): „Die Unbelehrbarkeit des Menschen“. in: Lesch, Harald u. Kamphausen, Klaus (2018): Die Menschheit schafft sich ab. Die Erde im Griff des Anthropozän. Knaur.
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2017): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Am Thermostat der Erde rumzuspielen ist Wahnsinn. Jedes 10tel Grad zählt:
Mit jedem 10tel Grad Temperaturanstieg wird die Auslösung von sog. Kipppunkten (Tipping Points, ‚Kippschalter‘) wahrscheinlicher. Bei diesen Kippelementen handelt es sich laut Schellnhuber „um die Achillesferse unseres Planeten“ (Wille 2020): Sind solche Points of no return überschritten, kommt es zu sich selbst verstärkenden Prozessen (=Rückkopplungseffekte; Kettenreaktionen, ‚Feedback-Loops‘), die dann Dynamiken in Gang setzen, die unumkehrbar und nicht mehr beherrschbar sind, die wie Dominosteine einer nach dem anderen umkippen und den jeweils nächsten Dominostein mit sich reißen:
„Es ist jener Punkt, ab dem es kein Halten mehr gibt“ (Langer 2019), „ganz gleich, was wir dann auch tun mögen“ (Bregman/Götze 2021, 20).
„Stellen Sie sich vor, Sie schieben eine volle Kaffeetasse über den Schreibtischrand. Auf den ersten Millimetern passiert wenig, die Tasse verändert nur ihre Position. Doch irgendwann erreicht sie einen kritischen Punkt, an dem sie kippt, abstürzt und ihren Inhalt auf den Teppich ergießt“ (Rahmstorf 2019).
Im Fachjournal Nature warnte Ende 2019 „[e]ine Gruppe von führenden Forschern [unter Beteiligung von Rahmstorf und Schellnhuber]…, dass bei mehr als der Hälfte der 16 Kippelemente das ‚Umlegen des Schalters‘ bereits gefährlich nahe sei“ (Wille 2020) und sprachen von einer „planetaren Notsituation“ (ebd.).
„Klimawandel ist keine Krankheit wie Diabetes, mit der man leben kann; er gleicht eher einem Tumor, den man entfernen muss, bevor er Metastasen [=rückkoppelnde Kipppunkte] bildet“ (Foer 2019, 100).
An dieser Stelle ist vorab noch einmal explizit darauf hinzuweisen, dass die Klimakrise keineswegs für sich alleine steht, sondern wir uns zudem am Anfang oder auch mitten im sog. sechsten Massenaussterben (Mass Extinction) befinden: „Artensterben und Klimawandel sind Zwillingskrisen“ (Baier 2019). Letzteres bedeutet auch, dass Klimakrise und Artensterben sich gegenseitig befördern und verstärken – womit die im Folgenden beschriebenen Kippelemente nochmals an Bedeutung für die Menschheit gewinnen.
>> s.a. Abschnitt Massenaussterben | Biodiversitätsverlust, S. 669ff.
Systematik: 16 Kippelemente (nach PIK 2020)
Eiskörper:
Schmelzen des Arktischen Meereises | Verlust des Grönland-Eispanzers | Kollaps des Westantarktischen Eisschildes | Teilkollaps in der Ostantarktis | Auftauen der Yedoma-Dauerfrostböden | Methan-Ausgasung aus den Ozeanen
Strömungssysteme:
Abschwächung der Atlantischen Thermohalinen Zirkulation | Störung des El Niño-Phänomens | Verlangsamung oder Einrasten der Planetarischen Wellen des Jetstreams | Destabilisierung des Indischen Monsuns | Verlagerung des Westafrikanischen Monsuns mit Auswirkung auf die Sahara | Austrocknen des Nordamerikanischen Südwestens
Ökosysteme:
Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes | Rückgang der Nordischen Nadelwälder (Borealwälder) | Zerstörung von Korallenriffen | Abschwächung der Marinen Kohlenstoffpumpe
Die drei an Land befindlichen Eisschilde – von Grönland, Ostantarktis und Westantarktis – haben gewaltige Ausdehnungen:
„[D]ie beiden antarktischen Eisschilde … erstrecken sich über 14 Millionen Quadratkilometer, das entspricht der Fläche der USA und Mexikos zusammen. … 4 Kilometer hoch türmt sich das Eis an der dicksten Stelle in der Ostantarktis, im Mittel sind es 2 Kilometer“ (Kriener 2019, 8).
Abspann des Films „Chasing Ice“ (2013) mit dem prophetischen Songtext-Zeile „Just a taste of things to come“, gesungen von Scarlett Johannson
>> Eindrucksvoll ist die Film-Doku Chasing Ice von Jeff Orlowski über das per ‚Dauerfotografie‘ sichtbar gemachte Verschwinden des (nördlichen) Polar-Eises, DVD, 2012.
Erwärmung der Arktis: „doppelt bis dreifach so schnell wie der Rest der Welt… Die mittlere Temperatur hoch im Norden liegt bereits zwei Grad höher als noch vor 50 Jahren, in Teilen Alaskas ist es gar bis zu vier Grad Celsius wärmer“ (Evers 2019, 105).
Stefan Rahmstorf:
„Der Arktische Ozean hat in den letzten vierzig Jahren rund drei Millionen Quadratkilometer Eisbedeckung verloren – das entspricht der achtfachen Fläche von Deutschland“ (2020).
Trailer zur Doku Chasing Ice, 2012
Derweil „warnte ein Forscherteam rund um Dirk Notz von der Universität Hamburg 2020, dass der arktische Ozean mit hoher Wahrscheinlichkeit noch vor dem Jahr 2050 in manchen Sommern komplett eisfrei sein könnte“ (Eichhorn 2020a).
Fritjof „Nansens ‚mächtig erstarrtes‘ Polareis ist in Relation zu 1979 um 80 Prozent seines Volumens geschrumpft. Grönland verliert 300 Kubikkilometer Eis pro Jahr… das Schmelzwasser, das allein im Juli 2019 ins Meer geströmt ist, würde ganz Deutschland einen halben Meter fluten“ (Rühle 2020). Der Masseverlust 2019 war noch größer als beim bisherigen Rekordjahr 2012: 530 Mrd. t (vgl. Zeit 2020).
>> 300 Kubikkilometer = 300.000.000.000 Kubikmeter = 300.000.000.000 t = 300 Mrd. t… 1 Kubikmeter Wasser = 1.000 Liter = 1 t
Details zu 'Fritjof Nansens mächtig erstarrtem Polareis'
Spielt auf eine Schilderung des Norwegers Fridtjof Nansen (1861-1930) an, der auf der seinerzeit bahnbrechenden Nordpolarexpedition (1893-1896) gemeinsam mit Fredrik Johansen (1867-1913) versuchte, mittels dem mit Absicht ins Packeis eingefrorenen Schiff ‚Fram‘ (das heute in Oslo zu besichtigen ist) letztlich als erste Menschen den Nordpol zu erreichen. Dieser Idee des Schiff-Einfrierens folgt gewissermaßen die derzeitige, seit 2019 laufende Expedition der ‚Polarstern‘. – Update August 2020: Das Einfrieren in die Scholle ist teilweise ausgefallen: Die ‚Polarstern‘ hat nun den fast eisfreien Nordpol erreicht: „Der Eisbrecher konnte daher [in den letzten Wochen ‚in rascher Fahrt‘] größtenteils im offenen Wasser fahren, wie [der Expeditionsleiter Markus] Rex sagte“ (NDR 2020, vgl. Spiegel 2020b). What would Nansen say? Ein Schiff ist eigenhändig über den Nordpol gefahren.
Ludovico Einaudi: „Elegy For The Arctic“, 2016 – und das Making of: https://youtu.be/IUMog65A-nM (Abrufdatum 14.3.2022)
Josef Zens vom Geoforschungszentrum Potsdam zum Abschmelzen des Eisschilds von Grönland:
„3.800 Tonnen Eis gehen pro Sekunde verloren.“ – „Das sind ungefähr 150 Tanklaster … stellen Sie sich vor, Sie würden pro Sekunde 150 solcher Laster auf der Autobahn überholen“ (Schadwinkel 2018).
Details: Der Name 'Grønland'
Grønland: „Den Namen erhielt das Land ursprünglich von Erik dem Roten, einem isländischen Mörder, der auf die Insel ins Exil verbannt wurde. In der Hoffnung, dass der Name Siedler anziehen würde, nannte er es ‚Grünland‘. Doch laut wissenschaftlicher Forschungen war Grönland vor über 2,5 Millionen Jahren tatsächlich weitgehend grün. Eine neue Studie belegt, dass sich in einer Tiefe von etwa 3 Kilometern unter dem Eis seit Millionen von Jahren uralte tiefgefrorene Erde befindet“ (visitgreenland.com). Die Aussicht, Grönland könne künftig weniger eisig und somit dessen Bodenschätze vermehrt zugänglich sein, veranlasste den 45. US-Präsidenten zu der in Dänemark und Grönland gar nicht gut angekommenen Offerte, Grönland zu kaufen (vgl. Welt 2019).
Eine im August 2020 veröffentlichte Studie der Ohio State University geht davon aus, dass der Grönländische Eisschild verloren ist.
„Um das Jahr 2000 [kippte das System und es] begann die von der Landfläche ins Meer fließende Eis- und Wassermenge beständig anzuwachsen[, wurde also nicht mehr durch den jährlichen Schneefall ausgeglichen]. ‚Der Rückzug der Gletscher hat die Eisdecke in einen ständigen Zustand des Verlusts versetzt‘, sagt auch … Ian Howat, Mitautor der Studie. ‚Selbst wenn das Klima gleich bleiben oder sich etwas abkühlen würde, hätte das immer noch einen Eisverlust zur Folge‘“ (Spiegel 2020a).
Der Autor einer zweiten, im gleichen Zeitraum veröffentlichten Studie,
„Ingo Sasgen[,] möchte sich [bei der Frage, ob der Point of No Return bereits erreicht ist,] nicht festlegen. ‚Es kommt vor allem darauf an, wie sich die Temperaturen weiter entwickeln.‘ … Der Kipppunkt sei überschritten, wenn durch die Erderwärmung Ausnahmejahre wie 2019 zur Regel würden. ‚Wir sind in der Nähe des Punktes, und irgendwann haben wir ihn erreicht‘“ (Jung-Hüttle 2020).
In der Westantarktis ist der Kipppunkt bereits überschritten.
Dazu hält der Atlas der Globalisierung fest:
„Gleich ein halbes Dutzend Forschungsberichte bestätigen es: Die Eismassen des westantarktischen Eisschilds sind instabil geworden und haben einen sogenannten Kipppunkt überschritten. Damit ist ihr Abschmelzen zu einem Selbstläufer geworden“ (Kriener 2019, 8)
Womit bereits jetzt klar ist, dass der Meeresspiegel (innerhalb der nächsten Jahrhunderte) unumkehrbar um ca. 3,5 Meter steigen wird (vgl. S. 102).
Ein Reminder von Klimaforscher Anders Levermann:
„Wenn der westantarktische Eisschild kippt[, was der Stand der Wissenschaft ist], dann verlieren wir Hamburg, Shanghai, Kalkutta, New York, Tokio und so weiter“ (2020).
>> siehe dazu NASA-Video No Turning Back – West Antarctic Glaciers in Irreversible Decline aus dem Jahr 2014 https://youtu.be/W2pYHMx5bN8 (Abrufdatum 25.8.2020) >> Bereits „1978 [schrieb US-Forscher John Mercer] in Nature in weiser Voraussicht, der Verlust des westantarktischen Eisschilds wäre wahrscheinlich die erste desaströse Folge der weiteren Nutzung fossiler Brennstoffe“ (Kriener 2019, 9).
Ein Grund für das rasche Abschmelzen des ‚ewigen‘ Eises liegt in der sog. Eis-Albedo-Rückkopplung:
Weißer Schnee und bzw. weißes Eis reflektieren „einen hohen Anteil der einfallenden Strahlung zurück ins Weltall“ (Nelles/Serrer 2018, 52) – Bei Schmelze kommen vermehrt dunklere Flächen wie Wasser, Schmutz oder Geröll/Gestein zum Tragen = geringere Reflektion >> mehr Eisschmelze >> selbstverstärkend.
Gleiches gilt für das gigantische arktische Polarmeer zwischen Grönland, Nordamerika und Eurasien, das plötzlich im Sommer mehr und mehr eisfrei ist:
„Die Eismassen sind ein riesiger Reflektor, sie werfen einen großen Teil der Sonneneinstrahlung zurück ins All. Wenn im Sommer immer größere Eisflächen abschmelzen, dann fehlt dieser Spiegel. Der unter dem Eis liegende Ozean kann die Wärme der Sonne dagegen perfekt aufnehmen und speichern“ (Kriener2019, 10).
Wohlgemerkt, hier ist das Eis um den Nordpol herum gemeint.
Der Mensch fügt der natürlichen Eis-Albedo-Rückkopplung noch eine anthropogene Variante hinzu:
Das Eis der (vor allem nördlichen) Polarregionen, des Himalaya und der weltweiten Gletscher wird zunehmend (auch unabhängig von der Eis-Albedo-Rückkopplung) schwarz – z.B. durch Industrie- bzw. Feinstaub, Ruß, Waldbrandasche (z.B. von Bränden borealer Wälder), oder – um mal einen natürlichen Vorgang zu nennen: Vulkanasche (vgl. Bojanowski 2015, vgl. Nestler 2019 u. vgl. Eichhorn 2019, 12).
Bezogen auf den Himalaya hält der Atlas der Globalisierung explizit fest:
„Große Flächen Eis und Schneedecke haben sich mittlerweile schwarz verfärbt. … [D]ie Rußpartikel stammen hauptsächlich aus Metropolen Indiens und Chinas … Die Luftverschmutzung beschleunigt also noch die Gletscherschmelze“ (Eichhorn 2019, 12).
Abseits des Eis-Albedo-Effektes und der Verrußung kommt beim Schmelzen von Landeis hinzu, dass die Höhenlinie des Eises sinkt – und somit gerät die Oberfläche des Eises in tiefere und somit wärmere Lagen – was das Schmelzen wiederum verstärkt (vgl. Weiß 2019a).
Gemäß einer „aktuelle[n] Übersichtsstudie [vom April 2020] … wird der Arktische Ozean mit hoher Wahrscheinlichkeit noch vor dem Jahr 2050 in vielen Sommern eisfrei sein – selbst wenn sich die Menschheit noch zu Klimaschutzmaßnahmen durchringen sollte, die diesen Namen verdienen“ (Seidler 2020, vgl. Notz 2020).
Monthly averages from January 1979 – January 2014. Data source via the Polar Science Center (University of Washington). Data visualisation by Andy Lee Robinson. CC by 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
Die Erderwärmung bzw. die Schmelze zieht einen weltweiten Meeresspiegelanstieg nach sich. Bei künftig vollständigem Abschmelzen folgender Eisschilde erhöht der Meeresspiegel wie folgt:
Meeresspiegelanstieg zurzeit 3 cm pro Jahrzehnt, immer stärkere Zunahme (vgl. Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 77)
Die WMO geht 2020 angesichts der beschleunigten Schmelze der grönländischen und westantarktischen Eisschilde von einem Meeresspiegelanstieg von etwa 4,8 mm pro Jahr aus (vgl. Eichhorn 2020b). Ein Jahr zuvor war man noch von fast 4 mm pro Jahr ausgegangen, verbunden mit einer immer stärkeren Zunahme (vgl. Weiß 2019b).
Meeresspiegelanstieg gegenüber vorindustrieller Zeit derzeit: 23 cm. Jährlicher Anstieg nimmt mehr und mehr zu (vgl. Nelles/Serrer 2018, 73)
„Selbst bei striktem Klimaschutz [erwarten die Experten bis zum Jahr 2100 einen Meeresspiegelanstieg] von 27 und 60 Zentimeter“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 63).
Laut IPCC-Sonderbericht ‚Ozeane und Eis‘, September 2019:
+2 °C = 50 cm Meeresspiegelanstieg bis 2100.
„Derzeit ist die Welt allerdings auf dem Weg zu einer Erwärmung um drei bis vier Grad [Celsius]. Dies würde einen Meeresspiegelanstieg von 84 Zentimetern [bis 2100] bedeuten“ (Stern 2019).
Grönland Juli 2019 = 180 Milliarden Tonnen Eisverlust innerhalb eines einzigen Monats = 0,5 mm Meeresspiegelanstieg, weltweit (vgl. Weiß 2019a)
Grönland, 2019, innerhalb von zwei Monaten Eisverlust = Anhebung des globalen Meeresspiegels um 2,2 cm (vgl. Spiegel 2020a).
Es ist immer wieder frustriert, wie genau die Dinge berechenbar sind, die man nicht ändert.
Hinzu kommt zu alledem noch „die thermische Ausdehnung des sich erwärmenden Meerwassers.“ (Tagesschau 2020)
Naomi Klein skizziert die Lage auf dem Planeten bei einem Meeresspiegelanstieg von einem bis zwei Meter:
„Inselstaaten wie die Malediven und Tuvalu würden im Meer versinken, und viele Küstenregionen in Ecuador, Brasilien und den Niederlanden bis hin zu einem Großteil von Kalifornien und dem Nordosten der Vereinigten Staaten sowie riesige Gebiete von Süd- und Südostasien würden überschwemmt werden. Zu den wahrscheinlich gefährdeten Großstädten zählen Boston, New York, der Großraum von Los Angeles, Vancouver, London, Mumbai, Hongkong und Shanghai“ (2015, 24).
Noch bevor das Meereswasser kommt, drückt das Grundwasser nach oben, sagt Kristina Hill, Professorin für städtische Ökologie an der UC Berkeley:
„In vielen Küstenstädten wird das Grundwasser doppelt so viel Gelände überschwemmen wie die Meeresflut, denn wenn der Meeresspiegel steigt, kann er auch das Grundwasser nach oben drücken“ (zit. in Haas 2020).
Die letzten beiden Absätze lesen sich so nüchtern – vielleicht auch deshalb, weil die Folgen für Menschen und die ganze Menschheit kaum vorstellbar sind.
>> siehe dazu den Abschnitt Konfliktpotenziale der Klimakrise: Armut, Klimakriege, ‚Natur‘-Katastrophen, Flucht, S. 625 und dort speziell den Aspekt Klimaflüchtende, S. 627. >> siehe auch Aspekt Meeresspiegel und die Norddeutsche Tiefebene, S. 138.
In dieser Diskussion um den Meeresspiegelanstieg – sehen wir das doch mal einen Moment lang ganz pragmatisch – bleibt unterbelichtet, dass eine unübersehbare Zahl von Millionenstädten neu gebaut werden müsste. Mit welchem Baumaterial? Mit welcher Energie? Mit welchen Fachkräften? Mit welchem Zeitaufwand? Und wenn die globalen Ozeane nicht (noch mehr als bisher) vollkommen verseucht werden und weiterhin als Lebensraum für uns ernährende Fische etc. dienen soll, dann wären in jeder einzelnen potenziell untergehenden Küstenstadt schon bei den ersten relevanten Überspülungen im Ergebnis sämtliche Chemietanks und sonstige das Wasser verdreckenden Gegenstände umweltkonform rückzubauen bzw. zu beseitigen. Wer wird das machen? Von welchem Geld? Und wohin mit dem Schrott?
Ja, von welchem Geld?: In den USA kriegt man es z.Zt. nicht mal hin, Bohrlöcher von pleite gegangenen Fracking-Firmen zu verschließen, vgl. S. 518f.
‚Gletschersterben‘
Zu benennen sind in diesem Zusammenhang auch noch die frühzeitigen Botschafter der Erderwärmung, die seit Jahrzehnten für jede*n Bewohner*in z.B. der Alpen davon künden, was Sache ist: Die Gletscher.
In diesem Zusammenhang wird der Himalaya des Öfteren ob der großen ‚ewigen‘ Eismassen und aufgrund von 40.000 Gletschern als dritter Pol des Planeten bezeichnet (vgl. Mihatsch 2017, vgl. Eichhorn 2019, 12).
„Das Himalajagletschergebiet ist mit seiner Ausdehnung von 2.400 km [= 100.000 m2 = 12 Mal so groß wie Deutschland] das größte Inlandgletschergebiet der Welt außerhalb der Pole und ein wichtiges Süßwasserreservoir“ (Gonstalla 2019, 69; Zahl vgl. Mihatsch 2017).
Alles hängt mit allem zusammen: Das zunehmende Abschmelzen des Eises der Region beeinflusst den Monsunregenfall. So kommt es dort „[i]n der Monsunsaison … inzwischen vermehrt zu Überflutungen und Erdrutschen, in der Trockensaison zu Wasserknappheit“ (Gonstalla 2019).
Ähnliches gilt für die Gletscher der Anden in Südamerika. So ist „dokumentiert…, dass die Schneefallgrenze in den tropischen Anden im Laufe des 20. Jahrhunderts um durchschnittlich 45 Meter gestiegen ist… Der letzte Gletscher Venezuelas wird wahrscheinlich ‚bis 2021‘ verschwunden sein, bis 2050 dürften in der gesamten Region nur noch einige der größten und höchstgelegenen Gletscher übrigbleiben… 61 Prozent der Wasserversorgung von La Paz[, dem Regierungssitz Boliviens mit zwei Mio Einwohner*innen,] speist sich gewöhnlich aus Schmelzwasser, in trockenen Jahren sogar bis zu 85 Prozent“ (Gouverneur 2020, 4).
Und:
„Viele Berggipfel weltweit bröckeln zusehends, da das Eis, das sie zusammenhält, schmilzt und es dadurch vermehrt zu Lawinen sowie zu Steinschlägen und Bergstürzen kommt… Viele alpine Wander- und Klettertouren gelten bereits als zu gefährlich, insbesondere im Sommer, und wurden aus Wanderführern genommen“ (Maxton 2020, 45; vgl. Spiegel 2020c).
Womit z.B. der alpine Tourismus über den Ausfall der Skisaison vor weiteren, für Außenstehende durchaus unerwarteten Herausforderungen steht.
Der Karikaturist Thomas Plaßmann fasst das Gletschersterben unter der Überschrift „Sag zum Abschied leise Servus“ wie folgt: Ältere Dame ächzt: „Eine Gletscherwanderung?“ – Ihr Mann dazu: „Komm! Die fünf Minuten haben wir noch.“ (Quelle)
Quellen des Abschnitts ‚Ewiges‘ Eis und Meeresspiegelanstieg
Eichhorn, Christoph von (2019): „Das große Tauen: Wenn die Gletscher Tibets weiter schrumpfen, drohen stromabwärts Dürren und Ernteausfälle“. In: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 12-15.
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: Beck.
Ausdehnung von Permafrost auf der Nordhalbkugel Quelle: Flickr (2016): Permafrost extent in the Northern Hemisphere; ursprl. Hugo Ahlenius, UNEP/GRID-Arendal Lizenz: CC BY-NC-SA
= 1/5 der weltweiten Landmassen = darunter annähernd 2/3 des gesamten russischen Territoriums (vgl. Bigalke 2020a)
Definition ‚Permafrost‘:
Permafrost[boden] ist ein „Untergrund, welcher über mindestens zwei Jahre hinweg Temperaturen von 0° oder weniger aufweist“ (Nelles/Serrer 2018, 62).
>> Die 110 km nördlich des Polarkreises liegende Kleinstadt Werchojansk (67° 33′ N, 133° 23′ O), meldet im Juni 2020 einen neuen Temperaturrekord: 38 °C (vgl. Bigalke 2020a), „gut 18 Grad mehr als üblich in diesem Monat“ (Evers 2020) – an zehn Folgetagen (vgl. Müller-Hansen/Rodemann 2020). Bisherige Maximaltemperatur im Januar: -44,7 °C, jährliche Durchschnittstemperatur: -10,2 °C (vgl. wikipedia 2020b). „Werchojansk gilt neben Oimjakon mit einer Tiefsttemperatur von -67,8 °C als Kältepol aller bewohnten Gebiete der Erde“ (ebd.).
>> „[O]hne den Klimawandel wäre die sibirische Hitzewelle quasi unmöglich gewesen [und wäre höchstens alle 80.000 Jahre vorgekommen (vgl. Spiegel 2020a)]. Laut World Weather Attribution (WWA), einem internationalen Projekt unter Beteiligung der Universität Oxford, hat der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit für so hohe Temperaturen in Sibirien um mehr als das 600-Fache erhöht. Eine ähnliche Hitzewelle wäre vor 30 Jahren noch zwei Grad kühler ausgefallen“ (Müller-Hansen/Rodemann 2020, vgl. World Weather Attribution 2020, vgl. Eichhorn 2020).
>> zu aktuellen Forschungen, welchen Anteil der Klimawandel an Wetterereignissen hat siehe Website der World Weather Attributionhttps://www.worldweatherattribution.org/ (Abrufdatum 28.8.2020)
Permafrostboden (auch: Yedoma-Dauerfrostboden) ist oft von einer dünnen Humusschicht bedeckt und ansonsten ein wilder Mix aus Erde, Pflanzenresten und gefrorenen Tierkadavern, besiedelt teilweise von Borrealem Nadelwald, der nur existieren kann, wenn der Boden fest bleibt:
>> „Borealer Nadelwald … ist der Oberbegriff für Welt der kaltgemäßigten Zone [Taiga]“ (wikipedia 2020a).
„Teilweise sinken bereits (jetzt) in ganzen Waldstücken die Bäume um, weil sie im aufgeweichten Boden keinen Halt mehr finden“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 58).
Mehrere Jahre wurde nur über eben diese sogenannten ‚betrunkenen Bäume‘ berichtet, doch geht es um viel mehr:
Kommt der Boden ins Schwanken, brechen die Rohre1, Pipelines, Straßen, Fundamente, ganze Industriekomplexe, Tanklager2, Eisenbahngleise, Rollbahnen, „Minen werden geflutet, Felder verderben“ (Bigalke 2020b). – es kommt bereits jetzt zu großen Infrastruktur-Schäden, die künftig weiter stark zunehmen werden, sodass zukünftig ganze Regionen und Städte mutmaßlich aufgeben werden müssen.
Eine Studie geht 2020 von gefährdeter industrieller Infrastruktur im Wert von 84 Mrd. US-Dollar aus: „Wohnhäuser sind da noch gar nicht mit eingerechnet“ (Bigalke 2020a).
Details: Erläuterungen zu Aspekten 1 'Rohre' und 2 'Tanklager'
1 Auch auf Island verbiegen und verkanten bereits Abwasserrohre, hier allerdings, weil „[d]urch die Schmelze der schweren Gletscher auf der Insel … sich auch die Landmasse gehoben [hat]“ (Maxton 2020, 40).
2 Ende Mai 2020 berstete auf der russischen Arktik-Halbinsel Taimyr unweit der sibirischen Stadt Norilsk etwa 300 Kilometer nördlich des Polarkreises der Tank eines Wärmekraftwerkes, sodass 20.000 t Diesel in die umliegenden Böden und Flüsse ausliefen. Anfang Juli 2020 ist die Rede von einem „verseuch[t]en Gebiet, halb so groß wie Deutschland“ (Rühle 2020). In dem kaum erschlossenen Gebiet mit nur wenigen Straßen in der Arktis könne man „nur in den kurzen Sommerperioden arbeiten“ (Clasen 2020, 7), sodass die Katastrophe nicht besonders effektiv einzudämmen ist. „Das Firmengelände, das auf Permafrostboden gebaut sei, leide unter dem von Klimaveränderungen hervorgerufenen Auftauen auch tieferer Schichten des Bodens. Aus diesem Grund hätten sich die Träger des Dieseltanks nicht mehr stabil halten können“ (ebd.).
„Wissenschaftler der finnischen Universität Oulu prognostizieren, dass bis 2050 3,6 Millionen Bewohner der Arktis von den Folgen des schwindenden Permafrostes betroffen sein werden, drei Viertel der derzeitigen Bevölkerung. 1.200 Siedlungen stehen auf gefährdeten Böden, darunter Großstädte wie Jakutsk in Russland sowie 100 Flughäfen. 45 Prozent der arktischen Öl- und Gasinfrastruktur Russlands stehen auf Permafrostböden, die immer instabiler werden“ (Thelen 2019, 87).
„Ganze Inselgruppen, die aus Permafrostboden bestanden, sind bereits ohne jede Spur in der Arktischen See verschwunden“ (Langer 2019).
Im Permafrost eingelagerte Abfälle – und das dürften angesichts der gängigen Praxis der Sowjetunion eine ganze Menge sein – vergiften „Boden und Wasser…, wenn es taut“ (Bigalke 2020a).
Tipp: Min 5:20 – eine in den Permafrost gehauene Höhle zeigt, wie der Boden zusammengesetzt ist. www.youtube.com/watch?v=-4NW_jeom-E Russland: Das Ende des Permafrosts | Weltspiegel-Beitrag = gekürzte Version des Filmes Klimafluch und Klimaflucht von Thomas Aders (2018), siehe ARD Mediathek (siehe hier insbesondere Min 22ff wg einen heftiger Krater-Erosion (Batagaika-Krater in Sibirien) beim Tauen des Permafrostes)
Und dann gibt es da noch in Jakutien ‚Das Tor zur Unterwelt‘, wie es die Einheimischen nennen: eine riesige Absackung, die aussieht wie das gigantische Relief einer Kaulquappe – ein Krater, der immer größer wird. „In Folge von Straßenbauarbeiten in den [19]60er Jahren wurde ein kleines Waldstück gerodet. [Damit war die den Permafrost vor direkter Sonneneinstrahlung schützende Bodenschicht entfernt.] Das war der Beginn einer radikalen Erosion des darunter liegenden Permafrostbodens“ (Aders 2018). Heute hat der Batagaika Megaslump eine Länge von 1,5 Kilometern, ist etwa 1 Kilometer breit und bis zu 100 Meter tief (vgl. ebd.). Er ist nach meinem Kenntnisstand bislang der einzige Krater dieser Dimension.
Taut der Boden vermehrt, dauerhaft und/oder in tieferen Lagen auf, beginnen zudem massive Zersetzungsprozesse:
„Organisches Material, Pflanzenreste vor allem, Jahrtausende im Permafrost tiefgekühlt, werden nun für Mikroorganismen zugänglich. Bakterien etwa können die aufgetaute Biomasse abbauen. Es kommen Stoffwechselprozesse in Gang, die Kohlendioxid [und insbesondere auch Methan] freisetzen“ (Langer 2019).
Hier lagert und lauert die eigentliche CO₂- und Methan-Zeitbombe – und diese hat eine vollkommen andere Potenz als sämtliche anthropogene CO₂-Emissionen seit Beginn der Industrialisierung:
„Grob geschätzt ruht dort im Untergrund etwa doppelt so viel Kohlenstoff, wie in der Atmosphäre enthalten ist“ (Charisius 2019).
Anderen „Schätzungen zufolge enthält der Permafrostboden der Arktis dreimal so viel Kohlenstoff wie wir derzeit in der Atmosphäre haben“ (Seidler 2019).
„Allein im obersten [und wohl am schnellsten auftauenden] Bereich der Permafrostböden stecken rund 1.500 Milliarden Tonnen Kohlenstoff und damit rund doppelt so viel, wie es derzeit in der gesamten Erdatmosphäre gibt“ (Wille 2020).
Die Schätzungen sind also eher unpräzise – aber keine von ihnen ist beruhigend.
In der gleichen Weltregion sind auch die Tiefseeböden bislang i.d.R. gefroren gewesen:
„Am Grund des arktischen Ozeans lagern 50 Milliarden Tonnen gefrorenes Methan.“ „Das entspricht [zusätzlich zu den Permafrostböden] einer Potenz von einem globalen Temperaturanstieg um zusätzliche 1,3 Grad“ (Thelen 2019, 86).
Lange Zeit galt der Kipppunkt ‚Permafrost‘ als erst in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts relevant.
Das ist ein Grund, weshalb man das Svalbard Global Seed Vault (dt: Saatgut-Tresor auf Svalbard), „eine Art biologisches Bankschließfach“ (Seidler 2017), eine Rückversicherung für das pflanzliche Leben auf der Erde mit der größten Sammlung von [rund 900.000] Saatgutproben „nahezu alle[r] Staaten der Welt“ (Hinrichs 2016), genau hier ohne technische Kühlung im ‚ewigen Eis‘ auf Spitzbergen und nicht woanders gebaut hat. Man war sich seiner Sache also sehr sicher.
Doch: Wenn sich Klimaforscher*innen zu korrigieren haben, dann i.d.R. zu noch dramatischeren Ergebnissen. Die Süddeutsche Zeitung hält dazu im Juni 2019 fest:
Die UN hat den auftauenden Permafrost „als eines der gravierendsten Umweltprobleme der Menschheit identifiziert“ (Charisius 2019).
„In der Arktis weicht der Permafrostboden derzeit mit ungeheurer Geschwindigkeit auf. Messungen zeigen, dass in einigen kanadischen Regionen der Boden bereits so stark abgetaut ist, wie Experten es eigentlich erst für das Jahr 2090 erwartet hatten“ (ebd.).
Womit auch auf Spitzbergen das im permanenten Frost angelegte pflanzliche Gen-Backup der Menschheit gefährdet ist und in dessen Anlage z.B. 2017 vermehrt Schmelzwasser eindrang (vgl. Seidler 2017).
Graeme Maxton erwähnt, das die globale Methankonzentrationen seit 2014 auffällig deutlich gestiegen seien, was daran liege, „dass die Permafrostböden im Norden Kanadas und in Sibirien aufzutauen beginnen“ (2020, 31) – sodass folglich der Auftauprozess auch bereits unmittelbar in der Atmosphäre messbar ist. Aber auch „die zunehmende Fracking-Praxis“ (2020, 31) trage dazu bei.
Diese globalen Vorgänge rund um Eisschmelze und Permafrost sind auch räumlich nicht so weit entfernt, wie es sich für uns Europäer*innen anfühlt:
„Von Berlin bis zum nördlichen Polarkreis sind es lediglich rund 1.500 Kilometer – die Arktis ist uns näher als Madrid: Wir sind sehr nah dran am Klimawandel“ (Langer 2019).
Und noch ein Aspekt im Sinne von ‚Alles hängt mit allem zusammen‘:
„In den Permafrostgebieten der Erde ist doppelt so viel Quecksilber gespeichert wie in allen anderen Böden und der Atmosphäre zusammen“ (Götze 2018).
Schmilzt der Permafrost, gelangt dieses Quecksilber (laut Spiegel: 800.000 Tausend Tonnen) ins Grundwasser und ins Meer – und von dort aus in die Nahrungskette: „Die zusätzliche Belastung durch den Metallaustrag aus den getauten Permafrostböden könnte gar dazu führen, dass es bedenklich und gefährlich wird, Fisch zu essen… Weltweit ernähren sich allein drei Milliarden Menschen hauptsächlich von Fisch“ (ebd.; Spiegel = Thelen 2019, 87).
>> Jarchau spricht von mehr als einer Milliarden Menschen die auf „[d]as Meer … [als] die größte Nahrungsquelle der Welt … direkt angewiesen sind“ (2019; vgl. Aspekt Ernährung der Weltbevölkerung, S. 623).
>> vgl. Aspekt Ozeane: Erwärmung, Versauerung, Leben im Meer, Überfischung und Verschmutzung, S. 115.
Update Juli 2019:
Die Erderwärmung begünstigt Torfmoorfeuer in der Arktis und beeinflusst negativ den Permafrost (vgl. Fischer 2019).
„[D]ie Saison, in der es brennt, dauert mit den Jahren immer länger.“ (Vallentin 2020)
Update August 2019:
„Waldbrände so nah am Polarkreis beschleunigen laut Greenpeace Russland das Auftauen von Permafrostböden, die gigantische Mengen gefrorene Biomasse enthalten. … Außerdem bedeckten Rußpartikel Eis- und Schneeflächen“ (Zeit 2019).
Wärme begünstigt Feuer begünstigt Rußbildung auf (dann schwarzem) Eis begünstigt Schmelze begünstigt Wärme begünstigt…
Greenpeace-Aktivist Anton Beneslavsky:
„[E]s gibt keine großflächige Brandbekämpfung. Diese ist den Verantwortlichen in Moskau zu teuer, sie sehen sie als ‚wirtschaftlich unzumutbar‘… Neun von zehn Bränden entstehen durch menschliches Handeln – das kann vom Wegwerfen eines Zigarettenstummels bis hin zu krimineller Brandstiftung reichen… 90 Prozent der Wälder, die derzeit in Flammen stehen, liegen in sogenannten ‚Kontrollzonen‘: Bei Bränden, die in solchen Zonen auftreten, sind Regionalregierungen gesetzlich nicht dazu verpflichtet, einzugreifen, wenn keine lebensbedrohliche Gefahr besteht“ (2019).
„Der größte Teil der Brände aber wird sich selbst überlassen. Das ist eine bewusste Entscheidung, die auch Staaten anderer subarktischer Gebiete, wie Kanada, bereits vor zehn Jahren getroffen haben“ (Vallentin 2020).
Tatjana Popowa, die Leiterin des Dorfsowjets von Artjugino im in der Taiga befindlichen Bezirk Bogutschany in Krasnojarsk in Russland:
„Wenn früher der Blitz in einen Baum fuhr, brannte der Baum. Jetzt brennt nicht nur der Baum, sondern auch noch all das Holz, das seit mehr als einem Jahr am Boden liegt und völlig ausgetrocknet ist. Das flammt sofort auf, die Brände breiten sich unglaublich schnell aus. Früher … haben wir die gerodeten Flächen geräumt und dann neue Bäume gepflanzt. Heute holen sich die Privatunternehmer nach Belieben das erste Holz, und dann lassen sie alles andere liegen“ (2020).
Update Juni 2020:
„Auch in diesem Jahr brannte laut Greenpeace bereits eine Fläche so groß wie Griechenland, Wälder und Steppe“ (Bigalke 2020a), was Alex Rühle ergänzt um die Aussage, dass es dort „[z]war … auch in früheren Sommern viel gebrannt [hat], aber in den vergangenen 18 Monaten … mehr Kohlendioxid freigesetzt [wurde] als in den 16 Jahren zuvor“ (2020).
Update Juli 2020:
„Das nördlichste zurzeit aktive Feuer befinde sich weniger als 8 Kilometer vom Arktischen Ozean entfernt, so die [Weltwetterorganisation] WMO. Auf russischen Satellitenaufnahmen seien am 22. Juli 188 wahrscheinliche Brandherde zu sehen gewesen“ (taz 27.7.2020, 9).
„In den Jahren vor 2019 … haben sich die Brände [üblicherweise] südlich des Polarkreises ereignet … Aktuelle Satellitendaten zeigen, dass das Ausmaß der Brände 2020 sogar die ungewöhnlich hohe Aktivität des vergangenen Jahres übertrifft“ (Vallentin 2020).
„Die Auswertung von Holzkohle in Sedimentbohrkernen legt nahe, dass die Zunahme der Feuer in den borealen Wäldern ein seit mindestens 10.000 Jahren einmaliges Niveau erreicht hat“ (Rahmstorf 2020).
Update September 2020:
„Die Wald- und Buschbrände in der Arktis haben laut Klimaexperten schon bis Ende August 2020 mehr Kohlendioxid freigesetzt als im gesamten Vorjahr. Allein die Feuer am Polarkreis bliesen von Januar bis Ende August 244 Megatonnen CO₂ in die Atmosphäre. 2019 waren es über das ganze Jahr betrachtet 181 Megatonnen… Die Forscher gehen … davon aus, dass in vielen Fällen sogenannte Zombie-Feuer [also Feuer, die im Winter im Torfboden ‚überwintert‘ haben] die Ursache sind“ (Spiegel 2020b).
>> vgl. auch Aspekt (globale) Waldbrände, S. 135f.
Aders, Thomas (2018): „Klimafluch und Klimaflucht – Massenmigration – Die wahre Umweltkatastrophe“ [Prof. Dr. Yadvinder Malhi, Ecosystem Sciences, Oxford, im Gespräch]. In: ARTE, 13.11.2018, online unter https://www.dw.com/de/klimaflucht-die-wahre-umweltkatastrophe/av-48537071/ (Abrufdatum 24.06.2019), ab Minute 22.
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: Beck.
Photosynthese wandelt CO₂ in Sauerstoff (O₂) um (>> daher die Bezeichnung der Regenwälder als die ‚Lungen unseres Planeten‘).
Bäume sind langjährige Kohlenstoff-Speicher (=das nach der Photosynthese verbleibende ‚C‘).
Rodung gibt CO₂ direkt und sofort in die Atmosphäre.
Plantagen-Pflanzen speichern viel weniger Kohlenstoff C – die Pflanzen sind meist saisonal und geben ihren gespeicherten Kohlenstoff C als CO₂ schnell wieder zurück in die Atmosphäre.
Entwaldung = Bodenerosion, Veränderung des Mikroklimas, Eingriff in Wasserkreislauf, Vernichtung von Lebensräumen und Biodiversität = massiver Beitrag zum sechsten Massenaussterben
Franz Alt:
„Die Hälfte der Regenwälder, die die Lungen unseres Planeten sind, haben wir in den letzten Jahrzehnten bereits vernichtet … wir zerstören … unsere eigene Lebensgrundlagen. Unsere Erde lebt nur noch mit einem Lungenflügel“ (2020, 113).
„Zwischen 1990 und 2020 sind laut den Daten der FAO [Food and Agriculture Organization of the United Nations = Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen] etwa neun Prozent aller Urwälder verschwunden – und zwar auf allen Kontinenten“ (Müller-Hansen/Rodemann 2020).
Die Welt verlor allein 2018 eine Fläche von 12 Mio Hektar Regenwald – „das entspricht ungefähr der Fläche Englands“ (Fedrich 2020, 74).
„Im Juni [2019] verschwand [in Amazonien] jede Minute ein Waldgebiet von der Größe eines Fußballfeldes. Trotz des geltenden Soja-Moratoriums. Und trotz freiwilliger Selbstverpflichtungen der globalen Konsumgüterkonzerne wie Nestlé und Unilever“ (Greenpeace 2019).
„Ca. 28% der jährlichen CO2-Emissionen werden von den Wäldern aufgenommen“ (Gonstalla 2019, 14).
„Durch Abholzung des Regenwaldes und vor allem durch Brandrodung werden jährlich 10-15% der weltweit emittierten Treibhausgase freigesetzt“ (ebd., 48).
„[Z]wischen 1980 und 2000 entstand mehr als die Hälfte der neuen landwirtschaftlichen Nutzflächen in den Tropen durch die Abholzung von Wäldern, zwischen 2000 und 2010 waren es sogar geschätzte 80 Prozent. Zwei Länder, Indonesien und Brasilien, waren für über 50 Prozent dieses Tropenwaldverlustes verantwortlich. Dabei ist gerade in den tropischen Ländern Asiens und Lateinamerikas die Anzahl und Vielfalt der Insekten besonders hoch. Wichtigste Gründe für die Abholzung: neue Weideflächen für Rinder, Plantagen für die Palmölproduktion und Rohstoffvorkommen dicht unter der Oberfläche“ (Chemnitz 2020, 15).
„In Brasilien liegen rund 60 Prozent des tropischen Regenwaldes weltweit“ (Spiegel 2020a).
Rodung im Amazonasgebiet läuft nicht, wie sich das Viele vorstellen per Streichholz ab, sondern isti.d.R. ein geplanter und Logistik-intensiver Prozess. Der Geologe Pedro Luiz Côrtes dazu:
„Als Erstes werden [die wertvollen] Bäume gefällt, dadurch floriert nebenbei der illegale Holzhandel. Danach wird das Gehölz mit Traktoren und Bulldozern niedergerissen. Und schließlich wird in der Trockenphase … durch Brände die Endreinigung vorgenommen … [Das bedeutet auch: E]in großer Teil des Schades passiert bereits vorher“ (2020, 9) – So wird versucht, „öffentliches Land im Regenwald in Privatland umzuwandeln und professionell auszubeuten“ (ebd.).
Über die Situation in Brasilien ist im Herbst 2019 im Spiegel zu lesen:
„‚Unter [dem seit Anfang 2019 amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair] Bolsonaro ist die Abholzung explodiert‘, sagt Tasso Azevedo von der Umweltschutzorganisation Observatorio do Clima. … [Wenn das so weiter geht,] könnte der Amazonasurwald nach Ansicht von Experten bereits Ende dieses Jahrzehnts unwiederbringlich verloren sein. … [Man schätzt,] dass der ‚Tipping Point‘, an dem sich der Urwald in Savanne verwandelt, erreicht ist, wenn 25 Prozent zerstört sind. Knapp 20 Prozent sind bereits vernichtet.
‚Der Regenwald ist ein geschlossenes System‘, sagt [der von Bolsonaro entlassene Direktor des Raumfahrtinstituts INPE, das in Brasilien für die Satellitenüberwachung des Regenwaldes zuständig ist Ricardo] Galvão. ‚Er muss eine große Fläche bedecken, damit er existieren kann‘. Wenn der Wald zur Steppe wird, falle auch im dichtbesiedelten Südosten Brasiliens weniger Regen, so Galvão: ‚Wenn wir den Amazonas verlieren, gibt es [mangels Regen] auch keine Landwirtschaft mehr‘“ (Glüsing 2019).
Update Juni und Juli 2020:
Im ersten Quartal 2020 wurden in Brasilien über 1.000 qm Regenwald gerodet – das sind 55% mehr als im Vorjahreszeitraum (vgl. Zeit 2020a).
Für Juli 2020 stellt der Spiegel fest, dass Covid-19 das Thema aus den Schlagzeilen verdränge, jedoch „die Situation in Brasilien nun noch dramatischer als zur gleichen Zeit im vergangenen Jahr“ (2020b):
„[I]m Juli dieses Jahres [wurden] 6.804 Feuer registriert, 5.318 waren es im Juli 2019. Das entspricht einem Anstieg um 28 Prozent“ (ebd.).
Update August 2020: 7.766 Feuer (Zeit 2020b)
>> s.a. im Zusammenhang ‚Rodungen für Massentierhaltung‘ auch Abschnitt Fleisch, Fisch & Ernährung, S. 549 >> s.a. Aspekt Waldbrände Amazons & global, S. 135
„Unser Haus brennt. Buchstäblich. Der Amazonas-Regenwald – die Lunge, die 20% des Sauerstoffs unseres Planeten produziert – brennt.“
Emmanuel Macron, August 2019
Quellen des Abschnitts Regenwälder
Alt, Franz (2020): Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt: Schützt unsere Umwelt. [Der Dalai Lama im Gespräch mit Franz Alt]. Benevento.
Chemnitz, Christine (2020): „Insektensterben global: Eine Krise ohne Zahl“. In: Insektenatlas, Januar 2020, S. 14-15.
Côrtez, Pedro Luiz (2020): „‚Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit‘“. [Niklas Franzen interviewt Pedro Luiz Côrtez]. In: tageszeitung, 11.08.2020, S. 9.
Fredrich, Benjamin (2020): 102 grüne Karten zur Rettung der Welt. Katapult/Suhrkamp.
Nordatlantikstrom als Teil der Atlantic Meridonal Overturning Circulation (AMOC); auch: Atlantische Thermohaline Zirkulation
Die AMOC ist ein sehr komplexes Naturphänomen, bei dem aber mittlerweile davon ausgegangen wird, dass der Atlantikstrom heute um etwa 15% abgeschwächt ist (vgl. Rahmstorf zit. in Ehring 2018).
„Angetrieben wird dieser Strom vor allem von dem dichten und schweren Salzwasser, das vor Grönland in die Tiefe sinkt. Wird dieses Wasser nun durch genug [geschmolzenes] Süßwasser verdünnt, dann könnte sich der Golfstrom [weiter] abschwächen…“ (Evers 2019, 110).
„Modellsimulationen zeigen, dass sich die AMOC durch den Anstieg der menschengemachten Treibhausgasemissionen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um 11 bis 34% abschwächen könnte“ (Nelles/Serrer 2018, 75).
Schwächt sich die AMOC ab oder würde sie ganz ausfallen, würde es im nördlichen Atlantikraum zu einer relativen (!) Abkühlung kommen, aber:
„Die Südhalbkugel würde sich dafür umso stärker erwärmen“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 67), weil ja die Wärmeenergie nicht mehr nach Norden transportiert wird, sondern vor Ort bliebe.
Update September 2020:
Zwei neu erschienene Studien bestätigen die Abschwächung. Und: „[D]ie neueste Generation (CMIP6) der Klimamodelle [zeigt]: Wenn wir die Erderwärmung weiter vorantreiben, wird sich die Golfstromzirkulation weiter abschwächen – um 34 bis 45 Prozent bis zum Jahr 2100. Damit könnten wir dem Kipppunkt, ab dem die Strömung instabil wird, gefährlich nahe kommen“ (Rahmstorf 2020).
Evers, Marco (2019): „Planetare Notlage“. In: Der Spiegel, 50/7.12.2019, S. 108-110.
Nelles, David u. Serrer, Christian (2018): Kleine Gase – große Wirkung. Der Klimawandel, s. a. www.klimawandel-buch.de.
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: Beck.
Ozeane: Erwärmung, Versauerung, Leben im Meer, Überfischung und Verschmutzung
Ozean-Erwärmung:
Die Ozeane haben zwischen 1971 und 2010 „93% derjenigen [Wärme-]Energie aufgenommen, die durch den menschengemachten [=anthropogenen] Klimawandel zusätzlich auf der Erde gehalten wurde“ (Nelles/Serrer 2018, 68). Das bedeutet, dass nur die Tatsache, dass der blaue Planet zu einem Großteil aus Ozeanen besteht, die bisherigen Landtemperaturen nicht gänzlich ‚explodieren‘ lassen hat. Die Ozeane sind eine gigantische Wärmeenergie-Senke.
Oberflächenwasser der Weltmeere im Durchschnitt seit 1955: +0,6 Grad Celsius (laut Greenpeace, vgl. Baier 2019)
„In den oberen zwei Metern der Weltmeere wird so viel Wärme absorbiert wie in der gesamten Atmosphäre.“ (Hewitt 2023)
Bis etwa 3.000 Meter Tiefe haben sich die Ozeane „bereits deutlich erwärmt“ (laut Greenpeace, vgl. Baier 2019).
Ozean-Versauerung:
Die Ozeane fungieren bislang nicht nur als Wärmeenergie-, sondern auch als ebenso bedeutsame ‚CO₂-Senke‘ und speichern viel von den jährlichen anthropogenen CO₂-Emissionen. („22%“ = Nelles/Serrer 2018, 68; „ungefähr 1/4“ = Latif 2014, 174)
Der Meteorologe und Klimaforscher Mojib Latif hält fest: „Seit Beginn der Industrialisierung haben die Ozeane fast die Hälfte des von den Menschen durch das Verbrennen der fossilen Brennstoffe in die Luft gepustete CO₂ geschluckt“ (Latif 2014, 174).
„Meere absorbieren Kohlenstoff, indem an der Wasseroberfläche Kohlendioxidgas mit Wassermolekülen reagiert. Dabei wird Wasserstoff freigesetzt, wodurch die Versauerung der Ozeane zunimmt“ (Atlas der Globalisierung 2019, 3).
„Insgesamt ist in den Meeren … mehr als fünfzig Mal so viel CO2 gespeichert wie in der Atmosphäre“ (Gonstalla 2019, 15).
Es gilt: Je mehr gesättigter (=saurer!) das Meer mit CO₂ ist, desto geringer das weitere CO₂-Speicher-Vermögen (vgl. Latif 2014, 174).
„[D]er durchschnittliche pH-Wert der Meeresoberfläche [ist] von 8,2 auf 8,1 gesunken. Dieser winzige Schritt auf der logarithmischen pH-Skala entspricht einem Anstieg des Säuregehalts um 30 Prozent“ (Baier 2019).
Über ein Zuviel an CO2 im Meer der Meteorologe und Klimaforscher Mojib Latif:
„Kohlendioxid ist … nicht nur ein Klimakiller, sondern vor allem auch ein Umweltgift.“
Die Ozeanversauerung stellt schon für sich allein ein extrem großes Risiko für das gesamt Ökosystem im Meer dar.“
„Eine zu starke Versauerung könnte dem Leben im Meer im wahrsten Sinne des Wortes den Garaus machen“ (Latif 2014, 175, 177, 251).
Versauerung = niedrigerer PH-Wert = ‚Entkalker‘ = dünnere Schalen/Skelette beiMuscheln, Schnecken, Krebse, Korallen etc. (en détail: Latif 2014, 175ff.)
Latif dazu: Die im Meer lebenden Organismen, die Photosynthese betreiben – vor allem pflanzliches/bakterielles (Phyto-)Plankton, aber auch Korallen und allgemein Meerespflanzen –, produzieren 50% unseres globalen Sauerstoffgehalts (ebd., 288) – das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie „genauso viel Kohlenstoff wie sämtliche Landpflanzen zusammen“ (ebd., 289) binden. „Die lebende Biomasse im Ozean beträgt allerdings nur etwa ein Zweihundertstel der in Landpflanzen enthaltenen Biomasse“ (ebd.) – Folglich sind die Organismen im Meer also wesentlich effizienter (Faktor 200).
Alles in allem:
„Ohne die Meere geht auch biologisch betrachtet auf Land nicht viel, zumindest wenn es sich um sauerstoffbasiertes Leben handelt“ (ebd., 290).
Das ist sehr vornehm ausgedrückt für:
Sterben die Meere, stirbt auch der Mensch (und, ja: die Tiere auch).
Doch bevor er stirbt, reist er – der Mensch – aber gerne noch zu sterbenden Orten: ‚Extinction Tourism, ‚Desaster-Tourismus‘ oder auch ‚Last Chance-Tourism‘ gibt es schon länger – er führt viele Menschen in ökologisch stark gefährdete, durch Massentourismus noch mehr bedrohte Gegenden nach Grönland, ins eisige Patagonien – oder zum Great Barrier Reef.
…mehr
Rether 2010, während des Improvisierens am Flügel über „Schlaf, Kindlein Schlaf“:
„Neulich sagt ‘ne Freundin zu mir, sie hätte gehört die Malediven saufen ab wegen der Klimaerwärmung und sie fliegt jetzt noch mal zwei Mal hin, damit sie sichs noch reinziehen kann, sonst sind die weg… was machst Du mit solchen Leuten?“. Frei assoziiert: Ist Katastrophentourismus sozusagen eine Art „extended version“ von dem, was Leute machen, wenn sie Feuerwehreinsätze behindern und Unfallopfer fotografieren?
Überfischung der Meere:
„Nach Schätzungen der Welternährungsorganisation (FAO) sind heute insgesamt 660 bis 820 Millionen Menschen direkt oder indirekt von der Fischerei abhängig. Bis zu zwölf Prozent der Weltbevölkerung leben demnach von diesem Wirtschaftszweig“ (Latif 2014, 292).
„Das Meer ist noch immer die größte Nahrungsquelle der Welt, auf die mehr als eine Milliarde Menschen direkt angewiesen sind“ (Jarchau 2019).
>> Susanne Götze weist derweil darauf hin, dass „sich allein drei Milliarden Menschen hauptsächlich von Fisch [ernähren]“ (2019, vgl. Aspekt Quecksilber im schmelzenden Permafrost, S. 108). >> vgl. Abschnitt Eine zweite gute Nachricht: Ernährung der Weltbevölkerung, S. 620ff.
Aquakulturen sind: Massentierhaltung – und oft große Umweltverschmutzer: Fischmehl, starker Antibiotika-Einsatz (>>Antibiotika-Resistenzen, siehe S. 183), Fischfäkalien, Chemikalien (vgl. Latif 2014, 294)
Aquakulturen = 66 Mio t : ‚Wildfang‘ = 80 Mio t (Zahl der FAO 2012, zit. in Latif 2014, 293)
>> vgl. Abschnitt Fleisch, Fisch & Ernährung, S. 549, Aspekt Fisch, S. 564 ff.
Verschmutzung:
z.B. durch Öl, radioaktive Stoffe, (Mikro-)Plastik, Verklappungen, Kreuzfahrtschiff-Abfall…
„[W]enn die Ozeane zu Schmutzwasser und die Meeresökosysteme kippen würden[, würde] … [d]er Hunger auf der Erde … dramatisch zunehmen“ (Latif 2014, 292-293).
Alle Faktoren setzen sowohl jeweils einzeln für sich genommen als auch als Ganzes Meeresbewohner unter erheblichen Stress, wobei der größte Stressfaktor die Unterwasserhitze ist:
Massive Korallenbleichen sind eine Folge, z.B. beim australischen Great Barrier Reef:
„Das größte Riff, das Great Barrier Reef vor der Ostküste Australiens, erstreckt sich über eine Länge von 2.300 Kilometern und umfasst eine Fläche so groß wie ganz Deutschland. Es ist das größte von Lebewesen erschaffene Bauwerk unseres Planeten“ (Rahmstorf 2019).
„[Z]eitweise [waren im Jahr 2016] 93% der Riffe im Great Barrier Reef in Australien von der Korallenbleiche betroffen und in Flachwasserbereichen im Pazifik starben mehr als die Hälfte der Korallen von Februar bis Oktober 2016 ab“ (Nelles/Serrer 2018, 100).
Definition ‚Korallenbleiche‘: Die auf den Korallen sitzenden Algen sterben ab.
„Ab 1 °C höherer Temperatur als das [bisher normale] sommerliche Maximum gerät die Alge in einen Schockzustand und produziert Gift statt Zucker. Die Koralle stößt dadurch ihren Partner ab und verliert damit ihre Farbe“ (Gonstalla 2019, 73).
„Die Algen geben den Korallen ihr bunt schillerndes Aussehen und dienen ihnen als Nahrungsquelle. Wenn die Wassertemperaturen wieder sinken, haben die Riffe die Möglichkeit, sich zu regenerieren. Wiederholte Bleichen aber… können der Studie zufolge die Korallen selbst abtöten – und zwar binnen Tagen oder Wochen und nicht wie bisher angenommen über Monate und Jahre“ (Zeit 2019). In der Konsequenz löst sich das Korallengerippe in Folge von Hitzewellen innerhalb kurzer Zeit regelrecht auf. (Im März 2020 melden die Medien nach 2016 und 2017 eine weitere massive Korallenbleiche in weiten Teilen des Great Barrier Reef (vgl. SZ 2020, Pötter 2020)).
„Das Ergebnis [des Absterbens] ist ein von schleimigen Algen überzogener, braungrüner Korallenschrott“ (Wälterlin 2020, 4).
Der Zustand des Great Barrier Reef ist laut australischer Regierung „sehr schlecht“ (vgl. Rahmstorf 2019).
>> Arbeitsplätze Reef = 70.000; australische Kohleindustrie „ein paar tausend“ (Wälterlin 2020, 5). „Gäste, die nach einem Schnorchelgang enttäuscht sind von der mangelnden Farbenpracht, werden [von Guides] auch schon mal belehrt, die farbigen Bilder in den Verkaufsbroschüren seien ‚eben mit Photoshop nachbearbeitet‘“ (ebd.).
Allgemein – für alle Korallen(riffe) – gilt:
globale Durchschnittstemperatur = + 1,5 °C = 10-30% aller Korallen könnten überleben (ebd.)
globale Durchschnittstemperatur = +2 °C = Verlust von 99% aller Korallen (Weiß 2019)
Korallenriffverluste haben weitere massive Konsequenzen:
„25% aller Meereslebewesen sind von Korallenriffen abhängig“ (Gonstalla 2019, 61). „[E]ine halbe Milliarde Menschen [ist] auf intakte Korallenriffe angewiesen, weil sie ihre Nahrungsmittelversorgung decken, ihnen ein Einkommen sichern oder die Küsten vor Überschwemmungen schützen“ (Rahmstorf 2019).
Quellen des Abschnitts Ozeane: Erwärmung, Versauerung, Leben im Meer, Überfischung und Verschmutzung
Alles ist mit allem verbunden. Alles hängt mit allem zusammen.
unsplash/Charl Folscher
Spielen wir das mal anhand einer sehr stark vereinfachten und überaus unvollständigen Dominostein-Kaskade durch:
Der schmelzende Permafrost setzt Unmengen Methan und CO₂ frei, die für eine beschleunigte Erderhitzung sorgen, die das ‚ewige Eis‘ vermehrt schmelzen lässt, sodass der Meeresspiegel schnell ansteigt, wodurch das Trinkwasser niedriggelegener Regionen versalzt, womit nicht nur die Trinkwasserversorgung gefährdet ist, sondern auch die Böden und damit die Ernten etc. pp.
Hiermit ist nur eine ganz einfache Kettenreaktion beschrieben – unerwähnt blieb zum Beispiel, dass es durch höhere Temperaturen auch vermehrt in den Polarregionen brennt, die Artenvielfalt des zerstörten Regenwaldes verschwindet, und der Gletscherverlust z.B. in Indien Milliarden von Menschen das Trinkwasser nimmt…
Auch kann es zu Kettenreaktionen kommen, die vielleicht der/dem Nicht-Klimatologe*in ersteinmal weniger nahe liegen:
„Simuliere man [per Klimamodell im Großrechner] … ein komplettes Abschmelzen Grönlands, könnten tropische Regenwälder wie der [des] Amazonas austrocknen.“ „Denn wenn Süßwasser aus der Arktis massenhaft in den Atlantik gelangt, könnte das den Wärmeaustausch durch Meeresströmungen so stark beeinflussen, dass es in Teilen der Tropen weniger regnet. Regenwälder wie der Amazonas könnten trockener werden, Brände hätten leichteres Spiel“ (Müller-Hansen/ Rodemann 2020).
An dieser Stelle möchte ich indezent an die Eiszeit erinnern, die (neben vielem Anderen) die Alpen geformt hat. Was für eine Machtdemonstration der ‚Mutter Erde‘! Kann es etwas Vermesseneres geben, als dieses klimatische ‚Russisch Roulette‘ zu spielen? Finger weg vom Thermostat.
Diese Domino-Effekte sind bislang nicht oder kaum eingetreten – im Gegenteil. Zurzeit ‚helfen‘ uns Erdenbewohner*innen die Ökosysteme noch. Yadvinder Malhi, Ecosystem Sciences, Oxford dazu:
„Bislang verhält sich die Biosphäre quasi wie ein Freund – sie bremst den Klimawandel ab. Etwa 40% des Kohlendioxids, das wir Menschen emittieren, wird von der Biosphäre absorbiert, wodurch der Klimawandel deutlich verlangsamt wird. Eine der großen Sorgen, die wir Wissenschaftler haben, ist die entscheidende Frage: ‚Wie lange wird die Biosphäre noch unser Freund sein?‘ – Es besteht die Gefahr, dass irgendwann in der Zukunft diese Bremse zu einem Gaspedal wird“ (Aders 2018, ab Minute 30).
Stefan Rahmstorf fasst den Sachverhalt in andere Worte:
„Von dem CO2, das wir in die Luft geblasen haben, wurde bislang ein Drittel von den Wäldern aufgesogen und ein Viertel vom Ozean. Nur weniger als die Hälfte ist in der Atmosphäre geblieben. Ohne diesen Effekt wäre die Erderwärmung bereits doppelt so stark ausgefallen. Das bedeutet, die Natur nimmt derzeit netto CO2 auf und setzt es nicht frei“ (2020).
Was passiert, wenn uns die Natur nicht länger ‚hilft‘?
Quellen des Abschnitts Kipppunkte lösen Kipppunkte aus
Aders, Thomas (2018): „Klimafluch und Klimaflucht – Massenmigration – Die wahre Umweltkatastrophe“ [Prof. Dr. Yadvinder Malhi, Ecosystem Sciences, Oxford, im Gespräch]. In: ARTE, 13.11.2018, online unter https://www.dw.com/de/klimaflucht-die-wahre-umweltkatastrophe/av-48537071/ (Abrufdatum 24.06.2019), ab Minute 30.
7 min – Marc Pendzich: Pecha Kucha „Deutschland trägt Verantwortung“, gehalten beim Ratstreffen des Zukunftsrates – Jedes Zehntel Grad, jede Art zählt: Die globale Umweltkrise endlich als Krise behandeln, 3.11.2020 – https://youtu.be/UJ_Ofbm5veM (Abrufdatum 1.12.2020)
Vorangestellt, in a nutshell:
Deutschland stellt 1,1% der Weltbevölkerung, verursacht mit 2,1% Emissions-Anteil das doppelte dessen was Deutschland ‚zusteht‘, belegt mit seinen 84,7 Mio Einwohner*innen1Rang 6 der CO2-Top-Emittenten. Die Klimakrise ist eine Folge der Industrialisierung, sodass Deutschland insgesamt, nach USA, China und Russland, auf Rang 4 liegt. Der G7-Staat Deutschland ist bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – nach den USA, China und Japan – die weltweit viertgrößte Wirtschaftsnation2 – zusammengefasst:
Deutschland ist einer der globalen Hauptemittenten von Treibhausgasen, einer der Hauptnutznießer der Industrialisierung und trägt als eine der größten und damit auch als eine der einflussreichsten Wirtschaftsnationen eine sehr hohe Verantwortung.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Stand Ende 2023 laut Zeit 2024.
2 Das weltweite BIP liegt 2018 bei 84,9 Billionen US-Dollar. „Allein die vier größten Volkswirtschaften der Welt, die USA, China, Japan und Deutschland vereinen mit einem BIP von rund 42,9 Billionen US-Dollar mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung auf sich“ (Statista 2020) Update: Auch 2021 liegt Deutschland mit deutlichem Vorsprung vor Großbritannien auf Platz 4, vgl. Statista 2022.
„Rein physikalisch betrachtet gibt es auf der Erde bislang keinen Klimaschutz. Denn dies würde voraussetzen, dass die jährlichen Treibhausgas-Emissionen sinken, und damit auch [die relative Zunahme des] Gehalt[s] von Kohlendioxid in der Atmosphäre.“ (ebd.)
>> Aufgliederung globaler CO2-Emissionen nach Sektoren siehe S. 90.
87 Prozent der weltweiten Energie stammt aus Öl, Kohle und Gas (vgl. Rosling 2018, 167).
Energiebedingte
CO₂-Emissionen weltweit, 2019: 36,7 Gt CO2 | 2018: 33,1Gt CO₂ (+2,3% gegenüber 2017) (vgl. Eichhorn 2020, Eichhorn 2019a)
Staaten mit den jährlich größten Emissionenvon CO2, Anteile in Prozent, in Klammern: Anteil an der Weltbevölkerung, Territorialitäts-/Produktionsprinzip
China 27,52% (18,9%) | USA 14,81% (4,5%) | Indien 7,26% (17,7%) | Russland 4,68% (1,9%) | Japan 3,18% (1,7%) | Deutschland 2,08% (1,1%) | Iran 1,97% (1,1%) | Südkorea 1,8% (0,7%) | Saudi-Arabien 1,7% (0,5%) | Indonesien 1,68% (3,6%) (Statista 2018 u. Länderdaten 2018)
>> China generiert zwar die meisten Emissionen, doch die USA verantworten im Verhältnis zum Anteil an der Weltbevölkerung mehr als dreifache der ‚zustehenden‘ Emissionen – während Indien in Relation zur Bevölkerung nur sehr wenig Emissionen hat.
Staaten mit den jährlich größten Emissionenvon CO2(!) in absoluten Zahlen: in Gigatonnen (Stand 2016), Territorialitäts-/Produktionsprinzip
China 9,7 Gt CO2 | USA 5,31 | Indien 2,38 | Russland 1,67 | Japan 1,20 | Deutschland 0,802 | Iran 0,638 | Südkorea 0,595 | Saudi-Arabien 0,632 | Indonesien 0,465 (ourworldindata 2019)
Staaten mit den jährlich größten Emissionenvon CO2(!) in absoluten Zahlen: in Gigatonnen (Stand 2016) Verbraucher-/Konsumprinzip(auf Staaten bezogen)
China 8,8 Gt CO2 | USA 5,72 | Indien 2,22 | Russland 1,38 | Japan 1,41 | Deutschland 0,888 | Iran 0,592 | Südkorea 0,635| Saudi-Arabien 0,622 | Indonesien 0,505 (ebd.)
Staaten mit den jährlich größten Emissionenvon CO2e (!) in absoluten Zahlen: in Gigatonnen (Stand 2017), Territorialitäts-/Produktionsprinzip
China 13,0 Gt CO2e | USA 6,51 | [EU-27 3,898] | Indien 2,98 | Russland 2,18 | Japan 1,29 | Brasilien 1,12 | Iran 0,916 | Deutschland 0,914 | Indonesien 0,889 | Südkorea 0,746 | Rest 17,055 | Global 47,6 (vgl. Climatewatchdata 2020; Hinweis: bei Data Source ‚PIK‘ anklicken)
Staaten mit den jährlich größten Emissionenvon CO2(!), Pro-Kopf-Emissionen auf Basis des Territorialitäts-/Produktionsprinzips (Top 10, Stand 2017)
Katar 30,36 t CO2 | Vereinigte Arabische Emirate 20,91 | Saudi Arabien 16,16 | Australien 15,63 | Kanada 14,99 | USA 14,61 | Russland 10,64 | Niederlande 9,08 | Japan 8,94 | Deutschland 8,71
sowie: China 6,68 | Indien 1,61 (Statista 2019)
>> weltweiter Durchschnitt der jährlichen CO2-Emissionen = 4 t CO2 pro Kopf, vgl. Gonstalla 2019, 33
Details: Erläuterungen zu (1)
Es ist immer die Frage, was in die Berechnung eingeht, u.a. CO2 oder CO2e. Das Umweltbundesamt geht bei seinem CO2-Rechner von durchschnittlich 11,17t CO2e pro Person pro Jahr in Deutschland aus, vgl. Abschnitt Individuelles CO2-Budget, S. 71.
Staaten mit den jährlich größten Emissionenvon CO2, Pro-Kopf-Emissionen nach dem Verbraucher-/Konsumprinzip (einige Beispiele, Stand 2016)
Katar 33,2 t CO2 | Vereinigte Arabische Emirate 27,1 | Saudi Arabien 19,3 | USA 17,7 | Kanada 15,8 | Australien 15,6 | Japan 11,1 | Deutschland 10,81 | Russland 9,6 | Niederlande 9 | China 6,3 | Indien 1,7 (wikipedia 2019)
Details: Erläuterungen zu (1)
Es ist immer die Frage, was in die Berechnung eingeht, u.a. CO2 oder CO2e. So sind Methan (Rind!) und Lachgas (Landwirtschaft, Dünger) in dieser Statistik nicht eingerechnet. Das Umweltbundesamt geht bei seinem CO2-Rechner von durchschnittlich 11,17 t CO2e pro Person pro Jahr in Deutschland aus, vgl. Abschnitt Individuelles CO2-Budget, S. 71.
Maßgeblich ist bei Klimastatistiken i.d.R. das Territorialitäts-/Produktionsprinzip. Das bedeutet, dass z.B. die Emissionen eines in China produzierten Fernsehers China zugerechnet werden, obwohl dieser z.B. in Deutschland verkauft und genutzt wird (vgl. Klein 2015, 103).
„Die Bundesrepublik ‚importiert‘ so beispielsweise 42 Prozent ihrer Emissionen, demgegenüber stehen 25 Prozent bei den Exporten. Unterm Strich bleiben Emissionsmengen, die … eigentlich Deutschland angerechnet werden müssten“ (Handelsblatt 2014).
„[P]er Saldo [generiert die Bundesrepublik folglich] etwa 17 Prozent ihrer CO2-Emissionen durch Importe …, die in die Berechnungen zu Klimazielen nicht eingehen, aber zu den gemessenen veröffentlichten CO2-Emissionen von Deutschland hinzukommen“ (Zukunftsrat Hamburg 2020, vgl. auch Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland, S. 76).
Die Verzerrung durch Importe und Exporte fällt besonders im Falle Chinas sehr stark aus. Schon 2005 exportierte China Produkte, deren Herstellung 1/3 der China zugerechneten Emissionen ausmachte (vgl. Weber et al. 2008).
„[E]in beträchtlicher Teil der Emissionen [Chinas] wird … von Fabriken ausgestoßen, die Waren für den Weltmarkt fertigen: Im Jahr 2016 waren es 904 Millionen Tonnen CO2“ (Gonstalla 2019, 36).
(Exporte China >> USA = 400 Mio t CO2; China >> EU = 300 Mio t CO2, vgl. ebd.; um diesen Faktor bereinigt könnte man von Chinas 13 Gt CO2e (s.o.) also rund eine Gigatonne abziehen. Umgekehrt wäre es durchaus sinnvoll, den USA weitere 0,4 Gt Co2e auf ihre Bilanz zu addieren.
Es ist also immer zwischen territorialen Produktions-Emissionen sowie Verbrauch-/Konsum-Emissionen der Bevölkerung eines Staates bzw. der Bevölkerung pro Kopf zu unterscheiden.
Des Weiteren geht auch der Transport all dieser Produkte/Konsumgüter via Schiff oder Flugzeug nicht in die nationalen Bilanzen ein, was angesichts der Globalisierung mit weitverzweigten, ebenfalls globalen Lieferketten weltfremd anmutet.
>> s.a. Aspekt Was nicht in die IPCC-Budget-Rechnungen eingeht, S. 71.
Der zuvor erwähnte in China produzierte, aber in Deutschland verkaufte Fernseher wird in Deutschland genutzt, ohne das er gemäß des i.d.R. angewendeten Territorialitäts-/Produktionsprinzips offiziell in Deutschland auch nur eine Tonne CO2 verursacht hat.
Darauf weist auch Greta Thunberg in ihrer Rede bei der Weltklimakonferenz in Madrid am 11. Dezember 2019 hin:
Die Klimapläne und Selbstverpflichtungen von Ländern mögen beeindruckend klingen…
„[B]ut even though the intentions may be good, this is not leadership. This is not leading – this is misleading, because most of these pledges do not include aviation, shipping and imported and exported goods in consumption, they do however include the possibility of countries to offset their emissions elsewhere“ (Thunberg 2019).
Und das ist so, obwohl beispielsweise das Verkehrsvolumen von Containerschiffen „in den vergangenen zwanzig Jahren um fast 400 Prozent zugenommen hat“ (Klein 2015, 102).
Das Outsourcenvon industrieller Produktion in den Globalen Süden gekoppelt mit der Art der Berechnung von CO2-Bilanzen trägt also dazu bei, dass „reiche Staaten, die den industriellen Sektor rapide zurückbauen, behaupten können, ihre Emissionen hätten sich stabilisiert oder seien sogar gesunken“ (Klein 2015, 103). In diesem Sinne ist China nicht nur „Werkstatt“ bzw. „Werkbank der Welt“, sondern auch der „Schornstein der Welt“ (ebd., 104).
Es ist daher auch sinnfrei, China die in diesem Zusammenhang entstehenden Emissionen vorzuwerfen.
Bei den jährlichen CO2-Emissionen belegt Deutschland Platz 6. Doch hat Deutschland quasi unmittelbar seit Beginn der Industrialisierung überproportional an der Aufheizung des Planeten mitgewirkt:
Staaten mit den größten historisch aufsummierten Gesamt-CO₂-Emissionen 1918-2012
USA 26% | [EU 22%] | China 12% | Russland 8% | Deutschland 5,6% | Indien 3% (Nelles/Serrer 2018, 44)
>> Die taz gliedert die historischen CO2-Emissionen nach Kontinenten auf: Nordamerika 399 Mrd. t CO2 = 29% | Europa 514 Mrd. t CO2 = 3% | Afrika 43 Mrd. t CO2 = 3% | Südamerika 40 Mrd. t CO2 = 3% | Ozeanien 20 Mrd. t CO2 = 1,2% (Schmidt 2020, 4)
USA + EU-28 = verantworten aufsummiert etwa die Hälfte aller CO2-Emissionen.
„[A]lso [haben] alleine die USA und die EU zusammengenommen ein halbes Grad [zum Temperaturanstieg] beigetragen“ (Otto 2019, 184).
>> EU-28 = Alle Länder der EU (vor dem Brexit). Die EU-27 steht knapp 3% ungünstiger da als vorher, da Großbritannien in Sachen Klimaschutz relativ weit ist und bisher die EU-Bilanz aufgebessert hat. EU-28 1990-2018 = -24,8% CO2e | EU-27 1990-2018 = 21,85% (Hugo 2020). In Großbritannien gibt es bereits seit 2008 ein Klimagesetz, bis 2030 will man raus aus der Kohle – und „2018 lagen die Emissionen um 44 Prozent unter denen von 1990“ (Sotscheck 2019, 6). Auch gibt es dort ein Committee on Climate Change (CCC), welches „jedes Jahr die Fortschritte, die Großbritannien im Kampf gegen den Klimawandel macht[, bewertet]“ (ebd.). 2025 werden die Briten den ‚Koxit‘ (vgl. Boeing 2018), d.h. den Ausstieg aus der Kohle, vollzogen haben.
„Rechnen wir die Emissionen zusammen, die in der Atmosphäre wie in einer Mülldeponie eingelagert wurden, steht Deutschland seit der industriellen Revolution immerhin auf Platz vier. Wir haben [obwohl wir nur 84,7 Mio Bürger*innen sind,] massiv zur klimatischen Veränderung der Welt beigetragen“ (Haaf 2019).
1750 bis 2018 war Deutschland … für rund 5,7% aller weltweiten Emissionen verantwortlich – mehr als Afrika und Südamerika zusammen… Die ungleiche Verteilung ist [bezogen nicht nur auf Deutschland] eng verknüpft mit kolonialer Macht. Erst die Ausbeutung des globalen Südens hat den heutigen Industriekapitalismus möglich gemacht“ (Schmidt 2020, 4; zu Aspekt der komplette Wohlstand der Industrienationen beruht auf Kolonialismus siehe Fußnote auf S. 40).
>> In die Summe der historischen Emissionen geht der schon mehrfach erwähnte in China produzierte und nach Deutschland transportierte und ebendort genutzte Fernseher nicht ein. Sie sind also noch höher als angegeben.
Dieser historischen Ungleichverteilung von Verantwortung für die Krise wurde 2015 im Pariser Abkommen Rechnung getragen. Hier wurde das Prinzip ‚common but differentiated responsibilities‘ (CBDR) festgelegt, d.h. die Weltgemeinschaft bekennt sich zu gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeiten:
„Es verkörpert den Grundgedanken, dass die Staaten der Welt zwar eine gemeinsam zu tragende Verantwortung gegenüber der Umwelt haben, die konkreten Verpflichtungen für einzelne Staaten oder Staatengruppen aber nicht identisch, sondern differenziert ausfallen. … Es impliziert eine gerechte Lastenverteilung, durch welche die für einen funktionierenden globalen Klimaschutz essentielle Einbindung der Entwicklungsstaaten gewährleistet wird. Allerdings ist das CBDR-Prinzip selbst inhaltlich nicht näher konkretisiert, sodass die Zuteilung von Pflichten multilateraler Klimaschutzverträge bedarf“ (BLJ 2018).
Globale Emissionen im Überblick:
32 Staaten verursachen derzeit 80% der gesamten weltweiten CO₂-Emissionen (Merlot 2018)
10 Staaten verursachen derzeit fast 2/3 der gesamten weltweiten CO₂-Emissionen
3 Staaten verursachen derzeit 50% der gesamten weltweiten CO₂-Emissionen
China = mehr als 1/4 | USA = 1/6
> Nr. 3 ist Indien mit 7,26%. > Hier ist zu vermerken, dass EU-28 mit Stand 2016 deutlich vor Indien als drittgrößter Emittent liegt.
„Laut UN-Klimarahmenkonvention stünden die Rinder der Welt in Sachen Treibhausgasausstoß an dritter Stelle hinter China und den USA.“ (Foer 2019, 110)
>> vgl. Aspekt Rindfleisch vom Speiseplan verbannen, S. 178 und Abschnitt Fleisch, Fisch und Ernährung, S. 548
oder so:
„[D]ie G20 [sind] für 80% der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich…“ (Spiegel 2019a)
Umgekehrt verantworten die 100 am wenigsten emittierenden Länder weniger als drei Prozent der globalen Treibhausgase (‚Global Greenhouse Gases‘ (GHG)). (Stand 2014, vgl. climatewatchdata 2019)
Bodo Wartke: „Hambacher Wald“, 2018
„Ein lebendiger Wald soll hier weichen Für eine sterbende Industrie“
„RWE… hält den Braunkohleabbau Nach wie vor für ’ne super Idee.“
Globale CO2-Emissionen von Konzernen:
Laut der Zeit hält allein der Energie„riese“ RWE allein einen Anteil an den weltweiten CO₂-Emissionen von 0,47% (Zeit 2017).
Apropos RWE: Hambacher Wald & die fatale Liebe zur braunen Kohle
Zu erwähnen ist hier das „Rückzugsgefecht“ von RWE mit den Querelen rund um den seit den 1970er Jahren immerfort weiter gerodeten Hambacher Forst (‚Hambi bleibt‘) zwischen Köln und Aachen. So klein wie das umstrittene 200-Hektar-5%-Überbleibsel des einst großen Hambacher Forstes ist, war und ist er für alle Beteiligten ein Symbol bzw. Sinnbild, wie es mit der Braunkohle (nicht) weitergehen soll(te) in Deutschland. Er gilt „[s]eit Anfang 2019 … politisch als gerettet“ (Selle 2020, 4) und soll erhalten bleiben – Umweltaktivist*innen sind aber weiterhin hellhörig (vgl. Aachener Zeitung 2020a) und haben wieder einige Baumhäuser gebaut (vgl. Selle 2020, 4). Nach aktuellem Stand werden für die letzten Zuckungen der Braunkohle weitere Dörfer dem Tagebau weichen müssen (Aachener Zeitung 2020b). RWE nimmt für sich seit jeher in Anspruch VoRWEg zu gehen und versucht sich via fantasievollen Kinoimagefilmen höhere Weihen zu verliehen. Mir erscheint es eher ein IrRWEg von Räum-den-Wald-Experten zu sein. Es gilt gemeinhin als kontraproduktiv, m.E. offenkundigen Lügen Raum zu geben – hier sei eine Ausnahme gestattet, der Film mit dem Energie„riesen“ ist einfach zu nice: https://youtu.be/YVrs2JxAEy4 (Abrufdatum 4.6.2020)
„Über zwei Drittel der weltweiten[, derzeitigen] CO₂-Emissionen werden von 90 Konzernen [den sog. ‚Carbon Majors‘] verursacht“ (Haaf 2019).
Eine ähnliche Zahl findet sich bei Otto:
„Gerade mal 90 Konzerne haben zu 63 Prozent des Treibhausgasausstoßes der Welt zwischen 1751 und 2010 beigetragen“ (Otto 2019, 176).
„[H]undert Firmen [sind] … für 71 Prozent der Treibhausgase der vergangenen 30 Jahre… [, das sind derzeit] 37 Gigatonnen im Jahr[,] verantwortlich“ (Neubauer/Repenning 2019, 94).
„The top 20 companies have contributed to 480bn [Billion, zu deutsch: Milliarden] tonnes of carbon dioxide equivalent since 1965, Billion tonnes of carbon dioxide equivalent:
Saudi Aramco 59.26 | Chevron 43.35 | Gazprom 43.23 | ExxonMobil 41.90 | National Iranian Oil Co 35.66 | BP 34.02 | Royal Dutch Shell 31.95 | Coal India 23.12 | Pemex 22.65 | Petróleos de Venezuela 15.75 | PetroChina 15.63 | Peabody Energy 15.39 | ConocoPhillips 15.23 | Abu Dhabi National Oil Co 13.84 | Kuwait Petroleum Corp 13.48 | Iraq National Oil Co 12.60 | Total SA 12.35 | Sonatrach 12.30 | BHP Billiton 9.80 | Petrobras 8.68 (fett = staatlich) (Taylor/Watts 2019)
Internationale Schifffahrt (in erster Linie: Frachttransport = ca. 90% des int. Güterverkehrs) = 796 Mio t CO2 = 2,2%; laut Mobilitätsatlas >900 Mio t CO2/Jahr >> entspricht in der Dimension dem Anteil Deutschlands an den globalen CO2-Emissionen (vgl. IMO 2014 u. vgl. Mock 2019).
2min – Klima-Song: „Hallo Mensch, hier spricht dein Klima“ | extra 3 | NDR
„Hast Du jetzt Zeit für die Energiewende?“ – „Ja, ich guck nur schnell das ganze Netflix zu Ende!“
Globale CO2-Emissionen des Internet:
„Digital technologies now emit 4% of greenhouse gas emissions (GHG)“ ([The Shift Project] Efoui-Hess 2019).
„In 2018, online videoviewing generated more than 300 Mt CO₂, i.e. as much greenhouse gases as Spain emits: 1% of global emissions. … The greenhouse gas emissions of VoD (video on demand) services (e.g. Netflix and Amazon Prime) are equivalent to those of a country like Chile [=0,3% of global emissions]“ (ebd.). „[S]ich auf Netflix oder Amazon Prime eine Doku über den Klimawandel anzuschauen ist das ‚fucking for virginity‘ unserer Zeit geworden“ (Fluch 2020).
80% der Datenströme befördern Video-Streamingdaten; d.h. lediglich 20% des Energieverbrauches ist auf „non-video-uses“ im Netz zurückzuführen: Websites, Mails, Social Media… (vgl. ebd.).
„Ein Avatar in einem Videospiel verbraucht so viel Energie wie 40 Äthiopier“ (Laurent/Dion 2016).
Auch stinke das Internet nach Diesel, wie sich Niklas Maak ausdrückt:
„Damit die Daten im Fall eines Stromausfalls immer noch abrufbar sind, brauchen sie Notstromaggregate – meistens Dieselmotoren von der Größe einer Dampflokomotive. Weil die in regelmäßigen Abständen zu Probeläufen gestartet werden müssen, riecht es im Herzen der Internetkultur wie auf einem nächtlichen Autobahnparkplatz, wo die Trucks mit laufenden Motoren parken. Allein das Rechenzentrum von E-Shelter in Frankfurt hat einen Tank für hunderttausende Liter Diesel“ (2019, 40).
Maak betont auch, dass Rechenzentren in vielerlei Hinsicht nicht effizient/ökologisch sind: „Doch bisher tauchen sie im öffentlichen Bewusstsein selten auf, obwohl sie allein von der Baumasse jedes spektakuläre Hochhaus übertreffen … Würde man die liegenden, bis zu einem Kilometer langen Megabauten senkrecht hinstellen, sähen auch die neuesten Hochhäuser winzig aus“ (2019, 41).
Die Blockchaintechnologie der Kryptowährung Bitcoin verbraucht für den Handel mit Stand Juli 2019 „etwa 62 Terawattstunden im Jahr. Wäre das Bitcoin-System ein Land, dann stünde es mit diesem Stromverbrauch an 43. Stelle in der Welt – zwischen der Schweiz und Tschechien, Tendenz steigend. Laut einem Experten hat die Kryptowährung schon Österreich überholt, das wäre Position 41…
[E]ine einzelne Transaktion [verbraucht] über 200 Kilowattstunden – damit kommt ein Vier-Personen-Haushalt drei Wochen lang aus. Zum Vergleich: Eine herkömmliche Überweisung verbraucht nur ein bis zwei Wattstunden“ (Drösser 2019).
Globale CO2-Emissionen des Sektors ‚Militär‘, anhand des Beispiels USA:
U.S. military greenhouse gas emissions 2017 incl. domestic/overseas military installations and operations: „over 59 million metric tons of carbon dioxide equivalent. If it [=the Pentagon] were a country, it would have been the world’s 55th largest greenhouse gas emitter, with emissions larger than Portugal, Sweden or Denmark“ (Crawford 2019). (Eine neuere Studie geht vom 47. Platz aus, vgl. Zand 2022)
„Allein 2017, so die britische Studie [der Universitäten Durham und Lancaster], gab die US-Luftwaffe für Treibstoff etwa 4,9 Milliarden Dollar aus, die Navy 2,8 Milliarden und das Heer knapp eine Milliarde.“ (Zand 2022)
„Die F-35, der modernste US-Kampfjet […] verbraucht etwa 5600 Liter Treibstoff pro Flugstunde, fast doppelt so viel wie ihr Vorgänger, die F-16.“ (ebd.)
Festzuhalten ist, dass die US-Streitkräfte sowie allgemein das Segment ‚globales Militär‘ ein riesiger CO₂e-Verursacher sind. (Dementsprechend geht Naomi Klein wohl zu Recht davon aus, wenn sie schreibt, dass „[d]ie US-Armee … wahrscheinlich der größte Erdölverbraucher der Welt [ist]“ (Klein 2015, 142).
Man kann noch weiter gehen und konstatieren, dass Kriege (neben vielen, vielen anderen Gründen) auch aus rein ökologischen Gründen heraus nicht mehr geführt werden können/dürfen. (s. auch weiter unten Aspekt Globale CO2-Emissionen des Sektors ‚Militär‘, anhand des Beispiels ‚Ukraine-Krieg‘)
Die einzige rationale Alternative wäre, dass die US-Army ein ganzes Heer (!) an Windkrafträdern z.B. in die Wüste von Nevada setzt, um wenigstens noch ein paar Drohnen in der Luft halten zu können. Auch über die künftig klimaneutrale Herstellung CO2-armer Panzer wäre nachzudenken. Ich rege an, unsere Kraft und Energie auf konstruktivere Dinge zu fokussieren. Imagine.
Milliarden von Dollar werden für Massenvernichtungswaffen ausgegeben. Würde die Hälfte dieses Betrags verwendet, um neue Technologien und mehr erneuerbare Energien zu entwickeln, welche enormen positiven Auswirkungen hätte das bei unseren Bemühungen, die Erderwärmung zu begrenzen“ (Der Dalai Lama Tenzin Gyatso in Alt 2020, 42).
Rüstungskonzerne haben hier eine andere Perspektive, wie Naomi Klein ausführt:
„[I]n einem Augenblick der Offenheit erklärte der Rüstungskonzern Raytheon, dass sich ‚vermutlich wachsende Geschäftsmöglichkeiten ergeben, weil sich als Reaktion auf den Klimawandel das Verhalten und die Bedürfnisse der Konsumenten ändern‘. Zu diesen Geschäftsmöglichkeiten … [zählt] auch ‚ein Bedarf an militärischen Produkten und Dienstleistungen, weil aufgrund von Dürren, Überschwemmungen und Stürmen, verursacht durch den Klimawandel, Sicherheitsprobleme entstehen könnten‘“ (2015, 18-19).
>> s.a. Aspekt Bundeswehr & Rüstung in ökologischer Perspektive im Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland.
Globale CO2-Emissionen des Sektors ‚Militär‘, anhand des Beispiels ‚Ukraine-Krieg‘:
Tatsache ist, dass Krieg – neben all den anderen Schrecknissen und Zerstörungen – äußerst Ressourcen- und vor allem CO2-intensiv ist: sowohl bei den Kriegshandlungen selbst als auch nach Ende des Krieges, beim Wiederaufbau.
Nüchtern betrachtet sind daher Kriege künftig und faktisch auch jetzt schon nicht mehr möglich.
In meiner neuen Grunderzählung über uns Menschen Eine neue Geschichte der Zukunft. Wer wir sind. Wo wir herkommen. Wer wir künftig sein können habe ich dazu folgendes notiert:
„In einer CO2-freien Null-Emissionen-Welt sind Kriege nicht möglich, weil sie z. B. durch Zerstörung und dem anschließenden Wiederaufbau stets Emissionen hervorrufen. Nichts verdeutlicht besser, wie umfangreich die gegenwärtige Menschheitsherausforderung ist, als der für Null-Emissionen erforderliche Weltfrieden. Die Menschheit steht an einem Scheideweg. Die Chance unsere Zivilisation zu bewahren ist da. Weltfrieden als klimagerechter Frieden unter den Menschen, die in Einklang mit ihrer Mitwelt leben – das ist ein Ziel, für das es sich lohnt, sich einzusetzen.“
Das bedeutet auch, das Krieg heutzutage eine neue, zusätzliche Dimension zukommt:
Jeder Krieg – egal wie lokal/regional oder wie weit räumlich entfernt er stattfinden mag, ist ein Krieg gegen die gesamte Menschheit und alles Leben auf diesem Planeten.
Mit anderen Worten: Die Aggressoren des Krieges in der Ukraine sorgen dafür, dass das ohnehin schon minimale CO2-Budget, dass die Menschheit zur Verfügung hat, um die Klimakrise relevant abzumildern, täglich massiv schrumpft.
Diejenigen, die diesen Krieg losgetreten haben sind daher Feinde der Menschheit.
„Bisher wurden rund 120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente als Folge des Krieges ausgestoßen. Das ist so viel, wie ein Land wie Belgien in einem Jahr an Treibhausgasen produziert. Nur rund 20 Prozent davon gehen auf die direkten Kriegshandlungen zurück, etwa Explosionen, Treibstoffe für Panzer oder Logistik und Transport für beide Armeen. Ein weiterer Teil sind Waldbrände. Der größte Anteil entfällt jedoch auf den Wiederaufbau mit rund der Hälfte der Emissionen. Da macht vor allem die Produktion von Beton und Stahl für Brücken und Häuser recht viel aus.“ (De Klerk 2023)
Hinzu kommt, dass sich die Ukraine grundsätzlich auf dem Weg der CO2-Reduktion befand. Der niederländische Klimaexperte Lennard de Klerk hebt hervor, dass die Zerstörung dieser Entwicklung ein weiterer Kriegsschaden ist (vgl. ebd.).
>> s.a. Aspekt Bundeswehr & Rüstung in ökologischer Perspektive im Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland.
Globale CO2-Emissionen, nach Sektoren
CO₂-Emissionen weltweit, nach Sektoren
Industrie 37%
Transport 23%, davon:
Straßenverkehr 17%
Luftverkehr 2,6%
Schifffahrt 2,5%
sonstige 1%
Dienstleistungen 11%
Haushalte 12%
Andere 17%
>> Quelle: Nelles/Serrer 2018, 40
Anders ausgedrückt:
CO₂-Emissionen weltweit durch
fossile Brennstoffe ca. 85%, davon
Kohle 44%
Erdöl 35%
Erdgas 21%
Zementproduktion 5% [in Beton steckt viel Zement]
Landnutzungsänderungen 10% (z.B. Entwaldung, Waldbrände >> Umwidmung von Land in Plantagen oder Weiden)
(Quelle: Nelles/Serrer 2018, 40)
CH4: Methan-Emissionen weltweit durch
fossile Brennstoffe 29%
Viehhaltung 27%
Mülldeponien 23%
Reisanbau 11%
Biomasse und Biokraftstoff 10%
(Quelle: Nelles/Serrer 2018, 42; hinzu tritt das CH4 aus Permafrostböden, s. S. 106)
N2O: Lachgas-Emissionen weltweit durch
Landwirtschaft 59% (Stickstoffe im Kunstdünger; Gülle)
Die Bedeutung dieses Themas wird regelmäßig unterschätzt. Tunnelbauwerke sind enorme CO₂-Schleudern. Der Verkehrsexperte Karlheinz Rößler dazu:
„Der Treibhausgasausstoß für die Herstellung von Zement und Bewehrungsstahl ist immens hoch. Pro Kilometer Tunnelröhre entstehen rund 30.000 Tonnen CO₂. Ich habe am Beispiel der neuen ICE-Strecke Nürnberg-Berlin errechnet, dass die Fahrgäste, die die Bahn vom Flugzeug weglocken will, 30 Jahre lang mit dem Zug statt fliegen müssten, um den Klimaschaden durch die Tunnelwerke zu kompensieren“ (Spiegel 2019b).
„Laut einer Prognose der Internationalen Energieagentur führen das weltweite Bevölkerungswachstum und der Urbanisierungstrend bis 2050 zu einer Zunahme des Zementverbrauchs um mehr als 20 Prozent“ (Römer 2019).
Dazu ist festzuhalten, dass gegenwärtig bereits zwei funktionierende, deutlich ökologischere Verfahren zur Zementherstellung existieren, die sich jedoch derzeit nicht durchsetzen können (vgl. ebd.).
Globale CO2-Emissionen: ‚Committed Emissions‘ & Zuwächse an Erneuerbaren Energien in China & Co.
Definition ‚Committed Emissions‘: Die künftigen Emissionen, die sich aus den Laufzeiten der derzeit in Betrieb befindlichen fossilen Kraftwerke, CO2-intensiven Fabriken und Autos ergeben (vgl. Eichhorn 2019b).
Diese committed emissions betrugen im März 2019 weltweit rund 660 Gt CO₂ (ebd.).
Zugelassen sind aber, wenn das 1,5-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von 67% erreicht werden soll, im Januar 2020 nur rund 333 Gt CO₂ (MCC 2019).
„Damit wäre das im Pariser Klimavertrag angestrebte Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, praktisch schon perdu… Zählt man … [darüber hinaus die Emissionen von in Planung oder im Bau befindlichen Kraftwerken] auch dazu, vergrößert sich der fixierte Ausstoß um weitere 190 Gigatonnen“ (Eichhorn 2019b).
Es gilt also, Laufzeiten zu reduzieren, was laut der oben genannten Studie „häufig auch wirtschaftlich tragbar“ (ebd.) sei.
2019 hat das Umweltprogramm der UN (Unep) eine Studie vorgelegt, die „untersucht, wie viel fossile Brennstoffe auf Grundlage von schon jetzt getroffenen Beschlüssen, Investitionszusagen oder erteilten Genehmigungen in absehbarer Zukunft aus dem Boden geholt werden. Ergebnis: Wenn die Regierungen nicht massiv eingreifen, wird 2030 um 50 Prozent mehr Öl, Kohle oder Gas gefördert und verfeuert sein, als es für das Erreichen des 2-Grad-Ziels1, und mehr als doppelt so viel, wie es für das 1,5-Grad-Ziel erlaubt wäre“ (Evers 2019, 110).
So pocht Siemens im Jahre 2020 weiterhin darauf, bereits geschlossene ‚fossile Verträge‘ einzuhalten (vgl. Aspekt Siemens und die Adani-Mine, S. 63).
>> vgl. Abschnitt Globales CO₂-Budget, förderbare Erdöl-/Kohle-/Gas-Vorkommen & die fossilen Industrien, S. 59.
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Es gibt der journalistischen Praxis zum Trotz kein 2-Grad-Ziel, sondern nur eine im IPCC-Bericht von 2019 benannte 2-Grad-Marke. Völkerrechtlich verbindlich ist das ‚deutlich unter 2 Grad Ziel‘ des Pariser Abkommens von 2015 – verbunden mit der Zusage Anstrengungen zu unternehmen, die Erderwärmung 1,5 Grad zu begrenzen.
In eine ähnliche Richtung gehen die Pläne und Ideen der Plastikindustrie – also der Industrie, die fossiles Öl weiterverarbeitet:
„Weltweit will die Industrie in den nächsten Jahren 400 Milliarden Dollar in den Aufbau neuer Produktionsanlagen stecken… Die Internationale Energieagentur geht davon aus, … dass die Plastiknachfrage weltweit bis … [2040] von 350 auf 540 Millionen Tonnen im Jahr steigen wird. Mit den globalen Klimazielen ist das absolut unvereinbar, denn über die Lebenszeit verursacht jede Tonne Öl, die in Plastik umgewandelt wird, doppelt so viel CO2 als Öl, das als Brennstoff verbraucht wird“ (Arzt 2020, 8).
Die guten Nachrichten inmitten der weniger guten kommen… durchaus auch aus China:
6 min (=Teil 1, insgesamt ca. 1 3/4 h) – „Under The Dome“, 2015, online unter https://youtu.be/MhIZ50HKIp0?list=PLWAJWwjxa-mNeiTvOQulxxSJ8-rb33Uq_ (Abrufdatum 21.2.2021), umfangreiche chinesische Dokumentation Under The Dome (2015) über die Klimakrise und die unglaubliche Luftverschmutzung in China der Investigativournalistin Chai Jing. Gewissermaßen ist diese Doku die chinesische Variante von Al Gores „Eine unbequeme Wahrheit“, in der unmissverständlich deutlich wird, dass die Luftverschmutzung in Großstädten Chinas ein Maß erreicht hat, dass selbst eine nicht-demokratische Regierung nicht ignorieren kann. U.a. mit einem m.E. beeindruckenden „Bejing Air Quality Visual Diary“ (siehe ca. 4:20 min). Laut Wikipedia (2021) mind. 200 Mio Mal in China abgerufen, war dort etwa eine Woche lang online, ca. 1 3/4 h, online unter https://youtu.be/MhIZ50HKIp0?list=PLWAJWwjxa-mNeiTvOQulxxSJ8-rb33Uq_ (Abrufdatum 21.2.2021)
„Seit 2014 immerhin ist der Trend [zu fossilen Brennstoffen] in Indien und China rückläufig, was unter anderem einem Boom bei den Erneuerbaren Energien zu verdanken ist“ (ebd.). Allerdings: „Jedes zweite Kohlekraftwerk weltweit steht in China“ (Kretschmer 2020, 8).
„[A]llein 2017 gingen weitere 160 Gigawatt [an Erneuerbaren Energien] zu einem Kostenpunkt von knapp unter 280 Millionen Euro ans Netz, fast die Hälfte davon in China“ (Maxton 2018, 41).
„China ist… das Land mit den meisten Solarparks. Seit 2017 sind 130 Gigawatt Solarstrom ans Netz angeschlossen, das sind 32% der weltweiten Solarleistung. [35% der weltweit installierten Windanlagen stehen in China.] Erneuerbare Energien machen im Energiemix der Chinesen zurzeit 35% aus“ (Gonstalla 2019, 34 u. 35).
„2017 hat … China mehr Geld in die Solarenergie gepumpt als nahezu alle anderen Länder der Welt zusammen, 30 Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor. Der im Jahr 2017 erreicht Kapazitätszuwachs an erneuerbarer Energie entspricht dabei ungefähr jener Menge, die benötigt wird, um jeden einzelnen der insgesamt 38 Millionen Haushalt in Deutschland mit Licht, Heiz- und Kühlenergie zu versorgen“ (Maxton 2018, 101).
„China gibt mittlerweile jährlich dreimal so viel für erneuerbare Energien aus als der zweitgrößte Energieverbraucher der Welt, die USA“ (ebd.).
„Über 330 Gigawatt Wasserkraft verfügt China heute bereits, das ist etwa so viel, wie 300 Atomreaktoren liefern. Kein Land setzt derart stark auf Staudämme. Und die Menge soll nach dem derzeitigen Fünfjahresplan noch kräftig wachsen, um die Ziele für erneuerbare Energie zu erreichen und die Abhängigkeit von der Kohle zu brechen“ (Eichhorn 2019c, 12).
Allerdings ist auch richtig, dass „[c]hinesische Unternehmen … Gigakraftwerke in Südafrika, Indonesien oder Vietnam [bauen]. Chinesische Banken finanzieren Meilerprojekte in Bangladesch, Kambodscha oder Ägypten. Die Renditen hat die Pekinger Regierung festeingeplant“ (Sauga 2020, 59).
Chinas Staatschef Xi Jingpin kündigt im September 2020 bei der UN-Generalversammlung an, vor dem Jahr 2030 den CO2-Peak und Klimaneutralität vor 2060 zu erreichen. Früher/Schneller wäre besser, aber einstweilen herrscht Freude darüber, dass China sich nun erstmals verbindlich gibt und die Zukunft aktiv mitgestalten möchte (vgl. Buchter 2020 u. Bauchmüller/Giesen 2020).
…mehr
Lutz Weischer von der NGO Germanwatch feiert dies auch als einen „Durchbruch in der internationalen Klimadiplomatie“, denn mit dieser Zusage „kommt Präsident Xi einer Aufforderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nach. Diese hatten den Schritt letzte Woche in einem Telefonat [im Vorfeld der UN-Generalversammlung] mit Xi gefordert[, nachdem zuvor die EU ihr eigenes Klimaziel für 2030 auf -55% CO2 verschärft hatte]“ (Mihatsch 2020). Theo Sommer hebt hervor, dass wirkungsvoller Klimaschutz ohne China nicht zu haben ist und kommentiert in der Zeit: „Xi ist allerdings ein Großmeister der Ankündigungen, denen oft lange nichts folgt. Europa wird Druck auf die Führung ausüben müssen, damit es diesmal nicht wieder bei unverbindlichen Ansagen bleibt“ (2020).
Oft übersehen, aber ein wichtiger Faktor:
Globale CO2-Emissionen: ‚Graue Energie‘
Definition: „Graue Energie sind alle Energieaufwendungen, die man braucht, um ein Produkt oder eine Dienstleistung – angefangen bei den Rohstoffen – bereitzustellen“ (Biologe Danny Püschel zit. in Kiesel 2019).
„Energie, die für die Herstellung und Bereitstellung von Gütern benötigt wird.“ „Der Begriff graue Energie bezeichnet Energie, die vom Verbraucher nicht direkt eingekauft wird, die jedoch für die Herstellung von Gütern sowie für Transport, Lagerung und Entsorgung benötigt wird. Auf diese Weise entsteht häufig ein erheblicher Energieverbrauch, ohne dass dies für die Verbraucher direkt erkennbar ist“ (Energie-Lexikon 2019).
Das Thema nimmt seinen Anfang bei Schokolade, deren Produktionskreislauf 0,25 kWh an Grauer Energie erfordert – womit man auch 20 Mal Nudeln zubereiten könnte, über unsere Jeans, die mit 40 KWh (=400 Stunden Fernsehen) zu Buche schlägt, über das Smartphone mit 220 kWh, mit denen wir „unser Handy[/Smartphone] 50 Jahre lang aufladen“ könnten, bis hin zum Auto für 30.000 kWh (=36.000 km Fahrt) und zum Eigenheim für 150.000 kWh, was „dem Stromverbrauch einer vierköpfigen Familie für knapp 40 Jahre [entspricht]. Experten gehen davon aus, dass jeder Euro, den ein Haushalt ausgibt, rund eine Kilowattstunde Graue Energie bedeutet“ (Beispiele und Zitate: Grundmann 2018).
Mit diesem Ansatz wird also eine Gesamtsystembetrachtung angestellt, d.h. eine energetische Gesamtkostenrechnung einer Ware berechnet. Eine entsprechende Kennzeichnung auf Produkten könnte also eine Hilfestellung zur Kaufentscheidung darstellen.
Abschließend zum Thema ‚Graue Energie’ sei mit dem Verweis auf die Ökobilanz eines E-Autos ein recht bekanntes Beispiel herausgegriffen:
„Jetzt sollen wir aber in Zukunft alle mit Elektroautos durch die Gegend fahren. Da ist dann die Verbrauchsphase relativ gering, aber ich habe signifikant die graue Energie in der Herstellung des Autos erhöht. Und wenn ich das dann nicht politisch berücksichtige, dann liege ich eben daneben“ (Danny Püschel in Kiesel 2019).
>> s.a. Aspekt Zement/Beton, S. 92, weiter oben in diesem Abschnitt. >> s.a. Aspekt Rebound-Effekt auf S. 257, der ebenfalls allzu selten mit in Überlegungen mit einbezogen wird.
Quellen des Abschnitts Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen
Eichhorn, Christoph von (2019c): „Das große Tauen: Wenn die Gletscher Tibets weiter schrumpfen, drohen stromabwärts Dürren und Ernteausfälle“. In: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 12-15.
Laurent, Mélanie u. Dion, Cyril: Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen. 2016.
Maak, Niklas (2019): „Klimakiller Internet“. In: Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung. Hg. von Le Monde diplomatique, 2019, S. 40-41.
MCC (2019): „Verbleibendes CO₂-Budget. So schnell tickt die CO₂-Uhr“. In: Mercato Research Institute on Global Commons and Climate Change, online unter https://www.mcc-berlin.net/forschung/co2-budget.html (Abrufdatum 09.06.2019).
Mock, Peter (2019): „Güterverkehr: Die Welt in Lieferketten“. In: Mobilitätsatlas. Daten und Fakten für die Verkehrswende. S. 22-23. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem VCD, online unter https://www.boell.de/de/mobilitaetsatlas/ (Abrufdatum 11.11.2019) [pdf-Download].
Nelles, David u. Serrer, Christian (2018): Kleine Gase – große Wirkung. Der Klimawandel, s. a. www.klimawandel-buch.de/.
Neubauer, Luisa u. Repenning, Alexander (2019): Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft. Tropen.
Otto, Friederike (2019): Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen Hochwasser und Stürme. Ullstein.
Ourworldindata (2019): „Production vs. consumption-based CO₂ emissions“. In: ourworldindata.org, 07.10.2019, online unter https://ourworldindata.org/consumption-based-co2 (Abrufdatum 24.01.2020).
Sotscheck, Ralf (2019): „Anspruch auf die Führung“. In: tageszeitung, 29.11.2019, S. 6.
Spiegel (2019a): „‚Brown to Green‘-Report zur Klimakrise: Industrieländer treiben die Welt Richtung drei Grad Erwärmung“. In: Der Spiegel, 11.11.2019, online unter https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimaschutz-kein-g20-staat-ist-auf-1-5-grad-kurs-a-1295841.html (Abrufdatum 11.11.2019) „Der [von Climate Transparency erstellte] ‚Brown to Green‘-Report stellt seit 2015 jedes Jahr dar, wie die G20 im Klimaschutz vorankommen.“ (ebd.).
Spiegel (2019b): „Mobilität: ‚Einfach oben fahren‘“. [Gespräch mit dem Verkehrsexperten Karlheinz Rößler]. In: Der Spiegel, Nr. 25/15.06.2019, S. 95.
Zukunftsrat Hamburg (2020): „Stellungnahme zur ersten Fortschreibung des Hamburger Klimaplans, zur Gesetzesvorlage zur Änderung der Verfassung und zum Neuerlass des Hamburgischen Klimaschutzgesetzes“. In: Zukunftsrat.de, 06.01.2020, online unter https://www.zukunftsrat.de/unsere-stellungnahme-zum-klimaplan-des-hamburger-senats/ (Abrufdatum 21.06.2023).
Eine kleine gute Nachricht: Seit 1990 sind die CO₂-Emissionen in Deutschland in einer sanft, aber insgesamt erkennbar abfallenden Gerade zu veranschaulichen:
1990 = 1.251 Mio t CO₂e
2018 = 858,4 Mio t CO₂e (=-31,4%) (vgl. UBA 2020)
2019 = 800 Mio t CO2e (=-35% in Relation zu 1990, spezielle Wetterlagen haben zu mehr Ökostrom geführt, vgl. Agora Energiewende 2020)
2021 = 762 Mio t CO2e (-38 %) (vgl. UBA 2021).
> Aufgrund internationaler Konventionen sind jährliche Emissionen aus dem Kraftstoffeinsatz für von Deutschland ausgehende internationale Verkehre nicht eingerechnet, d.h. rund 29 Mio t CO₂ für internationale Flugstarts sowie 7 bis 8 Mio t CO₂ für Schifffahrt, vgl. UBA 2019b.
> Hinzu kommen die Emissionen, die aus der Herstellung von Produkten erwachsen, die anderswo produziert wurden, aber in Deutschland verkauft/konsumiert/genutzt werden, z.B. ein Flachbildschirm aus China. Gonstalla (2019, 33) veranschlagt hier für CO2 etwa 10% weitere Emissionen; das Handelsblatt spricht 2014 allgemeiner von [klimarelevanten) ‚Emissionen‘ und geht von 17% aus, vgl. Abschnitt Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen, S. 85.
> Man geht davon aus, dass die jährlich nach Deutschland illegal importierten Kältemittel einem CO2-Äquivalent von 34 Mio t entsprechen – die zwar nicht unmittelbar, aber potenziell emittiert werden und in keiner Statistik auftauchen, vgl. Aspekt Klimaanlagen, S. 123.
> weitere Treibhausgasemissionen, die nicht in globale, nationale und damit auch nicht in individuelle CO2-Budgets eingehen siehe Aspekt Was nicht in die IPCC-Budget-Rechnungen eingeht, S. 71.
Die weniger gute Nachricht lautet: -32% sind nun mal keine -40%: Deutschland verfehlt damit in relevantem Maß das Klimaschutzziel des Aktionsplanes Klimaschutz 2020, demzufolge die CO₂-Emissionen um 40% gegenüber 1990 zurückzufahren sind (vgl. UBA 2019a). Dieses Scheitern ist Gegenstand der sog. Greenpeace-Klimaklage, in der Greenpeace den Standpunkt vertritt, dass der Aktionsplan Klimaschutz 2020 verbindlich ist und daher nicht einfach – wie geschehen – in den Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2018 quasi per Nebensatz vom Tisch gefegt werden kann. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen, wird aber von Greenpeace als Teilerfolg gesehen, weil die urteilenden Richter*innen Klimaklagen grundsätzlich für zulässig halten (vgl. Greenpeace 2019).
Erläuterung: 'Ziel des Aktionsplanes Klimaschutz und Covid-19'
Prognosen der Denkfabrik Agora Energiewende im März 2020 legen nahe, dass Deutschland möglicherweise 40% weniger CO2e in Relation zu 1990 emittieren könnte – aufgrund des Lockdowns im Zuge der Covid-19-Pandemie. Das Ziel damit als erreicht zu erklären erscheint m.E. nicht statthaft (vgl. Pinzler 2020).
Transparenz durch Offenlegung: Der Autor des Handbuch Klimakrise hat im Januar 2019 einen 23-seitigen Antrag auf Beiladung zur Greenpeace-Klimaklage gestellt. Begründung: Nicht nur (Öko-)Bäuerinnen bzw. (Öko-)Bauern oder Menschen in besonderen geologisch vulnerablen (verletzlichen) Gegenden sind bereits gegenwärtig und in absehbarer Zukunft persönlich, unmittelbar und evtl. sogar existenziell von den Folgen der Klimakrise betroffen, sondern auch ich als im Jahrgang 1971 geborener Bürger der Stadt Hamburg. Und wenn ein Durchschnittsbürger wie ich in dieser eindeutigen Weise betroffen ist, dann ist quasi jede*r Bürger*in Deutschlands in gleichartiger Weise betroffen. Diese Betroffenheit wird nachfolgend ausführlich erörtert und zeichnet auf Basis des den fünften Sachstandsbericht des IPCC ergänzenden, auf Deutschland heruntergebrochenen Berichts Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven von Brasseur, Guy et al. (Hg.) (2017) ein fundiertes Bild, welche klimatisch bedingten Folgen uns in Deutschland gemäß aktuellem Forschungsstand im Jahre 2050 und 2100 erwachsen.
>>Siehe Abschnitt Klimaschäden vor Gericht: Gerichtsprozesse als Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise, S. 657, wo auch die Fortsetzung der Greenpeace-Klimaklage als Greenpeace-Verfassungsbeschwerde erörtert wird – sowie den LebeLieberLangsam-Beitrag Antrag auf Beiladung zur Greenpeace-Klimaklage gegen die Bundesregierung unter https://blog.lebelieberlangsam.de/klage.
Kommentar der Politik zum Scheitern des Klimaschutzziels des Aktionsplanes Klimaschutz 2020 – und welche Vorgehensweise notwendig wäre:
Die Bundesregierung bzw. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier kommentiert das Nicht-Erreichen des Aktionsplanes Klimaschutz 2020 wie folgt: Die Wirtschaft sei seit 1990 deutlich gewachsen – und trotzdem seien die CO₂-Emissionen zurückgegangen (‚Altmaier’sche Rechnung‘, vgl. Maybrit Illner 2018).
Hm. Ja, klingt erst einmal plausibel.
Aber: Dieses Wirtschaftswachstum kam nicht wirklich überraschend: Die Tatsache, dass die Wirtschaft gemäß aktuellem Wirtschaftsmodell wächst bzw. wachsen soll, wurde selbstredend bei Festsetzung des Aktionsplanes Klimaschutz 2020 erwartet und einkalkuliert: Es handelt sich also um eine nicht statthafte Relativierung, kurz: um ein Ablenkungsmanöver.
>> siehe dazu auch Aspekt Ausreden und Ablenkungsmanöver in Abschnitt Eine neue Rückzugslinie: Klimawissenschaftsverweiger*innen – die immer gleichen ‚Argumente‘, S. 234.
>> Wann immer in diesem Buch bzw. in diesem Webportal Kritik an Peter Altmaier erfolgt, dann bezieht sich dies ausschließlich auf seine Arbeit und die Arbeit des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, das er repräsentiert und dem er vorsteht – und niemals auf seine Person.
Und ein weiteres Mal sei darauf verwiesen:
Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln.
>> Siehe Aspekt Die Natur kennt uns gar nicht in Abschnitt Wir sind Erde, S. 47.
Das bedeutet, dass Peter Altmaier schlicht das Thema verfehlt.
Diese kleine, aber wichtige ‚Anekdote‘, die Altmaier das Thema schönredet, ist ein Sinnbild dafür, wie schwer sich die deutsche Politik nach anfänglichen Erfolgen im Bereich ‚Energiewende‘ trotz ‚Klimapaket mit dem Thema ‚Klimakrise‘ tut – und vor allem, dass sie vor allem eines tut: sie redet und redet und redet…
Reden wird uns nicht voranbringen.
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Konstantin Wecker, Refrainzeile des gleichnamigen Liedes von 2011 von Konstantin Wecker, hier heißt es auch: „Wie man das Klima der Erde rettet – nun ganz bestimmt nicht, indem man jettet.“
Was wirklich notwendig wäre angesichts der viel zu sanft abfallenden Treibhausgasemissions-Kurve Deutschlands, skizziert Luisa Neubauer 2019 in einem Podcast:
„Der Erste Bürgermeister von Hamburg, Peter Tschentscher, sagte sinngemäß ‚Mitte des Jahrhunderts wird das hier weitestgehend klimaneutral … wir machen doch schon … und das geht jetzt auch gar nicht früher…‘,
worauf hin Luisa Neubauer entgegnete:
„Wäre es nicht mal cool zu sagen, wir denken so ein ganz bisschen outside the box und überlegen, was sind eigentlich die Verantwortlichkeiten, in den wir in der heutigen Zeit sind, also warum messen wir … unsere Handlungsbereitschaft [und] unseren Handlungsspielraum nicht daran, was die Zeit von uns verlangt. … [Einen Tag später saß ich mit dem] Bürgermeister von Kopenhagen [an einem Tisch] und [dieser] meinte: ‚Natürlich werden wir 2025 klimaneutral. Wir haben überlegt, was wäre das Maximale, was möglich ist – und dann überlegen wir, was wir noch machen könnten und gucken dann, wie können wir so Paris-konform sein wie nur irgendwie möglich und dann machen wir das möglich, weil das ist nun mal unsere Aufgabe und das geht – und ich möchte mal von den Bürgermeistern hören, die in den großen reichen Städten wohnen in Mitteleuropa, die sagen, dass das alles nicht gehen würde so früh‘“ (2019, ca. Min 59f.).
Das bedeutet:
Wir haben das Thema ‚Klimakrise‘ (inkl. der Biodiversitätskrise) im Sinne des Vorsorgeprinzips rückblickend, per Backcasting, vom erforderlichen Resultat her zu denken. Das ist der Maßstab. Alle Lösungsvorschläge und Pläne haben sich am evidenzbasierten Notwendigen und nicht am vorgeblich ‚politisch Machbaren‘ zu orientieren: Das für die lebenswerte Zukunft erforderliche Zielergebnis bestimmt die heutigen Maßnahmen.
>> Backcasting = Planungsmethode, bei der zunächst das erforderliche Ziel definiert und nachfolgend die zur Erreichung dieses Ergebnisses erforderlichen Schritte festgelegt werden. Z.B. in Dänemark Standard, in der deutschen Politik weitgehend Terra incognita, vgl. wikipedia.org: „Backcasting is a planning method that starts with defining a desirable future and then works backwards to identify policies and programs that will connect that specified future to the present“ (2020).
Quellen des Abschnitts Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland.
CO₂-Emissionen in Deutschland, aufgegliedert nach Sektoren:
Erläuterung: Das „e“ hinter CO₂ steht für „Äquivalente“: Die Wirkung anderer Treibhausgase wird zur Vereinfachung in CO₂-Wirkung umgerechnet und zum CO₂-Wert hinzugerechnet. (s.a. Abschnitt Die Physik des Klimawandels.)
Energiewirtschaft
343 Mio t CO₂e = 38% (1990 = 466 Mio t CO₂e)
Allein RWEs Braunkohlekraftwerke haben einen Anteil von etwa 13% an den Gesamtemissionen Deutschlands (vgl. BUND 2019).
Industrie
188 Mio t CO₂e = 21% (1990 = 92 Mio t CO₂e = -34%)
Emissionen aus Verbrennungsprozessen und der Eigenstromversorgung des produzierenden Gewerbes sowie die Emissionen aus gewerblichen und industriellen Prozessen und der Produktverwendung (unter anderem auch von fluorierten Treibhausgasen, den sogenannten F-Gasen)
Gewerbe, Handel, Dienstleistungen (GHD)
39 Mio t CO₂e = 4% (1990>>2016 = -50%)
Emissionen aus Verbrennungsprozessen in Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (GHD; auch als ‚Kleinverbrauch‘ bezeichnet), die im Wesentlichen der Wärmebereitstellung (Brennstoffe für Raumwärme, Kochen und Warmwasser in Nichtwohngebäuden) und Prozesswärme/-kälte dienen
Haushalte
91 Mio t CO₂e direkte Emissionen (ohne Strom und Fernwärme) (1990>>2016 = -31%)
fallen fast ausschließlich bei der Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser in Gebäuden an
Verkehr
166 Mio t CO₂e = 18,2% (1990 = 163 Mio t CO₂e)
Verbrennung von Kraftstoffen im Straßen-, Schienen- und nationalen Luft- und Seeverkehr. Nicht enthalten sind der land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Kraftstoffeinsatz (der im Sektor Landwirtschaft bilanziert wird) sowie die Treibhausgasemissionen aus internationalem Luft- und Seeverkehr.
Der Verkehrssektor ist der einzige Bereich, in dem Deutschland in Sachen Minderung von Treibhausgasen keinen einzigen Schritt vorangekommen ist.
Landwirtschaft
72 Mio t CO₂e = 7% (1990 = 90 Mio t CO₂e = -20%)
Emissionen der Landwirtschaft Methan- und Lachgasemissionen aus der Tierhaltung und dem Düngemanagement sowie Kohlendioxidemissionen aus dem landwirtschaftlichen Kraftstoffeinsatz
Sonstige Emissionen
10 Mio t CO₂e = 1%
Methan- und Lachgasemissionen aus der Abfall- und Wasserwirtschaft – seit 1990 um fast 73% gesunken, maßgeblich aufgrund des Verbots „der Deponierung organisch abbaubarer Siedlungsabfälle“
(Alle Zahlen aus BMU 2018)
>> Anmerkung: Der Sektor „Landnutzung, Landnutzungsänderung [= z.B. das Abholzen von Wäldern für Weiden oder Plantagen] und Forstwirtschaft“ (LULUCF) wird bei der Berechnung des geänderten CO₂-Regimes beim Aktionsplan Klimaschutz 2020 nicht einbezogen. „Laut aktuellem Projektionsbericht entwickelt sich der gesamte LULUCF-Sektor im Zeitraum zwischen 2015 und 2020 von einer Senke zu einer Quelle für Treibhausgase… Das ergibt sich [u.a.] aus … einer … abnehmenden Senkenleistung im Wald “ (ebd.).
Quellen des Abschnitts CO₂-Emissionen in Deutschland, aufgegliedert nach Sektoren
Ein Thema, dass im Zusammenhang mit den CO₂-Emissionen in Deutschland so gut wie nie genannt wird:
Bundeswehr & Rüstungsindustrie in ökologischer Perspektive
Wer schon immer mal wissen wollte, wie vorbildlich-nachhaltig die Bundeswehr operiert, sei der entsprechende Nachhaltigkeitsbericht 2018 anempfohlen:
Hier erfährt man, dass
„die beiden Dienstsitze des Bundesministeriums der Verteidigung in Bonn und Berlin zu 100% Ökostrom“ beziehen – und das schon seit 2015. Daneben waren „[z]um Jahresende 2017… insgesamt 292 Nutz- und Transportfahrzeuge mit Elektroantrieb im Einsatz.“ Auch ergab „eine Gesamtauswertung der Bestellungen von Recyclingpapier der Bundeswehr im Jahr 2017“, dass die 90%-Zielvorgabe „des Maßnahmenprogramms Nachhaltigkeit aus dem Jahr 2010 … in der Sparte Drucker- und Kopierpapier mit 91,18 % erreicht [wurde]“ (BMVg 2018).
Was so ein Panzer bei Übungen oder auch im Auslandseinsatz an CO₂ raushaut, was die Herstellung eines ebensolchen Kettenfahrzeugs an Ressourcen und Energie erfordert – oder wie es um die Umweltbilanz von Aufklärungsflügen bestellt ist, erfährt man hingegen nicht. Die Ausführungen des Nachhaltigkeitsberichts wirken, als wäre die Bundeswehr ausschließlich eine Behörde mit einigen Außenstellen. Dabei wäre es doch durchaus interessant, was die – nennen wir sie die ‚Außendienstler*innen‘ – jährlich an Ressourcen und Treibhausgasen verbrauchen.
Anlässlich der Bundestags-Diskussion um den Afghanistan-Krieg ergab die Antwort zu einer kleinen Anfrage im Jahr 2007:
„Der Kraftstoffverbrauch des Waffensystems TORNADO liegt in Abhängigkeit von Flughöhe, Fluggeschwindigkeit und anderen Variablen zwischen 30 und 100 kg pro Minute. Hieraus ergibt sich ein Kraftstoffverbrauch pro Flugstunde zwischen 1.800 und 6.000 kg. Aus einem Kilogramm des Turbinenkraftstoffs Kerosin und 3,4 kg Sauerstoff entstehen bei der Verbrennung im Triebwerk rund 3,15 kg Kohlendioxid (CO₂) und 1,24 kg Wasserdampf… Daneben entstehen weitere Abgaskomponenten“ (zit. nach Rosenkranz 2007).
Rechnung Minimal: Flugstunde = 1.800kg Kerosin x 3,15kg CO₂= 5,67 t CO₂/h
Rechnung Maximal: Flugstunde = 6.000kg Kerosin x 3,15kg CO₂= 18,9 t CO₂/h
Weitere Zahlen, die als Anhaltspunkte dienen:
„Die F-35, der modernste US-Kampfjet […]verbraucht etwa 5600 Liter Treibstoff pro Flugstunde, fast doppelt so viel wie ihr Vorgänger, die F-16.“ (Zand 2022)
„Ein Humvee, das Standardgefährt der US-Armee, verbraucht zwischen 25 und 50 Liter pro 100 Kilometer.“ (ebd.)
Nun, hier an weitere seriöse Zahlen zu kommen, ist schwierig. Festzuhalten ist, dass „Verteidigung … der zweitgrößte Etat im Bundeshaushalt“ (Schmeitzner 2019) ist, dass Deutschland 2020 einen Verteidigungsetat von 50,3 Mrd. Euro haben wird (vgl. Zeit 2019), dass die USA 2018 Militärausgaben in der Höhe von 649 Mrd. US-Dollar hatten (vgl. Statista 2019) – und dass Militärübungen und -operationen neben vielem Anderen definitiv auch äußerst Ressourcen- und Energie-intensiv sind. Wenn also ein Eurofighter vom Stillstand bis zum Abheben weniger als 8 Sekunden benötigt und dabei einen mit 6.215 Liter Kerosin gefüllten Tank (vgl. Rosenkranz 2015) mitführt und „ohne Nachbrennereinsatz … ca. 70-100 Liter Flugbenzin pro Minute“ (Pflüger 2019) verbraucht, dann ist damit mehr als angedeutet, dass der Bereich ‚Militär‘ auch in Klimafragen problematisch ist.
Naja, und SUVs werden zwar als Stadtpanzer bezeichnet, aber dieser Vergleich hinkt in Relation zum Leopard 2 dann doch: Das Teil schluckt im Gelände 530 Liter auf 100 Kilometern (vgl. wikipedia 2019).
Und dann ist da noch das Geschäft der deutschen bzw. internationalen Rüstungsindustrie:
„Das Geschäft mit Angriff und Verteidigung boomt weltweit: Im vergangenen Jahr haben die 100 größten Rüstungsfirmen dieses Planeten Waffen im Wert von umgerechnet 350 Milliarden Euro verkauft. Mit diesem Geld könnte man für ein Jahr den kompletten deutschen Bundeshaushalt finanzieren“ (Orange/Handelsblatt 2018).
>> Auch Deutschlands Rüstungsfirmen haben den ‚grünen Daumen‘: Nach Aussage der Rheinmetall Group ist „[d]ie Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen … von elementarer Bedeutung“ (Rheinmetall 2020a). Das Erprobungsgelände, auf dem „Rheinmetall seit über 100 Jahren Fahrzeuge, Waffen und Munition“ (Rheinmetall 2020b) erprobt, wird zu „nahezu neunzig Prozent forstwirtschaftlich genutzt … Das Ergebnis dieses [langjährigen] Engagements [für aktiven Naturschutz] ist eine ungewöhnlich reiche Pflanzenwelt, die wiederum eine seltene Vielfalt von Insekten und Vögeln anzieht und darüber hinaus großen Wildtierbeständen eine Heimat bietet“ (ebd.).
Imagine.
In Zeiten, in denen die Menschheit den Kampf um die Bewahrung ihrer existenziellen Lebensgrundlagen wenn nicht sogar um das eigene Überleben als Spezies führt, wäre es wohl – endlich, endlich – an der Zeit, aufzuhören, sich gegenseitig zu bekämpfen und zu vernichten.
Ein frommer Wunsch?
Imagine, was allein mit dem Geld der Rüstungsindustrie und den jährlichen US-Militärausgaben alles erreicht werden könnte…
>> s.a. Aspekt U.S. military greenhouse gas emissions, S. 89 im Abschnitt Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen, S. 83.
Quellen des Abschnitts Bundeswehr & Rüstungsindustrie in ökologischer Perspektive
Kreutzfeldt, Malte (2019): „CO₂-Ausstoß der Bundeswehr: Auf Kriegsfuß mit dem Klimaschutz“. In: tageszeitung, 18.9.2019, online unter https://taz.de/CO2-Ausstoss-der-Bundeswehr/!5627003/ (Abrufdatum 13.11.2019)
Orange/Handelsblatt (2018): „Das Geschäft der größten deutschen Waffenhersteller“. In: orange by Handelsblatt, 11.12.2018, online unter https://orange.Handelsblatt.com/artikel/52811/ (Abrufdatum 13.11.2019).
Mit dem Pariser Abkommen von 2015 hat sich die Weltgemeinschaft völkerrechtlich verbindlich darauf verständigt, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu beschränken und sich darüber hinaus anzustrengen, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen (s.a. Seite 161).
Auf Basis dieser Angaben lässt sich die Menge der verbleibenden möglichen CO2-Emissionen für die Weltgemeinschaft, für die einzelnen Länder und auch für jeden einzelnen Menschen errechnen.
Update September 2022
Angesichts der Tatsache, dass derzeit lediglich 1,8 % der globalen Endenergie von Wind und Solar stammen, ist alle Kraft und quasi alle noch einzusetzende fossile Energie in den massiven Umbau des Energiesektors zu investieren: Es gibt – anders als nachfolgend in diesem Abschnitt ausgeführt – m.E. kein „Freischuss“-CO2-Budget mehr – weder globale, für Staaten noch für Personen. Daher ist dieses Kapitel nicht mehr ‚Up to date‘ und mit entsprechendem Vorbehalt zu lesen bzw. zu behandeln – es wird zu gegebener Zeit überarbeitet.
[Offenlegung durch Transparenz: Marc Pendzich war zwischen 2019 und 2022 Mitglied des Zukunftsrats Hamburg und hat an dieser Pressemitteilung sowie der Entwicklung der Zahlen mitgewirkt.]
Wie viel CO₂ wir noch emittieren ‚dürfen‘:
Globales CO₂-Budget:
Die Klimaforscher*innen haben für den IPCC-Sonderbericht 2019 ein globales CO₂-Budget errechnet, also die Menge an Treibhausgasen, die wir als Weltgemeinschaft höchstens noch in die Atmosphäre bringen ‚dürfen‘:
(rechts oben der Button für das wichtige 1,5°-Celsius-Ziel)
Um das 1,5-Grad-Ziel mit einer nach Ansicht des IPCC ‚hohen‘ Wahrscheinlichkeit von 67% zu erreichen, hatten wir Anfang 2018 das Budget von 420 Gt CO₂ und 10 Jahre Zeit, aktuell (Januar 2021) = 7 Jahre Zeit, also bis etwa 2028…
Um die 2,0-Grad-Marke mit einer ‚hohen‘ Wahrscheinlichkeit von 67% zu erreichen, hatten wir Anfang 2018 das Budget von 1.170 Gt CO₂ und noch etwa 27 Jahre Zeit, aktuell = 24 Jahre, also bis etwa 2045…
Um das 1,5-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% zu erreichen, hatten wir Anfang 2018 das Budget von 580 Gt CO₂ und 14 Jahre Zeit, aktuell = 11 Jahre, also bis etwa 2032…
Um diie 2,0-Grad-Marke mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% zu erreichen, hatten wir Anfang 2018 das Budget von 1.500 Gt CO₂ und noch etwa 35 Jahre Zeit, aktuell = 32 Jahre, also bis etwa 2052…
… um global klimaneutral zu leben (vgl. IPCC 2018).
>> Das Pariser Abkommen formuliert das „deutlich unter 2 Grad“-Ziel, weshalb es irritierend ist, dass der IPCC-Sonderbericht 2019 hin-gegen von einem 2-Grad-Ziel schreibt, welches zugunsten des 1,5-Grad-Ziel unbedingt zu vermeiden sei. Obenstehend wird deshalb der Begriff ‚2-Grad-Marke‘ verwendet.
Derzeitige sekündliche globale Emissionen: ca. 1.331 t CO₂ (vgl. ebd.)
Tendenz: steigend – genauer: zunehmend langsamer steigend von Jahr zu Jahr (vgl. Zeit 2019, s.a. Aspekt CO2-Emissionen weltweit auf S. 52)
Das bedeutet, dass wir – wenn wir Menschen jährlich weiterhin auf dem 2018er Niveau CO₂ emittieren (würden) – spätestens ab dem jeweils genannten Zeitpunkt abrupt und ‚von heute auf morgen‘ global insgesamt Netto-Null-Emissionen benötigen, d.h. wir dürfen als Weltgemeinschaft nur noch so viel CO₂ pro Jahr in die Atmosphäre ausbringen, wie die Natur durch ihre sog. Systemdienstleistungen der Atmosphäre entnimmt, z.B. durch Photosynthese, Aufforstung, Humusbildung durch regenerative/bodenbewahrende Agrarkultur und Renaturierung von Mooren.
>> vgl. Abschnitt Weitere politische Ziele bzw. hochwirksame Maßnahmen zum Klimaschutz, S. 468 u. Abschnitt Bodenbewahrende Agrarkultur: Humus und Kompost statt Stickstoff, S. 572; weiteres zu sog. Systemdienstleistungen siehe Abschnitt Massenaussterben | Biodiversitätsverlust, S. 669, Aspekt Der Mensch ist auf sog. ‚Ökosystemdienstleistungen‘ angewiesen, S. 671.
Graeme Maxton rechnet vor (auf Basis der 50%igen Wahrscheinlichkeit für die 2 °C-Marke):
„Wenn die Staatengemeinschaft die Problematik … bis 2020 (allerspätestens) ernsthaft in Angriff nimmt und die Emissionen um 1,25 Gigatonnen pro Jahr reduziert, kann die Dauer der Umstellung auf bis zu 30 Jahre verteilt werden. Kommt sie erst 2025 ernsthaft in die Gänge, müssen die Emissionen viel stärker reduziert werden – um 1,7 Gigatonnen pro Jahr (40 Prozent mehr) – um das Ziel zu erreichen“ (Maxton 2018, 40).
Details: 2020 als 'Crucial Year'
2020 gilt vielen Klimaaktivist*innen als das Jahr, ab dem es gelingen muss, jährlich weniger Treibhausgase zu emittieren. Dieses Anliegen geht maßgeblich zurück auf einen Appell vom 28.6.2017 von Christiana Figueres, Schellnhuber, Gail Whiteman, Rockström, Anthony Hobley und Rahmstorf: „When it comes to climate, timing is everything.“ Gemeint ist, dass mit jedem ungenutzten Jahr der Zielpfad steiler wird und damit die jährlichen Reduktionsziele immer schwerer einzuhalten sein werden, weil immer radikalerer Veränderungen notwendig sein werden, um die in Paris vereinbarten Ziele noch rechtzeitig zu erreichen. Latif bestätigt 2020 die Notwendigkeit eines ‚Scheitelpunkt 2020‘ im Interview mit dem Spiegel. Rahmstorf betont regelmäßig, dass es die Lage zwar immer dramatischer wird, die eine definierte Reißleine, nach der gar nichts mehr geht, so nicht gibt, vgl. S. 58.
23. Juli 2019
Greta Thunberg spricht elf Minuten lang vor der Assemblée nationale (dem französischen Parlament) in Paris und wiederholt VIER Mal, dass uns noch gerade mal 8,5 Jahre [Januar 2021 = 7 Jahre] bleiben, um mit einer 67%igen Chance das 1,5°-Ziel zu erreichen.
Wir reden hier über 67%ige Chance, die Erderhitzung bei den vom IPCC dringend empfohlenen 1,5 °C zu halten:
Würden Sie sich in ein Flugzeug setzen, dessen Baureihe statistisch gesehen in zwei von drei Fällen keine Bruchlandung hinlegt? Und in einem von drei Fällen abstürzt?
Das so oft bemühte Ziel ‚Klimaneutralität bis 2050‘ basiert auf dem Pariser „deutlich unter 2 Grad“-Ziel – mit einer Erreichungswahrscheinlichkeit von 50%:
Die Politiker*innen dieser Welt setzen Ziele, die mit einer Münzwurfwahrscheinlichkeit einhalten werden.
Wir verbringen Wochen damit, um die perfekte Küche für unser Eigenheim zu finden – für das Weltklima reicht es uns, die Münze zu werfen?
Die Rechnung mit CO2-Budgets ist extrem hilfreich, u.a., weil sie die Erkenntnis, dass unsere Möglichkeit zu emittieren tatsächlich Grenzen hat, verdeutlicht – im Unterschied zu Reduktionszielen, die nur relativ bzw. prozentual vom heutigen Stand ausgehen und die Grenze bzw. das Ziel eher verschleiern.
Daher hier noch einmal in aller Deutlichkeit:
Es geht gar nicht um eine Reduktion von Treibhausgasen. Es geht um Klimaneutralität, also um Netto-Null-Emissionen.
>> siehe dazu das Statement des Klimatologen Anders Levermann im Intro S. 26.
Der Dalai Lama: „Das Kohlenstoff-Budget, das uns nach den Berechnungen der Wissenschaftler noch bleibt, ist sehr klein. Deshalb muss dieses Budget die wichtigste Währung unserer Zeit werden“ (zit. in Alt 2020, 42).
Abschließend ist festzuhalten, dass weder das 1,5 Grad-Ziel noch das deutlich unter 2 Grad-Ziel derart absolut gesetzt sind, dass das Überschreiten der entsprechenden Budgets nachfolgend unweigerlich die Apokalypse nach sich ziehen würde.
Stefan Rahmstorf dazu:
„Die Klimaziele beruhen auf der Erkenntnis, dass die Folgen des Klimawandel drastisch zunehmen, je stärker sich der Planet erwärmt – nicht jedoch auf der Annahme, dass beim Überschreiten eines konkreten Schwellenwerts die Apokalypse hervorbricht, während vorher alles in bester Ordnung war“ (IPCC 2020).
CO2-Budgets und Gradziele beruhen auf Risikoabwägungen. Und das Risiko steigt mit jedem weiteren 10tel Grad, Kipppunkte zu überschreiten.
Quellen des Abschnitts Globales CO₂-Budget
Alt, Franz (2020): Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt: Schützt unsere Umwelt. [Der Dalai Lama im Gespräch mit Franz Alt]. Benevento.
Maxton, Graeme (2018): Change. Warum wir eine radikale Wende brauchen. Komplett-Media.
MCC (2020): „Verbleibendes CO₂-Budget. So schnell tickt die CO₂-Uhr“. in: Mercato Research Institute on Global Commons and Climate Change, online unter https://www.mcc-berlin.net/forschung/co2-budget.html (Abrufdatum 9.6.2019)
Globales CO₂-Budget, förderbare Erdöl-/Kohle-/Gas-Vorkommen & die fossilen Industrien
Aus dem globalen CO₂-Budget ergibt sich des Weiteren konkret, wie viel die global agierende fossile Industrie fördern, verfeuern und emittieren darf/kann/soll. (In Relation zum Status quo eigentlich quasi nichts mehr!)
Im Unterschied zum Befund von ‚Die Grenzen des Wachstums‘ des Club of Rome1 und den Ölkrisen der 1970er Jahre, ist nicht mehr die Endlichkeit der fossilen Rohstoffe die Herausforderung, sondern das ‚Zuviel‘ an förderbarem Erdöl/Kohle/Gas:
„Here’s the big problem. If you look at how much oil and coal and gas companies already have in their proven reserves, you’ll notice one thing:
It’s up to five times as much as the entire carbon budget for the earth. If we let them digg it all up, we’re cooked. If it stays in the ground, we have a chance.“ (Klein/Lewis 2015)
Und:
„In den letzten Jahren haben wir eine Menge Erdgas in den Vereinigten Staaten entdeckt, die dem Doppelten der Ölvorräte Saudi-Arabiens entspricht“ (Klein 2015, 377) –
zitiert Naomi Klein Aubrey McClendon, seinerzeit CEO des Unternehmens Chesapeake Energy.
„2011 führte die Carbon Tracker Initiative… sämtliche von staatlichen und privaten Förderunternehmen angegeben Reserven … [auf]. Danach entsprechen die Öl-, Gas- und Kohlevorkommen, auf die diese Unternehmen bereits Anspruch erheben – Vorkommen, die schon jetzt in ihren Büchern stehen und mit denen Gewinne für ihre Aktionäre erzielt werden – 2.795 Gigatonnen Kohlenstoff. Das ist äußerst problematisch, weil wir in etwa wissen, wie viel Kohlenstoff wir von heute bis zum Jahre 2050 verbrennen dürfen, wollen wir eine ernsthafte Chance wahren (ungefähr 80 Prozent), die Erwärmung unter 2 [!] Grad Celsius zu halten: 565 Gigatonnen Kohlenstoff in der Zeit von 2011 bis 2049“ (Klein 2015, 185) – was dem o.g. Fünffachen entspricht. Klein schätzt den Wert dieser in den Büchern stehenden Reserven auf ca. 27 Billionen Dollar (vgl. ebd., 186).2
>> vgl. Aspekt ‚Committed Emissions‘, S. 92
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Erläuterung Club of Rome: Ein Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen aus aller Welt aus diversen Fachbereichen. Berühmt wurde der Club of Rome 1972 durch die Veröffentlichung des Bestsellers ‚Die Grenzen des Wachstums‘, welches der Menschheit global erstmals klarmachte, dass ein endloses Wachstum in einer begrenzten Welt nicht geben kann und mit Umweltverheerungen einhergehen muss.
2 Derweil ist die Erdölfördergesellschaft Saudi Aramco 2019 in Folge des größten Börsenganges der Welt das weltweit finanzstärkste Unternehmen geworden (vgl. Göpel 2020, 111). Laut The Guardian ist Saudi Aramco auch im Bereich CO2-Emissionen Spitzenreiter. Mit den von der Firma geförderten fossilen Produkten wurden seit 1965 59,25 Milliarden CO2e in die Atmosphäre gebracht (vgl. Taylor/Watts 2019).
Wenn man dann noch berücksichtigt, wie viele Quellen durch technologische Fortschritte künftig theoretisch zusätzlich erschließbar sind und weiterhin die Tatsache einbezieht, dass viele Quellen überhaupt erst durch die Erderhitzung erschließbar werden (z.B. durch Eisschmelze), dann wird deutlich, dass die Menschheit gefordert ist, diese Rohstoffe bewusst in der Erde zu lassen.
„Wenn wir jetzt nichts gegen den Klimawandel unternehmen, werden wir in 50 Jahren getoasted, geröstet und gegrillt.“ Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) 2017 gegenüber Wirtschaftsvertreter*innen u.a. aus Saudi-Arabien (Lesch/Kamphausen 2018, 156).
Und das bedeutet, dass die fossilen Industrien „nicht in ihrer jetzigen Form überleben [können], wenn wir Menschen uns nicht selbst ausrotten wollen“ (Klein 2015, 84).
Angesichts des immensen finanziellen Anreizes, diese Rohstoffquellen auszuwerten, könnte sich die Umsetzung einer Merkel’schen freiwilligen Selbstverpflichtung eher schwierig gestalten. Ich glaube nicht, dass hier Freundlichkeit, ein Stuhlkreis, der Wille zum Konsens oder gar unverbindliche Industriezusagen weiterhelfen werden.
Michael Kopatz beendet sein Buch Schluss mit der Öko-Moral mit den Worten:
„Es wäre naiv zu glauben, der Wandel einer Wirtschaftsbranche ließe sich Hand in Hand mit den Profiteuren der alten Ordnung bewerkstelligen. Wir müssen kämpfen“ (2019, 236).
Das gilt letztlich für alle Bereiche „der alten Ordnung“.
Aber erst recht für die größte Industrie der Welt.
Die Lage ist dramatisch.
Es ist erforderlich, das Geschäftsmodell einer 1,3-Billionen-Dollar-Industrie zu zerstören.
Details zu dieser Zahl
Diese Zahl bezieht sich allein auf den Umsatz der sog. ‚Supermajors‘ der fünf größten Ölkonzerne der Welt (vgl. Witsch 2019). Der Journalist Chris Hayes wies 2015 darauf hin, dass man sich „von Reichtum in der Größenordnung mehrerer Billionen Dollar zu verabschieden“ (Klein 2015, 546) habe, wofür es wohl nur einen einzigen Präzedenzfall gäbe, nämlich die Abschaffung der Sklaverei (vgl. ebd., 547); s. Aspekt freiwillige Selbstdeprivilegierung, S. 508f.
Hier können keine Sonderinteressen von Belang sein. Es geht schlicht nicht.
‚Pictures help‘ – ein Bild:
Unser Planet hatte einst eine heiße Atmosphäre, die sehr viel CO₂ enthielt: Die Erde war eine heiße CO₂-Hölle. Es bildeten sich Lebensformen, welche Kohlenstoff C von dem CO₂ zum Leben brauchen. Meist mit Hilfe der Photosynthese entzog dieses pflanzliche Leben dem CO₂ das C. Übrig blieb sozusagen der nicht benötigte Abfallstoff Sauerstoff O₂. Als es ausreichend von diesem Abfallprodukt O₂ in der Atmosphäre gab, entstand eine andere Form von Leben, das genau dieses Abfallprodukt zum Leben braucht: Tierisches Leben. Tierisches Leben ist also eine Art Gegenspieler zum pflanzlichen Leben, denn atmet O₂ ein und gibt beim Ausatmen CO₂ in die Atmosphäre. So entstand ein Kreislauf und langfristig eine gewisse Balance – wobei im Laufe der Jahrmillionen der Atmosphäre nach und nach mehr und mehr C bzw. CO₂ entzogen wurde – so wurde es langsam kühler auf der Erde. (Lassen wir mal die Eiszeiten etc. vereinfachend beiseite). Wenn die Pflanzen, die das C gespeichert enthielten, starben, fielen sie auf den Waldboden und wurden von anderen Pflanzen, Bäumen, Laub etc. irgendwann auf verschiedene Weise verdeckt. Durch unterschiedliche Vorgänge – z.B. durch Luftabschluss und Druck – wurden aus dem Kohlenstoff C fossile Stoffe wie Öl, Kohle oder Gas. Wenn wir diese fossilen Stoffe (bestehend aus C) in der Luft/Atmosphäre verbrennen, zieht das Feuer – wie wir alle wissen – Sauerstoff (O₂) an, sonst kann es nicht brennen. Das Feuer würde ersticken ohne O₂. Der Kohlenstoff C verbrennt also, in dem er das C mit dem O₂ zusammenbringt, zu CO₂.
Dieses Bild macht auch deutlich, dass Kohlenstoff nicht unser Feind ist, wie man angesichts der vielen Hiobsbotschaften rund um ‚ausgestoßenes‘ CO2 denken könnte. Der Kohlenstoffkreislauf, dessen historischer Teil im vorangegangenen Absatz dargestellt wurde – ist der grundlegende natürliche Prozess[2], der unser Leben ermöglicht, den wir Menschen aber aus der Balance gebracht haben: Kohlenstoff C und Kohlendioxid CO2 sind für sich genommen nicht schädlich – es geht um die Menge des CO2 in der Atmosphäre.
Details zum Begriff 'Kohlenstoffkreislauf'
Kohlenstoffkreislauf oder Kohlestoffzyklus meint den natürlichen Kohlestoffaustausch zwischen Atmosphäre, Landvegetation und Ozean, die allesamt sowohl Quellen als auch Senken sind. Ohne Industrialisierung ist dieser Prozess weitgehend und über einen sehr langen Zeitraum in Balance gewesen (vgl. Fußnote zu Treibhauseffekt S. 53). So betragen „[d]ie natürlichen Austauschmengen … zwischen Atmosphäre und Land 120 Gt C/Jahr (Gigatonnen Kohlenstoff pro Jahr) und zwischen Atmosphäre und Ozean 70 Gt C/Jahr“ (bildungsserver 2020). Seit der Industrialisierung kommt vor allem durch Verbrennung fossiler Brennstoffe sowie der Produktion von Zement mehr CO2 in die Atmosphäre (vgl. Aspekt CO2-Gehalt der Atmosphäre, S. 52f.). Der einfachste Teil des Kohlenstoffkreislaufes ist der oben beschriebene mit dem Wechselspiel zwischen CO2 und O2 zwischen Pflanzen und Tieren. Ein Teil des CO2, das Pflanzen binden, wird in den Boden eingetragen und verbleibt dort zu einem guten Teil z.B. in einem Jahrmillionen währenden Prozess in Form von eingelagertem Kohle, Gas oder Öl. Wenn Wälder sterben/brennen, wird CO2 in die Atmosphäre getragen… Das Meer nimmt einen Teil des CO2 via gelöstem Carbonat (auch über Muschelkalk) auf, über Phytoplankton, welches gefressen wird sowie durch absterbende Meeresorganismen, die sich am Meeresboden ablagern und via Druck zu Sedimentgestein werden … CO2 wird an Land in Kalkstein gelagert und gelangt durch Verwitterung selbigen Gesteins in die Atmosphäre. All diese Teilprozesse ergeben einen natürlichen, in sich stabilen Kohlekreiselauf – solange man nicht anfängt, die eingelagerten fossilen Kohlenstoffe in die Atmosphäre einzubringen.
Was also passiert – einfach ganz logisch betrachtet – wenn wir Menschen den zuvor über einen unvorstellbar langen Zeitraum von Jahrmillionen hinweg nach und nach der Atmosphäre entzogenen Kohlenstoff als CO₂ – innerhalb von gerade mal 250 Jahren – wieder in die Atmosphäre jagen?
Konkret verfeuert die Menschheit derzeit jedes Jahr – Jahr für Jahr – so viel Erdöl, Kohle und Gas, wie „sich zur Zeit der Entstehung … in rund einer Million Jahre gebildet hat“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 34).
Ganzheitlicher ausgedrückt: Wir konfrontieren unseren Planeten jährlich sozusagen mit der in einer Million Jahren gespeicherten Sonnenenergie.
Wir verändern die Zusammensetzung der Atmosphäre – und machen sie wieder, mit jedem Liter Öl, mit jedem Feuer, mit jeder Kohleladung, mit jedem Entzünden eines Gasofens, Stück für Stück zu der eingangs beschriebenen immer wärmeren und schließlich heißen CO₂-Hölle:
Wir feuern uns klimatisch gesehen sozusagen ins Dinosaurierzeitalter zurück.
Für dieses Klima sind wir definitiv nicht gemacht. Und unsere Häuser, unsere Technik, unsere Flora und Fauna auch nicht.
Zum Verständnis dieses Bildes bedarf es keines naturwissenschaftlichen Studiums. Wie kann es sein, dass das so lange kaum jemand gesehen hat bzw. sehen wollte?
Weiter im Bild des ‚Dinosaurierzeitalters‘:
Über die Grünen wurde in der Vergangenheit immer mal wieder gesagt, wenn es nach ihnen ginge, lebten wir bald alle wieder in Baumhäusern.
Es ist genau umgekehrt: Die Grünen sind derzeit die einzige (parlamentarisch relevante) Partei, die aktuell wenigstens ein bisschen – wenn auch viel zu zaghaft – daran arbeitet, dass unsere Nachfahren – um im Bild zu bleiben – nicht wieder in Baumhäusern leben müssen.
>> Siehe Aspekt Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln in Abschnitt Wir sind Erde, S. 47.
Vor genau diesem Hintergrund ist der Anfang 2020 ausgetragene Disput zwischen Fridays for Future – vertreten durch Luisa Neubauer – und dem Siemens-Chef Joe Kaeser zu sehen. Letzterer entschied sich (angeblich nach dem Treffen mit Neubauer), inmitten der verheerenden australischen Wald- und Buschbrände an dem Auftrag festzuhalten, eine Zugsignalanlage für ein im Entstehenden begriffenes riesiges Kohlebergwerk in Australien zu liefern.
Neubauer bezeichnet Kaesers Entscheidung als „aus dem Jahrhundert gefallen“ (Spiegel 2020a)1. Die Adani Mine ist ein Projekt des indischen Industriekonzerns Adani, der hier „bis zu 60 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr“ (Spiegel 2020b) vornehmlich für den indischen Markt fördern möchte. Die Kohle soll mittels Eisenbahn vom Bergwerk zum zukünftig „weltgrößten Kohlehafen“ (Kern 2020) von Abbot Point transportiert werden – und hier kommt Siemens mit seiner Signalanlage ins Spiel, „die Züge vor dem Entgleisen schützt“ (ebd.).2
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Auch die Deutsche Bank, die m.E. nicht verdächtig ist, äußerst progressiv zu sein, hat [gemäß taz im Juni 2020] eine Finanzierung des Projektes ausgeschlossen „um nicht mit einem Projekt in Verbindung gebracht zu werden, das laut [dem Aktivisten David] Anderson die Rechte der lokalen Ureinwohner mit Füßen trete, schon in der Bauphase massive Umweltschäden anrichte und schließlich für höhere CO2-Jahresemissionen verantwortlich sei als das Land Chile“ (Wälterlin 2020, 5). Update Juli 2020: Laut der Umwelt-NGO Urgewald unterstützt „[d]ie Deutsche Bank eine Tochter des indischen Mischkonzerns Adani bei der Ausgabe einer milliardenschweren Anleihe“ (Schöneberg 2020, 8), wie ebenfalls die taz meldet: „‚Die Bank schafft es leider immer wieder, unsere niedrigen Erwartungen an ihren Klima-Ehrgeiz noch zu unterlaufen‘, sagte Urgewald-Campaignerin Regine Richter“ (ebd.).
2 Vom Hafen von Abbot Point fahren dann „[d]ie Riesen … unter anderem durch das empfindliche Ökosystem des Great Barrier Reef“ (Klein 2015, 364). Kern fügt hinzu: „Erst nach Protesten wurde zugesagt, den Abraum des Hafenausbaus nicht einfach in das Korallenriff zu kippen“ (2020). Das Great Barrier Reef liegt direkt vor der Küste von Abbot Pont, vgl. Google Earth, Suchzeileneingabe: „from:Adani Mine to:Abbot Point“ – das Dunkle vor der Küste in das Great Barrier Reef.
Hier geht in erster Linie um die Frage, inwieweit es künftig für deutsche oder auch internationale Unternehmen opportun ist, noch mit fossilen Industrien zusammenzuarbeiten.
Update Juli 2020:
„Die frisch von Siemens abgespaltene Gesellschaft Siemens Energy will Turbinen an die Kohlekraftwerksblöcke Jawa 9 und 10 auf der indonesischen Insel Java liefern…, man komme [lediglich] seiner Vertragspflicht nun nach“ (Schwarz 2020, 8). Luisa Neubauer kommentiert dies so:
„Wenn alle bereits geschlossenen Verträge mit fossilen Unternehmen umgesetzt werden, ist eine globale Erwärmung von mehr als 2 Grad nicht mehr zu verhindern“…
Dass ein Vertrag bereits geschlossen sei, sei deshalb kein Argument mehr“ (ebd.).
>> vgl. Aspekt Committed Emissions, S. 92f. >> vgl. Aspekt Divestment, S. 480, im Abschnitt Weitere politische Ziele bzw. hochwirksame Maßnahmen zum Klimaschutz.
Quellen des Abschnitts Budget für fossile Industrie
Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein.
Klein, Naomi (2015): Kapitalismus vs. Klima. Die Entscheidung. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
Klein, Naomi und Lewis, Avi (2015): This Changes Everything. Film-Doku inspiriert durch Naomi Kleins Buch This Changes Everything: Capitalism vs. Climate, deutscher Titel: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima.
Lesch, Harald und Kamphausen, Klaus (2018): Wenn nicht jetzt, wann dann? Handeln für eine Welt, in der wir leben wollen. Penguin.
Schöeneberg, Kai (2020): „Kohlesündern unter die Arme greifen“. in: tageszeitung, 13.7.2020, S. 8.
Schwarz, Susanne (2020): „Siemens kann die Kohle nicht lassen“. in: tageszeitung, 28.7.2020, S. 8.
Wälterlin, Urs (2020): „Ein Weltwunder stirbt“ [Hauptüberschrift des Titelblatts: „Australiens Wasserleiche“]. in: tageszeitung, 8.6.2020, S. 4-5.
Nationales CO₂-Budget (Deutschland)
Auf Basis des verbindlichen Pariser Abkommens von Ende 2015 und des IPCC-Sonderberichts von 2019 lassen sich nationale Emissionsbudgets errechnen.
Stefan Rahmstorf über das nationale CO2-Budget Deutschlands:
‚Deutlich unter 2 °C‘ = 1,75 °C mit einer Wahrscheinlichkeit von 67% = globales Budget 880 Gt CO2 seit Anfang 2016. Deutschlands Anteil an der Weltbevölkerung = 1,1% >> Deutschlands Budget seit Anfang 2016 = 9,7 Gt CO2. Jährliche Emissionen derzeit = 0,8 Gt CO2 >> Budget seit Anfang 2020 = 6,5 Gt CO2. Mit einer „sportlichen“ (Rahmstorf 2019) jährlichen Minderung von rund 6% der heutigen Emissionen – und nur dann – reicht das Budget Deutschlands noch bis inkl. 2035.
Zusammengefasst:
Deutschlands CO2-Budget
beträgt Anfang 2020 = 6,5 Gt CO2
ist Ende 2035 erschöpft, bei einem ‚sportlichen‘ Reduktionspfad von jährlich -6%
Fazit: Laut Stefan Rahmstorf haben wir noch rund 15 Jahre bis zur notwendigen Klimaneutralität Deutschlands.
Das Bundesumweltministerium twitterte zu dieser Berechnung von Rahmstorf:
„Die Fakten von @rahmstorf sind korrekt. Die Annahmen zur fairen Verteilung der Restemissionen sind nachvollziehbar, entsprechen aber nicht den bisherigen Minderungen oder Zielen vieler Staaten. Die Bundesregierung wird Deutschland 2019 auf den Pfad zur Treibhausgasneutralität bringen“ (1:33 AM, 3. April 2019, zitiert in Rahmstorf 2019).
>> Gleichwohl diese Fakten vom Bundesumweltministerium anerkannt werden, weigert sich die Bundesregierung, eine CO2e-Budgetrechnung zu erstellen – die grundlegende Zahl schlechthin, ohne die jedes Klimagesetz ein stumpfes Schwert, d.h. unverbindlich bleibt, vgl. Abschnitt Intro, S. 24f.).
In der Dimension übereinstimmend kommt auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) zu einem in der Dimension gleichen Ergebnis: Der Rat errechnet 2037 als erforderliches Datum für Deutschlands Klimaneutralität (vgl. SRU 2019, SRU 2020).
Rahmstorf führt weiter aus:
„Ab dem Jahr 2036 dürfen wir nichts mehr emittieren! Spielraum für Emissionen danach kann man sich nur erarbeiten, indem man dafür anfangs schneller reduziert – z.B. durch Abschalten von Kohlekraftwerken – oder durch negative Emissionen, denn relevant sind ja die Netto-Emissionen.“ (2019)
Das wirft die Frage auf, in welcher Dimension Deutschland auf natürliche negative Emissionen zurückgreifen kann:
„Mittels natürlichen Senken speichert Deutschland derzeit nur 15 Millionen [Tonnen Treibhausgase] pro Jahr.“ (Geden/Strefler 2019)
Zusätzliche Waldpflanzungen, Moor-Renaturierungen und „schonendere Methoden in der Landwirtschaft“ (ebd.) können hier ein wenig unterstützend wirken – aber klar ist: Da Deutschland 2020 auf dem Niveau von gut 800 Millionen Tonnen1 jährlich Treibhausgase emittiert, bedeutet die erforderliche netto-Null-Emission für Deutschland faktisch eine quasi vollständige Abkehr von CO2e-Emissionen.
Deutschland muss runter von jährlich etwa 785 Millionen Tonnen CO₂e! Das ist dramatisch – und das bildet sich nicht annähernd ab im ‚Klimapaket‘ und den Absichtserklärungen unserer Politiker*innen.
Logische Konsequenz:
Wenn wir so etwas wie einen grundlegenden Wohlstand erhalten möchten, haben wir jetzt umgehend alle Hebel in Bewegung zu setzen.
Fahren wir unsere CO₂-Emissionen in den nächsten Jahren sehr schnell deutlich zurück, verlängern sich die Deadlines um einige wenige Jahre.
Aber nach dem Aufbrauchen des Budgets gilt die netto-Null-Emission, global und für Deutschland.
Und das bedeutet nicht weniger als die nahezu vollständige Ersetzung dessen, was unsere Welt am Laufen hält: Kohle, Gas, Öl.
Schlussgedanke:
Rahmstorfs Rechnung basiert auf der mit 67%-Wahrscheinlichkeit-„deutlich unter 2 °C“-Formel – und nicht auf dem, was der IPCC in seinem Sonderbericht vom Herbst 2018 für dringend erforderlich hält, nämlich die Einhaltung des 1,5°-Ziels.
>> Womit das Budget eigentlich noch viel kleiner ist, als Rahmstorf – der eben die völkerrechtlich bindende Pariser Einigung zu Grunde legt – errechnet.
Details: Erläuterungen zu (1) Zahl 'gut 800 Mio Tonnen Treibhausgase'
Zahl „gut 800 Mio Tonnen Treibhausgase“ vgl. Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland, S. 76. „Weiterhin ist der Berechnung zugrunde gelegt, dass die jährlichen Emissionen auf dem Niveau von 2017 verharren, während die neuesten Zahlen zeigen, dass die Emissionen immer noch steigen“ (MCC 2019). So stieg „der CO₂-Ausstoß aus fossilen Brennstoffen [2018 gegenüber 2017] um 1,8 Prozent auf einen neuen Rekordwert“ (Eichhorn 2019).
Nationales CO₂-Budget (Deutschland):
Kohlekompromiss und ‚Klimapaket‘
Der sog. Kohlekompromiss, also das Verhandlungsergebnis der bundesdeutschen Kohlekommission im Frühjahr 2019, welches den Kohleausstieg bis 2038 vorsieht, reicht laut Klimaforscherin Brigitte Knopf für das 1,5°-Ziel nicht aus:
„Wenn man die Messlatte von nur 1,5 Grad Temperaturanstieg anlegt, ist die Strategie der Kohlekommission nicht Paris-kompatibel“ (Seidler/Römer 2019).
>> Brigitte Knopf ist Generalsekretärin des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC)
>> Kohleausstiegsdatum anderer Staaten: Belgien = 2016; Dänemark = 2030; Frankreich 2021; Irland = 2025; Italien = 2025; Kanada = 2030; Niederlande = 2030; Schweden = April 2020; Großbritannien = 2025 (vgl. wikipedia 2020)
Das gleiche ist über das am 20. September 2019 von der derzeitigen Bundesregierung verkündete ‚Klimapaket‘ in der Höhe von 54 Mrd. Euro zu sagen. So erwartet die Präsidentin des Umweltbundesamts, Maria Krautzberger „von der im Klimaschutzpaket der Bundesregierung geplanten CO₂-Bepreisung ‚keinerlei Lenkungswirkung‘“ (Zeit 2019a).
Mehr Ohrfeige geht nicht.
Da der Bundesregierung klar zu sein hat, dass das ‚Klimapaket‘ nicht ausreicht, hat sie sich – in den Worten des Spiegel – „für den Weg des kalkulierten Vertragsbuches [des Pariser Abkommens] entschieden“ (Stukenberg 2019, 8).
>> Zum zielverfehlenden ‚Klimapaket‘ s.a. Abschnitt Intro, S. 25f.
Update Dezember 2019 mittels eines Zitats von Brigitte Knopf:
„Die Nachschärfung [u.a. via Einstiegspreis auf 25 Euro und einer Entlastung der Bürger über die EEG (vereinfacht: über den Strompreis)] ist ein substanzieller Schritt in die richtige Richtung, um die Klimaziele für das Jahr 2030 zu erreichen. Das wird zwar noch nicht reichen, aber die Klimaschützer haben sich hier gegen die Bremser durchgesetzt. Das ist zum Jahresende ein ermutigendes Signal“ (Römer 2019).
Thema 54 Mrd. Euro:
Die Bundesregierung gibt wesentlich mehr Geld gegen den Klimaschutz aus als für den Klimaschutz, s. Pendzich: Handbuch Klimakrise, 2020, S. 67 | handbuch-klimakrise.de
Was von Medien, Klimaforscher*innen und Umweltschutzorganisationen überraschenderweise kaum aufgegriffen wurde, ist die Tatsache, dass das Budget des Klimaschutzpaktes von 54 Mrd. Euro zunächst oberflächlich gesehen hoch und in diesem Sinne beeindruckend erscheinen mag.
Diese 54 Milliarden Euro sollen bis inkl. 2023 ausgegeben werden, d.h. der Mittelwert beträgt jährlich 13,5 Mrd. Euro.
Laut der aktuellsten Studie des Umweltbundesamtes zu umweltschädlichen Subventionen in Deutschland liegen diese in der Höhe von mindestens157,079 Milliarden Euro – jährlich (UBA 2016)2. Es ist nicht erkennbar, dass hier das ‚Klimapaket‘ korrigierend, d.h. subventionsabbauend, eingreift.
Nicht erfasst sind in den 57 Milliarden Euro indirekte Subventionen, also Subventionen, die keine Budgetwirkung haben, sondern dadurch entstehen, dass Kosten externalisiert werden: Für die externen Kosten, d.h. die Umweltschäden, kommen nicht die Unternehmen auf, sondern die jetzt lebenden Menschen und deren nachfolgende Generationen.
Innerhalb von vier Jahren laufen hier also rechnerisch – und soweit quantitativ erfassbar – 228 Milliarden Euro auf, die in die gegenteilige, d.h. in die klimaschädliche Richtung weisen.
Fazit: In der Summe wird Deutschland – nach derzeitigem Stand und soweit in Zahlen bemessbar – zwischen 2020 und 2023, rein rechnerisch, 171 Milliarden Euro gegen den Klimaschutz ausgeben.
Das ‚Klimapaket‘ in der 54 Milliarden Euro entpuppt sich damit beim zweiten Hinsehen auch in finanzieller Hinsicht als nicht besonders großes Päckchen.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Einige Posten werden mit ‚n.q.‘, d.h. nicht quantifizierbar ausgegeben und gehen daher nicht in o.g. Zahl ein.
2 57,079 Mio Euro aufgesplittet: Energiebereitstellung und -nutzung = 20.347 | Verkehr = 28.641 | Bau- und Wohnungswesen = 2.336 | Land- und Forstwirtschaft, Fischerei = 5.755 (UBA 2016, Tabelle 3). Sektor Verkehr in genauen Zahlen s. S. 294.
In diesem Sinne mutet es dann nur und ausschließlich von der Wortwahl her, nicht aber hinsichtlich der Aussage, drastisch an, wenn der gemeinhin als besonnen geltende Klimaforscher Mojib Latif zum ‚Klimapaket‘ feststellt:
„Mit diesen Maßnahmen leisten wir dem Klima viel eher Sterbehilfe.“ (Latif in Welt 2019)
Und, nebenbei bemerkt:
Die Bundesrepublik Deutschland plant für 2020 Verteidigungsausgaben in Rekordhöhe von 50,36 Milliarden Euro (vgl. Zeit 2019b)
>> siehe Aspekt Bundeswehr & Rüstung in ökologischer Perspektive, S. 81.
Der für 2020 vorgesehene Bundeshaushalt liegt bei 362 Mrd. Euro (vgl. Gathmann 2019).
Zur Einordnung der Zahl bietet sich auch die Nennung der Höhe der jährlichen Steuerhinterziehung und -vermeidung in Deutschland an:
Sie lag z.B. 2012 bei mehr als 160 Mrd. Euro – und auch heute, ‚post-Panama‘, geht man weiterhin von jährlich 100 Mrd. Euro aus (vgl. Finanzverwaltung 2013; Eigenthaler 2019).
Das wäre doch eine durchaus beeindruckende Summe zugunsten der Überlebenskrise der Menschheit, gell?
Update Januar 2020:
Der Kohlekompromiss vom Frühjahr 2019 wird nunmehr im Juli 2020 per Kohleausstiegsgesetz umgesetzt. Und hier gibt es dramatische Abschwächungen gegenüber der ursprünglichen Einigung zu verzeichnen, was in diesem Fall besonders schwierig ist, weil die Umweltverbände etc. bis an die äußerste Grenze ihrer ‚Schmerzgrenzen‘ gegangen sind. Das führt nun dazu, dass sich mittlerweile acht der 28 Mitglieder der letztjährigen Kohlekommission von der derzeitigen Formulierung des Referentenentwurfs distanzieren. Konkreter Anlass ist der Abschaltplan:
„Nicht hinnehmbar sei die Reihenfolge der Abschaltungen der Kohlekraftwerke, da es zwischen 2023 und 2028 nur zu wenigen Kraftwerksschließungen komme – und damit alle Verantwortung auf das Ende des Jahrzehnts verschoben werde“ (Götze 2020).
„Insgesamt 40 Millionen Tonnen würden letztlich mehr emittiert, als die ursprünglichen Empfehlungen der Kommission bedeutet hätten, kritisieren die acht Unterzeichner… [der Stellungnahme, d]arunter Hans Joachim Schellnhuber“ (Bauchmüller 2020).
Entgegen des Kohlekompromisses geht nunmehr im Jahre 2020 (konkret: 30.5.) mit Datteln IV am Dortmund-Ems-Kanal mit 1050 Megawatt ein Steinkohlekraftwerk ans Netz1. Mit Keyenberg, Kuckum, Berverath, Oberwestrich und Unterwestrich werden nach Stand der Dinge und vorbehaltlich einer im September 2020 eingereichten Verfassungsbeschwerde weitere Dörfer abgebaggert (vgl. Götze 2020, vgl. Wyputta 2020, vgl. Spiegel 2020, vgl. Greenpeace 2020, 9 – siehe S. 533).2
Zudem ist „im Gesetz[esentwurf] … bisher nicht vorgesehen, dass die CO2-Zertifikate, die die deutschen Betreiber nach der Stilllegung ihrer Kraftwerke nicht mehr benötigen, vom Markt genommen werden“ (Kreutzfeld 2019, 8) – sodass diese anderweitig eingesetzt werden können, sodass die Emissionen des jeweiligen Konzernes gleich hoch bleiben könnten.
Bliebe es bei alledem, würde nach Ansicht von Barbara Praetorius, eine der Vorsitzenden der Kommission, „ein gesellschaftlicher Frieden… leichtfertig verspielt… Ohne ‚entsprechende Korrekturen‘ sehe man ‚den von uns bisher mitgetragenen Kompromiss durch Bund und Länder aufgekündigt‘, heißt es [in der Stellungnahme]“ (Bauchmüller 2020).
Update Juli 2020:
Dabei ist es geblieben, eine verbindliche Zertifikate-Löschung ist nicht im Gesetz enthalten, vgl. BMWI 2020.
Details: Erläuterungen zu (1) und (2)
1 Das finden auch Kohlekumpel nicht so toll. Immerhin wurden ihre Arbeitsplätze kassiert – während nun Steinkohle aus Südamerika importiert wird. „Und vor allen Dingen wollen die hier Blutkohle aus Kolumbien verbrennen, die mit Kinderarbeit abgebaut [vgl. Preker/Braden 2018] wird, wo kämpferische Gewerkschaftler und Umweltschützer ermordet werden“, sagt Günter Belka, Mitglied der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) und der Bergarbeiterbewegung Kumpel für AUF. Misereor hält dazu fest: „Deutsche Energieversorger nutzen jährlich bis zu 50 Millionen Tonnen Steinkohle aus Ländern, in denen Menschenrechte beim Kohleabbau zum Teil massiv verletzt werden. Deutschland ist damit größter Steinkohle-Importeur in Europa“ (2018). Die taz schreibt, dass „in Kolumbien… die Tagebaue riesige Landflächen [zerstören], die lokale Bevölkerung wird mit Gewalt vertrieben. Aus der Region César ist bekannt, dass paramilitärische Einheiten rund um Tagebaue eingesetzt werden. Hunderte Menschen wurden vertrieben, viel gar ermordet“ (Geadah/Pesch/Hofinger 2020, 4). Und wieder fallen die üblichen Stichwörter (vgl. Aspekt Der ‚globale Impact‘ eines Smartphones, S. 644f.): Verseuchung von Flüssen und Grundwasser, Landzerstörung, Morde, Atemwegserkrankungen, Wassernot, Landraub, Vertreibung, Hunger – sowie eine mit alledem verbundene höhere Kindersterblichkeit (vgl. insbesondere Miséor 2018).
2 Es ist m.E. lächerlich, dass das gesundheitsschädliche Datteln IV ans Netz geht, aber Windkraftwerke wegen Klagen aufgrund eines Infraschalls von der Inbetriebnahme abgehalten werden.
Dänemark zeigt derweil ziemlich ‚locker aus der Hüfte geschossen‘, wie es geht:
Dänemark verabschiedete im Februar 2020 ein „auch für künftige Regierungen verbindliches [und mit zahlreichen Kontrollmechanismen versehendes] Klimagesetz“ (Wolff 2019) inkl. Bürgerversammlung mit den anspruchsvollen Rahmendaten 2030 = -70% gegenüber 1990, Klimaneutralität bis 2050, das Ganze ohne Atomkraft, und: „[D]ie gesamte CO₂-Reduktion soll auf dänischem Boden stattfinden und nicht etwa über den internationalen Handel mit Verschmutzungsrechten“ (ebd.). „Von einem ‚historischen Tag‘ spricht auch der [dänische] Industrieverband: ‚Die Industrie steht bereit: Wir werden den Rest der Welt inspirieren und freuen uns auf eine Führungsrolle“ (ebd.).
11.12.2019: Greta Thunberg konstatiert auf der Weltklimakonferenz in Madrid, dass das ‚so tun als ob man relevant etwas für das Klima täte‘ eine Täuschung der Bürger*innen sei und daher besonders gefährlich, weil sich viele Menschen deshalb in Sicherheit wiegen bzw. sich zurücklehnen.
>> Video Greta Thunbergs Rede auf der Klimakonferenz COP 25, Madrid, 11.12.2019, https://youtu.be/11FCyUB81rI?t=287/ (Abrufdatum 11.12.2019) [Tipp: automatische englische Untertitel aktivieren] [‚misleading‘ = irreführen, täuschen]
„And I still believe that the biggest danger is not inaction. The real danger is when politicians and CEOs [CEO =Chief Executive Officer = Hauptgeschäftsführer*in] are making it look like real action is happening when in fact almost nothing is being done – apart from clever accounting and creative PR [PR = Public Relations = Öffentlichkeitsarbeit]“ (Thunberg 2019).
„[O]ur leaders are not behaving as if we were in an emergency. In an emergency you change your behavior: If there’s a child standing in the middle of the road and cars are coming at full speed, you don’t look away because it’s too uncomfortable. You immediately run out and rescue that child“ (ebd.).
Quellen des Abschnitts Nationales CO₂-Budget (Deutschland)
Greenpeace (2020): „Deutscher Kohleausstieg kommt viel zu spät“. in: Greenpeace Nachrichten, 2-2020, S. 8-9.
Kreutzfeld, Malte (2019): „Sicher sind nur die Entschädigungen“. in: tageszeitung, 29.11.2019, S. 8).
MCC 2019: „Verbleibendes CO₂-Budget. So schnell tickt die CO₂-Uhr“. in: Mercato Research Institute on Global Commons and Climate Change, online unter https://www.mcc-berlin.net/forschung/co2-budget.html (Abrufdatum 9.6.2019)
Hinweis: Diese Berechnung gilt inzwischen als überholt. Man geht heute i. d. R. von rund 1t CO2 pro Jahr pro Person aus für eine Null-Emissionen-Welt.
Aus dem globalen Budget kann man errechnen, wie viel jeder Mensch pro Jahr klimaverträglich emittieren kann/darf:
Jeder Mensch besitzt bis 2050 ein klimaverträgliches CO₂-Budget von 2,3 t CO₂ pro Jahr.
Details
„Um die Auswirkungen des Klimawandels in verträglichen Grenzen zu halten, hat sich 2010 in Cancún die weltweite Staatengemeinschaft auf das Ziel verständigt, die durchschnittliche Erderwärmung bis 2050 auf 2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Um dieses Ziel zu erreichen, verbleibt bis 2050 ein globales Emissionsbudget von ca. 750 Mrd. t CO₂. Bei einer angenommenen mittleren Weltbevölkerung von 8,2 Mrd. Personen im Zeitraum 2010 bis 2050 bedeutet dies, dass jedem Menschen auf dieser Erde ein klimaverträglicher Ausstoß von im Durchschnitt jährlich rund 2,3 t CO₂ zusteht“ (Atmosfair 2020). Diese Annahmen basieren auf dem WGBU Sondergutachten von 2009, welches von 6,9 Mrd. Menschen ohne Bevölkerungswachstum ausgeht und daher bei einem Globalbudget von 759 Mrd. t CO2 für 2010 bis 2050 auf die Zahl 2,7 t CO2 kommt (vgl. WGBU 2009, 2). Alle diese Angaben sind bedenklich ungenau, da die Berechnung des Restbudget der Klimakonferenz von 2010 im mexikanischen Cancun längst durch neuere Zahlen abgelöst ist, die immer noch jährlich wachsenden Emissionen nicht berücksichtigt sind und auch die angenommene Bevölkerungszahl nur sehr grob gemittelt ist, obgleich man durchaus genauere UN-Bevölkerungsprognosen in die Berechnungen einbeziehen könnte.
Wichtig: Die Angabe von Atmosfair „2,3t CO₂ pro Person pro Jahr“ bezieht sich auf das seinerzeit formulierte und längst durch das deutlich-unter-2-Grad-Ziel abgelöste 2-Grad-Ziel der Klimakonferenz in Cancún 2010, d.h. in Wirklichkeit ist das individuelle Budget noch geringer, denn das 1,5-Grad-Ziel soll unbedingt eingehalten werden laut dem Sonderbericht des Weltklimarats vom Herbst 2018 (siehe IPCC 2018) (vgl. WGBU 2009 u. atmosfair 2019).
Das ‚Kleingedruckte‘:
Ein pro-Kopf-pro-Jahr-Budget von 2,3t CO2 ist – selbst wenn man sich auf das Cancúner zwei-Grad-Ziel einlässt – eine äußerst positive Auslegung der Rahmenbedingungen.
Keineswegs ist damit ein wirklich persönliches Lebensbudget oder gar ein Freizeitbudget gemeint: Das Budget bezieht sämtliche Emissionen, die für Sie – auch ohne Ihr Zutun und ggf. ohne Ihre Zustimmung – getätigt werden, mit ein. Und wenn irgendwo ein heftiger, CO2-intensiver Krieg vom Zaun gebrochen würde, dann ginge das auch zu Lasten Ihres persönlichen Budgets.
>> vgl. Abschnitt Bundeswehr & Rüstung in ökologischer Perspektive, S. 81. Aspekt U.S. military greenhouse gas emissions im Abschnitt Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen, S. 89.
Das UBA nennt „im Einklang mit der internationalen Staatengemeinschaft …[daher das Ziel eines künftigen jährlichen Budgets von] unter 1 Tonne CO2e pro Person“ (UBA 2020). Das ist logisch – die künftig erforderliche Klimaneutralität lässt gar keinen anderen Schluss zu. Doch ist 1 t CO2e derzeit in Deutschland für Einzelpersonen schon deshalb nicht erreichbar, weil allein die öffentlichen Emissionen pro Person derzeit 0,73t CO2e betragen (s. S. 72): Das Budget von 2,3t CO2 ist daher m.E. insgesamt als ein vorläufiges Zwischenziel zu verstehen.
Was nicht in die IPCC-Budget-Rechnungen eingeht:
Dass das ‚zulässige‘ Budget 2,3t CO2e pro Kopf pro Jahr auch für die Gegenwart eher hoch gegriffen ist, liegt daran, dass die IPCC-Ziele selbst eher weich sind und von äußerst optimistischen Prämissen ausgehen:
>>„Der IPCC weist [im Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel von 2018] darauf hin, dass dieses globale Gesamtbudget sogar noch um rund 100 Milliarden Tonnen kleiner sein könnte“ (Rahmstorf 2019).
>> Hinzu kommt, dass die Steigerung der Methankonzentrationendurch das unerwartet frühe Auftauen der Permafrostböden „in den Klimamodellen bei den Pariser Klimagesprächen 2015 nicht vorgesehen worden war und daher nicht berücksichtigt wurde“ (Maxton 2020, 32).
>> Auch sind die Emissionen der Luft- und Schifffahrt unberücksichtigt geblieben.
>> Ekardt et al. (2018) heben hervor, dass sich im Abkommen erstens „viele Berechnungen auf 2 Grad [abzielen], was mehr ist als die gemäß Art. 2 Abs. 1 PA zulässigen ‚deutlich unter 2 Grad‘… Zweitens ist die Einbeziehung der Nicht-Kohlendioxid-Emissionen nicht in allen Budgets gegeben… Drittens werden Budgetrechnungen auch dadurch relativ großzügig, dass das Referenzjahr des ‚vorindustriellen Niveaus‘, das gemäß Art. 2 Abs. 1 PA gilt, spät datiert wird und dadurch die globale Erwärmung, die bereits erfolgte, geringer eingeschätzt wird“ (77).
>> Fürdie Berechnung des verbleibenden CO2-Budgets geht das Pariser Abkommen zudem von negativen Emissionen aus, z.B. durch die systematische Schaffung von CO2-Senken – um so schwer zu vermeidbare Emissionen auszugleichen und auf diese Weise auf netto-Null zu kommen (vgl. Rahmstorf 2015). Bedauerlicherweise wurden die „‚Senken‘ … nicht näher definiert, sodass auch CO2-Abtrennungsverfahren (CCS [carbon capture and storage]) oder Geo-Engineering als solche gelten können“ (Nabu 2016, 3). (Schon 2014 wies der Beitrag der Arbeitsgruppe 3 des Weltklimarates zu dessen Fünftem Sachstandbericht darauf hin, dass, „[w]enn wir das Zwei-Grad-Ziel erreichen wollen, … zusätzlich große Mengen Kohlendioxid aus der Atmosphäre herausgezogen werden [müssen]“ (Staud/Reimer 2014)).
>> Konkret gerechnet: 318.296.300.000 t CO2 (=3.6.2020, 12:00 Uhr exakt, die Mercator-Uhr rauscht so schnell runter, dass ich gar nicht gucken kann und in den Hunderttausendern abgerundet habe, während ich diesen Satz um 12:08 Uhr schreibe, hat sich die „6“ Million in eine „5“ verwandelt) geteilt durch 7.803.549.200 (=3.6.2020, 12:01 Uhr exakt) lebende Personen auf dem Planeten = 40,79 t CO2 pro Person unter Einbezug sämtlicher klimarelevanter Aktivitäten auf dem Planeten, bis das CO2-Budget komplett aufgebraucht ist und die Welt klimaneutral zu sein hat (basiert auf https://www.mcc-berlin.net/forschung/co2-budget.html und https://countrymeters.info/de/World (Abrufdatum jeweils 3.6.2020). Will die Welt 2050 klimaneutral sein, ergibt sich von 2020 an (vereinfacht) gerechnet daraus der Wert 1,5 t CO2 pro Kopf pro Jahr.
Tatsächliche durchschnittliche Emissionen pro Person pro Jahr, nach Ländern:
D 11,6t | DK 7,25t | GB 7,09t | F 5,19t | A 7,77t | CH 4,63t | Polen 8,34t | Mexiko 3,88t | Senegal 0,59t | Indien 1,66t | China 6,71t | Japan 9,29t | USA 17,02t | Brasilien 2,19t | Rekordhalter: Katar 44,02t u. Niger 0,08396t | Durchschnitt: ca. 5t
>> Gossy 2015, hinsichtlich Durchschnittswert vgl. Statista 2019, s.a. auch Abschnitt Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen, S. 83. Laut CO2-Rechner des UBA (2021) hat jede*r in Deutschland lebende Person einen durchschnittlichen CO2-Bilanz von 11,17 t pro Jahr.
Zusammensetzung der durchschnittlichen Emissionen pro Person pro Jahr in Deutschland:
>> Berufspendler*in = allein für den Arbeitsweg durchschnittlich 1,5 t CO2 pro Person pro Jahr (vgl. Quarks 2018)
Emissionen pro Person pro Jahr, aufgesplittet nach Einkommen, global gesehen:
[D]ie drei reichsten Millionen [US-]Amerikaner [haben] durchschnittlich 318 Tonnen CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr…, während der Weltdurchschnitt pro Person etwa 6 Tonnen beträgt!“ (Weizsäcker 2017, 91).
„Das eine Prozent der reichsten [US-]Amerikaner produziert etwa 2,5%(!) der weltweiten Treibhausgase. Und die Top 10% der reichsten Haushalte der Welt tragen 45% der Gesamt-Treibhausgasemissionen bei“ (ebd., 92).
>> weitere Zahlen rund um das Thema Klimagerechtigkeit und der Globale Süden siehe S. 637. >> vgl. auch Anmerkungen zur eklatanten Sprengung von individuellen Budgets durch Prominente, Vielflieger*innen und exorbitantem Lebensstil in der Fußnote auf S. 386.
Durchschnittliche Emissionen pro Person pro Jahr in Deutschland, gestaffelt nach Einkommen und Milieus:
„Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, dass einkommensarme Haushalte vergleichsweise viel Energie verbrauchen, weil sie sich keine sparsamen Geräte leisten können und sich wenig Gedanken über ihren Energieverbrauch machen“ (Kopatz 2016, 240-241).
Dazu einige Zahlen:
Energieverbrauch für die längste Urlaubsreise des Jahres und CO2-Emissionen pro Person in Deutschland, gewichtet, CO2e in Kilogramm
Hier fällt die Tatsache unter den Tisch, dass in den gehobenen Milieus i.d.R. deutlich mehr Reisen pro Jahr unternommen werden, sodass in der Realität die Unterschiede hoch wesentlich deutlicher ausfallen. (Bedauerlicherweise ist nach meinem Kenntnisstand keine bessere Statistik öffentlich zugänglich.)
>> s.a. Aspekt Entscheidend für den CO2-Verbrauch ist das Einkommen in Abschnitt Fliegen, Kreuzfahrten, S. 254.
CO2-Emissionen pro Person in Deutschland, gewichtet, CO2e in Tonnen pro Jahr
Diese Statistik weist bzgl. Flugreisen die gleichen Mängel auf wie die vorherige. Die Kategorie ‚Energieverbrauch gesamt‘ schließt folgende Aspekte mit ein: Heizung, Baden/Duschen, Waschen/Trocknen von Wäsche, Kühlen/Gefrieren, Kochen, Geschirrspülen, Beleuchtung, Mediennutzung, Sauna, Alltagsmobilität, Urlaubsreisen, Nahrungsmittel, Kleidung, Betrieb von Aquarien sowie Haustierfutter, vgl. BMU 2016, 98ff. …Aquarien? Tierfutter?Wenn wir nur halb so viel Energie in die Bewältigung der Herausforderungen stecken würden wie wir in die Forschung stecken, gäbe es weniger Herausforderungen.
Also:
„Der CO2-Rucksack vergrößert sich mit dem Einkommen. Betuchte Menschen unternehmen nicht selten jedes Jahr einen Interkontinentalflug, verfügen über Zweit- und Drittwagen und besitzen vergleichsweise häufig extrem schwere und verbrauchsintensive Fahrzeuge. Sie tun es, weil sie es können“ (Kopatz 2016, 241).
Es gilt:
Aus der Nummer, zu viel CO₂ zu erzeugen, kommen deutsche Bürger*innen als Einzelpersonen nicht komplett raus – allein unsere öffentlichen Emissionen für Verwaltung, Schulen, Krankenhäuser etc. betragen 0,73t CO₂ pro Jahr pro Person (s.o.) – also mehr als eine Senegalesin bzw. ein Senegalese jährlich durchschnittlich generiert.
Details
Eine andere Art, seinen Lebensstil ökologisch messbar zu machen ist der ökologische Fußabdruck. Hier wird auf der Angebotsseite ermittelt, wie hoch die Biokapazität der Erde ist und „[a]uf der Nachfrageseite wird berechnet, wie viel Biokapazität die Menschen nutzen… dargestellt in der Maßeinheit ‚globale Hektar‘ [gha]“ (Brot für die Welt 2019), s. https://www.fussabdruck.de/ (Abrufdatum 1.6.2020). Des Weiteren gibt es den Wasserfußabdruck, bei dem ermittelt wird, wie viel (Trink-)Wasser – virtuelles Wasser genannt – wir unter Einbezug der von uns genutzten Lebensmitteln und Produkte, deren Herstellung und Transport ja ebenfalls Wasser benötigt, für unseren individuellen bzw. kollektiven Lebensstil benötigen, siehe https://www.waterfootprint.org/en/resources/interactive-tools/personal-water-footprint-calculator/personal-calculator-extended/ (Abrufdatum 1.6.2020) (vgl. UBA 2018).
Aber selbstverständlich können wir etwas tun und unseren persönlichen CO₂-Abdruck reduzieren – persönlich habe ich gemäß dem CO2-Rechner des Umweltbundesamtes eine jährliche CO₂-Bilanz (= CO2-Fußabdruck) von 5,09t CO₂. Mein Leben ist selbstgenügsam, aber nicht asketisch:
Rahmen für ca. 5t CO₂ pro Person pro Jahr in Deutschland:
kein eigenes Auto | nur Fahrrad & ÖPNV | mehrere Bahnreisen in Deutschland | keine Flüge | ‚echter‘ Ökostrom | mäßig gedämmtes Mehrfamilienhaus | mittelgroße Wohnung1 | geringer Wasserverbrauch | kein Wäschetrockner | tendenziell saisonal-regionale Ernährung & kaum Tiefkühlkost | vegane oder vegetarische Ernährung, Kriterium: Alles was mal Augen hatte.2 3
Das bedeutet:
5t CO₂ pro Person pro Jahr kann in Deutschland jede*r erreichen, wenn sie/er es möchte. Es ist ein selbstgenügsames Keep it Simple-, aber kein asketisches Leben.
5t CO₂ pro Person pro Jahr – das ist immer noch viel zu viel, aber weniger als die Hälfte dessen, was die Bundesbürger*innen jährlich durchschnittlich raushauen. Und ohne eigenes Passivhaus, Wärmepumpe und Solaranlage auf dem Dach geht es in Deutschland auch kaum noch besser.
Nur weil etwas nicht ideal ist, nicht das Optimum erreichbar ist, wir als Individuen nun mal nicht aus dem System ‚Deutschland‘ rauskommen bzw. dem Kapitalismus nicht (komplett) entgehen können, ist das definitiv kein Argument, die Hände von vorneherein in den Schoß zu legen.
Unser jeweiliger, im Weltmaßstab abstrus hoher CO₂-Abdruck macht eher deutlich, dass jede*r jede Möglichkeit nutzen sollte, um Überfluss und überflüssige CO₂-Verbrauche zu vermeiden.
>> Hinweis: Zur Ermittlung der eigenen CO₂e-Emissionen mittels des CO₂-Rechners des Umweltbundesamtes (UBA) gibt es dieses Tool: http://www.uba.co2-rechner.de/de_DE/ >> Auch unser Haustier ist in unsere persönliches Pro-Kopf-Bilanz mit einzubeziehen… vgl. Fußnote auf S. 181. >> s.a. allgemein Abschnitt Was kann Ich tun? – mögliche konkrete Verhaltensänderungen und Aktivitäten, S. 169.
Details: Erläuterungen zu (1) - (3)
1 siehe dazu Aspekt Zunahme der Wohnfläche in Deutschland, S. 502.
2 Eigentlich bin ich kein Veganer. Ich esse gern klimagerecht-maßvoll Käse/Joghurt/Fleisch/Fisch und habe kein prinzipielles Problem damit, wenn Tiere für die Ernährung des Menschen sterben. Das ergibt sich für mich persönlich schon aus der Menschheitswerdung. Aufgrund hochbedenklicher Resistenzen darf Antibiotika allerdings m.E. keine Rolle bei der Aufzucht spielen. Alles in allem nehme ich Milchprodukkte zu mir und esse ich Tier- und Fischfleisch, wenn die Tiere/Fische ein artgerechtes Bioland- oder Demeter-Leben leben konnten, vom lokalen Schlachter/Fischer von Hand geschlachtet und umgehend vor Ort verarbeitet werden. Also nie. (Man entwöhnt sich im Übrigen.)
Wir verbrauchen jede*r, selbst wenn wir überhaupt nicht fliegen und uns vorbildlich verhalten, zu viel CO₂ – daran ist unmittelbar nur teilweise etwas zu ändern – aber das bedeutet in der Konsequenz, dass die CO₂-Emissionen unseres Reiseverhaltens noch oben drauf kommen, obwohl wir dafür gar kein Budget zur Verfügung bzw. übrig haben.
Quellen des Abschnitts Individuelles CO₂-Budget
Atmosfair (2019): „Jährliches Klimabudget und Aktivitäten eines Menschen“. in: Atmosfair, online unter www.atmosfair.de/de/gruenreisen/persoenliches_klimabudget/ (Abrufdatum 26.5.2019) (2,3t CO₂ pro Person/Jahr mit Berücksichtigung des Weltbevölkerungswachstums, ausgehend vom 2-Grad-Ziel)
Ekardt, Felix et al. (2018): „In zehn Jahren Nullemissionen? Widersprüche im Paris-Abkommen und ihre Auflösung. Zugleich zu Vorsorgeprinzip und überschätzten Klimaszenarien“. in: Momentum Quarterly. Zeitschrift für sozialen Fortschritt, 2018, Vol. 7, Nr. 2, S. 77-85, online unter https://www.momentum-quarterly.org/ojs2/index.php/momentum/article/view/2647 (Abrufdatum 5.5.2020)
Rahmstorf, Stefan u. Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: Beck.
UBA (2021): Co₂-Rechner. [„Berechnen Sie Ihre aktuelle CO₂-Bilanz und optimieren Sie diese für die Zukunft], online unter https://uba.co2-rechner.de/de_DE/ (Abrufdatum 30.11.2021)
Weltbevölkerungsuhr (2020): „Weltbevölkerungsuhr“. in: countrymeters.info, online unter https://countrymeters.info/de/World (Abrufdatum 3.6.2020)
Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Wijkman, Anders et al. (2017): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
„Wir haben keine Zeit mehr zum Schwafeln – es ist eindeutig: der Treibhauseffekt beeinflusst unser Klima hier und jetzt.“ James E. Hansen, ehemaliger NASA-Direktor, zit. in Shabecoff 1988.
Ausführliche, 1,5-stündige Video-Präsentation des Klimatologen Stefan Rahmstorf im November 2020 über den aktuellen naturwissenschaftlichen Forschungsstand betreffend die globale Klimakrise: https://youtu.be/n80BkGW8QKI?t=449 (Abrufdatum 06.11.2020)
Temperaturen und CO₂-Konzentrationen
Vorweg: Zurzeit befindet sich die Menschheit auf einem ‚drei bis vier Grad Celsius-Pfad‘ bis 2100.
>> Details und Quellen bzgl. 3-4-Grad-Pfad siehe Abschnitt Konkrete politische Ziele, S. 448f.
Temperaturen auf der Erde…
… in Schlagwörtern:
Seit 1900 ist die globale durchschnittliche Oberflächentemperatur um ungefähr 1,2 Grad Celsius und somit auf 15,2 °C angestiegen. (vgl. Klimafakten 2021, S. 7, vgl. UBA 2020 u. Maxton 2020, 29)
Alle wesentlichen naturwissenschaftlichen Daten siehe Faktenpapier auf Klimafakten.de (Abrufdatum 20.06.2023)
2023 = rund 1,4 °C = Rekord (Stand: 6.12.2023, vgl. Spiegel 2023b)
2022 = 1,26°C (vgl. Zeit 2023a)
2020 = 1,28 °C
2016 = 1,27 °C – maßgeblich war hier ein ungewöhnlich starker El Niño-Effekt (vgl. Tagesspiegel 2019)
2019 = 1,24 °C
2017 = 1,18 °C
2015 = 1,16 °C
2018 = 1,11 °C (Zahlen Stand 6/2021 nach Klimafakten 2021, S. 10)
Klimakrise in 1,5 min erklärt: 2018 Was the Fourth Hottest Year on Record, NASA Goddard https://youtu.be/2S6JTLRmQdU
„Das vergangene Jahrzehnt [= 2010er] war das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.“ (Landwehr 2020)
„19 der wärmsten 20 Jahre lagen in den letzten zwei Jahrzehnten.“ (ebd.)
„[S]eit 60 Jahren ist jedes Jahrzehnt wärmer als das davorliegende.“ (ebd.)„Die Periode von 2016 bis 2020 werde die wärmste Fünfjahresspanne seit Beginn der Aufzeichnungen.“ (laut WMO-Studie United in Science, Stand 9/2020; zit. in Pötter 2020, 9) (WMO = World Meteorological Organization = Weltmeteorologiebehörde = UN-Sonderorganisation)
„Der weltweite Temperaturanstieg hat über den Landflächen bereits 1,53 Grad erreicht.“ (laut IPCC-Sonderbericht August 2019: Focus 2019) – d. h. der Temperaturanstieg über den nach wie vor kühlend wirkenden Meeresflächen ist deutlich geringer. Doch die Temperaturen der Meere ziehen nach:
Juni 2023: Die Durchschnittstemperatur des Oberflächenwassers des Nordatlantiks beträgt 23,1 °C, „für Mitte Juni gut 1,1 Grad wärmer als im Durchschnitt der vergangenen 40 Jahre.“ (Freier 2023) Mojib Latif betont, dass „El Niño […] nichts damit zu tun [hat], was gerade im Atlantik passiert“ (ebd.), da El Niño gerade am Anfang stehe (vgl. Latif in Zeit 2023b).
„[D]er Mai [2023 war weltweit] der 111. Monat in Folge, in dem die Temperaturen zu hoch waren“, d. h. „[s]eit März 2014 war jeder Monat wärmer als der Monatsdurchschnitt von 1991-2020.“ (Blickle et al. 2023)
„Der Klimawandel nimmt an Fahrt auf“ (Evers 2019, 109):
Details
Wenn also von globalen Durchschnittstemperaturen die Rede ist, deutet obige Zahl an, dass es an Land – dort, wo die Menschheit lebt – durchschnittlich noch wärmer ist als die genannte Zahl 1,2 °C. „Durchschnittlich“ bezogen auf die globalen Landflächen wiederum bedeutet, dass es an dem Punkt, an dem wir leben durchaus etwas kühler oder auch deutlich wärmer sein kann bzw. werden könnte.
„Die Weltwetterorganisation (WMO) warnt nun davor, dass die globale Durchschnittstemperatur bereits in einem der kommenden Jahre auf 1,5 Grad über das vorindustrielle Niveau steigen könnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines der Jahre im Zeitraum 2020 bis 2024 diesen Wert erreicht, liege bei 20 Prozent. Dass die Durchschnittstemperatur in diesem Zeitraum mindestens in einem Monat mehr als 1,5 Grad über das vorindustrielle Niveau steigt, liege sogar bei bis zu 70 Prozent“ (Spiegel 2020).
Die 1,5 °C-Grenze wird mittlerweile monatsweise schon gerissen, wie im Juni 2023 die Ozeanologin und Klimaforscherin Helene Hewitt hervorhebt:
„Auch die weltweiten Lufttemperaturen waren extrem, Anfang Juni [2023] lagen sie mehr als 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau, erstmals in einem Sommermonat. Im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020 liegt das Plus immer noch bei mehr als 0,7 Grad.“
„Um höhere Temperaturen als heute zu finden, muss man „bis vor die letzte Eiszeit zurückschauen: bis in die [sog.] Eem-Warmzeit vor rund 120.000 Jahren.“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 28)
Zur Einordnung: Die Cheops-Pyramide wurde vor rund 4.500 Jahren gebaut.
Wichtig in diesem Zusammenhang:
Im Unterschied zu früheren Temperaturschwankungen, wie etwa während der sog. kleinen Eiszeit, die nacheinander in verschiedenen Weltregionenverteiltübermehrere Jahrhunderte stattfand, sehen wir jetzt, „dass die wärmste Periode der vergangenen zwei Jahrtausende [=letzte 150 Jahre], in der wir uns gerade befinden, auf 98 Prozent der Erde stattfindet…“ (Merlot 2019). Die Forscher*innen bezeichnen dies als „beispiellos“ – auch deshalb, weil das das Tempo, mit der die Erwärmung stattfindet, so beispiellos rasant ausfällt (vgl. ebd.).
>> Weiteres Zitat zum Aspekt ‚kleine Eiszeit‘ von Merlot (2019): „Im 15. Jahrhundert hätten die tiefsten Temperaturen im Zentral- und Ostpazifik geherrscht, im 17. Jahrhundert in Nordwesteuropa und dem südöstlichen Nordamerika und im 19. Jahrhundert in wieder anderen Weltregionen.“
Hinzu kommt: Das Klimaphänomen ‚El Niño‘ hat im Jahre 2023 wieder eingesetzt. Dieses beeinflusst das Wetter und sorgt – neben vielen anderen Turblenzen – für insgesamt noch höhere Temperaturen als ohnehin schon. „Der Welt stehen dadurch in den nächsten Monaten wohl neue Wetterextreme und Temperaturrekorde bevor“ (SZ 2023).
Der Blick nach Europa:
Europa = Zunahme +2,3 °C gegenüber des Zustandes vor der Industrialisierung. (vgl. SZ 2023, Spiegel 2023a)
„11 of the 12 warmest years have occurred since 2000.“ (Copernicus 2020)
„Europa hat sich in den vergangenen 40 Jahren doppelt so schnell erwärmt wie die Welt im Durchschnitt. … Die Durchschnittstemperatur lag demnach 2,3 Grad über dem vorindustriellen Durchschnitt (1850 bis 1900).“ (Spiegel 2023a)
Zu recht schreibt die SZ-Autorin Marlene Weiß: „Zu warm wird zum neuen Normalzustand“ (Weiß 2020).
Und ein Blick nach Deutschland:
„Seit Beginn der systematischen, flächendeckenden Wetteraufzeichnungen 1881 hat sich die mittlere Temperatur der bodennahen Luft in Deutschland bereits deutlich erhöht. Laut Daten des Deutschen Wetterdienstes war das zurückliegende Jahrzehnt (2011-2020) rund 2 °C wärmer als die ersten Jahrzehnte (1881-1910) der Aufzeichnungen.“ (Klimafakten 2021, 14)
>> Die Durchschnittstemperaturen nehmen in den verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich stark zu. So steigen die Temperaturen in der Arktis deutlich stärker an als in gemäßigten Breiten. Und: „In der Sahelzone Westafrikas… sind die Temperaturen bereits um 50 Prozent mehr gestiegen als im weltweiten Durchschnitt“ (Maxton 2020, 37).
„[N]eun der zehn heißesten Jahre in Deutschland [sind] in der Dekade zwischen 2010 und 2019 verzeichnet worden.“ (Zeit 2019)
„Allein in den vergangenen fünf Jahren stieg diese [Jahresmitteltemperatur der Luft in Deutschland] um 0,3 Grad an.“ (Spiegel 2019b)
2019 gab es „erstmals Temperaturen von mehr als 42 Grad in Deutschland.“ (Weiß 2020)
Konkret: Lingen, Niedersachsen, Juli 2019, 42,6 °C (vgl. Stukenberg 2019, 8)
Eckart von Hirschhausens Analogie über die klimatische Erderwärmung:
„Viele denken, ein Grad, zwei Grad, drei Grad – was macht denn den Unterschied. Als Arzt kann ich Ihnen sagen, es macht einen großen Unterschied, ob Sie 41 Grad Fieber haben oder 43 Grad. Das eine ist mit dem Leben vereinbar, das andere nicht“ (zit. in Nguyen-Kim 2019).
>> Weitere, grafische Darstellungen der Erderwärmung und zur Temperaturentwicklung auf der Erde inkl. der sog. Hockeyschläger-Kurve siehe Abschnitt Grafische Darstellungen der Erderwärmung, S. 156f.
Landwehr, Arthur (2020): „Klimabericht von NASA und NOAA: Heißestes Jahrzehnt der Geschichte“. In: tagesschau.de, 16.1.2020, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/klima-nasa-101.html (Abrufdatum 18.01.2020).
Maxton, Graeme (2020): Globaler Klimanotstand. Warum unser demokratisches System an seine Grenzen stößt. Komplett-Media.
Die Keeling-Kurve mit den Messwerten des atmosphärischen Gehalts an Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre, gemessen am Mauna Loa. 1962 erstmals vom Klimaforscher Charles Keeling veröffentlicht, wird diese seither stetig akualisiert. Von Delorme – Eigenes Werk. Data from Dr. Pieter Tans, NOAA/ESRL and Dr. Ralph Keeling, Scripps Institution of Oceanography., CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46146497 s.a. Abschnitt Graphische Veranschaulichungen der Erderwärmung
CO₂-Konzentration 2021 = 416 ppm (ppm = parts per million = Anteile pro Million = 4 Moleküle pro 10.000 = 0,04%) (vgl. Klimafakten 2022, 5)
Jährliche Zunahme „knapp über 3 ppm pro Jahr – fünfmal so schnell wie in den frühen 1960er-Jahren“ (Maxton 2020, 30)
Im Juni 2023 wurde der Monatsspitzenwert 423,75 ppm am für solche Auswertungen maßgeblichen Mauna Loa Observatorium auf Hawaii gemessen1
Vor der Industrialisierung = 280 ppm, „in den vorangegangenen 10.000 Jahren annähernd konstant“ (UBA 2019; ca. 47%)
Zur Zeit der Geburt meiner Generation: 326 ppm (1971) (vgl. Quaschning 2019 u. Zeit 2019)
Details: Erläuterungen zu (1)
1 Von diesem Vulkan auf Hawaii stammen auch die seit 1958 erhobenen CO2-Daten der Keeling-Kurve, vgl. S. 158. Ein neuer Rekord erfolgt regelmäßig im Frühjahr, da „im Sommer auf der Nordhalbkugel so viele Pflanzen wachsen, die durch Fotosynthese CO2 aufnehmen, … [sodass] die Werte von Mai bis September wieder leicht ab[sinken]“ (Evers 2019, 109).
Anders ausgedrückt:
Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre liegt um fast 50% über dem vorindustriellen Wert. (vgl. Klimafakten 2022, 5)
„Besonders steil war der Anstieg in den vergangenen drei Jahrzehnten.“ (ebd.)
„Dies ist der höchste Wert seit mindestens 800.000 Jahren.“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018, S. 33 u. 41.)
Eine Studie aus dem Jahre 2020 kommt sieht die Werte, wie sie im Erdzeitalter Pliozän herrschten, auf uns zukommen:
„Weil der CO2-Gehalt um etwa 2,5 ppm pro Jahr steigt, werden wir bis zum Jahr 2025 alles übertroffen haben, was wir aus den vergangenen 3,3 Millionen Jahren kennen“ sagt der Mitautor der Studie Thomas Chalk (zit. in Spiegel 2020).
„Im Pliozän lagen die Temperaturen drei bis vier Grad höher als heute, in Europa lebten Giraffen, in der Antarktis wuchsen Pflanzen, Grönland war komplett eisfrei und der Meeresspiegel war wahrscheinlich 15 bis 20 Meter höher“ (ebd.)
Würden wir also weiterhin Treibhausgase emittieren, würde sich das schwerfällig reagierende Klima tatsächlich in diese Richtung bewegen (und ab Überwindung der Kipppunkt wäre diese Entwicklung nicht stoppbar).
>> vgl. Aspekt Wir feuern uns klimatisch gesehen sozusagen ins Dinosaurierzeitalter zurück, S. 61f. >> Zum Thema Kipppunkte siehe Abschnitt Kipppunkte des Klimas: Eisschilde, Permafrost & Co, S. 98ff.
416 ppm (parts per million = Teilchen pro Million) oder auch: 0,04% Atmosphärenanteil: Das klingt zunächst nach sehr, sehr wenig. Zum Verständnis, dass im chemischen Atmosphären-Cocktail auch wenig sehr viel bewirken kann, sei kurz daran erinnert, dass Ozon-Loch entstand, als in der Stratosphäre, dort, wo sich die Ozonschicht befindet, durch die Emission von FCKW ein Abbau von Ozon stattfand: In der Stratosphäre tummeln sich durchschnittlich gerade mal 10 ppm Ozon (vgl. Langematz 2009).
Die entscheidende Mitteilung ist also nicht, dass die Menge von CO₂ in der Atmosphäre grundsätzlich nur gering ist.
Die entscheidende Nachricht ist, dass sich dieser Anteil seit der Industrialisierung um 47% erhöht hat (s.o.) (vgl. Weiß 2019 u. Lesch/Rahmstorf 2019).
CO₂ wirkt.Ohne Treibhausgase, ohne CO₂ hätten wir eine globale Mitteltemperatur von -18 °C. Anders ausgedrückt: Uns gäbe es gar nicht. Wir leben aufgrund des natürlichen Treibhauseffekts, bzw. aufgrund von einer bestimmten Menge von Treibhausgasen in der Atmosphäre, die unsere Mitteltemperatur (bislang) etwa bei 15 °C gehalten hat.
Begriff 'Treibhauseffekt'
Treibhauseffekt, sehr vereinfacht ausgedrückt: Jede*r, der mal in einem Gewächshaus war, kennt es: Die Sonne (=Energie) kommt durch die Scheiben (=Atmosphäre) hinein, doch die Wärme(-energie) kann nicht zurück nach Draußen (=ins All), weil die Scheiben (=Treibhausgas-Teilchen in der Atmosphäre) dies verhindern – es entsteht eine Art Hitzestau. Je mehr es von diesen wie eine ‚dünne Decke‘ (Gonstalla 2019, 18) wirkenden Teilchen in der Atmosphäre gibt, desto weniger (Wärme-)Energie kann zurück ins All gelangen. Wenn mehr Energie ins Treibhaus (=Atmosphäre) hineingelangt als wieder hinaus, heizt es sich auf. Die Atmosphäre unseres gemeinsames Treibhauses ist nunmehr aufgrund der zusätzlichen, menschengemachten Treibhausgase im Ungleichgewicht, sodass er sich in Watt pro Quadratmeter ausgedrückt jährlich um 0,7 Watt/m2 erwärmt (vgl. Gonstalla 2019, 18; Gleichgewicht = 0 Watt/m2).
Hätte also der vorindustrielle CO₂-Wert auch nur geringfügig unter 280 ppm gelegen, wäre alles nichts (vgl. UBA 2013).
„Für jede Tonne, die irgendwo auf der Erde freigesetzt wird, etwa durch das Triebwerk eines Jets, verschwinden weitere drei Quadratmeter sommerliches Eis in der Arktis.“ (Notz 2016)
… und machen selbige zunehmend schiffbar und ermöglichen so die Ausbeutung von Rohstoffen, zu denen die Menschheit bislang keinen Zugang hatte. Ist das eine gute Nachricht?
Beispiel:
Flugreise HH-NYC (Shoppingtrip zu Zweit, Hin/Rück) = 2,465t/CO₂ *3qm *2 = 15 qm sommerliches Eis der Arktis
Das mit 200 Passagieren besetzte Flugzeug, in dem die beiden Shopper*innen sitzen, verursacht also rund 150 qm Eis-Verlust (vgl. Weiß 2016).
Abschließend ist zu erwähnen, dass laut Maxton
„Klimaexperten … berechnet haben, dass bei einer Zunahme der CO2-Konzentration auf 450 ppm ein Anstieg um 2 °C unvermeidbar ist. Wenn sich … [die Steigerung] fortsetzt, wäre der Schwellenwert von 450 ppm daher, einfacher Arithmetik zufolge, Mitte der 2030er-Jahre erreicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Durchschnittstemperatur Mitte der 2030er Jahr um 2 °C gegenüber der vorindustriellen Zeit gestiegen sein wird. Aufgrund von Verzögerungen wird dies nämlich erst 15 Jahre später der Fall sein. Aber das bedeutet, dass es ab Mitte der 2030er-Jahre nicht mehr möglich sein wird, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 2 °C zu verhindern (2018, 32-33).
Aspekt ‚Klimasensivität‘
Neben der Menge an Treibhausgasen kommt es eben auch darauf an, was genau diese bestimmte Menge an Treibhausgasen konkret bewirkt:
„Wenn man die Zukunft der Erde mit zwei Zahlen beschreiben wollte, dann wären es diese: erstens wie viel Treibhausgas die Menschheit noch in die Atmosphäre pumpt, klar.
Der zweite Wert gibt an, wie empfindlich der Planet darauf reagieren wird. Empfindlich, das ist keine Poesie, sondern Fachjargon. ‚Klimasensitivität‘ sagen die Fachleute. Und sie meinen damit ganz mathematisch folgende Abhängigkeit: Um wie viel Grad wird es wärmer, wenn sich der Treibhausgas-Gehalt in der Luft verdoppelt?“ (Schmitt 2020).
Diese Frage wurde bislang i.d.R. so beantwortet wie in diesem Handbuch anhand der verbleibenden CO2e-Budgets und zu erwartenden Temperaturen bzw. Klimaveränderungen beschrieben. Konkret ging man lange Zeit – mit vielen Unsicherheiten – von einer „Erwärmung irgendwo zwischen 1,5 und 4,5 Grad Celsius … [bei] eine[r] Verdopplung der CO₂-Konzentration in der Atmosphäre [aus]“ (ebd.).
Relativ unklar bleibt die genaue „Wirkung von Rückkopplungseffekten, die ebenso berücksichtigt werden müssen, etwa Wasserdampf, Wolken, der Albedo-Effekt oder auch die Wärmeaufnahme durch die Ozeane. Viele diese Variablen sind noch nicht vollständig verstanden“ (Kern 2020).
Aufgrund neuer Forschungen kann man diese große Spanne nun etwas genauer eingrenzen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 67% auf 2,6 bis plus 3,9 °C (vgl. ebd. u. Schmitt 2020). Die gute Nachricht lautet nun, dass das Worst Case-Szenario gemäß diesen Forschungsergebnissen erwartbar etwas weniger dramatisch ausfällt. Die weniger gute Nachricht besagt jedoch umgekehrt, dass das 1,5 °C-Ziel noch schwerer zu erreichen ist.
Der Klimaforscher Hartmut Graßl sieht diese neue, klarere Datenlage positiv:
„Die Gesellschaft hat nun verstärkte Argumente für eine stringentere Klimapolitik … Für das Nichtstun Plädierende haben schlechtere Karten, Klimapolitik ist noch etwas dringender.“
(zit. in Kern 2020).
>> Im Juni 2021 erschien das Grundlagen-Dokument „Was wir heute übers Klima wissen. Basisfakten zum Klimawandel, die in cder Wissenschaft unumstritten sind“, Herausgeber: Deutsches Klima-Konsortium, Deutsche Meteorologische Gesellschaft, Deutscher Wetterdienst, Extremwetterkongress Hamburg, Helmholtz-Klima-Initiative, klimafakten.de, siehe https://www.klimafakten.de/meldung/was-wir-heute-uebers-klima-wissen-basisfakten-zum-klimawandel-die-der-wissenschaft (Abrufdatum 24.11.2021)
Lesch, Harald u. Rahmstorf, Stefan (2019): „Das AfD-Quiz für Schüler“. In: Terra X Lesch & Co, 03.04.2019, online unter https://youtu.be/pxLx_Y6xkPQ/ (Abrufdatum 06.11.2019).
Maxton, Graeme (2018): Change. Warum wir eine radikale Wende brauchen. Komplett-Media.
Notz, Dirk (2016): „Mein Beitrag zur arktischen Eisschmelze. Messungen decken den Zusammenhang zwischen individuellem CO₂-Ausstoß und dem Rückgang des arktischen Sommereises auf“. In: Max-Planck-Gesellschaft, 03.11.2016, online unter https://www.mpg.de/10815762/meereis-arktis-rueckgang/ (Abrufdatum 09.06.2019).
Pötter, Bernhard (2020): „1,5-Grad-Schwelle ist bald erreicht“. In: tageszeitung, 10.09.2020, S. 8.
Im Juni 2023 hat Marc Pendzich auch ein Wir sind Erde betiteltes „Öko-Bekenntnis zum Leben“ veröffentlicht >> Wir-sind-Erde.de
Grundlegende Gedanken zur Klimakrise und zum Massenaussterben.
Der große Irrtum vieler Menschen, besonders der Bewohner*innen der Industrienationen:
Wir sind nicht die Herrscher der Erde, wir unterliegen den Gesetzen der Natur, wir sind Teil der Erde: Wir sind Erde.
oder in den Worten von Naomi Klein:
„Stop pretending we can control nature and start acting like we are nature.“ (2015b)
Damit ist im Grunde genommen alles gesagt.
Hinzufügen kann man noch…
… die Worte von Papst Franziskus, der 2015 mit der Laudato si‘ ein äußerst fundiertes Buch über die Klimakrise veröffentlicht hat:
„Wenn wir die Schöpfung [Natur] zerstören, wird die Schöpfung [Natur] uns zerstören.“
>> Papst Franziskus bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz am 21. Mai 2014. Papst Franziskus ist Verfasser der Umweltenzyklika Laudato si‘ (2015), in der er deutlichst zum Kampf für den Klimaschutz und für die Klimagerechtigkeit aufruft. Ebenso agiert er in der 2018er Kino-Dokumentation Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes vom Wim Wenders, die über weite Strecken als bildgewaltige Klimakrisen-Doku daherkommt.
Anders als alle bisherigen Weltkrisen stellt die Klimakrise unser Wirtschaftssystem samt vorgeblichem Wachstumszwang und unseren gesamten westlichen Lebensstil insgesamt in Frage.
Und es ist nicht nur die Klimakrise, die uns beschäftigt und meist in der Analyse im Vordergrund steht: Hinzu kommt das nicht weniger existenzbedrohende, ebenso dramatische sechste Massenaussterben (vgl. Baier 2019).
Die Soziologin Anita Engels über Gründe für die Härte, mit der die Debatte rund um Klimakrise und Massenaussterben geführt wird:
„Man darf nicht vergessen, was auf dem Spiel steht. Wirtschaftliches Wachstum basiert in der Industriegesellschaft, wie wir sie kennen, auf dem unbegrenzten Gebrauch fossiler Brennstoffe. Jedes politische Bemühen, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, berührt nicht nur viele Interessen, sondern fordert unser gesamtes Wohlstands-Modell heraus“ (Täubner 2019).
Letzteres drückt Naomi Klein anders aus:
„Was unser Klima braucht, um nicht zu kollabieren, ist ein Rückgang des Ressourcenverbrauchs durch den Menschen; was unser Wirtschaftsmodell fordert, um nicht zu kollabieren, ist ungehinderte Expansion.
Nur eines dieser Regelsysteme lässt sich verändern – und das sind nicht die Naturgesetze.“ (2015a)
>> Zum Thema ‚Wachstum‘ s.a. Abschnitt Glaubenssätze dechiffriert: Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen, S. 379ff.
Unser grundlegende Herausforderung:
3,5 min – Wir sind Teil des Ganzen, siehe „Dimensions: Cosmic Eye HD“, ein Kurzfilm, der unser Dasein gleichermaßen poetisch wie glasklar einordnet, online unter https://youtu.be/fsmXRcD_jYI (Abrufdatum 21.2.2021)
Wir haben – endlich – anzuerkennen, dass die Natur nicht mit sich handeln lässt. Übrigens: Die Natur kennt uns gar nicht.
Letzteres ist ein Gedanke von Harald Lesch (Astrophysiker, Naturphilosoph, Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator), hier noch einmal ausführlich als Zitat:
„Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln. Ich glaube, dass es ein ganz, ganz großer Fehler ist, zu glauben, man könne mit der Natur irgendwelche Geschäfte machen, irgendwelche Deals, so DitFürDat-Geschäfte – ‚da geht doch noch irgendwas‘ oder so was. Das tut mir leid: Die Natur kennt uns gar nicht. … Ihr ist es völlig egal. … Es handelt sich tatsächlich darum, anzuerkennen, dass es eine absolute Größe im Hintergrund gibt und die wird sich auch nicht ökonomischen Zielen irgendwie zuwenden“ (2016).
Luisa Neubauer schrumpft diese Aussage auf einen Satz zusammen:
„Bei der Klimakrise reden wir über Physik und die ist nicht verhandelbar“ (2019).
„Unser Planet ist eine wunderbare Oase inmitten unbelebter Sterne, in der das Leben herrlich ist: ein wahres Wunder eben.“
>> Pierre Rabhi (*1938), französischer Schriftsteller, Landwirt und Umweltschützer über das ‚Raumschiff Erde‘, „diese blaue Murmel in ihrer Zartheit und Zerbrechlichkeit“ (Klein 2015a, 347) im Interview in der Doku Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen von Mélanie Laurent und Cyril Dion, 2016. Rabhi untermauert die Grundannahme „Wir sind Erde“ in seinem Manifest für Mensch und Erde (2008) mit den Worten: „Der Planet gehört uns nicht, wir gehören ihm. Wir vergehen, er bleibt“ (13).
Ergo:
Wir haben uns künftig als Gast der Oase ‚Erde‘ zu begreifen – denn, was macht man mit Gästen, die sich dauerhaft nicht angemessen benehmen? Man schmeißt sie raus.
Klein, Naomi (2015a): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. S. 33.
Klein, Naomi und Lewis, Avi (2015b): This Changes Everything. Film-Doku inspiriert durch Naomi Kleins Buch This Changes Everything: Capitalism vs. Climate, deutscher Titel: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima.
Lesch, Harald (2016): „Keynote: Harald Lesch fordert endlich Konsequenzen aus dem Wissen um den Klimawandel zu ziehen“. in: Internationale Agrarkonferenz November 2016, veröffentlicht von Bündnis 90/Die Grünen, Upload 21.11.2016, online unter www.youtube.com/watch?v=0r39TopOeI/ (Abrufdatum 9.6.2019)
Neef, Wolfgang (2020): [Leserbrief]. in: tageszeitung, 9.9.2020, S. 4.
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