CO₂-Emissionen in Deutschland: Mobilität und Reisen – herausgegriffen: Flugreisen und Kreuzfahrten
- Klimakiller Flugverkehr
- Einleitung
- Nicht zu unterschätzen: Der Rebound-Effekt
- Flugreisen… und das persönliche CO₂-Budget von 2,3 t CO₂ pro Jahr
- Exkurs: Verkehrsmittel im CO₂-Vergleich
- Fliegen ist mehr als CO₂ in die Luft zu jagen
- Grünes Fliegen? Vielleicht. Bis auf Weiteres: Eine Illusion
- Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen
- Geschäftsreisen per Flugzeug: Business Travellers
- CO₂-Kompensationen z.B. für Flüge und Kreuzfahrten
- Wachstumsbranche ‚Flugverkehr‘
- Der Preis des Fliegens
- Konsequenzen
- Und die soziale Dimension des Fliegens?
- Der ökologische Doppelschlag: Kreuzfahrten
Zum Unterschied zwischen Überfluss(gesellschaft) und Wohlstand(sgesellschaft):
Dekadenz ist, wenn Luxus nicht mehr als selbiger angesehen, sondern als ‚normal‘ und selbstverständlich empfunden wird.
Überfluss als Normalität?
Angemessen wäre vielmehr, dass wir jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen wachen Auges durch unsere Wohnung streifen, unseren Wasserhahn tätscheln, den Lichtschalter liebkosen, sanft über die Drehknöpfe unseres Herdes fahren, den Kühlschrank mit einem warmen Lächeln bedenken, unserer Toilette applaudieren, die Waschmaschine umarmen und uns glücklich schätzen, dass wir, was unser ‚Dach über dem Kopf‘, unsere grundlegenden Lebensumstände, was unsere Ernährungs- und Rechtssicherheit sowie was unser Gesundheitswesen betrifft in Relation zu der Lebensweise in Deutschland vor 1960 und bezogen auf die Lebensumstände der allermeisten Menschen – historisch und gegenwärtig – auf diesem Planeten in einem Paradies leben dürfen.
Diese Dinge sind gefährdet. Für diese Dinge haben wir zu kämpfen. Für unsere Nachkommen. Das ist das Mindeste.
Was bedeutet da schon eine Flugreise oder eine Kreuzfahrt?
Doch zurück auf den Boden der Tatsachen:
Wir müssen reden. Über den
Klimakiller Flugverkehr.
Einleitung.
Viele Deutsche denken über sich, dass sie relativ umweltbewusst sind – aber wehe, man schneidet das Thema ‚Fliegen‘ an auf einer Party oder bei einer Diskussion… Dann geht es schnell fokushochemotional zu. Verständigen kann man sich – wenn es gut läuft – maximal darauf, dass Fliegen das zu kosten hat, was es kostet.
Doch dieser Minimalkonsens reicht nicht, denn:
- „Fernreisen mit dem Flugzeug sind … die mit Abstand klimaschädlichste Art der Fortbewegung.“ (Spiegel, 2016)
- „Fliegen ist die klimaschädlichste Art sich fortzubewegen.“ (Umweltbundesamt, 2016)
- „Flugreisen sind die ökologische Keule.“ (Süddeutsche Zeitung, 2019)
- „Klimakiller Flugzeug: Kein Verkehrsmittel heizt das globale Klima so stark auf wie das Flugzeug.“ (BUND, 2019)
- „Fliegen ist… eine Katastrophe für die Umwelt.“ (Zeit, 2018)
Frage: Warum gelten Flugreisen als Klimakiller, wenn doch andere Industrien/Lebensbereiche höhere prozentuale Anteile am weltweiten CO₂-Ausstoß haben?
Die Antwort ist simpel:
- Der CO₂-Ausstoß pro Flugkilometer pro Person ist mit 201 Gramm ungleich höher als bei jeder anderen Form von Mobilität und findet zudem in einem besonders sensiblen Bereich der Atmosphäre statt.
>> vgl. Aspekt Verkehrs- und Transportmittel im CO₂-Vergleich, S. 262
- Im Gegensatz zu CO₂-intensiven menschlichen Grundbedürfnissen wie Ernährung und Heizen ist Flugverkehr letztlich zu einem guten Teil: verzichtbar.
Anders ausgedrückt: Flugreisen sind Luxus. Heizen und Essen nicht.
En détail:
Flugverkehr verursacht mindestens 5% der weltweiten CO₂-Emissionen (Bartz 2016).
5%? – Andere Statistiken liefern andere Zahlen:
- „Eine neue Untersuchung i.A. der Europäischen Kommission hielt einen doppelt so hohen Anteil [ergibt hier 7 Prozent] für realistisch und einen Anteil von bis zu 12 Prozent für möglich“ (Lege et al. 2005).
- „Rechnet man diese Wirkungen [wie Flughöhe etc.] mit ein, gehen fast zehn Prozent der deutschen Verantwortung für die [CO₂-verursachte] Erderwärmung aufs Konto der Luftfahrt – das ist fast so viel wie der Autoverkehr“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019).
- Die Europäische Umweltagentur errechnete hinsichtlich der zivilen Luftfahrt für 2016 einen Anteil von 13,5% an den europäischen CO₂-Emissionen (vgl. Ilg 2019).
>> Laut einer Studie der „Manchester Metropolitan University … trägt die globale Luftfahrt [aufsummiert, auf Basis aller kumulierten historischen CO2-Emissionen] 3,5 Prozent zur menschengemachten Klimaerwärmung bei“ (Zeit 2020)1. „[D]ie Luftfahrtbranche [hat] weltweit in den Jahren von 1940 bis 2018 etwa 32,6 Milliarden Tonnen CO2 ausgestoßen…. Ungefähr die Hälfte des gesamten kumulativen CO2-Ausstoßes wurde demnach allein in den vergangenen 20 Jahren erzeugt“ (ebd., vgl. Spiegel 2020).
Ob der Anteil des Flugverkehrs an den globalen CO₂-Emissionen nun 5%, 7%, 10% oder auch „bis zu 12%“ beträgt – diese Emissionen werden von sehr, sehr wenigen Menschen erzeugt:
- „4,3 Milliarden Passagiere wurden 2018 weltweit befördert, rechnerisch [und nur rechnerisch!] etwa jeder zweite Bewohner der Erde“ (Bartsch 2019, 79, vgl. Airliners 2019).
Aber:
„Lediglich drei Prozent der Menschheit sind im Jahr 2017 geflogen. Nur 18 Prozent haben überhaupt schon mal ein Flugzeug betreten. Einfach gesagt: Ein paar wenige Privilegierte fliegen das Klima kaputt.“ (Weßling 2019)1
- „Privilegierte“ meint hier Menschen der reichen Länder und hier noch einmal herausgegriffen besonders die reichen Menschen der reichen Länder:
„Umfragen in Großbritannien belegten, dass 75 Prozent des Flugverkehrs von nur 15 Prozent der Bevölkerung verursacht wird“ (BUND 2020, 2).
Der Volkswirt und Umweltökonom Niko Paech erwähnt in seinem Buch Befreiung vom Überfluss, dass allwochenendlich 10.000 Menschen – das sog. „entgrenzte Easyjet-Weltbürgertum“ (Paech 2012, 52) – aus der ganzen Welt in Berlin einfliegen. Paech führt fort:
- „Und warum? Nur weil hier ein vermeintlich besserer DJ auflegt als in Madrid, Tel Aviv, New York, Stockholm oder von wo aus sich die hedonistische Internationale gerade auf den Weg begibt.“
„Wenn Sie fliegen, zerstören Sie das Leben anderer Menschen.“
George Monbiot, 2007
Die Präsidentin des Umweltbundesamtes (UBA), Maria Krautzberger, meint zum gleichen Thema:
- „Das Umweltbewusstsein spielt [bei der Höhe der individuellen CO₂-Bilanz] nur eine geringe bis gar keine Rolle. Entscheidend für den CO2-Verbrauch ist das Einkommen: Steigt es, steigen auch die Ansprüche – und klimaschädliche Taten. Oder, wie es die Studie sagt: ‚Menschen aus einfacheren Milieus, die sich selbst am wenigsten sparsam beim Ressourcenschutz einschätzen und die ein eher geringeres Umweltbewusstsein haben, belasten die Umwelt am wenigsten‘“ (zit. in Hamann 2016).
Das ‚grüne Gewissen‘ blendet die Tatsachen aus, wie Krautzberger weiter ausführt:
„Mehr Einkommen fließt allzu oft in schwerere Autos, größere Wohnungen und häufigere Flugreisen.“ (ebd.)
Die Soziologin Anita Engels unterstreicht diesen Befund:
- „Ob jemand viel oder wenig konsumiert, wird in der Regel von völlig anderen Faktoren angetrieben als von der Sorge ums Klima. Entscheidend ist unter anderem das verfügbare Einkommen. Nimmt das Einkommen zu, geben die Menschen mehr Geld aus, und damit steigen die klimaschädlichen Emissionen.“
>> s.a. Aspekt Individuelles CO₂-Budget auf S. 71 in Abschnitt Globales, nationales und individuelles CO₂-Budget: Emissionen pro Person pro Jahr, aufgesplittet nach Einkommen.
- „Eine Fallstudie bei deutschen Konsumenten zeigt, dass sich die Reisegewohnheiten der wohlhabendsten Schichten um 250 Prozent stärker auf das Klima auswirken als die ihrer Landsleute mit Niedrigeinkommen“ (Klein 2015, 143).
Umgekehrt ausgedrückt heißt das, dass „[i]m Jahr 2019 … in der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahre rund 23,70 Millionen Personen… in den letzten 12 Monaten privat eine Flugreise unternommen hatten. Rund 45,92 Millionen Personen haben derweil keine Flugreise in den letzten Monaten unternommen“ (Statista 2019).
Oxfam steuert 2020 weitere Zahlen für den Zeitraum 1990 bis 2015 bei:
- „In Deutschland waren die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung [– d.h. rund 8,3 Mio Bürger*innen –] für 26 Prozent der deutschen CO₂-Emissionen im untersuchten Zeitraum verantwortlich. Die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung, ist zahlenmäßig fünfmal so groß wie die reichsten zehn Prozent, hat aber mit 29 Prozent des deutschen CO₂-Ausstoßes nur unwesentlich mehr CO₂ in die Luft geblasen“ (SZ 2020).
Der Spiegel kommentiert wie folgt:
- „Wenn eine bestimmte Bevölkerungsgruppe das Klima ruiniert, dann sind es die gut verdienenden Akademiker, die ihren Kindern mal eben in den Sommerferien die Welt zeigen, zwei Autos und noch eine Vespa für die Sommersaison besitzen und eine 200-Quadratmeter-Wohnung beheizen“ (Hage et al. 2019, 18).
>> In Deutschland nimmt die Wohnfläche allgemein sowie bedingt durch die hohe Zahl an Single-Haushalten zu, was u.a. ein großes ‚Mehr‘ an Energieverbrauch bedeutet, vgl. S. 502f.
Das bedeutet, dass viele Menschen, die von sich selbst glauben, sich ‚grün‘ bzw. umweltbewusst zu verhalten, sich hier überschätzen.
Dass nun – wie so gern ‚gestammtischt‘ wird – explizit Grüne-Wähler*innen mit dem SUV beim Biomarkt vorfahren, ist derweil statistisch so nicht zu bestätigen:
- „SUV Fahrer gaben [in einer entsprechenden Umfrage] … besonders häufig an, konservativ (1,3-mal öfter als der Durchschnitt) oder rechts eingestellt zu sein (1,41-mal so oft wie in der Gesamtbevölkerung)“ (Spiegel 2019).
Würden ausschließlich SUV-Fahrer*innen den Bundestag wählen, sähe es so aus (in Klammern das deutsche Ergebnis der Europawahl 2019):
CDU/CSU 35,6% (28,9%) | AfD 16% (11%) | FDP 11,4% (5,4%) (vgl. ebd. und Bundeswahlleiter 2019)
Hagen Rether dazu im Jahre 2018:
„Ja und dann, und dann mit dem Auto zum Bioladen fahren oder was? Ja, aber ist doch besser als mit dem Auto zur Metzgerei zu fahren? Musst ja nicht Flöhe und Läuse haben.“
Gleichwohl ist es selbstredend so, dass auch ‚Grün-Wählen‘ nicht gleichbedeutend ist mit einem konsistenten, vorbildlichen Umweltverhalten.
Eine Umfrage vom Juni 2019 zeigt, dass grüne Wähler*innen dem Fliegen nicht abschwören und der Aussage „Ich bin in den letzten 12 Monaten in ein Flugzeug gestiegen“ etwa genauso oft zustimmen wie FDP-Wähler*innen und etwa 5% mehr als Unions-Wähler*innen.“
Leider versäumen Demoskopen genauer nachzufragen, wie oft wählende Bundesbürger*innen jährlich in ein Flugzeug steigen und wie viele Flugkilometer sie dabei zurücklegen – hier könnte sich durchaus ein anderes Bild ergeben, denn bspw. die solventen CDU/CSU-Rentner*innen benötigen ja – wenn sie nicht gerade auf ‚Malle‘ sind – die Zubringerflüge zu ihren Kreuzfahrten.
- Dass Grüne fliegen „erklärt sich zumindest teilweise durch die gesellschaftliche Stellung von Grünen-Wählern. Die sind vergleichsweise jung, gut ausgebildet und gut verdienend. ‚Alles Merkmale, die positiv mit einer Nutzung des Flugzeugs zusammenhängen dürften‘“ (Böcking 2017).
Grüne fliegen, nicht schön, aber mein Gott, mir würden auch tausende von Beispielen einfallen zum Thema ‚inkonsequentes Verhalten von Unions-Anhänger*innen‘, ich lass es. Dass indes auf diesem Thema so heftig herumgehackt wird – es wird quasi 2019 in JEDER entsprechenden TV-Diskussion erwähnt –, beruht auf diesem stetigen Kindergarten-mit-dem-Finger-auf-die-Anderen-zeigen. Ein Ablenkungsmanöver.
Hagen Rether 2018:
„Fleischesser dürfen eh alles… Ist der Ruf erst ruiniert… Wir grillen auch. Wir dürfen auch für 9 Euro nach Lissabon fliegen am Wochenende. Ja, wir grillen ja auch. Ph, wir haben auch ‘nen SUV, wir haben nie was anderes behauptet, wir grillen auch… Aber der Veganer, der hat gefälligst auf den Brustwarzen zum Bioladen zu robben… ja, aber unbedingt. Was ist das denn für eine preußische pickelhaubige…? Ich versteh das nicht.“
„Die andern, die andern“ ist ein reines Schein-Argument:
- Jede*r von uns hat Unschärfen – und jede*r hat für sich und ihr/sein Handeln selbst gerade zu stehen.
- Jede*r hat bei sich anzufangen, sich an die eigene Nase zu fassen.
- Jede*r ist für sich selbst verantwortlich – und hat die Wahl, ob sie/er sich als Idiot gegenüber dem Planeten aufführt, der ihm das Leben schenkt – oder nicht.
- Die Qualität eines Arguments oder ein dargestellter Sachverhalt wird nicht besser oder schlechter, weil die vorbringende Person evtl. Wasser predigt und Wein trinkt.
Komischerweise finden Menschen es regelmäßig schlimmer, wenn jemand im Verdacht steht vorzugeben, besser zu sein als er ist, als wenn die gleiche Person lügt oder ihr alles egal ist. Wenn jemandem der Fortbestand der Erde egal ist, ist das nach menschlicher Unlogik sein gutes Recht. Menschen sind merkwürdig.
>> vgl. Nguyen-Kim, Mai Thi (2018): „Die schlechtesten Argumente im Internet“. in: maiLab, 31.10.2018, online unter https://www.youtube.com/watch?v=AlSmcBbT15Y/ (Abrufdatum 30.9.2019)
>> s.a. Ausführungen zum sog. ‚Argumentum ad hominem ‘ S. 19 u. S. 213.
Ein Zwischengedanke:
Als Klima-Arsch tritt man das Wunder des Lebens mit Füßen.
Marc Pendzich zugeschrieben.
Nicht zu unterschätzen: Der Rebound-Effekt
Der Begriff ‚Rebound-Effekt‘ beschreibt die Eigenart des Menschen,
- sich z.B. ein sparsameres Auto zu kaufen, aber dann damit mehr zu fahren.
= direkter Rebound-Effekt oder auch ‚Direktrebound‘; - durch umweltverträgliches Verhalten eingespartes Geld für etwas anderes rauszuhauen, was man sich sonst nie gekauft hätte;
= ‚indirekter Rebound[-Effekt]‘
oder - Zeitspartools (wie bspw. das Smartphone) so zu nutzen, dass die/der Nutzer*in am Ende deutlich mehr Zeit verbraucht als ohne (vgl. Paech 2012).
Das ist auch nicht erst seit gestern bekannt, wie folgende Ausführungen Kopatz‘ zum sog. ‚Jevons-Paradoxon‘ nahelegen:
- „Wir neigen zur Expansion. Schon im Jahr 1865 beschrieb der britische Ökonom William Stanley Jevons das Phänomen in seiner Veröffentlichung ‚Die Kohlefrage‘. Jevons berichtete dort von der paradoxen Wirkung von Effizienzerfolgen: Der Erfinder James Watts hatte hundert Jahre zuvor eine Dampfmaschine entwickelt, deren Wirkungsgrad den der bislang übliche Modelle deutlich übertraf. Doch der Kohleverbrauch stieg rapide an, nicht zuletzt weil der Brennstoff Kohle durch die sparsamere Anwendung billiger geworden war. Die Kosten sanken, Dampfmaschinen wurden erschwinglicher und erlebten einen Boom. Jevons kam zu dem Ergebnis, dass die effizientere Nutzung von Energie paradoxerweise den Verbrauch insgesamt erhöht“ (Kopatz 2016, 54).
>> vgl. auch Definitionen zu ‚Effektivität‘ und ‚Effizienz‘ S. 21.
Auch beim Flugverkehr gibt es diesen ‚Rebound-Effekt‘. So „ist der Treibstoffverbrauch pro Passagier seit 1990 um 43 Prozent gesunken… Doch diese Fortschritte werden zunichte gemacht, weil die Zahl der Flüge viel schneller zunimmt als der Pro-Kopf-Verbrauch sinkt“ (Groll 2019, 38).
Der Atlas der Globalisierung stellt dazu fest:
- „Um etwa 1,5 Prozent, so die Faustregel, kann der Verbrauch der Flugzeuge von Jahr zu Jahr verbessert werden. Dieser mühsam errungene Fortschritt hinkt den Steigerungsraten im Flugverkehr hoffnungslos hinterher: 1,5 Prozent Verbesserung gegenüber 5 Prozent Wachstum. Unterm Strich werden die Effizienzgewinne von den schnell steigenden Passagier- und Frachtzahlen mehr als aufgefressen, weil immer mehr Flugzeuge den Himmel bevölkern“ (2019, 86).
In Unkenntnis und aufgrund des nicht-so-genau-Wissen-wollens um unsere wirklichen CO₂-Effekte unseres Verhaltens neigen wir dazu, uns für umweltverträgliches Verhalten irgendwann in anderem Zusammenhang zu belohnen– wir denken dann in etwa so was wie:
- „Wenn ich das ganze Jahr ‚Bio‘ kaufe und Plastik meide, habe ich so viel für die Umwelt getan und meinen Beitrag geleistet, dann kann ich jetzt auch mal ins Flugzeug steigen.“
- „Als Veganer*in kann ich öfter fliegen.“
Und genau das ist – gerade im Zusammenhang mit Fliegen und Kreuzfahrten – ein krasser Fehlschluss:
Der effektivste Hebel, der uns zur Optimierung unseres persönlichen CO₂-Abdrucks zur Verfügung steht, ist die Änderung unseres Reiseverhaltens.
- Weil Flugreisen den größten Impact haben.
- Weil Kreuzfahrten – gemeint sind hier insbesondere die Kreuzfahrten mit zweifachen Zubringerflügen (Hin- und Rückflug) – der ökologische Doppelschlag sind (siehe S. 288ff.).
- Weil private Reisen unsere Urlaubszeit betreffen und somit losgelöst sind vom Alltag – und daher entsprechende Emissionen vergleichsweise leicht auf null gefahren werden können.
Schlussbemerkung:
Am 10. Dezember 2019 nahm ich in Hamburg an der Veranstaltung ‚Zwischen 25. UN-Klimakonferenz und Hamburger Klimaplan‘ teil. Die rund 340 Gäste wurden während der Veranstaltung gebeten per App mitzuteilen, mit welchem Verkehrsmittel sie angereist sind. Viele kamen per ÖPNV – genau eine einzige Person war eingeflogen. Und stellte damit 33% der CO₂-Emissionen aller Teilnehmer*innen.
Als gäbe es kein Morgen –
Flugreisen… und das persönliche CO₂-Budget von 2,3 t CO₂ pro Jahr
Angesichts der Tatsache, dass derzeit lediglich 1,8 % der globalen Endenergie von Wind und Solar stammen, ist alle Kraft und quasi alle noch einzusetzende fossile Energie in den massiven Umbau des Energiesektors zu investieren: Es gibt – anders als nachfolgend in diesem Abschnitt ausgeführt – m.E. kein „Freischuss“-CO2-Budget mehr – weder globale, für Staaten noch für Personen. Daher ist dieses Kapitel nicht mehr ‚Up to date‘ und mit entsprechendem Vorbehalt zu lesen bzw. zu behandeln – es wird zu gegebener Zeit überarbeitet.
>> vgl. Abschnitt Intro/Countdown 6 sowie Pressemeldung des Zukunftsrat Hamburg „Solar- und Windenergie decken lediglich 1,8 % des globalen Endenergiebedarfs“ vom 21.9.2022.
[Offenlegung durch Transparenz: Marc Pendzich war zwischen 2019 und 2022 Mitglied des Zukunftsrats Hamburg und hat an dieser Pressemitteilung sowie der Entwicklung der Zahlen mitgewirkt.]
Die Fluggastzahlen steigen auch in den letzten Jahren immer noch weiter an (vgl. Aspekt Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen, S. 270). Dazu ergeben sich einige Fragen:
- Was, wenn künftig immer mehr Menschen aus immer mehr Staaten mehr als bisher fliegen (können/wollen)?
- Haben diese Menschen nicht das gleiche Recht zu fliegen wie ein(e) deutsche*r Staatbürger*in?
- Was bedeutet das in Bezug auf die umfangreiche historische Klimaschuld, die die (Menschen der) Industrienationen tragen?
- Was bedeutet das für uns persönlich und die Angemessenheit unseres Flugverhaltens?
>> Weltweites klimaverträgliches jährliches CO₂-Budget pro Person pro Jahr bis 2050 = allerhöchstens 2,3t CO₂ (siehe Abschnitt Globales, nationales und individuelles CO₂-Budget, S. 56, Aspekt Individuelles CO₂-Budget, S. 71f.).
Das bedeutet, dass jede*r von uns ihr/sein CO2-Budget ausgeschöpft bzw. überzogen hat, ohne geflogen zu sein. In der Konsequenz ist jeder Flug eine Anmaßung und tatsächlich ökologisch nicht zu rechtfertigen, sondern nur schönzureden.
CO₂-Emissionen pro Kopf im Flugzeug von Hamburg nach…
Stuttgart 0,314t | Mailand 0,42t | Paris 0,428t | Mallorca 0,7t | Lissabon 1,148t | Gran Canaria 1,3t | Tel Aviv 1,64t | Bali 3,011t | NYC 3,594t | Mexico City 3,8t | Las Vegas 5,594t | L.A. 5,881t | Bangkok 5,666t | Tokio 7,928t | Melbourne (via Dubai) 10,862t (pro Person Hin-Rück, Economy, nach Atmosfair)
Beispiel Kurzstreckenflug innerhalb Deutschlands ‚Flug Hamburg >> Stuttgart‘:
Hin/Rück, Economy, 1 Person, Flugdauer 1:15 h + Hinfahrt zum Flughafen von Dammtor aus (28 min) + früher da sein + Gepäckaufgeben + Sicherheitscheck + Boarding + auf das Gepäck warten + in die Innenstadt zum Hauptbahnhof fahren (27 min.)
Mit dem 100%-Ökostromnutzenden DB-Fernzug: 0 t CO2, (s. Fußnote S. 176.) 5:11 h, Zeitersparnis pro Strecke per Flugzeug maximal 2 Stunden.
Sind insgesamt maximal 4 Stunden 0,341 t CO2 wert?
Der Preis ist ebenfalls nicht relevant: Mittelfristig gebuchter Super-Sparpreis der Deutschen Bahn inkl. Bahncard25 = 65 Euro + Reservierung. (Daten nach Atmosfair u. bahn.de) (Stand Juli 2019; seit Anfang 2020 ist Bahnreisen auch aufgrund der Senkung der Mehrwertsteuer von 19% auf 7% günstiger – auch aufgrund des runter gesetzten Supersparpreises von 18,90 Euro -25% BC25 +Reservierung – hier gerechnet mit 7% MwSt.)
>> Update August 2020: Atmosfair bietet für die Strecke Hamburg >> Stuttgart nunmehr keine CO2-Kompensation mehr an: „Für den von Ihnen gewünschten Flug gibt es alternativ eine Bahnverbindung mit deutlich besserem CO₂-Fußabdruck. Nach dem Klimaschutzgrundsatz ‚Vermeiden und Reduzieren vor Kompensieren‘ bieten wir daher die CO₂-Kompensation für diesen Flug nicht an“.
„In diesem Preis[, den es kostet, um von A nach B und Retour zu fliegen,] stecken, neben allen anderen Kosten, selbstverständlich auch die für das Kerosin… Was es kostet, das Kohlendioxid, das bei diesem Flug anfällt, wieder aus der Erdatmosphäre zu entfernen, ist jedoch nicht im Preis inbegriffen…. Einschließlich der Passagiere gehen alle [am Flug wirtschaftlich/unternehmerisch beteiligten Institutionen sowie die Kund*innen] wie selbstverständlich davon aus, dass die Erdatmosphäre die 3,5 Tonnen Kohlendioxid, die auf diesem Flug dabei pro Passagier entstehen, auch noch aufnehmen wird… Diese Verantwortungsverweigerung nennt man Externalisierung[, sodass wir im Ergebnis laut] … Stephan Lessenich [eine] Externalisierungsgesellschaft [sind]“ (Göpel 2020, 121-122).
Niko Paech (2019):
„Wenn Sie mit einem bestimmten Geldbetrag maximalen ökologischen Schaden anrichten wollen: Kaufen Sie sich ein Flugticket.“
>> zit. in Krex 2019. „Höhe der Treibhausgasemissionen bei einer Fernreise durch eine Familie aus Deutschland: 21.313 kg“ (Statista 2020) = 21,3 t CO2.
Diese Zahlen bedeuten auch:
Wir können uns das ganze Jahr extrem umweltfreundlich verhalten, Plastik vermeiden, Palmöl aus dem Haushalt verbannen, vegan ernähren, Auto-frei leben etc. pp. – aber steigen wir auch nur einmal ins Flugzeug, ist unsere CO₂-Bilanz komplett ruiniert.
> Man kann nicht auf etwas verzichten, was einem nie zugestanden hat.
> Es fällt besonders schwer, Gewohnheitsrechte aufzugeben.
> Gewohnheitsrechte gibt es eigentlich gar nicht. Erst recht nicht, wenn es um die Überschreitung planetarer Grenzen geht.
Anders ausgedrückt:
‚Verzichten müssen‘ kann man nur auf Dinge, die einem vorher ‚zustanden‘. Eine Zweitagesshoppingflugreise nach New York gehört definitiv nicht dazu. Solche Dinge sind schon immer nur eines gewesen: Anmaßungen.
„Für Menschen, die sehr privilegiert sind, … fühlt sich Gerechtigkeit an als würde einem was weggenommen.“
(Umweltpsychologe Gerhard Reese 2020)
Exkurs: Verkehrs- und Transportmittel im CO₂-Vergleich, Personen- und Frachtverkehr
Vergleich der durchschnittlichen CO₂e-Emissionen einzelner Verkehrsmittel im Personenverkehr (2017):
- Pkw 139 g/Pkm [Gramm pro Person pro Kilometer] (Auslastung 1,5 Personen/Pkw)
- Reisebus 32 g/Pkm (Auslastung 60%)
- Eisenbahn Fernverkehr 0 g/Pkm
(Die Deutsche Bahn fährt im Fernverkehr mit Ökostrom (s. Fußnote S. 176.) - Eisenbahn Fernverkehr 36 g/Pkm (Auslastung 56%)
(Diese Zahl basiert auf dem durchschnittlichen deutschen Strommix) (2020 nennt der VCD hier die Zahl 32 g CO2/Pkm.) - Flugzeug 201 g/Pkm (Auslastung 82%)
(Und hier fallen i.d.R. wesentlich mehr Personenkilometer (Pkm) an als bei anderen Verkehrsmitteln.) - Linienbus 75 g/Pkm (Auslastung 21%)
- Eisenbahn Nahverkehr 0 g/Pkm (Die Hamburger S-Bahn fährt mit Ökostrom.)
- Eisenbahn Nahverkehr 60 g/Pkm (Auslastung 27%) (UBA 2018)
>> vgl. UBA (2018): „Vergleich der durchschnittlichen CO₂e-Emissionen einzelner Verkehrsmittel im Personenverkehr“. in: Umweltbundesamt, online unter https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/emissionsdaten#verkehrsmittelvergleich_ personenverkehr/ (Abrufdatum 23.6.2019)
Vergleich der durchschnittlichen CO₂e-Emissionen einzelner Transportmittel im Bereich Frachtverkehr
- Frachtschiff = 14 gr CO2 pro Tonne und Kilometer | Güterzug 22 | Binnenschiff (Flüsse) 31 | Lkw 62 | Cargo-Flugzeug 602
- Transportsektor seit 1990 = 71% höhere Emissionen (Zahlen vgl. Gonstalla 2019, 104)
- 50% der Frachtemissionen weltweit werden durch Lkw verursacht“ (ebd.).
„Flugreisen sind die ökologische Keule.“ (Moritz Geier in der SZ, 2019)
Fliegen ist mehr als CO₂ in die Luft zu jagen.
Und doch entwickeln sich die Flugverkehrs- und Fluggastzahlen bestürzend nach oben:
Flugverkehr ist ein Business mit extrem hohen Zuwachsraten: bei Passagieren und beim CO₂:
- Anzahl der Fluggäste in Deutschland 2017>>2018 = +5,4%
- Weltweite Fluggastzahlen seit 1990 verdoppelt
- Deutsche Fluggastzahlen seit 1990 = +250% (vgl. Kretzschmar/Schmelzer 2019)
„Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Flugverkehr im Jahr 2050 für fast ein Viertel aller globalen Emissionen verantwortlich sein.“ (ebd.)
- Prognose Flugverkehr 2006>>2050 = Vervierfachung (Merlot 2019)
>> konkrete Fluggastzahlen siehe Aspekt Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen, S. 270.
Des Weiteren geht es beim Flugverkehr nicht nur um CO₂, sondern auch um
- „Luftfahrtemissionen wie Stickoxid, Feinstaub, Wasserdampf, Kondensstreifen und Veränderungen in Zirruswolken [– und diese] erhitzen die Atmosphäre zusammengenommen sogar noch mehr. Da Flugzeuge ihren Treibstoff in großer Höhe verbrennen und dort ihre Abgase ausstoßen, wirkt sich das besonders gravierend aus. Beeinträchtigt wird dadurch und durch die entstehenden Kondensstreifen auch die natürliche Wolkenbildung …
- Diese Nicht-CO₂-Effekte erhöhen den Schaden, den der Luftverkehr in der Atmosphäre anrichtet um den Faktor zwei bis vier, wie die Organisation Atmosfair … auf Grundlage eines IPCC-Berichts berechnet hat… Rechnet man diese Wirkungen mit ein, gehen fast zehn Prozent der deutschen Verantwortung für die Erderwärmung aufs Konto der Luftfahrt – das ist fast so viel wie der Autoverkehr“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019).
Fliegen bedeutet auch nach Ansicht des UBA mehr, als CO₂ in die Luft zu jagen: Die Emissionen werden logischerweise in den hohen Bereichen der Atmosphäre emittiert.
- „Stickoxide bauen unter der Sonneneinstrahlung Ozon auf, das in Reiseflughöhe als starkes Treibhausgas wirkt.
- Der Ausstoß von Aerosolen (Partikeln) und von Wasserdampf führt zu einer Veränderung der natürlichen Wolkenbildung.
- Diese verschiedenen Effekte summieren sich derart, dass die Treibhauswirkung des Fliegens im Durchschnitt etwa zwei- bis fünfmal höher ist als die alleinige Wirkung des ausgestoßenen CO₂“ (UBA 2019).
Durchschnittlich geht man – vereinfachend – von einer Verdreifachung der Klimawirkung (=Klimaschädlichkeit) von Flugemissionen aus (vgl. UBA 2017).
Siehe dazu auch das folgende Zitat von der FAQ-Page von Atmosfair:
- „Um die Klimawirkung der gesamten Flugemissionen angemessen wiederzugeben, multipliziert der atmosfair Emissionsrechner deswegen die in Höhen von über 9 km emittierten CO₂-Emissionen mit dem global gemittelten Faktor 3. Dieser Faktor ergibt sich, wenn das Global Warming Potential aller Non-CO₂-Effekte über 100 Jahre integriert (UNFCCC Konvention) und abdiskontiert wird (David Lee et al., ‚Transport impacts on atmosphere and climate: Aviation‘, in ‚atmospheric environment‘ (44), 2010)“ (Atmosfair 2019).
Doch damit nicht genug:
Eine im Juni 2019 veröffentlichte Studie von Lisa Bock und Ulrike Burkhardt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt kommt zu dem Ergebnis, dass die Klimaschädigung durch Kondensstreifen (=langlebige Eiswolken) noch wesentlich größer ist, als bislang gedacht (und als hier in den vorherigen Absätzen ausgeführt).
- „Die Eiswolken, die durch den Flugverkehr entstehen, hätten in den vergangenen Jahren mehr zum Anstieg der globalen Temperatur beigetragen als alles CO₂, das seit Beginn der Luftfahrt in die Atmosphäre gelangt ist… In Klimaberechnungen würde der Effekt dennoch kaum berücksichtigt, dabei könne sich der Einfluss [allein] der künstlichen Wolken aufs Klima in den nächsten Jahrzehnten verdreifachen.“ (Merlot 2019, vgl. Bock/Burckhardt 2019)
Kondensstreifen? Nun, es sind mehr als die wenigen Kondensstreifen, die wir gewöhnlich per Alltagserfahrung am Himmel sehen. (Die Studie geht vom Eintreffen der Prognosen eines weltweit weiter steigenden Flugverkehrs aus (Vervierfachung 2006>>2050)).
Verhindert werden könne dieser Effekt bzw. die befürchtete Verdreifachung des Einflusses von Kondensstreifen auf das Klima weitgehend durch „saubere Emissionen“, von denen die Rede sein könne, wenn der Rußgehalt des verbrannten Kerosins „um mehr als 50 Prozent reduziert“ (ebd.) werde.
Wovon wir weit entfernt sind.
Die Studien-Mitautorin Lisa Bock hält abschließend fest, dass es „wichtig [ist], Klimaeffekte, die sich nicht direkt auf CO₂ zurückführen lassen, in Klimaprognosen stärker zu berücksichtigen“ (zit. in Merlot 2019).
Faktor 3 scheint daher alles in allem eher zu tief gegriffen.
Aufgeschnappt 2018 im Einlassbereich des Hamburger Holi-Kinos beim Warten auf den Einlass für die Doku ‚System Error – Wie endet der Kapitalismus‘ mit Tim Jackson (‚Wohlstand ohne Wachstum‘) als Live-Gesprächspartner des Regisseurs Florian Opitz:
„Ja, das mit dem Verpackungswahnsinn und dem Mikroplastik, das geht gar nicht… wir kaufen jetzt auch woanders ein, dort, wo das Gemüse nicht eingeschweißt ist… Übrigens, nächste Woche fliegen wir nach Bali.“
Exkurs: Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion.
pdf-Download des Abschnitts Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., weitere Handbuch-Downloads siehe hier.
Dazu halten Kretzschmar und Schmelzer fest:
- Der Traum vom grünen Fliegen
- per Power-to-Liquid (synthetisches Kerosin) und vor allem
- via allen weiteren, im Laborstatus befindlichen Flugverkehrsinnovationsideen,
- darunter die im August 2020 von den Medien aufgegriffene Idee,
bei Start und Landung per Turbine leistungsstarken (und reaktionsfreudigen!) Wasserstoff zu verbrennen und während des Fluges auf 8.000 bis 12.000 Metern zur Vermeidung der Treibhaus-fördernden Wasserdampf-Zirrus-Wolken und weiterer verschmutzend-erderwärmend wirkender Aerosole per Wasserstoff-gespeister Brennstoffzelle bei gleichzeitigem Auffangen des entstehenden Wassers Elektromotoren zu betreiben (vgl. Diermann 2020, s.a. Abschnitt Fliegen ist mehr als CO₂ in die Luft zu jagen, S. 262f.).
- darunter die im August 2020 von den Medien aufgegriffene Idee,
- „dient aktuell vor allem dazu, das Wachstum des Flugverkehrs zu legitimieren.“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019)
Hier geht es alles in allem mehr um die Schaffung einer Vision und eines vagen Versprechens, damit eben Fliegen eine Perspektive behält aus Sicht der Luftfahrtindustrie und der GerneVielFlieger.
- „Für Kurz- und Mittelstreckenflieger arbeiten die Münchner bereits an einer Brennstoffzelle, 2050 könnten erste Maschinen mit diesem Antrieb abheben, sagt“ „Jörg Sieber, Leiter Innovationsmanagement beim deutschen Triebwerkhersteller MTU Aero Engines in München“ (Ilg 2019).
Airbus erwägt laut Airbus-Chef Guillaume Faury im September 2020, den künftigen „Einsatz von Wasserstoff – als Bestandteil synthetischer Treibstoffe wie auch als Hauptenergiequelle für Verkehrsflugzeuge“ (Spiegel 2020). Die Sicherheitsprobleme mit den riesigen Wasserstofftanks gelten als enorm und schwierig beherrschbar (vgl. Flottau 2020).
Jakob Graichen vom Öko-Institut bemerkt dazu 2019:
- „Synthetische Kraftstoffe sind einziger Weg für die Langstrecke“.
Synthetisches Kerosin per Power-to-liquid-Verfahren (PtL) herzustellen ist derzeit das am weitesten gediehene Projekt zur Dekarbonisierung des Flugverkehrs. Man peile für das Herstellungsverfahren eine Marktreife in fünf Jahren an (vgl. ebd.) – bis solche Anlagen im großen Maßstab gebaut sind und der Produktpreis konkurrenzfähig sein wird, wird wesentlich mehr Zeit, die eher in Jahrzehnten als Jahren zu vermessen ist, vergehen.
Und: Das Ganze hängt an der Energiewende, denn es würden gewaltige Mengen an Ökostrom benötigt – und davon sind wir bedauerlicherweise derzeit extrem weit entfernt, erst Recht im globalen Maßstab.
Daraus ergibt sich folgende Frage:
Ist es überhaupt aus heutiger Sicht realistisch, die so benötigten Mengen an (den zur Herstellung von synthetischem Kerosin benötigten) Ökostrom zu erzeugen?
- Aussagen über künftig benötigte Energiemengen für ein komplett dekarboniertes Deutschland bzw. eine fossilfreie Welt sind schwer zu treffen (vgl. Abschnitt Energiewende in Deutschland, S. 520, Aspekt Energiebedarf 2050, S. 526f.).
- Auch Zahlen, mit wie viel Tonnen Kerosin die derzeitigen jährlichen Fluggewohnheiten der Bürger*innen Deutschlands zu Buche schlagen, liegen mir trotz intensiver Recherche nicht vor.
Zur Beantwortung dieser Frage gehe ich daher einen anderen Weg:
Wir können die Fragestellung andersherum, d.h. von unten her aufbauen und ausrechnen, wie viel Windenergie für den Betrieb eines Flugzeuges benötigt wird. Daher lauten die konkreten Ausgangsfragen:
- Wie lange müsste ein Windkraftwerk laufen, um meinen Hin-/Rückflug von Hamburg nach Lissabon auf der Basis von synthetischem Kerosin zu ermöglichen – bzw.:
- Wie viele Windkraftanlagen würden für den Betrieb dieses Flugzeuges benötigt?
>> nur reiner Energieeinsatz für den Hin-/Rückflug, ohne energetische Entwicklungs- und Produktionskosten Flugzeug, ohne Flughafenerbauungs- und Flughafenbetriebsenergiekosten etc.; finanzielle Kosten spielen in dieser Rechnung keine Rolle; fiktiv wird angenommen, die Industrieanlagen zur Wasserelektrolyse und Umwandlung in synthetisches Kerosin wären bereits jetzt im industriellen Maßstab nutzbar und ausreichend vorhanden.
Rechnung:1
3,34 Liter Kerosin werden pro 100 Passagierkilometer auf einem Langstreckenflug benötigt.
(vgl. Lufthansa Group 2020)
>> positive Auslegung: Lufthansa verbraucht je nach Streckenlänge unterdurchschnittlich viel Kerosin; Langstrecke (>3.000 km) = 3,34l Kerosin/100Pkm; Mittelstrecke (800-3.000Pkm) = 3,59l/100Pkm | Kurzstrecke (<800km) = 5,90l/100Pkm)
Selbstredend hebt kein Flugzeug ab mit der für eine Person verbrauchten Menge Kerosin – aber bleiben wir zunächst auf dieser theoretischen Einzelpersonen-Ebene.
Hamburg (HAM) – Lissabon (LIS) = eine Strecke = 4.490 km | Hin/Rück = 8.980 km
(vgl. Atmosfair 2020)
>> Es werden pro Person für Hin/Rück 299,932 Liter Kerosin benötigt. (8.980kmx3,34l/100km)
Für Ihre Reise wurden nur für Sie allein rund 300 Liter Kraftstoff verbrannt.
Der Heizwert von Kerosin beträgt 34,8 MJ/l (vgl. wikipedia 2020) (positive Auslegung)
299,93l x 34,8 MJ/l = 10.437,63 MJ
10.437,63 MJ : 3.600 = 2,89 MWh = 2.899,34 kWh [3.600 MJ = 1 MWh | 3,6 MJ = 1 kWh]
Der Wirkungsgrad liegt bei der Umwandlung von Windkraftstrom per Wasserelektrolyse in E-Kerosin bei 50%: Ein Windkraftwerk bzw. eine Windenergieanlage1 (WEA) hat also das Doppelte an Energie erzeugen, damit nach Wasserelektrolyse und Erzeugung des synthetischen Kerosins die erforderliche Energie vorhanden ist.2
>> Positive Auslegung, die Bundesregierung rechnet derzeit mit 45% (vgl. taz 2020, 8). Ein höherer künftiger Wirkungsgrad von Windkraftwerken etc. ist bislang lediglich Spekulation und kann nicht in diese Rechnung eingehen.
Das Windkraftwerk hat also 5.798,69 kWh für das für den Hin-/Rückflug HAM-LIS eines Passagiers erforderliche synthetische Kerosin zu erzeugen. (2.899,34 kWh x2 = 5798,69 kWh)
Eine in diesen Tagen als Standard geltende Windenergieanlage (3MW) erzeugt pro Jahr 7.000.000 kWh. (vgl. Energie-Lexikon 2020 u. AEE 2020)
Ein Windkraftwerk erzeugt per Volllast pro Stunde 3.000 KWh (vgl. ebd.).
Das Windkraftwerk müsste knapp 2 Stunden in Volllast laufen, um das für mich allein benötigte synthetische Kerosin zu erzeugen. (5.798,69 kWh : 3.000 kW = 1,93 h = fast 2 h)
Das Windkraftwerk läuft (idealtypisch) 2.333 Volllaststunden pro Jahr (vgl. ebd.). (positive Auslegung)
Also benötigt man 1/1207 Windkraftwerke, um das für mich allein benötigte synthetische Kerosin zu erzeugen. (1,93 h : 2.333 h = 1/1207)
Das bedeutet, dass
1 Windkraftwerk pro Jahr synthetisches Kerosin für 1.207 Passagiere
Hin-/Rückflug HAM-LIS produzieren kann.
In einem Flugzeug sitzen bei Vollauslastung 165 Personen.
>> positive Auslegung, denn vielleicht ist das Flugzeug gar nicht ausgelastet; andererseits ist nicht klar, von welcher Auslastung Lufthansa ausgeht. Da es das Phänomen der Überbuchung gibt, geht diese Rechnung von einem vollbesetzten Flugzeug aus – jeder nicht besetzte Platz ist in Klimakrisenzeiten ohnehin nicht angemessen; Sitzplätze eines A320 = 150 bis 179. [/su_spoiler]
Etwa 7,3 Hin-Rückflüge HAM-LIS pro Jahr sind durch die Energieerzeugung eines Windkraftwerkes rechnerisch möglich. (1.207 Passagiere : 165 Passagiere/Flug = 7,32 Flüge)
Zusammengefasst:
- 1 Windenergieanlage ermöglicht synthetisches Kerosin für 71/3 A320-Flüge Hin/Rück HAM-LIS pro Jahr.1
- 1 Windenergieanlage ermöglicht synthetisches Kerosin für ca. 1.207 in Hamburg startende und in Lissabon urlaubene Personen pro Jahr.
>> Selbst wenn man nun annähme, effizientere Flugzeugtypen wie z.B. der A3502 kommen in relevantem Maß weltweit zum Einsatz; selbst wenn man von etwas höheren Wirkungsgraden ausginge… oder: Nehmen wir an, ein Windkraftwerk könnte Energie für doppelt so viele Flugkilometer bereitstellen: Dann würde ein Windkraftwerk 14½ A320-Flüge Hin/Rück HAM-LIS pro Jahr ermöglichen: Am Gesamtresultat ändert sich nichts.
Ab jetzt wird die Rechnung gröber:
Für die Musterwindanlage wurde ein jährlicher Ertrag von 7 GWh angenommen. In Deutschland wurden im Jahre 2019 126.000 GWh (vgl. S. 522) erzeugt, das sind rechnerisch 18.000 Windkraftanlagen (tatsächlich sind es mehr Anlagen, doch laufen längst nicht alle unter Volllast). (126.000 : 7 = 18.000)
Der erzeugte Windstrom könnte also jährlich 131.760 Hin-Rückflüge à 165 Personen in der Flugkilometer-Dimension HAM-LIS ermöglichen. (18.000 x 7,32 = 131.760).
Es könnten also mit dem heute in Deutschland erzeugten Windstrom jährlich rund 21,72 Mio Personen Hin-/Rückflugreisen in einem HAM-LIS-Entfernungsradius von 4.490 km unternehmen. (18.000 x 1.207 Passagiere = 21,72 Mio Passagiere)
Wir reden hier immerhin von Millionen Passagieren, sodass die Zahlen zunächst erst einmal eigentlich gar nicht so schlecht klingen. Bis man diese Zahl liest:
2018 = 122,6 Mio Passagiere sind in Deutschland mit einem Flugzeug gestartet. (vgl. Zeit 2019)
(Faktor 5,64)
- Hinzu kommen die hier nicht in die Rechnung einbezogenen immensen Energiebedarfe, die sich aus Flugzeugentwicklung und -herstellung, Flughafenbau- und Betrieb, Ausbildung sämtlicher Spezialist*innen, Wartung, Pflege, Nachrüstung, Neubau, Renovierung, Entsorgung etc. pp. ergeben.
- Hinzu kommt, dass in Deutschland mit den 126 TWh ausschließlich Energie für jene 21,72 Mio Reisende produziert würden, d.h. es wäre in dieser Modellrechnung noch keine einzige Kilowattstunde Strom für existenzielle Bedarfe erzeugt worden: Licht, Kochen, Kühlschrank, Heizung, Computer, Internet, ÖPNV-/Bahn-Mobilität, Industrie-, Stahl-, Zement-, Kupferproduktion etc., Landwirtschaft etc. pp. (vgl. dazu eine vergleichbare Rechnung zum Thema ‚E-Fuels für E-Autos‘, S. 327).
Fazit:
Obwohl in dieser Berechnung stets alle Faktoren zu Gunsten des Flugverkehrs ausgelegt worden ergibt sich folgendes Bild:
Grünes Fliegen ist als Massentourismus nach dem derzeitigen Stand der Technik und auf Basis der bis auf Weiteres realistischen Wirkungsgrade nicht nur ein Traum, sondern eine Illusion.
Hier bedürfte es noch einer Reihe technologischer Entwicklungen, von denen man nicht weiß, ob sie erfolgreich umgesetzt werden können – daher können sie derzeit nicht in die Planungen und Szenarien eingehen.
Und: ‚Grünes Fliegen‘ beinhaltet wesentlich mehr als auf E-Kerosin umstellen, vgl. Aspekt Fliegen bedeutet mehr, als CO₂ in die Luft zu jagen, S. 263f.
Auch haben die Prioritäten angesichts der immensen globalen Herausforderungen woanders zu liegen, als den Bürger*innen Deutschlands weiterhin die jährliche Flugreise z.B. von Hamburg nach Lissabon zu ermöglichen.
Wenn also am fossilen Kerosinverbrauch bis auf Weiteres nicht so viel zu schrauben ist, wie man suggerieren möchte, kann man ja wenigstens – vorschlagsweise – versuchen, die Flugzeuge grün zu lackieren:
Wenn man davon ausgeht, dass Imagebroschüren1 umso seitenstärker sind, desto höher die Fallhöhe des BigBusiness z.B. aufgrund der Klimakrise ist, so sind mir nur wenige Konzerne bekannt, die auf ganzen 138 Seiten darlegen, wie großartig, effizient, grün, arbeitnehmer*innenfreundlich, offen und sozial sie sind – sodass man, wenn man möchte, die Fallhöhe entsprechend einordnen könnte. Sozial, offen, effizient: Das kann ja alles sein bei der Lufthansa Group, aber sich als „seit 1994 verlässlicher Partner der Klimaforschung“ (2019, 11) zu gerieren ist inhaltlich bestimmt nicht falsch, wird aber von mir persönlich dennoch als bodenlose Frechheit empfunden. (Was bedeutet diese Aussage konkret?) Und die konzerneigene Initiative Flygreener, die dazu führt, dass man „mehr als 400 Millionen Plastikteile wie Becher, Bestecke oder Rührstäbchen durch [nicht näher benannte] ökologischere Alternativen“ (2019, 104) ersetzt, legt, sagen wir mal, den Finger nicht wirklich in die Wunde. Die einzige relevante Botschaft an letztgenannter, so progressiv daherkommenden Nachricht ist doch wohl, dass Lufthansa Group hiermit bekennt, bisher und viele Jahre lang jährlich 400 Millionen vollständig unnötige (Einweg-)Plastikteile nach fünf Minuten Einsatz weggeschmissen zu haben.
Update Juli 2020:
pdf-Download des Abschnitts Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., weitere Handbuch-Downloads siehe hier.
In Medienberichten ist die Rede davon, dass „in Deutschland [jährlich] 10,2 Millionen Tonnen Kerosin verflogen [werden]“ (taz 2020, 8, vgl. DLF 2020). „Man bräuchte ‚heute mindestens rund 270 Terawattstunden [TWh] Strom“ (ebd.), also in etwa den gesamten Ökostrom, der derzeit produziert wird (237,4 TWh). Die Zahl „10,2 Mio t Kerosin“ umschreibt dabei die Menge des Kerosins, mit dem jährlich Flugzeuge auf den Flughäfen Deutschlands betankt werden. Das ist m.E. ein Anteil von dem, was in Deutschland wohnhafte Menschen tatsächlich auf ihren Zwischenstopp-Weltreisen verfliegen.1 Daher hilft diese 10,2-Mio-Tonnen-Zahl m.E. nicht wirklich weiter. Die Luftfahrtbranche ist ihrer Natur nach eine internationale Angelegenheit. Naheliegend ist daher, die notwendige Menge des Kerosins mit in die Überlegungen einzubeziehen, die benötigt wird, um den internationalen Flugverkehr auf bisherigem Niveau zu erhalten: „[W]eltweit verbraucht die Luftfahrt … 300 Millionen Tonnen [Kerosin] pro Jahr“ (Stahr 2020).
Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen
- 2014 207,9 Mio Passagiere | 103,8 Mio. Ein- und Umsteiger | 77,8 Mio. Einsteiger
- 2017 234,7 Mio. Passagiere | 117,1 Mio. Ein- und Umsteiger | 87,8 Mio. Einsteiger
- 2018 244,3 Mio. (244.300.717) Passagiere = +4,1% gegenüber Vorjahr (vgl. Airport Travel Survey 2018 u. ADV 2019)
- 2018 = 122,6 Mio Passagiere sind in Deutschland mit einem Flugzeug gestartet = 4% mehr als im Vorjahr (vgl. Zeit 2019)
- 29.6.2018 = 11.015 Flüge im deutschen Luftraum – an einem Tag
- 2018 = 119 Millionen Passagiere in Deutschland (1997 = 62 Mio = fast verdoppelt innerhalb von 10 Jahren) (vgl. Ahr et al. 2018)
- Zahl der Starts und Landungen in Deutschland 2017: 2,209 Mio
- 38,6% aller Flüge im deutschen Luftraum sind Überflüge (und verursachen im deutschen Luftraum entsprechende CO₂e-Emissionen) (vgl. Maurus et al. 2018)
- 2018 = 23,5 Mio Passagiere auf Inlandflügen in Deutschland
- 2018 = 65.000 Inlandsflugpassagiere. Täglich. (vgl. Weßling 2019)
Reiseanlass der Passagiere in Deutschland:
- Urlaub 2008 23,6 Mio | 2014 30,3 Mio | 2017 34,9 Mio (2014>>2017 = +15%)
- Privat 2008 21,2 Mio | 2014 20,6 Mio | 2017 24,8 Mio (2014>>2017 +20%)
- Business 2008 28,5 Mio | 2014 26,9 Mio | 2017 28,1 Mio (2014>>2017 = +4%) (vgl. ADV 2018)
„Unberührte Natur ist für 76% der Befragten bei der Urlaubsplanung ein besonders wichtiger Faktor.“ (Geo 2020, 56)
Eine neue Vielflieger-Gruppe: Die VFR-Passagiere (visiting friends or relatives)
- „Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt eine Gruppe von Passagieren an Bedeutung, die … lange Zeit übersehen wurde: die sogenannten VFR-Passagiere. … Allein am Londoner Flughafen Gatwick machten sie bereits 2010 immerhin schon knapp ein Viertel aller Fluggäste aus. Es sind weltumspannende Familiennetze ebenso wie der zunehmende Tourismus aus den sogenannten Schwellenländern, allen voran China und Indien, die den globalen Flugverkehr bis auf Weiteres um vier Prozent jährlich wachsen lassen“ (Boeing 2019).
- Auch die Beförderung von Luftfracht (u.a. Erdbeeren im Winter, Ebay, Amazon) nimmt zu (vgl. ADV 2019).
>> Erdbeeren, frisch, aus der Region, saisonal = 300g CO2e/kg | Erdbeeren, frisch aus Spanien = 400g CO2e/kg | Erdbeeren, gefroren = 700 g CO2e/kg | Erdbeeren, frisch, Winter = 3,4 kg CO2e/kg (‚an der Supermarktkasse‘, vgl. ifeu 2020, 9)
Bevor wir nun den Fokus auf sog. Business Travellers richten, hier das
Fazit zum Aspekt Personenflugverkehr in Deutschland in Zahlen:
Flugreisen sind ähnlich wie das Autofahren der symbolische Inbegriff von Wohlstand und ‚Freiheit‘: Erst wenn in diesen hochemotionalen Bereichen [– soziologisch oder auch politisch –] Veränderungen möglich sind und umgesetzt werden, können wir von einem relevanten Fortschritt im Sinne eines produktiven Klimaschutzes ausgehen.
Geschäftsreisen per Flugzeug:
Business Travellers
Vielfach herrscht die Annahme vor, dass heute [d.h. bis vor Covid-19] Videokonferenzen schon vielfach Geschäftsflüge ersetzen. Das ist richtig – und doch falsch:
- 2008 = 28,5 Mio
- 2014 = 26,9 Mio
- 2017 = 28,1 Mio. (=+4% gegenüber 2014) (vgl. ADV 2018)
„Allen E-Mails, Videokonferenzen und Web-Seminaren zum Trotz – deutsche Unternehmen schicken ihre Mitarbeiter so oft auf Geschäftsreisen wie nie zuvor“ (Kotowski 2019).
Man darf gespannt sein, wie es nach Covid-19 in diesem Punkt weitergeht – ich persönlich gehe davon aus, dass aufgrund des Digitalisierungsschubes mehr über Videokonferenzen laufen wird, aber längst nicht in dem Maße wie möglich und notwendig. Und dann ist da noch der Rebound-Effekt… (s.u., vgl. S. 257)
Manche Unternehmen melden starke Rückgänge an Geschäftsflugreisen, was aber nicht so richtig stichhaltig erscheint, sondern eher wie Image-Pflege bzw. Green Washing:
- „Die Deutsche Bank etwa hat nach eigenen Angaben die Zahl der Flugreisen in den vergangenen sechs Jahren halbiert. Die Commerzbank meldet für die vergangenen acht Jahre einen Rückgang um 30 Prozent. Beide haben in den vergangenen Jahren kräftig Stellen gestrichen, was wohl ein Teil der Erklärung ist. Die Commerzbank hat heute etwa 20 Prozent weniger Mitarbeiter als noch 2010“ (Heuzeroth 2019).
Immerhin:
- „Immer mehr Unternehmen drängen ihre Mitarbeiter zu Bahnreisen. Doch viele Konzerne bewegen sich nur langsam – zu lukrativ sind die nichtökologischen Alternativen… ‚Eine Flugscham gibt es nicht, denn es handelt sich bei unseren internationalen Geschäftstätigkeiten [von Stahlkonzern Salzgitter] nicht um Lustreisen‘“ (Heuzeroth 2019).
Für die Zunahme von Geschäfts-Flugreisen im Zeitalter von Videokonferenzen sind m.E. wesentlich zwei Gründe hervorzuheben:
- Wirtschaftswachstum verursacht hier den sog. Rebound-Effekt:
- Das Geschäft/Unternehmen wird größer und globalisierter (Entfernungen!) und die Produktion kleinteiliger.
- So ist mehr Abstimmung zwischen mehr Geschäftspartner*innen als z.B. vor 10 Jahren notwendig, sodass insgesamt mehr Meetings (ob nun virtuell oder persönlich) abgehalten werden.
- Die Folge: Wirtschaftswachstum frisst CO2-Einsparungen auf. Das ist der Unterschied zwischen Effizienz und Effektivität (weiteres siehe Aspekt Rebound-Effekt auf S. 257).
Es gibt immer mehr Geschäftsreisende, deren Büro die Welt ist, soll heißen, diese Menschen haben im eigentlich Sinne gar kein Büro mehr, sondern arbeiten überall auf der Welt und sind somit ständig unterwegs – auch im Flugzeug (s.a. Lobbyistenbeitrag Partners Magazin 2018).
Zwischen 2008 und 2014 ging die Zahl der Geschäfts-Flugreisen wie oben gezeigt tatsächlich vorübergehend zurück:
- In Zeiten der Finanzkrise und flankiert vom 2010er Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökul, gab es tatsächlich einen Boom von Videokonferenzen etc. (vgl. Rückgang 2008>>2014) (vgl. Rettig 2010).
- Auch gibt es tatsächlich vermehrt Dienstreisevorschriften bei Unternehmen, die empfehlen, Flugreisen insbesondere auf kurzen Distanzen zu unterlassen – doch in der Praxis und insgesamt betrachtet ist das offensichtlich eher ein Wunsch/Vorschlag/Anliegen als eine grundlegende Umsteuerung, wie an den obigen Zahlen zu sehen ist (vgl. Zunahme 2014>>2018).
- „‚Der persönliche Kontakt ist trotz aller Schritte der Digitalisierung immer noch entscheidend für das Geschäft‘, sagt VDR-Hauptgeschäftsführer Hans-Ingo Biehl“ (Kotowski 2016, vgl. Lobbyistenbeitrag Travelbusiness: Travelbusiness 2019). (VDR = Verband Deutsches Reisemanagement)
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass in vielen Branchen Videokonferenzen nach wie vor als potenziell geschäftsschädigend bzw. als Wettbewerbsnachteil gesehen werden (vgl. Strobl 2018).
- Fazit: Wie so oft will niemand ernsthaft anfangen (zumindest außerhalb der Ökobranchen), weil er das unökologische Verhalten der Konkurrenz fürchtet.
>> Siehe Aspekt Politik trägt Verantwortung. Wir brauchen eine Politik, die uns vor uns selber schützt, S. 372ff.
Aspekt ‚Geschäftsreisen: Reisen von Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden‘
- Dass Politiker*innen fliegen – geschenkt. Aber 229.116 Inlandflüge von Bundesministerien inkl. der angegliederten Verwaltungen im Jahr 2018? (vgl. Spiegel 2019a). Bundestagsabgeordnete haben 2018 knapp 20% mehr Flugkilometer zurückgelegt als im Vorjahr? (Spiegel 2019b) – Da geht doch noch was?
Und was sicher nicht sein muss, sind 800 Leerflüge (Bereitstellungsflüge) im Jahr 2018 (vgl. Seibert 2019).
>> Covid-19 zeigt, dass auch Politiker*innen künftig deutlich weniger fliegen können.
- Immerhin: Die Bundesregierung kompensiert sämtliche Dienstreisen (vgl. UBA 2017, Stand: Februar 2017) – und zahlte dafür 2017 1,7 Mio Euro (vgl. Spiegel 2019a).
- Zu ergänzen ist, das die Zahl internationaler Fachtagungen und Kongresse gerade im wissenschaftlichen Bereich nicht weniger werden, sondern eher mehr. Eine Professur anzustreben ohne internationale Kongresserfahrung und entsprechende Kontakte ist nach meiner Kenntnis wissenschaftlicher Usancen derzeit ziemlich zweckfrei.
- Und wenn man sich anschaut, welche und wie viel verschiedene Symphonie-Orchester (!) beispielsweise in der Hamburger Elbphilharmonie auftreten, dann ist auch hier eine klare (Flugverkehr ermöglichte und Flugverkehr verursachende) Internationalisierung zu beobachten.
„Die genaue Aufgabe des Künstlers besteht darin, die Dunkelheit zu erhellen, damit wir den Zweck nicht
aus den Augen verlieren, die Welt zu einem menschlicheren Ort zu machen.“
James Baldwin, afroamerikanischer Schriftsteller (1924-1987)
Ich möchte hinzufügen: Es ist jedoch NICHT Aufgabe des Künstlers, Flugkilometer abzureißen.
„Schweigen, sich mit einem Kunstberuf entschuldigen ist eine Verantwortungslosigkeit, die ich mir nicht leisten kann.“
(Igor Levit) (beide Zitate aus Skrobola 2018, 127)
Weitere Zahlen zu Geschäfts-Flugreisen:
- 65% der innerdeutschen Passagiere sind geschäftlich unterwegs. (vgl. Luftfahrt aktuell 2019)
- Auch die Nutzung privater Jets für Geschäftsreisen nimmt zu. (vgl. Erhardt 2018, s.a. Koenen 2019)
Fazit Business Travellers:
Alles in allem sind – Ausnahmen bestätigen die Regel – Unternehmen, Kultur, Wissenschaft und Politik, was per Flugverkehr zurückgelegte Geschäftsreisen angeht, – mit Stand Februar 2020 – noch überhaupt nicht angekommen im digitalen Zeitalter.
CO₂-Kompensationen z.B. für Flüge und Kreuzfahrten
Ausgleichzahlungen für emittiertes CO₂ per Kompensation über die gängigen Portale für nicht vermeidbare Flüge sind wahrscheinlich besser als keine Ausgleichszahlungen – aber mal im Ernst: die CO2-Kompensation von Flügen und Kreuzfahrten ist keine Lösung, sondern eine Art Ablasshandel, eine Ablenkung von der einfachen Wahrheit:
Flugverkehr ist auf dem aktuellen Stand der Technik und auf Basis heutiger Datenlage erwartbar in den nächsten Jahrzehnten ökologisch nicht zu haben.
>> vgl. Aspekt Exkurs: Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion., S. 265ff.
Die Zeit bemerkt dazu, dass erstens die Kompensationsprojekte oftmals nicht so viel Einsparen wie angegeben.
- „Und zweitens verursachen diese Projekte oft lokale Konflikte oder führen gar zu Landraub. Menschen, deren CO₂-Fußabdruck weit unter dem globalen Durchschnitt liegt, werden durch angebliche Waldschutzprojekte an ihrer traditionellen Landnutzung gehindert und laut eines Berichtes des World Rainforest Movement teilweise sogar vertrieben. Das Magazin Vice sprach deshalb 2014 von Kohlenstoffkolonialismus“ (Kretzschmar/Schmelzer 2019).
Hinzu kommt, dass z.B. verbindliche Kompensationszahlungen zu ‚Mehr Fliegen‘ führen könnten.
Matthias Sutter, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn:
- „Es gibt aus der Forschung Hinweise, dass solche Optionen das Gegenteil von dem erreichen können, was sie sollen. Eine Studie hat untersucht, was passiert, wenn Eltern, die ihre Kinder zu spät aus dem Kindergarten abholen, eine Strafe zahlen müssen. Das Ergebnis: Mehr Eltern kommen zu spät… Die Eltern denken: Warum soll ich mich an eine soziale Norm halten, wenn ich stattdessen einfach bezahlen kann? Monetäre Anreize können oft unerwartete Nebenwirkungen haben. Denn Geld macht Normen unbedeutend. … Aus der Norm wird eine Geschäftsbeziehung“ (2020).
Aspekt Flugscham (flygskam, flight shaming) & Kompensationen
- Im Juni 2019 berichtet Atmosfair1 für 2018 über „eine Steigerung des Spendenaufkommens um 40 Prozent“ (Carstens 2019).
- 460.000 Flüge wurden 2018 via Atmosfair kompensiert = weniger als 1% aller Flüge ab Deutschland (ebd.). (vgl. Zahl „2018 = 122,6 Mio in Deutschland startende Passagiere“, S. 270)
- Atmosfair „geht davon aus, dass die Zahl der kompensierten Flüge sogar dann unter der Ein-Prozent-Marke bleibt, wenn man alle konkurrierenden Anbieter hinzurechnet“ (ebd.).
Derweil ist die viel beschriebene flygskam (‚Flugscham‘) in Schweden nun auch in Zahlen ausdrückbar: Im ersten Quartal 2019 sind die Schwed*innen 15% weniger im Inland geflogen als im entsprechenden Vorjahreszeitraum, obwohl sie gleichzeitig immer mehr reisen – großer Gewinner ist: Die Bahn (vgl. Ehl 2019).
Update April 2020:
Eine repräsentative Ipsos-Umfrage des TÜV-Verbands ergibt, dass 13% der Menschen in Deutschland bewusst mehrere Flüge unterlassen haben, weitere 4% einen Flug. Indes sehen 27% der Befragten keinen Grund für ein zu änderndes Reiseverhalten. 45% fliegen nach eigenen Angaben ohnehin nicht. „Die Diskussion um die Flugscham schlägt sich allerdings bisher nicht in der Anzahl gebuchter Flüge nieder“ (VCD 2020, 10).
Also, das Fazit lautet wie der Eingangssatz dieses Abschnitts:
Kompensieren ist wahrscheinlich besser als nicht kompensieren – aber es ist keine Lösung.
Und kein Freibrief.
Wachstumsbranche ‚Flugverkehr‘
Derzeit werden überall auf der Welt Flughäfen erweitert, Startbahnen gebaut oder komplett neue (zusätzliche) Flughäfen gebaut (vgl. S. 283). Auch hier gilt grundlegend das Prinzip:
- „Wer Straßen [d.h. in diesem Fall Start-/Landebahnen] sät, wird [Flug-]Verkehr ernten.“
Daniel Goeudevert (*1942), ehemaliger VW-Vorstandsvorsitzender (in den 1990er Jahren) (vgl. Schiesser 2010).
- Natürlich dürfen Politik und Industrie die Verantwortung nicht auf die Bürger*innen abladen nach dem Motto:
„Wenn Ihr alle nicht fliegen würdet, hätten wir kein Problem“ –
Es kann nicht Sache des Individuums sein, die Welt zu retten.
- Nur rechtfertigt das noch lange nicht, die Sau raus zulassen, bis die Politik in die Puschen kommt, nach dem Motto, alles was legal ist, ist auch legitim. Dem ist mitnichten so.
- Das CO₂-Budget ist ein gutes Maß – und weist deutlichst darauf hin, dass Fliegen eine Anmaßung ist und man am besten auf dem Boden der Tatsachen bleibt.
Gute Reisegründe?
Oft wird zugunsten Fernreisen (per Flugzeug) das Argument vorgebracht, Reisen bilde, mache den Geist frei und diene der ‚Völkerverständigung‘…
‚Völkerverständigung‘?!?
- Nun, wenn es darum geht:
Fahr‘ per Eisenbahn auf vierwöchige Interrailreise, da kannst Du reichlich was erleben und kommst mit unglaublich vielen Menschen der Europäischen Union und aus aller Welt in Kontakt. - Interrail gibt es inzwischen auch für 28+ = 1 Monat unbegrenzt durch 33 Länder Europas = 670 Euro (vgl. Interrail.eu 2020)1.
„Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen.“
Johann Wolfgang von Goethe im Gespräch mit seiner Freundin Caroline Herder, 5.9.1788. (philosophicum 2012)
Auf den Punkt gebracht:
Es braucht immer einen Mutigen, der die Wahrheit ausspricht.
In diesem Fall ist es Klaus Raab in der Zeit:
- „Der Anteil der Flugreisen [am Gesamtreiseaufkommen], die Deutsche unternehmen, ist von 30 Prozent aller Reisen im Jahr 2000 auf 41 Prozent im Jahr 2018 gestiegen. Nur acht Prozent sind Fernreisen. Was aber haben Zwei- bis Viertagetrips in überlaufene europäische Touristenstädte mit der Erlangung von Weltbürgerschaft zu tun? Was ist so weltbürgerlich daran, ohne Rücksicht auf die Welt das Billigste zu konsumieren?
Je näher man an ein paar Verhaltensweisen heranzoomt, die für kosmopolitisch gehalten werden, desto spießbürgerlicher sehen sie aus.
Viele dieser Reisen sind eigentlich verdammte Kaffeefahrten.“ (2019)
Jenseits der Vorstellungskraft:
Der Preis des Fliegens
Flugpreise sind in den letzten Jahren stark gefallen.
- „Im Jahr 2011 kostete ein Hin- und Rückflug durchschnittlich 549 US-Dollar. Im Jahr 2019 muss dafür durchschnittlich 324 US-Dollar ausgegeben werden“ (Statista 2019).
- Hagen Rether im Jahre 2010:
„Fürs Weihnachtsgeld kann man heute nach Neuseeland fliegen. Für ein paar Mark fuffzig fliegen wir ans andere Ende der Welt – wissen Sie warum? Wir verbraten badewannenweise Kerosin, um nach Neu Seeland zu kommen – wissen Sie warum? Weil da die Natur so schön ist.“
Jede*r Fliegende fliegt auf niedrigen eigenen finanziellen Kosten auf großen ausgelagerten (externalisierten) Kosten von anderen Menschen und ihrem Wohlergehen.
Dass das nicht so weitergeht – weitergehen kann –, ist wohl (rational) jeder Bürgerin und jedem Bürger klar. Was tun?
Konsequenzen.
Erster Schritt: Fliegen muss kosten, was es kostet.
Der Status quo der massiven Subventionierung:
- Der gewerbliche Flugverkehr ist in Deutschland von der „Mineralölsteuer, der Ökosteuer und bei internationalen Tickets von der Mehrwertsteuer“ (Lege 2019) befreit – im Gegensatz zum deutschen Schienenverkehr, was eine erhebliche Wettbewerbsverzerrung zu Ungunsten umweltfreundlicher Verkehrsträger darstellt (vgl. Nabu 2019).
Der ‚Arbeitskreis Flugverkehr‘ einiger NGOs (darunter BUND, Nabu und VCD) benennt weitere Subventionen, die explizit Billigfluglinien erhalten, darunter der
- „Verzicht auf kostendeckende Landeentgelte und Abfertigungsgebühren“,
- die „Defizitübernahme von Flughäfen“,
- „verbilligte Flughafenpachten“ und
- diverse Zuschüsse, namentlich „für Pilotenausbildung, Bodenabfertigung und Marketing“ und
- „zur Eröffnung neuer Flugverbindungen“ (alle Zitate: Lege 2005).
Weitere Subventionen und Investitionen fließen in den Bundesländern in sog. Regionalflughäfen, welche im Rahmen des ‚Race to the Bottom‘1 dazu dienen, die eigene Wirtschaftsregion ‚attraktiv‘ erscheinen zu lassen. Ohne jährliche Zuschüsse in Millionenhöhe kommen diese Miniflughäfen – von denen Sie, wenn Sie kein*e Anwohner*in sind i.d.R. noch nie gehört haben – nicht klar. Oder wussten Sie, dass es einen Dortmund-Airport gibt? Sollten Sie aber – da gingen z.B. 2013 20 Mio Euro Steuergelder rein (vgl. Rohwetter 2014).
Über diese sog. ‚Landratspisten‘ schreibt der Spiegel – eine 2020 neu erschienene Studie zitierend – zum Sinn/Unsinn von Regionalflughäfen:
- „Nur drei von 14 untersuchten Standorten hätten einen verkehrspolitischen Nutzen durch die Anbindung ihrer Region an den internationalen Flugverkehr. Bei den restlichen angebotenen Verbindungen handele es sich fast ausnahmslos um Urlaubsflüge. Die Untersuchung fordert daher die sofortige Schließung der Hälfte der 14 Regionalflughäfen“ (vgl. auch Zeit 2020).
Möglichkeiten, Flugverkehr künftig angemessen zu bepreisen und die Bahn zu fördern:
- Kerosinsteuer zunächst auf Inlandsflüge (Der französische Präsident Emmanuel Macron fordert übrigens eine europaweite Kerosinsteuer. Die Niederlande und Norwegen haben schon jeweils eine nationale Kerosinsteuer (vgl. VCD o.J.).
- „Laut einer Studie der Europäischen Kommission würde eine Kerosinsteuer in Europa die Nachfrage nach Flugreisen sowie deren Treibhausgasemissionen um elf Prozent verringern“ (Zimmer 2019).
- Die Österreichische Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie fordert im April 2020, die Rettung von Fluglinien mit Steuergeldern an Klimaschutz-Bedingungen zu knüpfen – zudem könnte „[d]er Staat die Ticketabgabe für Kurzstreckenflüge verdreifachen“ (Pötter 2020, 09).
- „Laut einer Studie der Europäischen Kommission würde eine Kerosinsteuer in Europa die Nachfrage nach Flugreisen sowie deren Treibhausgasemissionen um elf Prozent verringern“ (Zimmer 2019).
- Den Mehrwertsteuersatz für den Schienenverkehr in Deutschland nach der Senkung auf 7% im Januar 2020 nochmals stark senken bzw. die Mehrwertsteuer auf Basis des ‚Rechts auf Mobilität‘ (im Sinne des Grundrechts auf Teilhabe) für den Bahnverkehr oder sogar den ÖPNV komplett abschaffen.
Es wäre gut, wenn irgendjemand – z.B. ein*e Politiker*in – die Luftfahrtbranche wissen lässt, dass es die Klimakrise gibt. Denn so ganz scheint dieser Sachverhalt – auch wenn Lufthansa wie erwähnt in eigener Sicht der Dinge seit 25 Jahren verlässlicher Partner der Klimaforschung ist (vgl. S. 270) – noch nicht angekommen zu sein:
Bob Lange, Chef-Marktstratege Airbus, 2018:
- „In den nächsten 20 Jahren wird die Welt nach unseren Schätzungen 32.000 neue zivile Flugzeuge benötigen, Passagierflugzeuge und Transportflugzeuge… Zurzeit fliegen etwa eine Milliarde Menschen regelmäßig. Die restlichen sechs Milliarden fliegen noch nicht. Diese Menschen sind die Passagiere von morgen zusätzlich zu denen in den Industrienationen, für die Fliegen schon selbstverständlich ist“ (zit. in Opitz 2018, Min 50).
Das ist nicht zu toppen? Doch, wie uns Eric Chen, der Präsident Airbus China, 2018 wissen lässt:
- „Zurzeit haben wir etwas über 200 Flughäfen in China. Jedes Jahr werden zwischen 10 und 15 neue Flughäfen gebaut. Der Markt ist riesig und wir sind optimistisch, denn bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden… Stellen Sie sich vor, jeder könnte sich leisten zu fliegen. Wenn sogar ein Bauer oder Arbeiter sich ein günstiges Ticket leisten kann, um zu fliegen. Dieser Markt ist fantastisch, man kann sich das kaum vorstellen! … Unsere Flotte wird sich alle sieben bis acht Jahre verdoppeln“ (zit. in Opitz 2018, Min 52).
Nun ist es Teil dieses Jobs zu träumen und Optimismus zu verbreiten, sonst verletzten Bob Lange und Eric Chen ihre Treuepflicht gegenüber ihren Unternehmen (vgl. Klein 2015, 87).
Aber trotzdem:
Wie soll man solche Menschen, die ja extrem einflussreich sein können, anders nennen als gefährlich?
Zweiter Schritt:
Inlands- und Kurzstreckenflüge streichen…
… und so schnell wie möglich ersetzen durch massiven Ausbau des Schienenverkehrs.
Klingt hart? Nun, pardon: Ohne eine Veränderung unserer Lebens- und Reisegewohnheiten geht es nicht. Dazu gehört das Ankommen in der Digitalen Gesellschaft z.B. per massiv verschlüsselten Videokonferenzen (bspw. in virtuellen Räumen) in allen Lebenslagen – und eine andere Prioritäten-setzung bzw. Terminplanung. Und: Arbeiten kann man auch in der Bahn – zukünftig hoffentlich noch besser. Und Urlaubs-Kurztrips per Flugzeug sind schon jetzt wie geschrieben keine Option mehr, auch wenn dieser Befund noch nicht in der Gesellschaft angekommen ist.
Ein Zwischengedanke:
Demo-Plakat „Kurzstreckenflüge nur für Insekten.“
(aus: Theaterstück ‚Greta‘, s. Fischer 2019)
Weitere Möglichkeiten, das Thema ‚Flugverkehr‘ Stück für Stück nachhaltiger zu gestalten:
- Es ist nicht länger einzusehen, weshalb klimaschädigendes Vielfliegen Vorteile bringen soll.
Bonusmeilen-Services oder auch ‚Vielfliegerprogramme‘ à la ‚Miles&More‘ haben daher umgehend und komplett eingestellt zu werden.
>> Lufthansa hat hier schon – ein bisschen – reagiert: Seit März 2018 sind nicht mehr die geflogenen Distanzen, sondern die Ticketpreise das Maß der Dinge (vgl. Spiegel 2019). Die Website https://www.miles-and-more.com/ suggeriert indes, dass Bonusmeilen etwas ganz, ganz feines sind.
- Klassenreisen mit der Schulklasse oder dem Oberstufenprofil per Flug sind nunmehr ein Relikt der Vergangenheit. Es gibt keine ökologische (und in diesem Sinne auch pädagogische) Rechtfertigung für Klassenreisen nach Israel, Island & Co. Auch in sozialer Hinsicht ist das noch nie eine gute Idee gewesen. Bis Frankreich, England und Italien z.B. für Schüleraustausche kommt man auch ohne Flugzeug – das ging z.B. in den 1980er Jahren problemfrei, galt als spannendes Abenteuer und ist daher lediglich eine Frage des Anspruchsdenkens und der Bequemlichkeit.
Schade ist es um Sprachaustausche nach Südspanien, aber die Prioritätensetzung liegt m.E. ganz klar auf einer einfachen Regel: Keine Klassenfahrten per Flugzeug.
Das fliegende Klassenzimmer hat wieder wie einst bei Erich Kästner zu funktionieren – nur halt digital.
- Nebenbei ist hier anzumerken, dass Klassenreisen vornehmlich um der Gruppendynamik Willen von Schulklassen unternommen werden. Und um gemeinsam etwas Neues zu sehen oder zu erleben. Das geht hervorragend mit Zielen, die per Bahn erreichbar sind.
Es ist davon auszugehen, dass es innerhalb der nächsten Jahre eine Re-Regionalisierung des Reiseverhaltens im Allgemeinen und von Klassenreisen im Besonderen geben wird. Daher ist es sinnvoll, schon jetzt die entsprechende Infrastruktur aufzuwerten bzw. angesichts der Covid-19-Krise zu bewahren: Mit Stand Juni 2020 scheint nur wenig, allzu wenig Geld für gemeinnützige Träger wie Jugendherbergen (DJH) u.ä. Anbieter vorgesehen zu sein (vgl. Materla 2020).
- M.E. ist eine umgehende Deckelung der Passagierzahlen und Starts und Landungen erforderlich:
- Flugverkehr kann nicht länger Wachstumsbranche sein. Das verbietet sich allein durch die auf diese Weise generierten Emissionen.
- In diesem Sinne argumentiert auch Kopatz und weist darauf hin, das hier keineswegs Verzicht verlangt werde, sondern lediglich „die Begrenzung der Expansion“ (2016, 237).
Und die soziale Dimension des Fliegens?
Oder, anders formuliert:
- Wird Fliegen wieder eine Sache der Upper Class, der ‚oberen Zehntausend‘?
Ein Zwischengedanke:
Im weltweiten Maßstab gehört jede*r Bürger*in Deutschlands zu den ‚oberen Zehntausend‘.
Check your privilege.
Selbstverständlich gibt es hier, genau wie bei der CO₂-Steuer1, Modelle und Möglichkeiten, z.B. alle paar Jahre (mehr ist sowieso ökologisch gesehen nicht drin) die dann regelmäßig sehr hohen Flugticket-Steuern erstattet zu bekommen.
Eine schöne Möglichkeit für uns alle wäre, Urlaub flexibler nehmen zu können, sodass es sich dann auch lohnt, alle paar Jahre für mehrere Wochen oder sogar Monate auf Flugreise zu sein.
- Aber mit solchen Gedanken verfehlen wir fast schon das Thema, weil dieses sich dahinter verbergende Anspruchsdenken angesichts der dramatischen Lage letztlich eher deutlich macht, dass der Ernst der Situation nicht vollständig durchdrungen wurde.
Eine Kleinanzeige im Magazin des Verkehrsclub Deutschland (VCD), 2018:
„London: Kl. Wohnung, für Nichtflieger, gemütlich, vor der Tür Zug & Bus direkt ins Zentrum, [Internetadresse,] [Telefonnummer].“ (Fairkehr 2018, 34)
Schön in diesem Zusammenhang ist die Gründung eines Reisebüros für klimafreundliche Zugreisen – also für Reisen, die an Komplexität und Entfernung über das Angebot des ohnehin existierenden Erwachsenen-Interrail-Tickets (vgl. S. 279) hinausgehen. Der Autor dieses Buches neigt nicht dazu, Werbung für einzelne Anbieter zu machen, aber wenn jemand die/der Erste ist, ist sie/er (zunächst) auch die/der Einzige:
>> Nach einem selbst erfolgreich gebuchten Hin-/Rück-post-Abitur-Zugreise nach Vietnam gründete der Klimaktivist Elias Bohun zusammen mit seinem Vater die Reiseagentur Traivelling, vgl. https://www.traivelling.com/ (Abrufdatum 29.6.2020, s.a. Zeit-Interview Bohun (2019) „Man kann mit dem Zug weltweit verreisen“.
>> Zur Inspiration: Fontana, Guilia u. Keyßer, Lorenz (2020): Ohne Flugzeug um die Welt. Klimabewusst unterwegs und glücklich, Lübbe. M.E. etwas holprig geschrieben, aber fundiert und dabei charmant.
Weiterhin könnte der zeitliche Abstand, ab dem der Rückflug möglich ist, schon in der Buchungssoftware an die Zahl der Flugkilometer gekoppelt werden: Ein Shopping-Wochenende in New York City wäre damit nicht mehr möglich. Ein Maledivenurlaub per Flugzeug wäre dann vorschlagsweise nur möglich, wenn man auf vier Wochen fliegt. Australien wäre folglich ein Projekt für mindestens ein Sabbathalbjahr.
- Ausnahmen für Geschäftsflüge sollten im Zeitalter des ‚global Homeoffice‘ und der virtuellen Konferenzen nicht möglich sein und haben gedeckelt zu werden. Dann hat man halt als Firma Prioritäten zu setzen.
Auch eine zusätzliche, allgemeine Deckelung der Anzahl von Flügen pro Mensch ist sicher möglich – entscheidend wäre hier, dass sich Unternehmen sowie vermögende Bürger*innen nicht freikaufen könnten.
- Auf die Bedeutung dieses Punktes weist auch der Soziologe Ortwin Renn hin:
- „Menschen mit weniger Einkommen machen nur mit, wenn sie das Gefühl haben, Arm und Reich würden in gleichem Maße belastet“ (zit. in Hage et al. 2019, 18) – und der Spiegel folgert:
- Aus der „Rettung des Planeten wird nichts, wenn Nachhaltigkeit für die obere Mittelschicht erschwinglich ist, aber für die darunter nicht. Kein Klimaschutz ohne Klimasolidarität“ (ebd.).
Neubauer/Repenning schlagen – mutig – eine Zuteilung eines einheitlichen Budgets von Flugkilometern an jede Person vor (vgl. 2019, 204-205). Dieses darf m.E. nicht übertragbar sein.
In diesem Sinne regt Maxton ergänzend an, „[d]en Verkauf aller Business- und First-Class-Flugtickets [zu] verbieten“ (2020, 126).
Ich gehe noch einen Schritt weiter und werfe die folgende Frage auf:
- Inwieweit ist es im Jahre 2020 noch statthaft und ethisch vertretbar, dass sich Menschen in Privatjets fortbewegen?
Schlussgedanke:
Für Deutschland, Europa und die Industrienationen, ist eine ‚Deckelung‘ bestimmt eine Möglichkeit, um Flugverkehr einzudämmen.
Anknüpfend an den obigen Zwischengedanken, dass wir Bürger*innen Deutschlands allesamt den ‚oberen Zehntausend‘ angehören, ist zu konstatieren, dass eine klimagerechte Verteilung von Flugkilometern bei ca. 8 Milliarden Menschen pro Person wohl eher einen Rundflug um die jeweils eigene Stadt ergeben würde.
Da massentouristisches ‚Grünes Fliegen‘ nur eine langfristige, zukunftsferne Vision ist, kann das eigentlich nur eines bedeuten… daher ist m.E. nur das folgende Fazit für den Abschnitt Klimakiller Flugverkehr zulässig:
Ist es nicht ehrlicher, sich einzugestehen, dass profunde Investitionen in Flugverkehr, Flugzeuge, Flughäfen und Flugzeugindustrie angesichts der mangelnden Zukunftsperspektive für das massentouristische ‚Grüne Fliegen‘ keinen Sinn machen? Wäre nicht Im Gegenteil ein frühzeitiger, sozialverträglicher Rückbau dieses riesigen Industriezweiges sozial und zukunftsgerichtet – auch in dem Sinne, dass die Spitzenleistungen der Ingenieur*innen zur Bekämpfung der Klimakrise und des sechsten Massenaussterbens anderweitig dringender gebraucht werden?
Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt, kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen.
Michael Ende, 1994, in: Zettelkasten. Skizzen und Notizen. Weitbrecht. S. 276
Der ökologische Doppelschlag: Kreuzfahrten
Kreuzfahrten für sich genommen sind ökologisch und ethisch in vielerlei Hinsicht hochproblematisch – siehe folgende Daten, Fakten und Aspekte.
Zum ökologischen Doppelschlag werden sie, wenn mit dieser Art Urlaub zu machen Zubringerflüge – meist sowohl Hin- als auch Rückflüge – verbunden sind, was sehr oft der Fall ist. Dann kommen zur ohnehin massiven CO₂- und Umweltbelastung durch das Kreuzfahrtschiff auch noch die Fernflüge hinzu.
Flug-Kreuzfahrttourismus ist ein unangenehmer Beweis dafür, wie ‚gut‘ Menschen in der Lage sind, die Augen vor der Realität zu verschließen.
- Ein Kreuzfahrtschiff mit 2000 Passagieren an Bord generiert, wenn es eben nicht von Hamburg o.ä. startet, sondern z.B. in der Karibik unterwegs ist und vornehmlich europäische Gäste an Bord hat, die meistens eine Woche an Bord bleiben, pro Woche zusätzlich zur eigenen Ökobilanz bis zu 4000 interkontinentale Flugpassagiere – hinzu kommen u.a. die Flüge für die Besatzung und die globale Beschaffung der Versorgungsgüter.
Kreuzfahrttourismus in Zahlen
- 2019 = ca. 30 Mio Menschen aus aller Welt auf Kreuzfahrt (vgl. Höfler 2019, 30)
- 2018 = 28,5 Mio
- 2009 = 17,5 Mio (vgl. Deckstein 2019, 46)
- 2019 = >2 Mio Deutsche sind nach US-Amerikaner*innen und Chines*innen Kreuzfahrtweltmeister*innen (vgl. Höfler 2019, 30)
- „Allein die Zahl der Deutschen an Bord hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, auf 2,2 Millionen, in Europa sind nur die Briten ähnlich begeisterte Kreuzfahrer.“ (Deckstein 2019, 46)
- Schifffahrt = 52.000 Schiffe, davon 300 Kreuzfahrtschiffe (vgl. Höfler 2019, 32)
Kreuzfahrten, Treibhausgase und Ökologie
Kreuzfahrtschiff = bis zu 5t Treibstoff, i.d.R. Schweröl – pro Stunde (vgl. Deckstein 2019, 46)
- Dass es auch ohne Schweröl geht, beweist Hurtigruten seit 10 Jahren. Und im Juni 2017 setzte die Rederei mit der MS Roald Amundsen das erste Kreuzfahrtschiff mit Hybridantrieb (Kombination Elektro- und Verbrennungsmotor), der 20 Prozent sparsamer sein soll, in Fahrt. Doch sogar dieses vergleichsweise kleine Schiff schluckt, mit 530 Passagieren, ausgebucht, knapp neun 9 Liter Marinediesel pro Kilometer pro Passagier (vgl. Wüst 2019, 103-104).
- „Die meisten Ozeandampfer benutzen als Kraftstoff Schweröl, das so umwelt- und gesundheitsschädlich ist, dass sein Einsatz in Binnengewässern verboten ist… Es gibt bisher nur ein Kreuzfahrtschiff, das mit flüssigem Erdgas (LNG) betrieben wird. Die Abgase sind sauberer, aber auch Flüssiggas ist ein fossiler Rohstoff und seine Nutzung nicht klimaneutral.“ (Groll 2019, 38)
Thema ‚LNG (liquefied natural gas) – Flüssig-Erdgas‘
>> siehe auch Abschnitt Erdgas, LNG und die ‚Wasserstoffstrategie‘, S. 529ff.
- „Die Nova kostete ab Werk etwa 1 Milliarde Euro, sie ist eines der teuersten nicht-militärischen Fahrzeuge auf dem Planeten“ (Höfler 2019, 30).
- „Stand Ende Juni [2019] werden 124 neue Kreuzfahrtschiffe mit einem Ordervolumen von mehr als 69 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren gebaut“ (Deckstein 2019, 50).
- „Weltweit sind bis 2027 bei Werften 120 neue Kreuzfahrtschiffe geordert, davon werden lediglich 27 über einen primären LNG-Antrieb verfügen. Alle anderen fahren mit Öl“ (Höfler 2019, 36).
Die Nutzung von LNG um Schiffe anzutreiben, hat den Vorteil, vergleichsweise saubere Abgase zu verursachen, was sowohl für Passagiere und Besatzung, die Häfen als auch für die Natur zunächst positiv ist.
- „In den Auftragsbüchern der Werften stehen inzwischen eine Reihe [= 27, s.o.] von LNG-Schiffen, die von Institutionen wie dem Naturschutzbund Deutschland (Nabu) in Rankings zumindest in puncto ‚Vermeiden von Luftverschmutzung‘ mit Bestnoten bewertet werden“ (Schulz 2019, 6).
Während bislang die Luft auf Kreuzfahrtschiffen i.d.R. als ungesund gilt, bietet hier LNG den Vorteil, dass das Schiff ‚nur‘ CO₂ emittiert, „aber kein Schwefeldioxid und kein Feinstaub“ (Höfler 2019, 36).
Gleichwohl ist und bleibt auch LNG – auch wenn die Abkürzung sich so modern anhört – ein fossiler Brennstoff und ist somit keine Lösung für eine klimaneutrale Welt:
- LNG wird auf der Aida Nova bei -162 Grad Celsius gelagert (vgl. Höfler 2019, 36). Das bedeutet: Kühlung, Kühlung, Kühlung.
- LNG stammt oft „aus den USA, wo mit massivem Einsatz von Chemikalien das Methangas aus Boden und Gestein gepresst wird… Außerdem entweicht Gas beim Transport und der Lagerung. Man nennt es Methanschlupf. Methan ist ein Klimagas“ (Höfler 2019, 36)
>> siehe Abschnitt Erdgas, LNG und die ‚Wasserstoffstrategie‘, S. 529ff.
- Und selbstredend muss dieses Gas über weite Strecken stark gekühlt um den halben Globus transportiert werden, um dann in die Tanks z.B. der Aida Nova gefüllt zu werden.
CO₂-Bilanz von Kreuzfahrtschiffen, Angaben von Carnival über Aida-Schiffe
- 60 kg CO₂ pro Tag pro Person, betrieben mit Schweröl und Diesel
- 27 kg CO₂ pro Tag pro Person, betrieben mit LNG (vgl. Höfler 2019, 36)
- Die Zahlen schließen m.E. nur den bloßen Antrieb der Schiffe ein. Das Schiff hat geplant, gebaut, gewartet, repariert etc. pp. zu werden. Hinzu kommt m.E. noch jeweils die Förderung des Brennstoffs, dessen Verarbeitung und globaler Transport. Hinzu kommt der Transport der Nahrungsmittel sowie die Crew-Flüge – und sicher noch viel mehr.
- Vom Passagier ausgehend kommen i.d.R. noch die Zubringerflüge hinzu, meist zwei pro Person.
Das legt also folgendes nahe:
Thema ‚Greenwashing in der Kreuzfahrtbranche‘.
Letztlich gibt es derzeit für den Massen-Kreuzfahrt-Schiffstourismus keine wirkliche grüne Variante. MSC Cruises will ab 2020 „für alle Schiffsreisen selbst obligatorisch [CO₂-]Kompensationen vornehmen, sodass unter dem Strich klimaneutral gefahren wird. Das bedeutet für MSC … Mehrkosten in Höhe von rund 50 Millionen Euro jährlich“ (Schulz 2019, 6).
So richtig wichtig scheint die Branche es mit der Umwelt nicht zu nehmen – insbesondere, wenn keiner hinschaut:
- „Kreuzfahrtschiffe gelten als Verpester der Meere. Dutzendfach wurden sie in den vergangenen Jahren dabei erwischt, wie sie Öl, Plastik und Abwässer aller Art in die Ozeane kippten. Auch Schiffe der Aida-Mutter Carnival waren dabei, Princess Cruise Lines [– die mit der Pacific Princess das ‚Love Boat‘ stellte –] musste 2016 in den USA die Rekordstrafe von 40 Millionen Dollar zahlen. Über Jahre waren ölverschmutzte Abfälle ins Meer verklappt worden. Im Sommer dieses Jahres musste Carnival in den USA 20 Millionen Dollar zahlen, auf Schiffen waren Bewährungsauflagen nicht eingehalten worden“ (Höfler 2019, 35).
„Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.“
(Hans Magnus Enzensberger, 1979, zit. in Reisemeisterei (2013))
Kreuzfahrten und ‚Overtourism‘
Definition ‚overtourism‘:
„[E]ine feindliche Übernahme einer Stadt durch den Massentourismus“ (Deckstein 2019, 50).
>> „1950 gab es weltweit etwa 25 Millionen Reiseankünfte. Bis zum Jahr 2019 stieg diese Zahl bereits auf 1,5 Milliarden an“ (Schulz 2020, 14, basiert auf einer Quelle von Statista).
- „Beim Kreuzfahrttourismus ist die lokale Wertschöpfung besonders gering, weil die Besuchenden weder Übernachtung vor Ort buchen noch Essen kaufen müssen und für Besichtigungen nur wenig Zeit haben. So bleibt etwa der Stadt Venedig nur der Müll, ihr Image wird angeschlagen. Die Folge: Die ausgabenfreudigen Einzel- oder Gruppenreisenden bleiben wegen der Menschenmassen weg“ (Groll 2019, 38-39).
Dubrovnik 2018
= mehr als 400 Kreuzfahrtschiffe (Deckstein 2019, 50)
>> Dubrovnik hat insgesamt – d.h. nicht nur die touristisch wahrgenommene Altstadt – etwa 42.000 Einwohner*innen, genau wie Pinneberg bei Hamburg.
>> Immerhin: Ab 2021 sind in Dubrovnik die Landstromanlagen verpflichtend zu nutzen (ebd., 50) – dann sollte das doch auch in Hamburg gehen.)
- „An den Ausflügen [z.B. nach Dubrovnik] verdient die Reederei mit. Diese Einnahmen werden immer wichtiger. Die Ticketpreise sind unter Druck, da muss an Bord mehr eingenommen werden. Das System heißt ‚captive pricing‘, der Passagier ist eine Art Gefangener an Bord, Konkurrenz gibt es nicht. Rund ein Viertel des Umsatzes wird so gemacht“ (Höfler 2019, 34).
Kreuzfahrten suggerieren den Reisenden Sicherheit: Man legt nur mal kurz an, hält sich aber die Probleme vom Hals, die entstehen könnten, wenn man beispielsweise in einer ägyptischen Hotelanlage bucht oder sogar individualtouristisch unterwegs ist.
- „Das Fremde behält seinen Reiz, verliert aber seine Schrecken. Die Welt löst sich auf in gut geplante Landausflüge… Niemand muss Angst haben, er könne zwischendurch nicht auf eine ordentliche Toilette, die abendliche Rückkehr zum eigenen Zahnputzbecher ist garantiert, und gegen das Heimweh gibt es Hackbraten und deutsche Kuchen“ (Deckstein 2019, 46).
Kreuzfahrten und Ethik: Für eine Handvoll Dollar.
Zwischengedanke:
„Merkt eigentlich noch irgendwer, wie absurd die Gleichzeitigkeit von Kreuzfahrten und Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer ist?“ (Deckstein 2019, 46)
- „Harold … [ist] ein anonymer Arbeiter aus der Putzkolonne [des Mein Schiff 6], der für 2,82 Dollar Stundenlohn an sieben Tagen die Woche für die von Kreuzfahrtpassagieren hochgeschätzte Sauberkeit sorgt“ (Deckstein 2019, 46). „Harold verdient laut Vertrag 852 Dollar für 303,1 Stunden Arbeit im Monat.
[Vollarbeitszeit in Deutschland = 38,5h x 4 Wochen = 154 Arbeitsstunden minus bezahlten Urlaubstagen – der Mann arbeitet doppelt so lange, und über unbezahlte Überstunden haben wir da noch gar nicht gesprochen: Sein Leben besteht aus Arbeiten und Schlafen.]
- Das sind 2,81 Dollar die Stunde bei zehn Stunden Arbeit pro Tag, sieben Tage die Woche. Überstunden sind damit abgegolten. Er sieht Frau und Kinder neun Monate am Stück nicht… Um mit seiner Familie zu kommunizieren, muss Harold an Bord Internetvolumen kaufen“ (ebd., 52-53).
- Wunderbar, die Kreuzfahrtbranche schafft Arbeitsplätze: Zwischen 2015 und 2017 waren es mehr als 43.000 neue Jobs (ebd., 53) – wie viele davon sind wie der von Harold?
- „Chhabis Vertrag läuft acht Monate. Sie arbeitet an sieben Tagen pro Woche jeweils zehn Stunden. Also über 240 Tage am Stück. Ihre erste Schicht beginnt um acht und endet um 16 Uhr. Abends dann noch einmal zwei Stunden… Chhabhi arbeitet rund 300 Stunden im Monat. Sie verdient 700 Dollar, also 2,33 pro Stunde. Kost und Logis sind frei“ (Höfler 2019, 33). Hinzu kommt in diesem Fall Trinkgeld, pro Monat etwa 400 Euro (vgl. ebd.).
- „Kim aus der Wäscherei… wurde von der philippinischen Vermittlungsagentur Magsaysay auf den Job im Schiff vorbereitet. Dafür bekam die Agentur eine Vermittlungsgebühr von der Reederei. Die Gebühr holt sich die Reederei bei ihren Arbeitern wieder. Die Löhne beim ersten Heuervertrag sind entsprechend niedriger. Kim arbeitet zum zweiten Mal auf einem Aida-Schiff. Er verdient 2,70 Dollar in der Stunde. Trinkgelder bekommt er in seinem Job nicht. Die Hälfte seines Lohns schickt er seiner Familie. Er hat vier Geschwister. Eine Schwester studiert noch. Kim zahlt auch deren Ausbildung“ (Höfler 2019, 33).
- „In der Zeit zwischen den Arbeitsverträgen sind Chhabi und Kim arbeitslos und ohne Krankenversicherung“ (ebd., 34).
- 500 Mb hat auf der Aida Nova jeder pro Monat frei fürs Internet (ebd., 2019, 34) – das ist wohl mehr als auf anderen Schiffen.
Lange Rede, kurzer Sinn:
- „Die niedrigen Reisepreise sind nur möglich, weil Zehntausende Frauen und Männer acht oder zehn Monate am Stück für eine Handvoll Dollar arbeiten“ (ebd., 34).
Neben der Umgehung von Arbeitsschutzgesetzen und Mindestlöhnen hat die Ausflaggung auch massive steuerliche Gründe:
Kreuzfahrtentourismus als schwimmendes Steuerumgehungsmodell
- „Vier Konzerne, Carnival Cruise, Royal Caribbean, Norwegian Cruise Line und MSC beherrschen mehr als 90 Prozent des Marktes. Sie erzielen zweistellige Umsatzrenditen, von denen andere Branchen nur träumen können“ (Deckstein 2019, 48, vgl. Höfler 2019, 30).
Aida Nova, Bordsprache = deutsch, ausgeflaggt nach Italien, Steuersitz der Carnival Corporation: Panama (vgl. Höfler 2019, 32)
- „Alle seine [– Carnivals –] Schiffe, übrigens auch alle der Konkurrenz, fahren unter Billigflaggen“ (ebd.). „In Panama [, dem Carnival-Sitz,] werden … fast gar keine Steuern fällig. Laut Bilanz machte Carnival 2018 einen Umsatz von 18,8 Milliarden Dollar. Auf einen Gewinn von 3,2 Milliarden zahlte der Konzern läppische 1,68 Prozent Steuern. Das ist so gut wie brutto für netto“ (ebd., 32).
- „Auf Schiffen von Aida weht am Heck die Flagge von Italien. Auch das hat Steuerspargründe. Statt Abgaben auf Gewinne zahlt Aida in Italien eine pauschale Tonnagesteuer. Für ein großes Kreuzfahrtschiff mit 360 Betriebstagen beträgt der ‚Tonnagegewinn‘ grob geschätzt 110.000 Euro, der zu einem sehr niedrigen Satz versteuert wird. Für alle anderen Einnahmen auf den Aida-Schiffen, die nicht unter die Tonnagesteuer fallen, wurden 2018 lediglich 4,8 Prozent Steuern gezahlt. Die grün-weiß-rote Fahne bringt noch einen weiteren geldwerten Vorteil: den sogenannten Lohnsteuereinbehalt. Das bedeutet: Auf dem Gehaltszettel wird der Crew Lohnsteuer abgezogen, die wird aber nicht an den Fiskus abgeführt, die Reederei darf das Geld behalten. Alles ganz legal. Das macht die Schiffe zu Gelddruckereien“ (ebd., 32).
- „Betriebe [der Reisekonzern] TUI in Deutschland ein Hotel von der Größenordnung der ‚Mein Schiff 6‘, müsste der Touristikkonzern Einkommens-, Mehrwert- und Gewerbesteuer abführen, seinen Angestellten Sozial-, Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge zahlen, und er dürfte sie nicht unter dem Mindestlohn von 9,19 Euro [ab 1.1.2022 = 9,82 Euro] pro Stunde beschäftigen. Die Mitarbeiter hätten Anrecht auf Urlaub und einen Betriebsrat, der ihre Interessen vertritt. Auf hoher See gibt es solche Auflagen nicht“ (Deckstein 2019, 48).
- Per ‚Ausflaggung‘ „werden Steuerzahlungen in Milliardenhöhe vermieden, und Angestellte können zu Arbeitsbedingungen wie in Sweatshops beschäftigt werden“ (Deckstein 2019, 48).
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