Klimakrise, Massenaussterben, Zukunft: Die relevanten Fakten, Zahlen und Argumente zur großen Transformation. | Von Marc Pendzich | Vorwort. Intro. | Einführung. | Für kleine Bildschirme: Inhaltsverzeichnis als Liste.
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Liebe:r Leser:in,
es ist an der Zeit, sich angesichts der nunmehr unübersehbar eskalierenden ökologischen Katastrophen Klima und Massenaussterben grundlegend zu bekennen… zum Leben: zu einem Leben ‚im Einklang mit der Natur‘, d. h. innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen. Dazu habe ich „Wir sind Erde. Das Bekenntnis zum Leben“ verfasst.
Statt also sich mit all den detaillierten, überwältigenden Fakten des Handbuch Klimakrise zu beschäftigen, rege ich an, gleich zum nächsten Schritt überzugehen: Zum Bekenntnis, auf der richtigen Seite, auf der zukunftsfähigen Seite, stehen zu wollen. >> wir-sind-erde.de.
In diesem Sinne höre ich jetzt, im August 2023, auf, das vorliegende Handbuch Klimakrise upzudaten*. Die Fakten, Zahlen und Argumente hinsichtlich Klimakrise und Massenaussterben sind zu überwältigend und zu eindeutig, als dass sie noch dokumentiert werden müssten.
Ein Beispiel: Wie viele Windräder im Jahre 2023 exakt neu ans Netz gegangen sind, ist sekundär: Wichtig ist die Botschaft, dass diese Anzahl lediglich ein Bruchteil dessen ist, was erforderlich ist.
Wir Menschen müssen grundlegend neu anfangen, wenn wir die existenziellen Lebensgrundlagen erhalten möchten – so einfach ist das. 700 Seiten „Handbuch Klimakrise“, eingedampft auf einen Satz… – es ist tatsächlich so einfach:
Wir Menschen müssen mittels einer gesamtgesellschaftlichen Transformation grundlegend neu anfangen, wenn wir die existenziellen Lebensgrundlagen erhalten möchten.
Wollen Sie neu anfangen? Ich möchte. Ich mag Menschen, ich mag das Leben, ich mag alles Lebendige und finde, dass wir Erwachsenen als Erdsystemverantwortliche tatsächlich Bäume zu pflanzen haben, unter denen wir selbst nicht sitzen werden.
Herzliche Grüße
Marc Pendzich
* Wesentliche Grundfakten wie bspw. die globale Durchschnittstemperatur halte ich selbstredend aktuell, siehe auch Changelog/Änderungsprotokoll.
Intro. | Einleitung. [Neufassung, Stand 9/22]
Im November 2020 ist das Handbuch Klimakrise
auch als Book on Demand (BoD), Din A4, 700 Seiten, 68.– EUR (Buch, in allen
Buchläden per Bestellung erhältlich) erschienen, 19,99 EUR (E-Book, s. Amazon & Co)
Buch-ISBN 9783751985246 | E-Book-ISBN 9783752679670
Durch dieses Webportal handbuch-klimakrise.de liegt der komplette Inhalt für alle Bürger:innen frei verfügbar vor.
>> s.a. pendzich.com >> Handbuch Klimakrise – ein Werkstattbericht
Zehn wesentliche Aspekte der multiplen Krise der Menschheit in Schlaglichtern
… in loser Folge – kein Punkt ist wichtiger als der andere… Der Countdown läuft…
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Wir leben in einer begrenzten Welt, in der man nur das verteilen kann, was da ist.
Dies ist die Grundlektion, die wir Menschen zu verstehen und zu begreifen haben, wenn wir die Zivilisation und unsere Lebensgrundlagen bewahren wollen.
Erforderlich ist die absolute, situationsunabhängige Priorisierung der Einhaltung der planetaren Belastungsgrenzen. Bislang musste die Abmilderung der existenziellen multiplen Krise der Mitwelt bei jedem großen und kleinen Anlass stets zurückstehen. Es ist ganz klar: Auf Basis der derzeitigen Wertvorstellungen wird es immer vorgeblich aktuellere/dringendere Dinge geben. Bleibt das so, wächst sich die gegenwärtige Krise zur ökologischen Katastrophe aus, die mit dem Kollaps der Zivilisation einhergeht. (SMZ 2023)
Ein Modell, das für eine Zukunftsermöglichung Orientierung bietet, ist der sog. Doughnut.
Das Doughnut-Modell von Kate Raworth veranschaulicht, wie ‚Gutes Leben für Alle‘ auf der Erde dauerhaft möglich ist. Die Grafik sieht aus wie das Gebäck mit dem Loch in der Mitte. Der äußere Rand – die ‚ökologische Decke‘ – markiert die planetaren Belastungsgrenzen, die unbedingt und absolut eingehalten werden müssen. Der innere Rand zeigt die sozialen Mindeststandards, die für unser menschenwürdiges Dasein wichtig sind. Was die beiden Ränder des Doughnuts überragt, bedeutet ein Zuviel an Naturverbrauch bzw. ein Zuwenig an Bedürfnisbefriedigung. Die Ökonomie hat innerhalb des Doughnuts für das Wohlergehen der Menschen zu sorgen.
Extra hervorzuheben ist: Die äußeren, oberen Grenzen des Doughnuts sind absolute Grenzen, die wir Menschen unterschreiten müssen, weil sonst die Lebenserhaltungssysteme der Erde kollabieren.
>> Quelle bis hier: SMZ 2023, weiteres zum Doughnut, zu den planetaren Grenzen und zum Earth Overshoot Day siehe Abschnitt Earth Overshoot Day und die planetaren Grenzen.
Analog zum Doughnut gibt es das sog. Vorrangsmodell, welches klarstellt, dass Ökonomie nur innerhalb einer stabilen Gesellschaft innerhalb einer stabilen Ökosphäre – d. h., innerhalb der planetaren Grenzen stattfinden kann.
‚Gutes Leben für Alle‘ bedeutet, dass sich jede:r nur so viel nehmen kann, dass niemand zu kurz kommt. (SMZ 2023)
Es ist ganz einfach: Die planetaren Grenzen sind unsere Grenzen. Entweder wir, die Menschheit, erkennen sie an – oder nicht. Ein bisschen anerkennen geht nicht. Wir Menschen sind Bestandteil der Natur – wir sind Erde – und unterliegen den Naturgesetzen und damit den planetaren Grenzen. Entweder wir, die Menschen der Weltgemeinschaft, leben innerhalb der planetaren Grenzen – oder nicht. Ein bisschen in Sichtweite der planetaren Grenzen das Leben zu gestalten bedeutet deren Überschreitung. Die dauerhafte planetare Grenzverletzung zieht die ökologischen und sozialen Kipppunkte nach sich – und unsere Zivilisation kippt mit ihnen.
In der Konsequenz bedeutet das auch, dass wir uns die Reichen nicht mehr leisten können. Weder in Deutschland – noch global (vgl. weiter unten Intro: Countdown 4).
Und wer diesen Gedanken ungewohnt findet: I. d. R. wurden solche Vermögen äußerst Ressourcen- und CO2-intensiv erwirtschaftet: Time to pay back.
>> Hier gibt es reichlich zurückzuzahlen, vgl. Zahlen zu globaler finanzieller/sozialer Ungleichheit in Abschnitt Klimagerechtigkeit (‚Climate Justice‘) – und der ‚globale Süden‘.
Es bedarf einer Suffizienz-Politik, d. h. einer gesellschaftlichen ‚Kultur des Genug‘. Hier geht es also nicht um die persönlich freiwillig gewählte Selbstbeschränkung, sondern um die Entwicklung und Umsetzung eines gemeinsamen, politisch ausgehandelten Wertekanons zur Frage ‚Wie viel ist genug?‘.
Maja Göpel formuliert es so:
- Was brauchen „wir denn unbedingt, wenn wir gut versorgt sein wollen?“ (2020, 127)
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Klimakrise und Sechstes Massenaussterben sind eins.
Es ist ganz einfach: Massenaussterben – was ist das? Warum ist Artenvielfalt so extrem wichtig? Und warum höre ich davon so wenig?
„Viele Tiere und Pflanzen sind schon ausgestorben.
Das bedeutet: Es gibt sie nicht mehr.
Das nennt man Arten•sterben.
Es ist schon jetzt sehr schlimm.
Deshalb reden wir von einem Massen•aussterben.
Wir Menschen können nicht ohne Tiere und Pflanzen leben.“
Aus: Hamburger Zukunftsmanifest in Leichter Sprache, 2021 [Original, 2020]
Was ausgestorben ist, ist weg: Es kommt nicht wieder.
Wenn die Nahrungsketten der Tier- und Pflanzenwelt reißen, dann ist es vorbei:
- Das ‚Web of Life‘ gleicht einem engmaschigen Netz. Dieses Netz trägt uns, einer Hängematte gleich – und wir sind schwer.
Das Sechste Massenaussterben führt in der öffentlichen Wahrnehmung ein Schattendasein. Das hat sicher etwas damit zu tun, dass Menschen bereits mit dem emotionalen Begreifen der Klimakrise überfordert sind.
Wie im Fließtext angedeutet, ist dem Massenaussterben (so gut wie) nicht mit ‚Technik-Fixen‘ zu begegnen, sondern mit einem Weniger und einem gesellschaftlichen Anders – und mit Unterlassung: Regenwald belassen, Entsiegelung statt Versiegelung, naturnahe Agrarkultur samt Humusaufbau statt erosionsfördernder Abtötung von Böden durch Glyposat, Herbizide, Pestizide etc. pp.
Und dieses Anders braucht: Arbeitskräfte. D. h., die Verhinderung des Massenaussterbens ist nur unter Ausschaltung des grundkapitalistischen Effizienzgedankens ‚Einsatz von Maschinen und Chemie statt menschlicher Arbeitskraft‘ machbar. Hier geht es also um dringend benötigte Facharbeiten, die sich aber im derzeitigen ökonomischen System nicht rechnen. Bewahrung der Artenvielfalt und das derzeitige ökonomische System, dass auf Ausbeutung und Externalisierung von (Umwelt-)Kosten ausgerichtet ist, passen nicht zusammen. Das ist unbequem und ein Systemkiller. Kill the ecomic system – not the Artenvielfalt.
>> s. a. Abschnitt Sechstes Massenaussterben | Biodiversitätsverlust
Wer die multiple Krise (verbal oder gedanklich) auf die Klimakrise verkürzt, unterschlägt das ebenso dramatische und ebenso dringlich einzudämmende Sechste Massenaussterben. Jede ausschließliche Nennung der Klimakrise verharmlost die bestehende Menschheits-Gesamtherausforderung und lässt die Mitbürger:innen die zu bewältigenden Aufgaben unterschätzen.
Ich rege an,
- die Begriffe ‚Klimakrise‘ und ‚Massenaussterben‘ stets gemeinsam – in einem Atemzug – zu verwenden oder
- einführend, d. h. am Anfang einer Debatte gesondert auf das Sechste Massenaussterben hinzuweisen oder
- vermehrt von der ‚multiplen Krise der Menschheit‘ und von der ‚Überlebenskrise der Menschheit zu sprechen.
Die Klimakrise mag zum kleineren Teil u. a. auch mit technologischen Lösungen abzumildern sein – z. B. durch den globalen, systematischen Aufbau Erneuerbarer Energien.
Das Sechste Massenaussterben hingegen ist in allererster Linie durch ein Weniger, durch Unterlassung und durch ein gesellschaftliches Anders abzumildern.
Die verbale Unterschlagung des Sechsten Massenaussterbens bzw. die mentale Fokussierung auf die Klimakrise ist gefährlich, weil das unterschwellige Technologie-Versprechen scheinbar ein ‚Weiter so‘ möglich macht. Es gibt definitiv kein ‚Weiter so‘ – wenn wir die Zivilisation bewahren wollen.
Daraus folgt:
8
Wir Menschen haben kein ‚Klimaproblem‘, sondern ein gewaltiges Gesellschaftsproblem…
… dessen
- Ursachen u. a. in der empfundenen Trennung des Menschen von der Natur sowie in den (ökonomischen) Steigerungslogiken liegen und dessen
- Symptome die Klimakrise und das Massenaussterben sind.
Wir befinden uns in einer Überlebenskrise der Menschheit. Zur Abmilderung – mehr geht nicht mehr – der Erderhitzung und des Sechsten Massenaussterbens braucht es ein Ende der fossilen Energien sowie ein Ende der Übernutzung der Mitwelt. Vor allem aber braucht es dazu eine alle Lebensbereiche umfassende (gesamt)gesellschaftliche Transformation. Die Alternative ist keine, denn sie lautet: Zivilisationskollaps, milliardenfaches Leid und Tod. (Quelle bis hier: SMZ 2023)
Eine erste Inspiration, wie die erforderliche gesamtgesellschaftliche Transformation aussehen könnte, liefert der dem kanadischen Farmer Nelson Henderson (1865-1943) zugeschriebene Satz:
- „The true meaning of life is to plant trees, under whose shade you do not expect to sit.“
(zit. in Wes Henderson, 1986)
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Allein der Faktor ‚Energieknappheit‘ für sich genommen macht ein anderes ökonomisches System erforderlich.
Es ist ganz einfach: Wir steuern auf Energie-knappe Zeiten zu (und zwar vollkommen unabhängig vom Putin-Krieg).
Wenn Du gerade in Deiner Wohnung sitzen solltest, dreh‘ Dich mal langsam um 360° um Dich selbst und lass den Blick kurz auf allem ruhen, was in Dein Blickfeld gelangt. Was siehst Du? Du siehst im Grunde Energie: Das Sofa, der Tisch, die Lampe, der Fernseher, die Bücher, die Playstation, die Tapete, die Wandfarbe, der Teppich, die Heizungsrohre, die Mauersteine, der Betonstahl, die Fenster – alle diese Dinge bzw. deren Rohstoffe wurden mit Hilfe eines erheblichen Energieeinsatzes von fossilen Energieträgern wie Öl, Gas und Kohle abgebaut, transportiert, aufbereitet, hergestellt, gelagert, montiert etc. pp. Die Filme im Fernsehen, die Software im Laptop, die Druckerschwärze in den Büchern, die Baumwolle der Vorhänge – alles ist „kondensierte Energie“. Diese Energie kann künftig nicht mehr aus fossilen Energieträgern stammen.
Übrigens verfeuern wir jährlich etwa die Menge an fossilen Brennstoffen, die in einer Million Jahre entstanden sind, also gewissermaßen nutzen wir innerhalb eines Jahres die Sonnenenergie von einer Million Jahren (vgl. Rahmstorf/Schellnhuber 2018, 34, siehe Handbuch Klimakrise Abschnitt Wir feuern uns ins Dinosaurierzeitalter zurück).
Angesichts eines solchen Energieüberschusses (in Form von den Verbrennungsrückständen wie CO2) kann es dann schon mal heißer werden auf dem Planeten.
„Der Anteil von Wind- und Solarenergie am globalen Endenergiebedarf beträgt heute lediglich 1,8 %.“ (Zukunftsrat Hamburg 2022, Dokument)
- Wind und Solar sind die einzigen (quasi) beliebig ausbaubaren Erneuerbaren Energien.
- Wasserkraft ist begrenzt, weil man nicht überall Staudämme bauen kann. Geothermie steht noch ganz am Anfang (= 0,1% der globalen Endenergie, vgl. ebd.).
Der Aufbau von Erneuerbaren Energien braucht – selbst wenn wir alle Kraft hineinlegen – Zeit. Zeit, die wir Menschen nicht mehr haben. Zeit, die in den letzten Jahrzehnten – umrissen durch die Merkel-Ära – leichtfertig vertändelt wurde durch ein rauschhaft-besinnungsloses ‚Weiter so‘.
Wenn wir Menschen die menschliche Zivilisation bewahren wollen, müssen wir innerhalb weniger Jahre runter von Kohle, Gas und Öl. Wir müssen schneller runter als wir raufkommen.
Es wird eine erhebliche ‚Energiedelle‘ geben.
Diese ‚Delle‘ ist riesig, d. h. die Menschheit läuft (vollkommen unabhängig vom Putin-Krieg) auf energieknappe Zeiten zu. Mindestens für mehrere Jahrzehnte wird Energieknappheit herrschen.
Unser derzeitiges, von Steigerungslogiken geprägtes ökonomisches System braucht hingegen jährlich mehr Energie als im Jahr zuvor – als im Jahr zuvor… als im Jahr zuvor. Daher bedeutet die Zahl „1,8 %“:
- Das derzeitige weltweite ökonomische System des Mehr-Mehrverbrauchs und die Bewahrung der Zivilisation sind nicht miteinander vereinbar.
Wir Menschen der frühindustrialisierten Staaten werden (mindestens auf Jahrzehnte) mit deutlich weniger Energie auskommen müssen als bisher – wenn wir Menschen unsere Zivilisation bewahren möchten.
>> Offenlegung durch Transparenz: Marc Pendzich war zwischen 2019 und 2022 Mitglied des Zukunftsrat Hamburg und hat an oben zitierter Pressemitteilung sowie der Entwicklung der Zahlen mitgewirkt.
Auch unabhängig von der Energieknappheit ist ein gesellschaftliches Weniger erforderlich:
- In Deutschland beispielsweise verbrauchen wir jährlich die Ressourcen und Errungenschaften von drei Erden, obwohl uns bekanntermaßen nur eine Erde zur Verfügung steht. Folglich haben wir den Verbrauch zweier Erden zu unterlassen – wenn wir Menschen unsere Zivilisation bewahren möchten.
>> vgl. Abschnitt Konkrete Politische Ziele, Aspekt Earth Overshoot Day sowie Eine neue Geschichte der Zukunft.
Logisch ist, sozial ist und dem Doughnut-Modell entspricht (s. o. Intro: Countdown 10), dass die gesellschaftliche Gerechtigkeit von oben gedacht werden muss – und darüber hinaus selbstverständlich stets generationengerecht zu gestalten ist.
Die vorhergehenden Sätze klingen freundlich, aber, reiner Wein:
- Auch auf der ökologischen Ebene haben stets gleiche Rechte für alle gelten. Das bedeutet neben vielem Anderen, dass sich niemand mit seinem Geld freikaufen kann, um dann bspw. doch zu fliegen. Massenproteste sind in erster Linie zu erwarten, wenn die Reichen geschont würden. Haben die reichen Mitbürger:innen ihren – in diesem Falle massiven, CO2-reduzierenden – Beitrag zu leisten, sieht die Sache schon ganz anders aus.
- Wir haben uns auf ein gesamtgesellschaftliches Weniger einzustellen. Und, damit uns die Gesellschaft nicht ‚um die Ohren fliegt‘, haben wir soziale Mindeststanddards zu garantieren, sodass unbegüterte Menschen über ausreichend Güter verfügen können, um ihr Leben menschenwürdig gestalten zu können.
Wenn Sie dieser Gedankengang befremden sollte:
- Denken Sie mal daran, wo Sie – egal wie Sie in Deutschland finanziell aufgestellt sind – weltweit auf der sozialen Leiter stehen.
- Beruhigend mag auch sein, dass Sie künftig nicht mehr in materieller Konkurrenz stehen – auch Ihr:e Nachbar:in wird nicht mehr mit dem neuesten Smartphone/Hundebuggy/SUV auftrumpfen.
Und Sie haben eine Menge zu gewinnen, nämlich überhaupt eine Zukunft für Sie, Ihre Kinder, Ihre Enkel, Ihre Mitmenschen, Ihre Lieblingstiere sowie – und, das ist doch mal was: eine angstfreie Daseinsvorsorge.
- „Wir tauschen Hamsterrad und Konsumismus gegen Zeitwohlstand und Wohlergehen.“ (Pendzich 2022, Eine neue Geschichte der Zukunft)
6
Es gibt faktisch kein CO2-Budget mehr. Es gibt kein Zeitfenster mehr. Es gilt: ‚Jetzt, sofort und heute!‘
Das dringende Erfordernis, alle Kraft auf die Energiewende – besser: Energierevolution – zu legen, bedeutet auch, dass es kein Reduktions-Zeitfenster bis 2050, 2045, 2025 oder 2028 mehr gibt – und auch kein wie auch immer berechnetes ‚Freischuss‘-CO2-Budget.
Denn:
Das vom Weltklimarat IPCC1 berechnete CO2-Budget ist sozusagen bereits fest vergeben: für die Energiewende.
- „1,8 % bedeutet, dass die Weltgemeinschaft all ihre Kraft, ihr gesamtes Know-how und alle (fossile) Energie in den globalen Ausbau von Wind und Solar stecken muss – wenn sie die Zivilisation bewahren will“ (Zukunftsrat Hamburg 2022).
Null-Emissionen statt Klimaneutralität.
Der Begriff ‚Klimaneutralität‘ führt in die Irre, da er nahelegt, wir könnten durch ‚Negativ-Emissionen‘ uns auch künftig noch relevant CO2-Emissionen ‚leisten‘. Das ist nicht der Fall.
- „Mittels natürlichen Senken speichert Deutschland derzeit nur 15 Millionen [Tonnen Treibhausgase] pro Jahr.“ (Geden/Strefler 2019)
Zur Erinnerung: Deutschland emittiert jährlich etwa 750 Mio. Tonnen Treibhausgase. Das sind also 15 Mio. Negativ-Emissionen vs. 750 Mio. ‚Positiv‘-Emissionen (vgl. UBA 2022, exakter Wert 2021: 762 Mio. CO2e).
Klimaneutralität bedeutet daher faktisch Null-Emissionen. Für politische Planungen ist folglich nicht auf Klimaneutralität, sondern auf Null-Emissionen abzustellen, da es kein Budget für vermeidbare ‚sonstige Emissionen‘ gibt:
- Es wird weiterhin begrenzt unvermeidbare Emissionen geben, weil es vereinzelte wichtige technische Prozesse gibt, die schlicht nicht ohne Emissionen auskommen.
- Hinzu kommen Unfälle, klimakrisenbedingte Waldbrände, unerwartete Nebeneffekte, Emissionen-hervorrufende kriegerische Konflikte im Rahmen der großen gesellschaftlichen und politischen Umbrüche etc. pp., die ja in der CO2-Berechnung ebenfalls einkalkuliert werden müssen und damit das ohnehin kleine Budget, das der IPCC1 noch berechnet, weiter schmälern.
Der Klimatologe Anders Levermann bringt es auf den Punkt:
- „Wir brauchen nicht weniger Emissionen, wir brauchen null Emissionen. Null! Das ist etwas anderes als Emissionen verringern. Etwas fundamental anderes, wenn sie mit Wirtschaftsvertretern sprechen. Verringern bedeutet, ich mache etwas weniger, und das wollen Wirtschaftsvertreter nicht. Null Emissionen heißt, ich mache etwas anders. Die Rolle der Politik ist, diesen Antrieb zu entfesseln.“ (2020)
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Es gibt derzeit keinen Klimaschutz. Es gibt derzeit keine Abmilderung des Sechsten Massenaussterbens.
Die Umsetzung des Pariser Abkommens von 2015 liegt im Jahr 2022 in weiter Ferne. Die Menschheit befindet sich derzeit auf einem 3-bis-4-Grad-Pfad bis 2100 (vgl. Spiegel 2019a, b, c). Die zuversichtlichsten Quellen sprechen derzeit von einer erwartbaren globalen Temperaturzunahme von 2,7 °C. Einer der renommiertesten Klimaforscher der Erde, Johan Rockström, kommentiert diesen Befund mit den Worten:
- „Mit 2,7 Grad würden wir unbekanntes Terrain betreten. Wir würden auf einem anderen Planeten leben als heute… Man würde praktisch auf einem zerstörten Planeten leben“ (NTV 2021, vgl. Tagesschau 2022).
Derzeit liegt die globale Erwärmung bei 1,2 °C. Und die Wälder brennen. In Deutschland. In Europa. Global. Sogar nördlich des Polarkreises.
- Wie wird Aufforstung unter diesen Bedingungen aussehen?
- Wer wird das machen? (vgl. Aspekt ‚Fachkräftemangel‘ weiter unten in Intro: Countdown 2)
- Wie wird es mit Klimawaldbränden weitergehen in einer 2,0-, 2,7-, 3,0- oder 4,0-Grad-Welt?
- Was ist die Menschheit ohne Wälder?
Schon der Begriff ‚Klimaschutz‘ weist in die falsche Richtung. Er erzählt die falsche Geschichte. Wir müssen nicht das Klima schützen, sondern uns Menschen und alles Leben auf diesem Planeten.
Der Begriff ‚Klimaschutz‘ deutet des Weiteren unterschwellig an, dass wir – wenn wir gezielt durch Optimierung des Bestehenden ‚das Klima‘ schützen – so weiter leben könnten wie bisher. Das können wir nicht.
Wolfgang Lührsen und ich schlagen statt ‚Klimaschutz‘ die Begriffe
- ‚Menschheitsschutz‘ bzw. ‚Lebensschutz‘ vor. Wir verweisen im gleichen Zusammenhang auf den Begriff ‚Abmilderung der Erderwärmung/Erderhitzung‘ – in Anlehnung an das englischsprachige Climate Change Mitigation. (vgl. Lührsen/Pendzich Sprache Macht Zukunft – SMZ 2023)
Auch der Klimaforscher Mojib Latif kommentiert daher im Jahr 2019 die bisherigen globalen politischen Anstrengungen wie folgt:
- „Aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es [bislang] überhaupt keinen Klimaschutz, denn solange die weltweiten Emissionen von Treibhausgasen immer weiter steigen, kann man nicht von Klimaschutz sprechen“ (2019b).
Im Jahre 2022 gilt weiterhin:
- Es gibt derzeit keine relevanten Maßnahmen zur Abmilderung der Erderhitzung.
- Stattdessen gibt es jährlich klimaschädigende Subventionen in der Höhe von mehr als 65,4 Mrd. EUR in Deutschland und in der Höhe von 1.800 Mrd. US-$ (direkte Subventionen) bzw. 5.900 Mrd. US-$ (direkte u. indirekte Subventionen) weltweit (vgl. UBA 2022, Krumenacker 2022, IMF 2021).
- Das ist Geld, das für die Abmilderung der Klimakrise fehlt.
- Das ist Geld, das direkt die Zerstörung der Atmosphäre/Mitwelt befördert – Zerstörung, die nachfolgend zusätzlich wieder so weit überhaupt möglich beseitigt (und nachfolgend mit zusätzlichem Geld bezahlt) werden muss.
- Es gibt derzeit keine Absenkung erderhitzender Treibhausgase. Anstatt abzufallen, steigen die Emissionskurven weiterhin Jahr für Jahr an.
- Wenn Sie bisher davon ausgegangen sind, wir Menschen seien bereits auf dem richtigen Weg, dann befinden Sie sich – pardon: auf dem Holzweg:
„Etwa die Hälfte des Kohlenstoffdioxids, das die Menschheit jemals in die Atmosphäre geblasen hat, wurde in den vergangenen dreißig Jahren ausgestoßen“ (Kolb 2019).
- Wenn Sie bisher davon ausgegangen sind, wir Menschen seien bereits auf dem richtigen Weg, dann befinden Sie sich – pardon: auf dem Holzweg:
- Stattdessen gibt es jährlich klimaschädigende Subventionen in der Höhe von mehr als 65,4 Mrd. EUR in Deutschland und in der Höhe von 1.800 Mrd. US-$ (direkte Subventionen) bzw. 5.900 Mrd. US-$ (direkte u. indirekte Subventionen) weltweit (vgl. UBA 2022, Krumenacker 2022, IMF 2021).
- Es gibt derzeit keine relevante Abmilderung des Massenaussterbens.
- Die „gegenwärtige Aussterberate [liegt] 1.000- bis 10.000-fach über der sogenannten normalen“ (Lesch/Kamphausen 2018, 93). Von einer Abnahme der Aussterberate kann keine Rede sein.
- Die Landnutzungsänderungen, die Vernichtung der Regenwälder sowie die chemiegestützte Agrarwirtschaft befördern das tägliche Aussterben von unzähligen Tier- und Pflanzenarten.
>> Zahlen zu den weiterhin weltweit steigenden Emissionen siehe Abschnitt Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen.
>> Zahlen zum Sechsten Massenaussterben siehe Abschnitt Massenaussterben | Biodiversitätsverlust.
Was es hingegen gibt: Es gibt, ist…
DIE universelle Kurve…
…für das HöherSchnellerWeiter-Leben des Anthropozäns1 und vor allem des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart:
Rechts sieht man – vereinfacht und stark vergröbert – die prinzipiell für alles passende Kurve bzw. Grafik zur Entwicklung der Folgen der industriellen Revolution und des HöherSchnellerWeiter-Lebens: Eine zunächst langsam und nach einem deutlichen Bruch nach dem Zweiten Weltkrieg immer dramatischer ansteigende exponentielle Kurve.2
>> Die Kurve mancher Aspekte – wie z. B. eine Datenreihe der technisch ermöglichten Kommunikation liegt natürlich bis ins 20. Jahrhundert bei null, aber dann folgt die Kurve ebenfalls der exponentiellen Kurve. Die Einzelkurven sind bei Steffen et al. 2015 zu sehen.
Anders ausgedrückt: Man kann sämtliche Kurven u. a. zu den Themen
Treibhausgasemissionen | Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre | Erderhitzung | bisherige Bevölkerungsentwicklung3 | globales Wachstum | städtische Bevölkerung | Transport/Mobilität | technisch ermöglichte Kommunikation | Tourismus | Düngemittelverbrauch | Trinkwasserverbrauch | Ressourcenausbeutung | Massenaussterben/Biodiversitätsverlust | Versauerung der Meere | Verlust an tropischem Wald
übereinanderlegen.4 Sie sind weitgehend: deckungsgleich.
- „Zwischen 1980 und 2010 hat sich der jährliche globale Verbrauch von Biomasse, mineralischen Rohstoffen und fossilen Brennstoffen von unter 40 auf 80 Milliarden Tonnen verdoppelt. Längst ist nicht mehr die Rede von ‚Peak Oil‘, jenem Zeitpunkt also, ab dem die Ölfördermengen abnehmen werden, sondern vom ‚Peak Everything‘“ (Hartmann 2018, 16-17).
Hervorzuheben ist, dass es erst mit der Etablierung des ‚neoliberalen Turbokapitalismus‘ seit Mitte/Ende der 1980er Jahr ‚so richtig losging‘.
>> vgl. Abschnitt Wir müssen ran an unser ökonomisches System.
Es ist ganz einfach: Das derzeitige ökonomische System ist nicht zu halten.
Das derzeitige ökonomische System fußt auf der Externalisierung der tatsächlichen Kosten, auf Auslagerung, auf vieldimensionaler Ausbeutung z. B. von Menschen hier/überall/nachfolgende Generationen, Tieren, Pflanzen, Ressourcen, Umwelt, Mitwelt und Zukunft.
Das bedeutet: Das ökonomische System funktioniert NICHT. Der derzeitige Deal lautet: Wir Frühindustrialisierten haben für ein paar Jahrzehnte vorübergehenden Konsumismus-Wohlstand um den Preis der Selbstvernichtung der Menschheitszivilisation.
Des Weiteren reißt die Menschheit dabei noch große Teile des ‚Web of Life‘ mit sich. Das bedeutet: milliardenfachen Tod – und noch unendlich viel mehr Leid.
Außerdem liefern wir – Schätzungen zu Folge – ca. eine Milliarde zivilisationsüberlebende Menschen dem Chaos aus.
Die Internalisierung sämtlicher Kosten zeigt die wahren Preise. Ein Geschäftsmodell, welches durch die Internalisierung von Kosten unrentabel wird, sich nicht lohnt, ist ein schlechtes Geschäftsmodell. Die Chemie-getränkte Agrarökonomie wie sie zurzeit läuft, der Flugverkehr, Zubringerflug-Kreuzfahrten – sie alle würden in einer zukunftsfähigen Welt mit wahren Preisen nicht rentabel sein – und nicht (in heutiger Form) existieren.
Daher ist die Logik umzudrehen: Es gilt stets und immer das Vorsorgeprinzip. Das könnt beispielsweise so ablaufen, dass stet erst vorab der Nachweis zu erbringen ist, dass ein Herstellungsverfahren klima- und mitweltverträglich ist.
Das Vorsorgeprinzip gilt auf allen Stationen einer Lieferkette. Eine Lieferkette hat genau wie das so entstehende Produkt volldeklariert zu werden. Lohnt es sich dadurch nicht, dass Produkt herzustellen, ist es kein ausreichend wertiges Produkt, d.h. es ist hinzunehmen, dass es dann nicht hergestellt werden kann.
Mehr globales Bruttoinlandsprodukt = Mehr CO2.
Wachstum, Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen, z. B. gemessen an den 8 wichtigsten Sektoren, gehen „ziemlich strikt mit[einander] … einher“ (Weizsäcker 2019), Wachstum als Grundantwort kann daher nicht die Antwort sein (vgl. ebd.). Am Ende gilt immer noch, global gesehen, allen Effizienzgewinnen zum Trotz: Mehr BIP1 = Mehr CO2.
Fazit:
- Die Menschen der Industrieländer haben „in der Lebensspanne zweier Generationen den Planeten] an den Rand des Kollapses gebracht“ (Göpel 2020, 17).
>> vgl. Abschnitt Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang.
Wir haben den Überfluss, der uns nie zustand, loszulassen, um die Chance zu wahren, ein grundlegendes Wohlergehen zu erhalten. Das nennt man: Zukunftsermöglichung.
>> siehe dazu Abschnitt Was kann ich tun?, Aspekt Unhaltbarer Lebensstil in Deutschland.
Wenn also unsere Wirtschaft nur ‚brummt‘, wenn Überfluss gelebt wird – und wenn wir diesen Überfluss loszulassen haben, um die Chance auf ein grundlegendes Wohlergehen zu erhalten, folgt daraus logisch, dass wir unser derzeitiges ökonomisches System hin zu einem künftig weniger Steigerungslogiken-basierten Modell umzubauen haben.
Hierüber erfahren wir nichts von deutschen Politiker:innen. Wenn diese – insbesondere die Vertreter:innen der Union und der FDP – hervorheben, es liege an den Bürger:innen selbst, im Interesse des Klimaschutzes Vernunft walten zu lassen und weniger zu konsumieren, dann ist das schlicht eine Lüge, weil genau diese geforderte ‚Vernunft‘ in der derzeitigen von Steigerungslogiken beherrschten Turboökonomie in die Rezession führen würde. Dieses Dilemma hat schnellstens aufgelöst zu werden.
Daraus ergibt sich – hier in den Worten des Sozialpsychologen Harald Welzer – eine Forderung an uns, an die Erwachsenen- und Entscheider:innen-Generationen:
- „Die größte Aufgabe meiner Generation ist, unser Erfolgsmodell der liberalen rechtsstaatlichen Demokratie auf die Basis eines völlig neuen Naturverhältnisses zu stellen. Das heißt Aufhören mit der expansiven Form des Wirtschaftens, die alle Bedingungen für unser Überleben langfristig zerstört“ (2019).
>> Ausführlich dazu siehe Abschnitt Wir müssen ran an unser ökonomisches System.
Die Taktik ‚Mehr vom gleichen‘ kann keine Lösung sein. Denken wir diese Taktik doch mal zu Ende, treiben wir es auf die Spitze:
- Mehr Ressourcenverbrauch?
- Mehr fossile Energien?
- Mehr Konsumismus?
- Mehr Wachstum?
- Mehr Neoliberalismus?
- Mehr Waffen?
- Mehr Fliegen?
- Mehr Fleisch?
- Mehr Autos in Deutschland?
- Mehr Glyphosat?
- Mehr Abholzung des Regenwaldes?
- Mehr Überfischung?
Klingt doch eher unheimlich.
Aber: Nichts anderes wollen vor allem die Parteien der sog. Mitte, namentlich der SPD, Union und der FDP, deren Politiker:innen sich nunmehr seit Jahrzehnten in ihrem ‚Wachstums-Paralleluniversum‘ gedanklich verhakt haben. (Wobei festzuhalten ist, dass die Grünen keinesfalls dem ‚Wachstum‘ abgeschworen haben.)
„Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt, kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen.“
Michael Ende, 1994, in: Zettelkasten. Skizzen und Notizen. Weitbrecht. S. 276.
Zurück zum Grundthema dieses Abschnitts:
Es gibt in Deutschland derzeit keine systematische Abmilderung der Erderhitzung und auch keine relevante Bekämpfung des Massenaussterbens – obwohl das deutsche Grundgesetz die Bewahrung der Lebensgrundlagen verfügt.
Das bundesdeutsche Grundgesetz verfügt in Artikel 20a:
- „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere.“
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Beschluss vom 24. März 2021 klar, dass
- der Schutzauftrag in Art. 20a des Grundgesetzes vom Staat verlangt, mit den natürlichen Lebensgrundlagen sorgsam umzugehen und „sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.“ (BVerfG 2020, Rn. 112, 197)
- Das Gericht macht überdies deutlich, dass das die Reduktion von CO2-Emissionen aus Sicht des Grundgesetzes unausweichlich ist und rechtzeitig erforderliche Transformationen eingeleitet werden müssen. (BVerfG 2020, Rn. 194)
Das bedeutet m. E., dass Politiker:innen sich derzeit i. d. R. nicht an das bundesdeutsche Grundgesetz halten und somit verfassungswidrig handeln. Ich gehe davon aus, dass der Staat, repräsentiert durch Politik, Regierung und Verwaltung, verfassungswidrig agiert – weil er seine eigenen Grundlagen – die Lebensgrundlagen der Menschen, die diesen Staat bilden – untergräbt.
Unser politisches System ist daher – zur Sicherung unseres Rechtsstaates und der Demokratie – auf der Basis von Prinzipien wie bspw.
- Transparenz, Parität, Inklusion, Solidarität, My Body My Choice, Klimagerechtigkeit, Wissenschaftlichkeit, Generationengerechtigkeit, Diskrimierungs- und Rassismusverbot, Fraktionszwangslosigkeit, Großspendenverbot, Nebenerwerbsverbot sowie auf einem ethischen Zukunftsfähigkeitsvorbehalt
zu transformieren.
Es braucht darüber hinaus neue und zusätzliche rechtsstaatliche Instrumente in der Demokratie. Dazu gehört eine größere Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft, z. B. in Form von Bürger:innenräten.
>> siehe dazu Abschnitt Umsetzung des SDG 16 in Deutschland: Mehr Demokratie, neue Formen der politischen Partizipation.
Noch einmal: Es existieren aktuell keine relevanten klimastabilisierenden Maßnahmen und keine relevante Abmilderung des Sechsten Massenaussterbens. Das bedeutet auch: Es wird derzeit kein relevanter Lebensschutz bzw. Menschheitsschutz betrieben.
Die derzeitige ideenlose, fossile Stillstandpolitik des Beharrens stößt auf das bewusste oder auch unbewusste Wissen der Menschen, dass es nicht mehr weitergeht wie bisher. Diese klaffende Lücke zwischen Ist- und Soll-Zustand schafft Lähmung – sowie Perspektiv- und Orientierungslosigkeit.
Es gibt aus meiner Sicht keine der allgemeinen Öffentlichkeit bekannten Politiker:innen, die unumwunden und deutlich Klartext reden, d. h. ‚reinen Wein‘ einschenken über die Dimension und Dringlichkeit der Klimakrise, des Massenaussterbens, der gesamtgesellschaftlichen Transformation und der Gesamtherausforderung vor der die Menschen in Deutschland, Europa und der Welt stehen. Zwei Ausnahmen bestätigen diese Regel bzgl. Deutschland: Robert Habeck (vgl. Lanz 2022). Niemand springt ihm in dieser Deutlichkeit bei. Anton Hofreiter. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen nimmt kein Blatt vor den Mund (vgl. Willeke 2019) – und wurde bei der Regierungsbildung 2021 nicht bedacht.
Ein ‚Weiter so‘ führt ins ‚Aus‘. ‚Business as usual = Death1
Reiner Wein + Zukunftsperspektive = konstruktive Zukunftsermöglichung
Wird der ‚reine Wein‘ mit einer Zukunftsperspektive verbunden eingeschenkt, könnte damit auch die Zeit der Orientierungslosigkeit und Lethargie, die Deutschland nach wie vor in weiten Teilen so fest im Griff hat, beendet sein: Patient:innen (hier: Bürger:innen) sind gewöhnlich froh, wenn sie nach Zeiten der Ungewissheit eine eindeutige Diagnose erhalten und somit endlich Klarheit haben. Die Dynamik, die die sich aus der eindeutigen Klimadiagnose entfalten könnte – sowie das verbreitete Gefühl in der Gesellschaft, dass es endlich wieder eine Idee gibt, wie die Zukunft aussehen könnte, könnte eine konstruktive Aufbruchsstimmung in Gang setzen, die der Demokratie in Deutschland gut zu Gesicht stehen würde (vgl. Pinzler/Ulrich 2018).
>> Erläuterung zu (1): ‚Business as usual = Death‘ stand auf einem Plakat von Extinction Rebellion zu lesen, als im Oktober 2019 der Betrieb der Londoner U-Bahn lahmgelegt wurde (vgl. Snaith 2019; einfach „Business as usual = Death“ in die Bilder-Suche eingeben).
4
In einer begrenzten Welt stellen sich Verteilungsfragen komplett anders als in einer Welt des illusionären ‚unendlichen Wachstums‘.
- „In einer begrenzten … Welt ist es die zentrale Aufgabe der Ökonomie, das Wohlergehen der Menschen – aller Menschen – zu befördern und für eine klimagerechte, angstfreie Daseinsvorsorge innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen zu sorgen.“ (SMZ 2023)
Zunächst sind also die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Sind diese gestillt, kann man gemeinsam schauen, ob ‚noch was geht‘ und wenn ja, was ‚noch so geht‘.
In meinem 2022 veröffentlichten Essay Eine neue Geschichte der Zukunft. Wer wir sind. Wo wir herkommen. Wer wir künftig sein können umreiße ich menschliche Grundbedürfnisse wie folgt:
- „Dazu zählen saubere Luft, sauberes Trinkwasser, gesunde Lebensmittel, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Wärme, Sicherheit, Hygiene, Schlaf, Kommunikation, Beziehungen, Gesehen werden, Nähe und Sexualität. In unserer modernen Gesellschaft kommen einige weitere soziale Grundbedürfnisse hinzu wie z. B. ein grundlegendes Maß an sozialer und kultureller Teilhabe, Gesundheitsversorgung, Bildung, Energie sowie Mobilität.“ (Pendzich 2022, Dokument)
Nico Paech hält dazu fest:
- „Gerechtigkeit [markiert] … ein zweistufiges Unterfangen: Zunächst wäre eine plünderungsfreie Verteilungsmasse festzulegen. Erst darauf basierend, kann im zweiten Schritt ein daraus zu generierender, definitiv limitierter – Wohlstand verteilt werden“ (Folkers/Paech 2020, 174).
Was Paech als „Wohlstand verteilen“ bezeichnet, meint eben letztlich die Verteilung von Ressourcen und Energie.
Auch an Energie kann nur verteilt bzw. verbraucht werden, was da ist.
- Wenn etwas knapp ist, hat man zu priorisieren: Ich rege an, Heizen, Licht, Strom und eine grundlegende Mobilität wichtiger zu nehmen als Motorisierten Individualverkehr (MIV), Kreuzfahrten und Flugreisen.
Ich gehe davon aus, dass Flugreisen – von Ausnahmen wie vorschlagsweise einige Politiker:innenreisen und internationaler Mannschaftssport (wohlgemerkt: die Mannschaften, nicht die Fans!) abgesehen – bis auf Weiteres, für mindestens viele Jahrzehnte, nicht mehr machbar sind in einer energieknappen Null-Emissionen-Welt.
Was Flugreisende jetzt wissen müssen:
Ihr fliegt das Klima kaputt.
>> siehe auch Abschnitt Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion. sowie allgemein zum Thema Flugverkehr bzw. zum ‚ökologischen Doppelschlag‘ namens ‚Zubringerflug-Kreuzfahrt‘ siehe Abschnitt Fliegen, Kreuzfahrten.
3
Wir brauchen die Parität der Geschlechter1 – in Deutschland, Europa und weltweit.
Es ist ganz einfach: Bereits das Gender-Pay-Gap für sich genommen sorgt für die stetige Fortschreibung des Ist-Zustandes, denn wer geht arbeiten, wenn das Kind in den Kindergarten kommt? Die:derjenige, die:der mehr verdient – und das ist i. d. R. in Deutschland (sogar bei gleichem Tätigkeitsfeld) ein Mann.
Der zerstörerische Kapitalismus, wie wir ihn kennen, ist von Männerdynamiken geprägt. Diese sind zu durchbrechen durch ein weltweites Empowerment von Frauen.
Dies ist im bundesdeutschen Grundgesetz verankert und gleichwohl nach wie vor nur teilweise Realität. Frauenlose Männerentscheidungen haben die Menschheit dahin gebracht, wo sie steht: Es sind Männer, die den Planeten nahezu an die Wand gefahren haben. Es gibt keine Garantie, dass paritätisch gefällte Entscheidungen besser sind – aber diese sind durch mehr Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen und Perspektiven untermauert und weisen daher eine stärkere Legitimierung auf.
Maßgeblich für eine gendergerechte, paritätische Welt ist die
- gezielte (Aus-)Bildung von Mädchen bzw. Frauen,
- grundlegende Gesundheitsversorgung
- niedrigschwellige Zugänglichmachung von Verhütungsmitteln,
- Durchsetzung des Prinzips ‚My Body My Choice‘ sowie die
- Schließung des Gender-Pay-Gaps (und allem, was in die gleiche Richtung geht, wie z. B. dem Gender Lifetime Ernings Gap).
Ein freundlicher Nebeneffekt ist übrigens eine stabile Anzahl von gleichzeitig lebenden Menschen auf der Erde.
>> siehe ausführlich Abschnitt Generationengerechte Politik für die Zukunft: Klima, Ökofeminismus und Parität sowie zum Thema ‚stabile Weltbevölkerung‘ 11 Milliarden Menschen Weltbevölkerungsentwicklung & Ernährung der Weltbevölkerung: Zwei gute Nachrichten inmitten der vielen schlechten.
Das sind Maßnahmen, die in vielerlei Hinsicht wirkmächtig sind, die Weltbevölkerungszahl stabilisieren, schlicht ‚menschengerecht‘ sind und der Tatsache entgegenwirken, dass Frauen in Krisen besonders vulnerabel (verletzlich) sind. In der chronischen Weltkrise ist daher umso dringender als ohnehin schon aus Gerechtigkeitsgründen geboten, das Empowerment von Frauen systematisch und prioritär voranzutreiben.
>> Erläuterung zu (1): Selbstverständlich braucht es darüber hinaus Anti-Diskriminierungs- und weitere Gleichstellungs-Gesetze, um die Rechte non-binärer Menschen und der LGTBQ-Community sicherzustellen.
2
Allein der Fachkräftemangel könnte ein allumfassendes Scheitern der Transformation zu einer Null-Emissionen-Welt bedeuten.
Zur Bewältigung der globalen Energiewende und zum Aufbau einer Null-Emissionen-Welt braucht es viele, sehr viele Fachkräfte. Zur Stabilisierung der Ökologie und für ‚Aufräumarbeiten‘ am Planeten benötigen wir Menschen Millionen sog. ‚Climate Worker‘ – sozusagen das ‚Technische Hilfswerk 2.0‘ (‚THW 2.0‘).
In Hamburg beispielsweise liegt die Sanierungsquote zur klimaerforderlichen Wärmedämmung von Häusern bei 0,6 % (vgl. NDR 2020). Die Stadtentwicklungssenatorin Stapelfeldt geht von einer erforderlichen Quote von 2,0 % aus (vgl. BUND 2020b), um dem (reichlich harmlos geratenen) 2020er Hamburger Klimaschutzgesetz gerecht zu werden. Naturnahe Verbände gehen von einer erforderlichen Quote von 3 % aus (vgl. „Offener Brief“ von German Zero Hamburg, 2021).
Rechnen wir mal mit der Quote 2 %: Das ist mehr als eine Verdreifachung an Aufwand und Personal gegenüber dem Jetzt-Zustand. Allerdings sind die Auftragsbücher der in- und auswärtigen Handwerker:innen in diesen Monaten und Jahren bereits prall gefüllt – ein Mehr ist da gar nicht möglich. Und viele Handwerker:innen gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Große Nachwuchssorgen prägen die Branche. Die allermeisten jungen Menschen in Deutschland studieren bzw. streben Berufe an, in denen man nicht mit den Händen arbeitet. Um also mehr als drei Mal mehr handwerkliche Fachkräfte neu ins Berufsleben zu bringen, kann der (stets vorgeschlagene) Zuzug von Außen (denn ich generell prima finde: Welcome!) nur ein eher kleiner Teil der Lösung sein.
Eine klassische Lösung wäre, via starker geldlicher Anreize die Handwerks-Berufsgruppen attraktiver zu machen. Das funktioniert nicht mehr, weil Deutschland jährlich drei Erden verbraucht, wo es nur eine gibt: Es ist nicht im Interesse der Menschheit, Menschen in der Lage zu versetzen, äußerst CO2-intensiv zu leben. Es bedarf also eines gesamtgesellschaftlichen Weniger – und das bedeutet, dass alle Mitbürger:innen, die mehr als zu wenig haben, weniger materiellen Konsum haben werden (müssen). Je Reicher, desto größer die Abstriche – Klimagerechtigkeit und Generationengerechtigkeit sind hier das Maß der Dinge. Anders und pointiert ausgedrückt: Es geht nicht, der:dem Handwerker:in ein Unternehmensberater:innen-Gehalt zu zahlen. Vielmehr wird es eine Anpassung von oben geben (müssen).
Starke finanzielle Anreize sind also keine Lösung. Wir brauchen jedoch zeitnah und dringendst sehr, sehr viele Fachkräfte und Climate Workers.
Das bedeutet, dass wir Menschen in Deutschland eine umfassende Transformation der (Berufs-)Ausbildung benötigen, um angemessen klimaerforderlich unsere Gebäude sanieren/wärmedämmen zu können, um die Energiewende durchführen zu können und sonstigen Umbau der Infrastruktur und Gesellschaft bewerkstelligen zu können. Um Klimaanpassung z. B. in Form von Bau von Klimadeichen zu betreiben. Um das Massenaussterben via Renaturierung abzumildern. International. Um personalintensive naturnahe Agrarkultur betreiben und um Moore wiedervernässen zu können. International. Und um die Menschen des globalen Südens massiv zu unterstützen (auch in unserem eigene Interesse, siehe nachfolgenden Intro: Coundown 1).
Vorschlagsweise ist das Angebot an Studien- und Ausbildungsplätzen anhand des errechneten Zukunftsbedarfes auszurichten. Um hier eine reine konkurrenzgesellschaftliche Numerus-Clausus-Aussiebung – die nicht unbedingt die geeignetsten Mitmenschen begünstigt – zu vermeiden, rege ich an, Motivationsschreiben und [Zoom-]Interviews stets als Auswahlkriterien hinzuzuziehen.
Mir ist wohl bewusst, dass in Deutschland derzeit sehr viele junge Menschen keinen Handwerksberuf erlernen möchten. Dazu ist hier, in diesem Intro lediglich kurz festzuhalten, dass wir, die Gesellschaft – so wir die Zivilisation bewahren wollen – uns komplett neu darüber zu verständigen haben, wie wir künftig gut und friedvoll zusammenleben wollen. Wir benötigen im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Transformation einen neuen Wertekanon. Machen wir uns nichts vor: Wir leben derzeit bereits in einer Dystopie. Aus einer Abfolge von (vermeintlichen) Einzelkrisen ist eine chronische Weltkrise geworden. Die hört auch nicht mehr auf. Die ist gekommen um zu bleiben – in immer neuen Varianten auf Basis der immergleichen Grundursache: Wir Menschen leben über unsere Verhältnisse, abgebildet in den Steigerungslogiken unserer Ökonomie, verkörpert durch unsere HöherSchnellerWeiter-Lebensweise und unsere mentale Trennung von der Mitwelt… Psychische Zerrüttungen nehmen zu. Diverse Formen der Klimaangst grassieren. Hunger. Konflikte. Vertreibung. Es gibt bereits heute derart viele Klimaopfer, dass ihre Schicksale zu gewöhnlich sind, um es in die Tagesschau schaffen.
>> Wenn Sie im September 2022 mitbekommen haben, dass in Pakistan 33 Mio. Menschen von einer Flutkatastrophe betroffen sind, dann haben Sie gut aufgepasst – und jede Menge andere parallel ablaufender Katastrophen ‚verpasst‘ (vgl. ZDF 2022).
>> Der Spiegel nennt die Katastrophe in Pakistan „[e]ine Klimadystopie vor unserer Haustür“ (Freier/Seidler 2022).
Aus der Perspektive heraus, dass die Lage bereits jetzt dystopisch ist, kann also vieles durchaus besser werden in Zukunft – die Chance lautet, in drei Worte gefasst:
‚Hygge für Alle‘ – oder auch: ‚Zeit statt Zeugs‘.
>> vgl. Pendzich (2022). Eine neue Geschichte der Zukunft. Wer wir sind. Wo wir herkommen. Wer wir sein können. BoD, online unter https://eineneuegeschichtederzukunft.de
Zusammengefasst: Wir brauchen in Deutschland ein vollkommen neu gefasstes Ausbildungswesen.
>> s. a. ausführlich in Abschnitt Fachkräftemangel.
Es ist ganz einfach: Zur Illusion des ‚Die-erfinden-da-noch-was‘.
Niko Paech spricht im Zusammenhang mit dieser Art von Fortschrittsgläubigkeit von der irrationalen Hoffnung auf einen alle Probleme lösenden technologischen Messias (Folkers/Paech 2020, 25).
Der US-amerikanische Umweltautor Kenneth Brower schreibt dazu:
- „Die Idee, dass die Wissenschaft uns retten wird, ist die Schimäre, die es der heutigen Generation erlaubt, nach Belieben Ressourcen zu verbrauchen, als würde ihr keine Generationen mehr nachfolgen. Sie ist das Beruhigungsmittel, dass es der Zivilisation erlaubt, so unerschrocken auf die Umweltkatastrophe zuzumarschieren“ (zit. in Klein 2015, 351).
Sibylle Berg bezeichnet diese Idee als „[d]ie Ausrede der Kapitalisten, dass der Fortschritt die Erde reparieren wird, [die]… sich nicht einlösen [kann]“ (2020).
Precht weist darauf hin, dass bei dieser Art des Techniker-Denkens „[d]ie Vieldimensionalität tatsächlicher Lebenszusammenhänge … nicht vor[kommt]“ (2018, 55) – und daher unterkomplex ist.
In diesem Zusammenhang ist auch das ‚Bestands-Erwerbsarbeitsplätze-Bewahrungs-Argument‘ kurz aufzugreifen.
Um es hier im Intro ganz kurz zu machen:
- Lassen wir es zu, dass das ‚Bestands-Erwerbsarbeitsplätze-Bewahrungs-Argument‘ wie bisher Totschlagargumentations-Qualität besitzt, können wir uns gleich einsargen. Auf einem toten Planeten gibt es exakt null Erwerbs-Arbeitsplätze.
Das bedeutet: Wir brauchen ein neues Verständnis von Arbeit. Diese neue Definition von Arbeit hat Sorgearbeit und überhaupt gesellschaftlich sinnvolles Tun mit einzuschließen.
>> ausführlich zum ‚Bestands-Erwerbsarbeitsplätze-Bewahrungs-Argument‘ siehe Abschnitt Wir müssen ran an unser ökonomisches System.
Krass?
Nein. Die Klimakrise und das Sechste Massenaussterben – die sind krass.
Und daher gilt:
- Wir erhalten durch die globale Krise der Mitwelt bzw. die Überlebenskrise der Menschheit prinzipiell die Chance, die Welt neu zu denken, den überdrehten Finanzialismus-Shareholder-Value-Turbokapitalismus einzudämmen und den Menschen bzw. das Leben – und nicht das (zerstörerische) Geld – in den Mittelpunkt unseres Daseins zu stellen.
Utopisch? Ja. Und gleichzeitig doch wahrscheinlicher und chancenreicher denn je.
Denn: So lange der Neoliberalismus ‚funktionierte‘, gab es keinerlei Möglichkeiten bzw. wurden keine Gelegenheiten (‚Windows of Opportunity‘) genutzt, um das System abzukühlen, es per Betonung der Sozialen Marktwirtschaft zu zähmen oder den erst in den 1980er Jahren entschlüpften neoliberalen Geist wieder in die Flasche zu stecken.
Das erscheint mir eine neue, funktionierende Grunderzählung zu sein:
- Die Doppelkrise Klimakrise/Massenaussterben bietet – trotz der bedrohlichen Kulisse – eine Chance. Sie ist die Chance, die wir bislang nie hatten. Sie kann uns von unserem selbstzerstörerischen Trip befreien, das Leben freier machen und für globale Gerechtigkeit sorgen – nutzen wir sie.
Womit nicht gesagt sein soll, dass es leicht wird, diese Chance zu nutzen… aber im Ernst: Die Natur – unsere Mother Earth – setzt uns die Pistole an die Schläfe. Kommt es zur großen Katastrophe, ist sie final und die Zivilisation Geschichte.
This Is The End Of The World As We Know It (frei nach R.E.M.) –
Das alles bedeutet aber auch:
Es kann endlich anders weitergehen, weil es anders weitergehen muss, wenn es weitergehen soll.
Ich persönlich halte die Umsetzung des Gedankens, dass uns die multpile Überlebenskrise der Menschheit gewissermaßen eine Chance bietet, die wir sonst nicht gehabt hätten, für nicht besonders wahrscheinlich – aber definitiv für wesentlich wahrscheinlicher als die Erfolgsaussichten des ‚Der-letzte-Strohhalm‘-Gedankens „Die erfinden da noch was“.
Hm, und wenn „die“ doch nichts erfinden sollten?
Und, nebenbei:
Die Zeit für „Die erfinden da noch was“ ist längst abgelaufen.
Ergo: Wir haben die Chance, wir haben die Möglichkeit zur entscheidenden Abmilderung von Klimakrise und Massenaussterben – aber wir haben: keine Wahl.
Radikal ist, so weiterzumachen wie bisher.
1
Der Globale Süden muss in die Lage versetzt werden, mitzuziehen bei der Abmilderung von Klimakrise und Massenaussterben – ohne ihn ist Alles nichts.
Ohne umfassende Klimagerechtigkeit inkl. Technologie-, Wissens- und Know-how-Transfers hat der Globale Süden, haben dessen Regierungen und Bewohner:innen keinen Grund und auch keine Möglichkeit, bei der Abmilderung der Klimakrise und des sechsten Massenaussterbens mitzuziehen.
Moralisch ist die Sache ohnehin klar:
- „[L]etztlich gibt es doch nur eine robuste und moralisch vertretbare Antwort: Jede Erdenbürgerin und jeder Erdenbürger hat exakt den gleichen Anspruch auf die Belastung der Atmosphäre, die zu den wenigen ‚globalen Allmenden‘ zählt.“ (Rahmstorf/Schellnhuber 2018)
Schon dieser eine Aspekt für sich genommen bedeutet, dass unser bisheriges ökonomische System, dass auf multidimensionaler Ausbeutung des Globalen Südens und der dort lebenden Menschen basiert, definitiv ausgedient hat – wenn wir die Zivilisation bewahren wollen.
Je eher wir Menschen bzw. die Gesellschaften der frühindustrialisierten Staaten von unserem ‚hohen Ross‘ heruntersteigen, desto besser. Es braucht ein Ende der imperialen Lebensweise.
0
Zero. Ignition. Go!
Wer verstanden hat und nicht handelt, hat nicht verstanden.
Wang Yangming (1472-1529), Philosoph neokonfuzianistischer Tradition.
Die promovierte Physikerin Angela Merkel wollte 16 lange Jahre nichts verstanden haben. Daran ändern auch die beiden niedlichen Klimapaketchen1 in der Abenddämmerung ihrer Amtszeiten nichts, die – wie Mojib Latif sich ausdrückte – dem „Klima viel eher Sterbehilfe“ leisten, als das sie hilfreich wären (zit. in Welt 2019). Auch Olaf Scholz hat nicht verstanden – wie bspw. im Gespräch mit zwei hungerstreikenden Zukunftsaktivist:innen der Letzten Generation deutlich wurde.2
Unübersehbar ist die Angst vor Veränderung bei vielen Mitbürger:innen. Eine solche Angst ist bis zu einem gewissen Grade verständlich – aber die Erstarrung m. E. spätestens dann nicht mehr nachvollziehbar, wenn es um das Leben/Wohlergehen der eigenen Kinder und Kindeskinder geht.
Eltern der Welt, steht auf!
Viele Menschen lügen sich in die Tasche. Sie bekämpfen die ‚kognitive Dissonanz‘ zwischen eigenem Weltbild und neuen, unangenehmen Informationen, in dem sie sich mental wegducken: Sie denken sich ihre Welt zu recht.
Harald Welzer hat dazu festgehalten:
- „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen gelehrt und Unwissen praktiziert wird, ja, in der Tag für Tag gelernt wird, wie man systematisch ignorieren kann, was man weiß“ (Welzer 2019, 24).
>> s. a. Abschnitt Wir Verdrängungskünstler:innen.
Viele machen die Augen zu und verdrängen, solange es irgendwie geht. Und wenn das auch nicht mehr geht, behaupten sie – so läuft es nach meiner Beobachtung seit etwa zwei Jahren -, es sei sowieso ‚nix mehr zu machen‘. Womit sie bruchlos vom Klimawissenschaftsverweigernden zum Zukunftsverneinenden konvertieren, ohne irgenwie jemals aus dem passiven Modus rausgekommen zu sein. Ohne sich jemals ernsthaft mit dem Thema beschäftigt zu haben.
Ist ja nur die Welt, um die es geht.
Diese Art der Verdrängung und der Veränderungsangst wird jedoch zusätzlich auch – seit Jahrzehnten – geschürt von Lobbyist:innen, Politiker:innen und anderen Menschen, die bislang Systemgewinnler:innen sind.
- Machen Sie sich klar: Fossile zahlen den Kampf gegen den Klimawandelwandel aus der Portokasse – während proaktive Umweltverbände etc. als Gesamtetat nicht mal über den Kapitalwert dieser Portokasse verfügen. (>> s. Abschnitt Geld regiert die Welt? Tödlicher Lobbyismus, Medienlogik, Freihandelsabkommen)
- Machen Sie sich klar: Hier wird mit allen Mitteln die finanzkräftigste aller Weltindustrien verteidigt. Es ist nicht damit zu rechnen, dass ein:e fossile Lobbyist:in an der Zukunft der Menschheit interessiert ist (vgl. klimafragen.com). Die Beharrungskräfte sind riesig.
- Selbstverständlich sagt die Flughafenchefin, dass Nicht-Fliegen keine Lösung ist. Wir sollten sie zu diesem Thema nicht befragen (vgl. Gatzke/Iser 2022). Warum tut es die Zeit? Und titelt dann auch genau dieses zweifelhafte Zitat? (Und wer sich durch Aussagen einer Flughafenchefin in ihrer:seiner Ansicht, Fliegen sei okay, bestätigt fühlt, ist – pardon: einfach nur naiv.)
- Der Hamburger Airport ist mittlerweile nach eigenen Angaben klimaneutral (vgl. Airport 2022), und
- Auch die Macher:innen einer neuen Erdölquelle in Norwegen entblöden sich nicht, ihre Quelle bzw. ihre Erdölproduktion als ‚klimaneutral‘ zu bezeichnen (vgl. World-Energy 2021, Lepic 2021)
Gehts noch?
Seit einiger Zeit werden nunmehr auch Menschen, die bislang mutig vorangegangen sind, von Angst ergriffen. Weil nichts passiert. Oder zumindest viel zu wenig. Wie lange kann man das durchhalten, dieses ‚aufrecht dem Sturmwind entgegengehen‘?
Mittlerweile haben also nicht nur Weiter-Sos Angst, sondern auch viele Proaktive. Burnout, Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen – und dann sind da noch die Verschwörungsmythen, in deren Parallelwelten man der Realität entkommen kann.
Studien zeigen: Auch Kinder haben vermehrt Angst – auch, weil ihre Eltern das Thema kleinreden (vgl. Wüstenhagen 2022).
>> s. a. Abschnitt Ohnmachtsgefühle & erlernte Hilflosigkeit: Klimakrisen-Depression.
>> vgl. Cartoon von Thomas Paßmann, veröffentlicht im Spiegel: Ein kleiner Junge steht schlaftrunken mit dem Kuscheltier in der Hand in der Schlafzimmertür seiner Eltern und bittet die aufwachenden Eltern: „Darf ich zwischen Euch?… Ich hab wiedervon meiner Zukunft geträumt.“
Die Diskrepanz zwischen dem, was man privat weiß und was der Job ‚verlangt‘ wird größer – und diesen Spagat hält nicht Jede:r aus.
- „Fragen Sie mich als Politiker:in/Unternehmer:in/Mitarbeiter:in oder als Privatperson/Mensch?“ – das ist einer der typischsten Sätze, mit denen ich bei solchen Gesprächen immer wieder konfrontiert werde.
- „Das müssen Sie schon selbst entscheiden – und idealerweise gibt es zwischen den beiden Antworten keinen Unterschied“ – lautet meine Antwort.
Politiker:innen haben in Deutschland bislang nur und ausschließlich die Veränderungsängste im Blick – zumal das einem ‚Weiter so‘ dienlich ist – also ‚wirtschaftsfreundlich‘ ist.
Proaktiven, die lediglich sachlich-nüchtern Fakten darlegen, wird routinemäßig vorgeworfen, sie würden Panikmache betreiben, Angst schüren und seien ohnehin Untergangsprophet:innen – ‚Angst machen gildet nicht‘. Ist das so? Wir sind hier nicht im Kindergarten – und Fakten müssen ausgehalten werden. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, hat Ingeborg Bachmann mal gesagt (1959).
Was ist die Wahrheit? Eine große Frage. Und schwer zu beantworten. Ich übersetze den Satz mal als „Wissenschaftliche Fakten sind dem Menschen zumutbar“ – und hiervon machen Politiker:innen in Deutschland nicht eben ausführlich Gebrauch, wenn es um Klimakrise und das zumeist unerwähnte Massenaussterben geht.
Doch der – meist unberechtigte – Vorwurf ‚Untergangsprophet:in‘ entfaltet seine Wirkung: Viele Proaktive drücken sich derartig vorsichtig-verklausuliert aus, dass m. E. bislang kaum jemand ernsthaft begriffen hat, wie sehr die Hütte brennt.
Wir haben kein ‚Wissensproblem‘ in klimabetreffenden Wissenschaftskreisen.
Wir haben ein allgemeines, massives ‚Tragweitenverständnisdefizit‘.
Und:
Wir haben ein eklatantes Wissendefizit bei den Bürger:innen, die ‚es‘ mehrheitlich nicht wissen wollen:
- „Overall, most respondents seem to still live in climate Neverland, massively underestimating the extent of the measures needed and, above all, the speed with which they must be implemented. Two-thirds of res- pondents are aware that a temperature increase of two degrees or more would have catastrophic consequences for nature and people. However, only slightly more than half are aware that harmful green- house gas emissions must be reduced substantially if such an outcome is to be prevented. And only a meagre 12.2 % are aware of the enormous time pressure that climate policy is under: this is the share of respondents that understand that we can carry on as we are for only another eight years before the world reaches its climatic limits.“ (Allianz Research 2021) [Anmerkung: Anknüpfend an die Aussagen dieses Intros: Auch diese acht Jahre haben wir nicht mehr.]
Also: 12,2 % der hier befragten Menschen leben nicht in „Climate Neverland“. Im Jahre 2022.
>> Der Film Don’t Look Up mit Leonardo DiCaprio bringt dieses Nicht-Wissen-Wollen sehr schön – und ungewöhnlich unterhaltsam – auf den Punkt. Empfehlung: Die Szene mit der Demonstration, wo Menschen auf der Straße den Satz „Don’t Look Up“ skandieren und der Komet (ähem: Symbol für Klimakatastrophe/Massenaussterben) bereits deutlichst am Himmel zu sehen ist, ab 1h 47min, Netflix.
Es gibt also viele (eher junge) Menschen, die Angst davor haben, dass ihre Zukunft verbaut wird, weil Politiker:innen und Systemgewinnler:innen die Angst derjenigen, die Angst vor Veränderung haben, vermeiden will bzw. höher gewichten.
Ist die Angst der Veränderungsgeängstigten eine bessere, wichtigere Angst als die Angst derjenigen Menschen, die nach derzeitigen Stand durchaus zu Recht befürchten, dass es keine Zukunft mehr für sie geben könnte?
Ich meine: Nein.
Ohne Veränderungsschmerzen wird es nicht gehen. Veränderung geht nun mal i. d. R. nicht ohne Schmerz, Unwissenheit und Umgewöhnung. Wir entkommen dem Veränderungsschmerz nicht. Das ist so. Das ist ‚normal‘. Worüber reden wir also?
Wir reden darüber, dass es das verdammt gute Recht der Jugend ist, eine menschenwürdige Zukunft zu haben. Und wenn dafür nicht mehr gekreuzfahrtet/geflogen/geSUVed wird, dann ist das so. Kreuzfahrt oder Enkel? – Es ist abwegig, darüber diskutieren zu müssen. So weit sind wir also schon gekommen? Ich nenne das eine Dystopie. Wir sind jetzt schon in einer Dystopie angelangt.
Wir Nicht-jungen Menschen der frühindustrialisierten Länder betreiben im Rahmen einer ‚Diktatur der Gegenwart‘ einen ‚Generationen-Imperialismus‘ und liefern im Falle eines ‚Weiter so‘ unsere eigenen Kinder und alle Kinder dieser Welt absehbar einem unumkehrbaren ‚Zivilisationsabsturz‘ aus.
Es ist zutiefst skandalös, dass junge Menschen quasi um ihr Leben betteln müssen.
Es ist abgründig. Widerlich. Pervers.
Die Hütte brennt. Meine Kinder sind noch drin. Ihre auch. Ich geh‘ da jetzt rein. Kommen Sie mit? Oder nicht?
Politiker:innen und Lobbyist:innen werden so weiter machen wie bisher, solange sie können – sie freuen sich über jede:n, der bei Globalen Klimastreiks zu Hause bleibt. Jedes Jahr Ölgewinnung bedeutet viele Milliarden Dollar, eingezahlt auf die Bankkonten der Aktionär:innen dieser Welt.
- Es ist Deine, meine, Ihre, Eure, unsere Aufgabe, solche Menschen beim Geldscheffeln und Mitwelt-Zerstören zu stören – und sozusagen ‚Sand ins Getriebe‘ dieser immernoch, auch im Jahre 2022, verdammt gut geschmierten (!) fossilen Maschine namens ‚Shareholder Value‘ zu streuen.
Ich bin ein Mensch des Wortes – und nicht des Anklebens. Jede:r hat dort zu wirken, wo sie:er es am besten vermag. (Im Rahmen ihrer:seiner Kräfte: Passt gut auf Euch auf! Ihr helft niemandem, wenn Ihr ausbrennt. Nur für sich sorgt, kann Sorge tragen.) Es ist gut, die Dinge von verschiedenen Seiten anzugehen. Meine Sympathie und Solidarität gehört jedoch sowohl Fridays For Future, Ende Gelände, Extinction Rebellion als auch explizit den Botschafter:innen der Realität1, d. h. der Letzten Generation. Wer mich hier nicht verstehen mag, hat m. E. nicht verstanden: Obgleich jedes 10tel Grad zählt und somit auch über 1,5 °C weiterzukämpfen ist – die Menschheit steht bereits sehr nahe am Abgrund. Das Zeitfenster, um den kompletten Zivilisationsverlust zu vermeiden, ist längst dabei, sich zu schließen. Unwiderruflich. Gewaltfreiheit insbesondere gegen Personen setze ich als gegeben voraus, aber ansonsten gilt m. E.: Die jungen Menschen haben jedes Recht, sich gegen den Entzug der eigenen Lebensgrundlagen zur Wehr zu setzen.
Wenn die Erwachsenen eine Sache, die man nicht aussitzen kann, aussitzen wollen, müssen die jungen Menschen aufstehen.
Das alles ist gefährlich.
Politik trägt Verantwortung. Politik hat die Lebensgrundlagen zu bewahren. Sie wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Sie versagt. Auf der ganzen Linie.
Es bedarf des Drucks der Straße.
Von wo sonst soll der erforderliche Veränderungsdruck herkommen?
Eine Wahllokal-Mehrheit für tiefgrüne Politik zu bekommen bzw. ohne über den Druck der Straße die gesellschaftliche Stimmung kippen zu lassen, dürfte angesichts der demografischen Entwicklung und der entsprechenden demokratischen Mehrheitsverhältnisse bei Wahlen sowie der Tatsache, dass die meisten Menschen weniger aufs ‚Große Ganze‘ und mehr aufs ‚eigene Portemonnaie‘ achten, in den nächsten Jahren, die jedoch entscheidend sind, schwierig bleiben.
Hier gibt es eine gute Nachricht:
Für die Durchsetzung einer politischen Agenda benötigt man nicht unbedingt die aktive Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Art ‚Katalysator‘, d. h. Multiplikator:innen, die vorangehen:
- „Es müssen drei bis fünf Prozent der Unternehmer und Vorstände sein, die sich in diese Geschichte [eines neuen Narratives, wie es weitergehen soll] einschreiben, drei bis fünf Prozent der Unterhändler auf den internationalen Klimaverhandlungen, drei bis fünf Prozent der Staatschefs, drei bis fünf Prozent der Professorenschaft, der Lehrer, der Polizistinnen, der Anwälte, der Journalisten, der Schauspielerinnen, der Hausmeister, der Arbeitslosen usw. Dann potenzieren sich die Kräfte, weil das, was die einen tun, von den anderen begleitet und gefördert werden kann“ (Welzer 2016, 285, basierend auf Chenoweth/Stephan).
Und:
- „Der Weg in eine nachhaltige Moderne… wird nur unter der Voraussetzung wirkungsmächtig werden, … [wenn] in jedem gesellschaftlichen Segment, in jeder Schicht, in jedem Beruf, in jeder Funktion ein paar Prozent der Beteiligten beginnen, die Dinge anders zu machen“ (ebd., 285).
Welzers allgemeine Aussage zur Entstehung wirkungsmächtiger Gruppendynamik wird bestätigt durch die Forscherinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan, die umfassend belegen, dass friedlicher Protest etwa doppelt so effektiv ist wie Gewalt-beinhaltener Protest – und dass die Aktivierung von 3,5% der Bevölkerung ausreicht, um relevante politische Veränderungen herbeizuführen (vgl. Robson 2019).
>> Anmerkung: 3,5% = 2,87 Mio. Bundesbürger:innen – bei Fridays for Future waren am 20.9.2019 laut Veranstalter immerhin rund 1,4 Mio. Menschen bundesweit auf den Straßen, also rund die Hälfte der erforderlichen ‚kritischen Masse‘ (Wenderoth/Koch 2019).
Erläuterung zu ‚höhere Effektivität von gewaltfreiem Protest‘:
Erica Chenoweth zeigte anhand der Analyse diverser Protestbewegungen, „dass über 50 Prozent der friedlichen Kampagnen erfolgreich waren, gegenüber 26 Prozent der gewaltsamen. Der wichtigste Grund hierfür… bestände darin, dass sich mehr Menschen an dem gewaltlosen Widerstand beteiligen. Durchschnittlich mehr als elfmal so viele“ (zit. in Bregman 2020, 303).
>> siehe zum Thema ‚3,5 % reichen zur Durchsetzung‘ ausführlich Abschnitt Fatalismus und Artensterben/Klimakrise.
Wir Menschen sind spätestens mit den ‚jährlichen Jahrhundertsommern‘, den weltweiten Klimabränden, der globalen Pandemielage und dem Putin-Krieg in eine chronische Krisenwelt eingetreten: Die Krise ist gekommen, um zu bleiben. Die Ära, in der unser aller Leben verändert wird, weil wir es nicht aktiv ändern woll(t)en, hat begonnen.
Wir Menschen haben nicht mehr alle Fäden in der Hand, aber noch können wir die Klimakrise und das Sechste Massenaussterben entscheidend abmildern. Wir werden mutmaßlich die 1,5-Grad-Grenze reißen. Aber 1,6 Grad sind besser als 1,7 Grad sind besser als 1,8 Grad…
Jedes 10tel Grad zählt! Jede Tier- und Pflanzenart zählt!
Die Aufgabe und Herausforderung, die vor uns liegt ist derart groß, dass sie gewissermaßen einfach ist: Weil wir Bürger:innen uns nicht mehr mit kleinen, zähen Reformen und mühsamen Tauziehen innerhalb des Systems herumzuschlagen brauchen, was auf Basis von vermeintlichen Gewohnheitsrechten und Verlustaversionen extrem mühsam und zäh ist, hilft nur noch ein grundlegender Neustart.
Mehr noch: Nichts verdeutlicht so stark, wie groß diese allergrößte Herausforderung, vor der die Menschheit je gestanden hat, wie die Tatsache, dass in „einer CO2-freien Null-Emissionen-Welt sind Kriege nicht möglich [sind], weil sie z. B. durch Zerstörung und dem anschließenden Wiederaufbau stets Emissionen hervorrufen“ (Pendzich 2022, Eine neue Geschichte der Zukunft).
Wir, die Menschen, haben unser Leben jetzt, sofort und heute! auf den Kopf zu stellen, sonst werden wir auf den Kopf gestellt. By design or desaster.
Das alles kann Ohnmachtsgefühle hervorrufen oder auch Klimaangst machen – völlig verständlich.
Mögliche Erst-Selbsthilfe: Aktive Selbstwirksamkeit statt passiver Konsum.
Leisgang und Thelen entwerfen zu den überaus verständlichen mulmigen Klimagefühlen in ihrem Buch Zwei am Puls der Erde. Eine Reise zu den Schauplätzen der Klimakrise – und warum es trotz allem Hoffnung gibt eine neue Perspektive:
- „Die Komplexität der Klimakrise übersteigt unser Fassungsvermögen. Die einzige Sicherheit, die wir haben, ist unsere Vergänglichkeit. Das beides anzuerkennen, zu akzeptieren, dass wir nicht wissen, was die Zukunft schlussendlich bringen wird, ermöglicht uns eine neue Haltung zum Leben. Es ermöglicht eine Weltsicht, die feiert, dass wir nur eine von vielen Spezies sind, die auf der Erde ein schillerndes Leben führt. Diese Sicht verdeutlicht uns, wie klein wir sind und dass wir die Erde mehr brauchen als sie uns. Das zu verstehen und dann das alte, tote System, das uns tötet, zu kompostieren, gibt uns die Freiheit, radikal neue Wege zu gehen. Und darin die Hoffnung. Die Hoffnung nicht nur Krisen zu bewältigen, sondern in einer besseren Welt zu leben“ (2021, 305).
Und sie schließen ihr Buch mit dem Satz:
- „[W]ir haben Lust, diese Zukunft gemeinsam anzugehen, schließlich haben wir nichts zu verlieren. Außer ein Leben in Angst“ (ebd.).
Zero. Ignition. Go!
>> Einen Hinweis zu Klimaangst finden Sie: hier sowie im Abschnitt Ohnmachtsgefühle & erlernte Hilflosigkeit: Klimakrisen-Depression.
Die Verwendung von Auszügen aus der Anfang 2023 erscheinenden und von Wolfgang Lührsen und Marc Pendzich gemeinsam erarbeiteten Handreichung Sprache Macht Zukunft für dieses im Herbst 2022 neuverfassten Intro des Handbuch Klimakrise erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Lührsen.
Falls Sie beim Durchsehen des Webportals Handbuch-Klimakrise.de hier und da einige Widersprüche entdecken: Sehr gut, Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die Website ist zu groß, um alle Aussagen innerhalb kurzer Zeit komplett diesem im September 2022 neuverfassten Intro anzugleichen. Im Zweifelsfall lösen Sie bitte den Widerspruch auf zugunsten der Aussagen des Intro, welches dem aktuellen Stand meiner Recherchen entspricht.
Mehr als eine Fußnote:
Der Geologe Anthony Leiserowitz, der sich in Yale mit dem Yale Program on Climate Change Communication mit einem ganzen Team um die Frage der gelungenen Klimakommunikation kümmert, bringt die entscheidende, konstruktive ‚Klimabotschaft‘ auf die folgende „Climate Change in 10 Words“-Kurzformel:
„It’s real, it’s us, it’s bad; experts agree, there’s hope!“
>> siehe 30-Sekunden-Video von Leiserowitz: https://youtu.be/TbtVXWNrN9o , 2017 (Abrufdatum 2.2.2020)
„Der Klimawandel ist erwiesen und menschengemacht, hat gravierende Risiken, CO2 ist die Ursache, wir können etwas tun!“ (Übersetzung: Michael Brüggemann, 2019)
„Time is not on our side… The time for discussion is over. The time for action is now.“
Edward Burtynsky im Zusammenhang mit seiner im Herbst 2020 erscheinenden Film-Doku ‚Die Epoche des Menschen‘.
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