Energie & Zukunft

„Mit Abschalten war nicht Euer Gehirn gemeint.“ (Plakat auf einer Fridays for Future-Demo.)


Werfen wir zunächst einen Blick auf die fossile Gegenwart, die bis auf weiteres noch allzu sehr in der Vergangenheit gefangen ist:


Ein Blick in die fossile Vergangenheit: Erdöl. Erdgas. Kohle.

Dass die Nutzung fossiler Energieträger ein Auslaufmodell ist, hat sich bis zu den Erdöl-, Erdgas- und Kohle-fördernden Unternehmen zumindest, was das Tagesgeschäft und weitere Investitionen betrifft, noch nicht wirklich herumgesprochen.


So schiebt man weiterhin auch seit den 2010er Jahren Unternehmungen unvorstellbaren Ausmaßes an.

Allein die Größe der Projekte legt nahe, dass sie im Sinne des ‚Too Big To Fail´ auch deshalb so groß dimensioniert werden, um die kommenden ‚Rückzugsgefechte‘ vor Gericht, gegen Politik und Gesellschaft mit möglichst breiter Brust durchzuziehen und ggf. per Schadensersatz entsprechend auch bei Nicht-Produktion zu profitieren.

  • „Exxon beispielweise wird bis 2016 jährlich 37 Milliarden Dollar für die Suche nach Öl- und Gasvorkommen und ihre Erschließung ausgeben. Das sind ungefähr einhundert Millionen Dollar pro Tag“ (Welzer 2016, 126).


Das zunehmende Tauen des nordpolaren Meeres macht Förderung dort möglich, wo bis vor kurzem Permafrost und ewiges Eis es verhinderten. So ist das Erdgasfeld Bowanenkowskoje auf der russischen Halbinsel Jamal an der Mündung des Flusses Ob in die Karasee erst seit einigen Jahren nutzbar – seit 2012 wird dort gefördert:

  • „Für rund 23 Milliarden Euro wuchsen nicht nur Verladeterminals ins Eismeer, das seinem Namen immer weniger gerecht wird, es entstanden auch Straßen, Nahstrecken, Siedlungen, ein Kraftwerk, ein Flughafen. Bestandteil des Jamal-Projekts sind außerdem 15 eisbrechende Flüssiggasstanker, jeder fast 300 Meter lang; Stückpreis: 320 Millionen Dollar. Sie sollen dafür sorgen, dass der Transport auch im Winter nicht zum Erliegen kommt“ (Langer 2019).


Derzeit investiert die „Chevron [Cooperation] … voraussichtlich 54 Milliarden Dollar in die Gasförderung auf Barrow Island, ‚einem Naturreservat erster Güte‘ vor der Nordwestküste Australiens… Einer von Chevrons Partnern bei diesem Projekt ist Shell, das Berichten zufolge noch einmal zehn bis zwölf Milliarden Dollar in den Bau der größten jemals realisierten schwimmenden Offshore-Bohrinsel (länger als vier Fußballfelder) steckt, um an einer anderen Stelle an der Nordwestküste Australiens Erdgas zu fördern. … Das Australienprojekt von Chevron soll mindestens dreißig Jahre lang Gas liefern, während die monströse Plattform von Shell mindestens fünfundzwanzig Jahre in Betrieb sein soll“ (Klein 2015, 182). Eine Offshore-Gas-Plattform in der Länge von vier Fußballfeldern? Trotz ‚Paris‘? Was soll ich da noch fragen außer: Habt ihr sie noch alle?


Aufgrund der Tatsache, dass die USA und Kanada möglichst unabhängig vom Nahen Osten bzw. der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) sein wollen, haben sie in den letzten 20 Jahren und durch neue Technologien begünstigt vermehrt angefangen, sog. ‚unkonventionelles Öl‘, das sog. Bitumen, das in Öl- und Teersanden (Oil sands, Tar sands) enthalten ist, abzubauen. Dieser „Prozess ist ungefähr drei- bis fünfmal so klimaschädlich … wie die Förderung von konventionellem Öl“ (Klein 2015, 175).

  • „Inzwischen wird in den USA… so viel Öl gefördert, dass die Zahl der Ölwaggons in der Zeit von 2008 bis 2013 auf 9.500 auf geschätzt 400.000 stieg – also um 4.111 Prozent“ (Klein 2015, 377, Hervorhebung Klein).


Weiterhin hat hier das Stichwort ‚Fracking‘ zu fallen, welches für ein Verfahren steht mittels ungenannter Chemiecocktails (vgl. Klein 2015, 396) Öl oder Gas aus dem Untergrund, meist aus Schiefer herauszupressen, mit dem Risiko von Methanemissionen, Trinkwasservergiftungen, entzündbarem Trinkwasser, kleinen Erdbeben, Geländesenkungen (vgl. ebd., 396f.) und mutmaßlich Krebs (vgl. Maher 2019).

  • Laut einer 2011 veröffentlichten Studie der Cornell Universität „liegen die Methanemissionen bei gefrackten Erdgas um mindestens 30 Prozent höher als bei konventionellem Gas“ (Klein 2015, 179).


Fracking von Öl bedeutet i.d.R. einen erheblichen Methanschlupf(1) – der, soweit man ihn erwischt und das Methan nicht direkt in die Atmosphäre entweicht (‚Venting‘), zu rund 300 Mio t CO2 jährlich verbrannt wird (‚Flaring‘) (vgl. Eichhorn 2020):

  • „Derzeit werden weltweit 150 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr abgefackelt“ (Eichhorn 2020).
  • „[E]s [ist] meist rentabler, nur das [im Schiefergestein] eingeschlossene Öl zu fördern. Um das Gas abzutransportieren, müssten eigens Pipelines verlegt werden. Weil das zu teuer ist oder die Expansion der Ölfelder zu schnell fortschreitet, wird das Gas als sogenanntes ‚assoziiertes Gas‘ häufig an Ort und Stelle verbrannt. 2018 wurden nach Schätzungen allein im Permbecken [in Texas] Gas im Wert von 750 Millionen Dollar abgefackelt, ohne jeglichen öffentlichen Nutzen“ (ebd.).

>> siehe Weltkarte des Online-Projekts Skytruth: Satellite-Detected Natural Gas Flaring https://viirs.skytruth.org/apps/heatmap/
flaringmap.html#lat=32.60445&lon=-1.20972&zoom=3&offset=15&chunk=2018
(Abrufdatum 20.8.2020) – in North Dakota ist es absurd hell >> auf ‚Satellit stellen‘ und reinzoomen, teilweise kommt man sogar mit Streetview, vgl. Jahr 2018, „560 U.S. 82, Plains, Texas, USA“, etwas nach Osten zur Straße 82, dann Streetview.

Erläuterungen zu (1) 'Methanschlupf'

Methanschlupf ist auch ein Problem stillgelegter Öl- und Gasbohrungen – zu Lande und zu Wasser, vgl. Aspekt Erdgas gilt als die am wenigste schlimme Form der fossilen Energieträger, S. 529f. Des Weiteren haben Pipelines Methanschlupf… Hinzu kommen die vielen, vielen kleinen Lecks in Erdgasleitungen in den Städten dieser Welt: „Wir haben im Hamburger Stadtgebiet an 145 Stellen erhöhte Methankonzentrationen entdeckt. Für zwei Drittel sind Lecks im Gasnetz die Ursache… Insgesamt rund 286 Tonnen Methan gelangen jährlich allein über das Hamburger Gasnetz in die Atmosphäre, haben die Forscher ermittelt“, zitiert der Spiegel den Autor einer 2020 veröffentlichten Studie, die sich mit Lecks in globalen Gasnetzen auseinandersetzt (Diermann 2020). – Mit anderen Worten: Methan tritt in weiten Teilen der Produktionskette von Öl und Erdgas in die Atmosphäre aus.

Derweil „deuten die [Methanschlupf-]Daten der NOAA auf rund doppelt so hohe Gasverluste hin wie offiziell angegeben“ (Eichhorn 2020).


Preisfrage: Was passiert, wenn eine Firma plötzlich zahlungsunfähig ist? Und somit die Mitarbeiter*innen nicht mehr bezahlt werden? Räumen Sie und Ihre nicht bezahlten Mitarbeiter*innen dann noch monatelang auf und hinterlassen das Firmengelände besenrein? Oder ist es nicht doch eher so, dass Sie Ihre Sachen packen und unverzüglich das Gelände verlassen?


In den USA wird die hoch subventionierte Öl- und Gas-Fracking-Branche durch fallende Öl- und Gaspreise – auch, aber nicht nur durch Covid-19 – von einer umfangreichen Pleitewelle erfasst (vgl. Kriener 2020, 8).

  • „Der Londoner Thinktank Carbon Tracker schätzt die Kosten für die ordnungsgemäße Schließung eines Bohrlochs auf 300.000 Dollar“ (ebd.).
  • „Die US-Regierung schätzt laut New York Times, dass inzwischen mehr als 3 Millionen Bohrstellen aufgegeben worden sind: davon sollen 2 Millionen nicht sicher verschlossen sein und Methan in einem Ausmaß emittieren, dass den Auspuffgasen von 1,5 Millionen Autos entspricht“ (ebd.).
  • „Einige der Vorstände hätten noch [– so drückt sich Joe Biden aus –] vor dem Bankrott ‚Millionen und Millionen Dollar‘ kassiert“ (ebd.).

>> Übrigens: Auch ‚sicher‘ verschlossenen Bohrlöcher entweicht oft noch relevant und langjährig Gas, vgl. Aspekt Erdgas gilt als die am wenigste schlimme Form der fossilen Energieträger, S. 529f.

ca. 5min: Nicht BP, aber gleiche Liga: Achim Reichel: „Exxon Valdez“, 1996 — Nein. Das sind nicht alles Einzelfälle: Exxon Valdez, Deepwater Horizon, BSE, Fukushima, Bitterfeld, Contergan, Glyphosat, Chrom im Trinkwasser in Hinkley (vgl. „Erin Brockovich“)… sind zusammenzudenken, die Ursache ist letztlich immer die gleiche… Es sind keine Einzelfälle, das hat System, es ist systemisch, d.h. es ist Bestandteil des derzeitigen globalen ökonomischen Systems, das Alles kaputtmacht. — vgl. https://musik-und-klimakrise.de/songs-klassiker#Exxon_Valdez (Abrufdatum 17.8.2022)

Auch darf nicht unerwähnt bleiben, das es in der fossilen Industrie offensichtlich als vollkommen normal angesehen wird, eine Öl-Plattform (‚Deepwater Horizon‘) mitten in den Golf von Mexiko zu stellen und ein 1.500 Meter unter dem Meeresspiegel liegendes Ölfeld anzubohren – und keinen Plan B zu haben, sodass nach einer heftigen Explosion im Jahre 2010 das austretende „Öl von BP drei lange Monate in den Golf rauschte“ (Klein 2015, 401), um dann schließlich mit Chemikalien das Öl unter Wasser verschwinden zu lassen, sodass es wenigstens gut aussah, aber eben bis heute eine gigantische, dauerhafte Umweltkatastrophe bedeutet. Dies ist in allen ölschillernden Details nachzulesen bei Kathrin Hartmann im Kapitel „Wie BP die größte Ölpest aller Zeiten im Meer versteckte“ – und, hinzuzufügen ist: Wie BP das systematische Greenwashing für sich entdeckte (vgl. 2018, 29ff.).

>> siehe Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. München: Blessing.
>> s.a. Boote, Werner u. Hartmann, Kathrin (2018): Die Grüne Lüge. Die Ökolügen der Konzerne und wie wir uns dagegen wehren können. Film-Doku.
>> Konkrete Beispiele zum Thema Greenwashing siehe https://klima-luegendetektor.de/ (Abrufdatum 29.9.2020)


Und dann sind da noch die Teersandabbaugebiete in Alberta, Kanada.

Garzweiler ist schlimm? Ja. Aber ohne Braunkohletagebaue in Deutschland in irgendeiner Form verharmlosen zu wollen: Verglichen mit den Teersandabbaugebieten in Alberta, Kanada ist Garzweiler ein winziges, Stecknadel-kleines Loch in der Erde… Das Ding bei Fort McMurray gilt als das größte Industrieprojekt der Welt, sodass Naomi Klein diese Region zu Recht als eine ‚Opferzone der Erde‘ bezeichnet.

>> Garzweiler I betrifft eine Fläche von 66 km2 (ungefähr so groß wie der Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf).
Garzweiler II = 40 km2 (entspricht etwa Berliner Bezirk Mitte) (vgl. wikipedia 2020c)

52-minütige 360°-Geo-Reportage „Fort McMurray, Kanada im Ölfieber“. [Ein Film von Andreas Gräfenstein, 2014]. in: YouTube, online unter https://youtu.be/eadcv_oMM9o (Abrufdatum 15.5.2020);

>> siehe dazu 52-minütige 360°-Geo-Reportage „Fort McMurray, Kanada im Ölfieber“. [Ein Film von Andreas Gräfenstein, 2014]. in: YouTube, online unter https://youtu.be/eadcv_oMM9o (Abrufdatum 15.5.2020);

>> Auch Naomi Klein besucht in der Doku This Changes Everything die Tar Sands und dokumentiert, wie es den Angehörigen der First Nations, die juristisch gegen den Abbau der Tar Sands und gegen Keystone-XL-Pipelines (siehe Fußnote S. 519) vorgehen, und anderen Bürger*innen entlang der Keystone-Pipeline ergeht: Klein, Naomi und Lewis, Avi (2015): This Changes Everything. Film-Doku inspiriert durch Naomi Kleins Buch This Changes Everything: Capitalism vs. Climate, deutscher Titel: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima.

>> Eine Bilderserie über die Tar Sands: Leahy, Stephen (2019): „This is the world’s most destructive oil operation—and it’s growing“. in: Nationalgeographic, 11.4.2019, online unter https://www.nationalgeographic.com/environment/2019/04/alberta-canadas-tar-sands-is-growing-but-indigenous-people-fight-back/ (Abrufdatum 15.5.2020)


Ich habe mich gefragt, wie groß ist eigentlich dieses Abbaugebiet in Alberta?(1). Derzeit realistisch gilt ein Abbau auf einer Fläche von 4.800 km2, tatsächlich wird mit Stand Ende 2016 auf 953 km2 aktiv Tagebau betrieben – also auf einer Fläche, die deutlich größer ist als Berlin (891,12 km2). (vgl. Alberta.ca 2017)(2).

  • „[A]lles an diesem größten Industrieprojekt der Erde… [ist] überdimensioniert[,] auch die in Südkorea hergestellten Maschinen…, die können so lang und schwer wie eine Boeing 747 sein, und manche Schwerlaster sind drei Stockwerke hoch“ (Klein 2015, 284).
  • „Um einen Liter Bitumen aus dem Sand zu waschen, braucht man fünf Liter Wasser – Wasser, das danach ein mit Schwermetallen und zum Teil krebserregenden Kohlenwasserstoffen verseuchter Schlick ist und in Klärteichen gelagert wird. Diese künstlichen Seen voller Giftbrühe sind zusammengenommen mit 130 Quadratkilometern bereits halb so groß wie Frankfurt am Main“ (Teves 2018).
  • Und: Der größte Staudamm der Welt (‚Syncrude tailings pond‘, Kriterium ‚Dammvolumen‘) dient nicht etwa der Rückhaltung von Wasser…, nein, er steht in Alberta und hält die hochtoxische Brühe zurück, die entsteht, wenn man Teersande/Ölsande von ‚überflüssigem‘ Sand/Gestein befreit (vgl. wikipedia 2020a).(3)

Die Beharrungskräfte sind groß. Wir reden darüber, den fossilen Industrien, d.h. der größten und Kapital-kräftigsten Industriebranche der Welt, das bisherige Geschäftsmodell ‚wegzunehmen‘, genauer:

Es muss zerstört werden…

Es hat von der Politik zerstört zu werden.


>> Nichts für schwache Nerven: Wenn Sie bei Google Earth die Stichwörter ‚Fort McMurray, Alberta, Kanada‘ eingeben und dann etwas nach Norden schwenken, können sie diese vielleicht größte Wunde des Planeten besichtigen.

>> Querverweis: Wofür nun also das auf diese Weise dem Boden abgerungene Öl vornehmlich eingesetzt wird, siehe Abschnitt Verkehr & Mobilität: Eine Klima-notwendige Mobilitätswende, S. 294 und dort insbesondere den Aspekt Thema ‚Verkehrsopfer inkl. Luftverschmutzung‘, S. 298.


Nein, dies ist kein Postkartengruß aus Fort McMurray, Kanada – aber so richtig anders sieht es hier in South Kalimantan, Indonesien auch nicht aus. Naomi Klein nennt solche Mega-Abbaugebiete ‚Opferzonen‘. | Fotos by Dominik Vanyi on unsplash

Details: Erläuterungen zu (1), (2) u. (3)

(1) Die theoretische Abbaufläche, also die Fläche der Ölsandvorkommen beträgt 142.200 Quadratkilometer und ist somit größer als England. England = 130.395 Quadratkilometer

(2) Hinzu kommen Flächen, die bereits ausgebeutet sind und renaturiert zu werden haben: Die Fläche, die als per Zertifikat als renaturiert gilt, beträgt Ende 2016 ganze 1,04 km2. Die Fläche der nicht zertifizierten ‚Permanent Reclamation‘ beträgt Ende 2016 rund 61,6 km2.

(3) Bei Athabasca, einem der Ölsand-Abbaugebiete in Alberta, beginnt das hochumstrittene und teilweise im Bau befindliche Keystone-XL-Pipeline-System, „das kreuz und quer über den Kontinent verlaufen soll … [und dessen] südliche Ausläufer von Oklahoma zu den Exportterminals an der texanischen Küste [führt]“ (Klein 2015, 365, vgl. Handbuch Fußnote auf S. 531). Des Weiteren soll Keystone XL „durch den Ogalla-Aquifer … führen, eine ausgedehnte unterirdische Süßwasserquelle in den Great Plains, die Trinkwasser für rund zwei Millionen Menschen und rund 30 Prozent des gesamten in Amerika zur Bewässerung benötigten Grundwassers liefert“ (ebd. 418). Im Juli 2020 hat „[d]as oberste Gericht der USA … ein Gesuch der Regierung abgelehnt, einen Baustopp für Keystone XL aufzuheben, den ein Gericht im Bundesstaat Montana im April verhängt hatte“ (Schwarz 2020, 9).


Ein Blick in die Gegenwart:

Energiewende in Deutschland

Hinsichtlich der deutschen Energiewende fallen immer wieder zwei komplett verschiedene Wahrnehmungen auf: Im Inland gilt sie als verzögert, ausgebremst und zu guten Teilen gescheitert. Im Ausland hingegen wird die Energiewende als innovativ wahrgenommen – und so strömt ihr (und in diesem Zusammenhang auch Angela Merkel) in der Regel deutliche Bewunderung zu.

…mehr

Dass Deutschland einige Jahre lang als Vorreiter beim Klimaschutz galt hängt auch damit zusammen, das die Bilanzen der Wiedervereinigungsjahre aufgrund des Zusammenbruches der alten Industrien der DDR in Relation zu den Vorwendejahren sehr gut aussahen (vgl. Göpel 2020, 78).

Beides ist richtig. In der Tat, Deutschland hier einen das Ausland beeindruckenden Alleingang hingelegt, der aber – bedauerlicherweise – letztlich nur deshalb so hell nach außen strahlt, weil ‚die Anderen‘ noch weniger tun.

Mojib Latif konstatiert:

  • „Es ist übrigens das historische Verdienst Deutschlands, Solar- und Windstrom über das Erneuerbare-Energien-Gesetz bezahlbar gemacht zu haben. Nur deswegen boomen die Erneuerbaren jetzt weltweit“ (2020, 104).


Aber es gilt auch: Wir könnten schon so viel weiter sein.

Ein wesentliches Puzzleteil zur Bewältigung der Klimakrise: Die Energiewende bzw. die massive Nutzung von erneuerbaren (=regenerativen) Energien.

Ohne eine zügige und umfassende Energiewende gekoppelt mit einer ebenso einschneidenden Mobilitätswende gibt es keinen Ansatz zur Eindämmung der Klimakrise:

Die „Energiewende und Verkehrswende sind zwei Seiten einer Medaille.“ (Müller-Görnert 2019, 2)


Status quo:

  • 42,1% beträgt der Anteil der Erneuerbaren Energien am Strommix 2019 – wohl vorrangig aufgrund der optimaler Wetterverhältnisse (vgl. UBA 2020a), davon sind im Strommix 20,9% auf Windenergie und 7,8 % auf Solarenergie zurückzuführen (vgl. AGEB 2020, 27).1
  • „Windenergieanlagen an Land und auf See [haben 2019] … so viel Strom wie kein anderer Energieträger in Deutschland [erzeugt]“ (AGEB 2020, 32).
  • 37,8%, betrug 2018 der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen, was etwa dem Anteil der Verstromung von Braun- und Steinkohle entspricht2 (vgl. UBA 2019).


Öffentliche Netto-Stromversorgung3 in Deutschland, Anteile

Regenerativ: 47,5% >> Wind = 25,4% | Solar = 9,5% | Biomasse = 8,6% | Wasserkraft 4,0%
Fossil: 52,2% >> Braunkohle = 20,1% | Atom = 20,1% | Steinkohle 10,0% | Gas = 9,3% (vgl. Pinzler et al. 2019, 3)

Das bedeutet: Absehbar können – mit mehr politischem Willen und einem Mehr an Durchsetzungsvermögen – 100% des Strombedarfes in Deutschland auf Basis von erneuerbaren Energien erzeugt werden.

Details: Erläuterungen zu (1), (2) u. (3)

1 Atomstrom hat der gleichen Quelle zu Folge 2019 noch einen Anteil von 12,3% an der Bruttostromerzeugung. Mit der Abschaltung des AKW ‚Phillippsburg 2‘ Ende 2019 reduziert sich der Anteil weiter (ebd. 25).

2 Zusätzlich wird Deutschland Kohle selbstredend auch für die Gewinnung von Wärme verfeuert.

3 Nettostromverbrauch = Endenergieverbrauch = Bruttostromverbrauch abzgl. Netzverluste und abzgl. des Eigenverbrauchs im Umwandlungsbereich bzw. des Kraftwerkseigenverbrauchs.

Aber – und das wird auffälliger- bzw. merkwürdigerweise selten erwähnt in der Debatte – damit ist nicht viel erreicht.

Ein klimaneutrales, dekarbonisiertes Deutschland hat nicht nur seinen Strom, sondern seinen Gesamtenergiebedarf aus erneuerbaren Energien zu erzeugen:

  • Anders als im fossilen Zeitalter benötigen wir künftig Strom für Alles, für Wärme, für die Industrie inkl. energieintensiver Branchen wie Stahl, Aluminium, Kupfer und Zement bzw. Beton sowie für die Mobilität sowohl für den ÖPNV, Carsharing und auch – gemäß derzeitiger politischen Entscheidungen – für E-Autos in privater Hand.

Hierbei besagt der Leitgedanke der sog. Sektorenkopplung, das die bisher eher getrennt wahrgenommenen Sektoren der Energiewirtschaft zusammenwachsen durch „die Umwandlung von Erneuerbaren (Überschuss-)Strom in Gase [à la Wasserstoff] oder Flüssigkeiten“ (Fraunhofer 2018, 1), die dann energetisch für Bereiche genutzt werden, die traditionell mit fossilen Brennstoffen betrieben wurden wie z.B. der energieintensiven Produktion von Stahl.

Definition 'Sektorenkopplung'

Definition ‚Sektorenkopplung‘: „Der Begriff ‚Sektorenkopplung‘ meint, dass mittelfristig erneuerbare Energien nicht nur für den üblichen Stromverbrauch genutzt werden, sondern z.B. via Elektrolyse umgewandelt in synthetische Kraftstoffe z.B. für den Schiffs- und Flugverkehr oder andere besonders energieintensive Industrien zur Verfügung stehen werden. Bei der Umwandlung in synthetische Kraftstoffe ist der Wirkungsgrad recht gering, sodass extrem viele Wind- und Solarkraftwerke benötigt werden, um den Bedarf an Energie zu decken“ (Zukunftsrat 2020, 9).

  • Das Entscheidende dabei ist, dass die mit Strom und nachfolgend via Wasserelektrolyse gewonnenen Gase und Flüssigkeiten CO2-neutral sind, weil deren Verfeuerung letztlich nur genau das Maß an CO2 in die Atmosphäre hineinbringt, was zuvor mittels Stromenergie zur Erzeugung des Wasserstoffs der Atmosphäre entnommen wurde.


42,1% Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung bedeuten einen Beitrag zum
Bruttoendenergieverbrauch Deutschlands
(2499 TWh) von 17,1% (vgl. UBA 2020c).

Diese 17,1% (=452 Terawattstunden (TWh)) verteilen sich wie folgt auf:

  • Stromerzeugung per Erneuerbare Energien (EE): 244 TWh
    Windenergie = 126 TWh | Photovoltaik = 47,5 TWh | Wasserkraft 20,2 TWh | Biogene Brennstoffe und Gase 50,5 TWh
  • Wärmeerzeugung per EE: 176 TWh
    Biogene Brennstoffe und Gase, Wärme = 152 TWh | Geothermie und Umweltwärme = 16 TWh | Solarthermie = 8,5 TWh
  • Biokraftstoffe 32 TWh (Palm, Raps, Methan aus Biogasanlagen)


Windenergie und Photovoltaik haben einen Anteil an der derzeitigen Strombereitstellung aus erneuerbaren Energieträgern von 38%.

Windenergie und Photovoltaik haben einen Anteil am Bruttoendenergieverbrauch von 4,8% bzw. 1,8%, d.h. zusammengenommen von 6,6%.

(Alle Zahlen stammen aus bzw. basieren auf UBA 2020a)


Diese Energie wird von etwa 29.456 Onshore-Windenergieanlagen (vgl. BWE 2019)(1) und mehr als 1,7 Mio Solaranlagen (vgl. Stromreport 2020) erzeugt. Es hat etwa 20 Jahre – seit Verabschiedung des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) – gedauert, diese Anlagen ‚gegen alle Windmühlen‘ unter unendlichen Mühen und vielen Milliarden Euro aufzubauen. Es macht keinen Sinn, zu errechnen, wie lange es dauern würde, in diesem Tempo fortzufahren.

>> 29.456 Onshore-Windenergieanlagen – dies ist die Gesamtzahl der in Deutschland stehen Onshore-Windkraftanlagen. Nicht alle sind in Betrieb.

>> Apropos EEG:
Das EEG garantiert seit 2000 den Erzeugern von Strom aus erneuerbaren Energien den Anschluss ans Stromnetz, die Abnahme des erzeugten Stromes und feste Einspeisevergütungen. Zur Finanzierung gibt es die sog. EEG-Umlage. Bei Einführung galt das Gesetz als großer Wurf und beflügelte seinerzeit insbesondere den Zubau an Photovoltaik. Das EEG wurde jedoch 2004, 2009, 2012, 2015 und 2016/17 reformiert, was zu immer größeren Nachteilen für kleine Erzeuger (Stichwort ‚Bürgerenergiewende‘) führt, die großindustriellen Erzeuger u.a. aufgrund von Ausschreibungsverfahren bevorzugt sowie hinsichtlich der Energiewende eher eine bremsende Wirkung entwickelt. Die hohen Arbeitsplatzverluste im Bereich ‚Photovoltaik‘ und ‚Windkraft‘ sind letztlich mehrheitlich auf diese Gesetzesreformen zurückzuführen. Das EEG geriet um 2013 in den Fokus der Lobby-Kritik, weil das EEG vorgeblich für Verbraucher*innen den Strompreis erhöhe, wie man auch an dem extra ausgewiesenen Posten auf den Stromrechnungen erkennen könne. Was in der Stromrechnung hingegen nicht notiert ist, sind die Kosten, die die Verbraucher*innen für die Subventionierung von fossil erzeugtem Strom zu bezahlen haben: „Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft hat nachgerechnet, was die versteckten Subventionen für Kohle, Gas und Atom im Vergleich mit der Erneuerbaren-Förderung in Deutschland kosten. Ergebnis: Eine ‚Konventionelle-Energien-Umlage‘ läge aktuell rund 50 Prozent über der EEG-Umlage“ (Bah 2017). Im Übrigen ist das m.E. eine Geisterdiskussion – es wäre vollkommen in Ordnung, wenn Strom aus nicht-fossilen Energieträgern teurer wäre. Folge dieser Lobbyaktion war bedauerlicherweise die Altmaier’sche ‚Strompreisbremse‘. „Die verheerenden Folgen der Novellierung der Photovoltaik-Förderung werden in der Energieforschung von den Wissenschaftlern ironisch als ‚Altmaier-Knick‘ bezeichnet, weil Peter Altmaier in seiner damaligen Funktion als Umweltminister erheblichen Anteil an der Novelle hatte. Nach der Novelle brach die boomende Solarzellenproduktion in Deutschland ein“ (Coen 2016, 3). Auch erwähnenswert: „Fast die Hälfte des industriellen Stromverbrauchs ist ganz oder teilweise von der EEG-Umlage befreit“ (Die Anstalt Faktencheck, 77) – etwa 2.000 Betriebe. Begründung: Die Unternehmen stehen im internationalen Wettbewerb, wie z.B. offensichtlich auch die Zugspitzbahn (vgl. ebd.). Auch diese etwa fünf Milliarden Euro (vgl. ebd., 78) zahlen die Steuerzahler*innen. Derweil kommt heute nur noch ein relativ gesehen kleiner Teil der EEG-Umlage tatsächlich bei den Erzeugern an, weil der sog. Umwälzmechanismus verändert wurde: Seit 2010 hat sich die EEG-Umlage für Verbraucher*innen fast verfünffacht, die Einspeisevergütung für die Erzeuger jedoch nur verdoppelt – die Differenz kommt aufgrund eines merkwürdigen Mechanismus, dem sog. EEG-Paradoxon, der sich m.E. dem logischen Denken entzieht, ein weiteres Mal den energieintensiven Branchen zugute. Die höheren Umlagenbeiträge, die die Verbraucher*innen zahlen, kommen nicht den EE-Erzeugern, sondern ermöglichen den energieintensiven Branchen, Strom zu günstigeren Preisen einzukaufen (vgl. Weber 2014). Zu diesem ‚merkwürdigen Mechanismus‘ hält Susanne Götze fest: „Ein beliebter Trick besteht darin, Gesetze so lange zu verkomplizieren, bis sie keiner mehr versteht. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz war ursprünglich so gut, dass es weltweit kopiert wurde. Damals umfasste der Gesetzestext fünf Seiten. Mittlerweile ist das auf 140 Seiten angewachsen. Da blickt zum einen niemand mehr durch, eine Heerschar von Anwälten interpretiert das Gesetz immer neu“ (zit. in Rühle 2020). Einen unterhaltsamen und inhaltlich überaus fundierten ‚Grundkurs EEG‘ gibt die ZDF-Satiresendung ‚Die Anstalt‘ vom 1.10.2019, deren 105-seitiger Faktencheck Hauptquelle dieser Fußnote ist, siehe https://www.claus-von-wagner.de/tv/anstalt/oktober (Abrufdatum 16.6.2020), s.a. Eicke Webers Vortrag über die „vorsätzlich aufgeblasene EEG-Umlage“: https://www.youtube.com/watch?v=VjN_J3QA3RI (Abrufdatum 16.6.2020), vgl. Naumann: „Die EEG-Umlage verständlich erklärt“ (2018). Mit Stand September 2020 hat das Bundeskabinett eine Novelle des EEG verabschiedet. Die Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW, Claudia Kemfert, findet, dass „[d]ie Novelle … weniger schlimm als befürchtet, aber trotzdem nicht gut genug“ (2020).


Unter der Annahme eines gleichbleibenden Brutto-Endenergiebedarfs bleibt derzeit für eine komplette Umstellung auf erneuerbare Energien eine Versorgungslücke von etwa 83%.

Erläuterung

Bezugnehmend auf den einige Absätze darüber genannten Sachverhalt, dass 42,1% Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung einen Beitrag zum Bruttoendenergieverbrauch Deutschlands (2499 TWh) von 17,1% (vgl. UBA 2020c) bedeuten.


Global fällt die Bilanz ähnlich aus:

„Immer noch stammen mehr als 80 Prozent der weltweiten Primärenergie aus fossilen Quellen. Wind und Sonne liefern weniger als zwei Prozent“ (Spiegel 2020, 97)

Erläuterung

Fedrich verwendet folgende Zahlen hinsichtlich des Anteils der Energieträger an der weltweiten Stromversorgung: Kohle 38% | Gas 23% | Wasserkraft 16% | Atomenergie 10% | Wind 5% | Biomasse 3% | Öl 3% | Sonne 2% | Erdwärme 1% (2020, 54)


Dazu ist festzuhalten:

  • Das Potenzial von Wasserkraft ist in Deutschland weitgehend ausgeschöpft.
  • Weitere derzeit ausgereifte Technologien im Bereich Erneuerbare Energien sind Brennstoffzellen, Kraft-Wärme-Kopplung (KWK)(1), Wärmepumpen(2), (Tiefen-)Geothermie(3), Solarthermie zur Erzeugung von Warmwasser (z.B. zum Heizen) – und in Deutschland begrenzt Solarthermische Kraftwerke(4).
  • Biokraftstoffe, die bislang die Bilanz der Erneuerbaren statistisch gesehen verbessern, werden aus obiger Rechnung künftig teilweise wegfallen – mindestens, weil Palm als Kraftstoff wegfallen wird.
Details: Erläuterungen zu (1) bis (4)

(1) Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) bedeutet die gleichzeitige Umwandlung von Primärenergie in Nutzwärme und mechanische bzw. elektrische Energie. Konkret wird die bislang allzu oft ungenutzte Abwärme, die z.B. bei chemischen Prozessen in der Industrie entsteht, per KWK z.B. in ein Fernwärmenetz eingespeist. So koppeln Blockheizkraftwerke die Erzeugung von Strom und Wärme, sodass der Wirkungsgrad gegenüber nicht-gekoppelten Systemen deutlich höher ausfällt.

(2) Wärmepumpen hat man sich wie einen geschlossenen Rohrkreislauf vorzustellen. Wärmepumpen machen sich Temperaturdifferenzen zwischen Haus und entweder dem Boden, dem Grundwasser oder der Außenluft zunutze. Ein flüssiges Kältemittel nimmt Energie aus der in Relation wärmeren Umgebung auf und verdampft (schon bei niedrigen Temperaturen), gelangt in einen (mit hoffentlich EE) strombetriebenen Kompressor, der den Kältemitteldampf verdichtet, d.h. unter Druck setzt und dadurch weiter erhitzt. Die so erzeugte Wärme wird an ein Heiz- und Warmwassersystem abgegeben. Die Temperatur sinkt, das Kältemittel verflüssigt sich wieder, ein Entspannungsventil sorgt für Druckabfall bzw. -ausgleich, das Kältemittel erreicht seine Ursprungstemperatur – der Kreislauf beginnt von Neuem. Derzeit kommen überwiegend „teilfluorierte Kohlenwasserstoffe (HFKW) zum Einsatz[, die] … ein hohes Treibhauspotenzial auf[weisen] und sind beim Entweichen oder bei der Entsorgung der Anlage bis zu mehrere tausend Mal klimaschädlicher als CO2… [Zurzeit] gilt besonders das Kältemittel R290 (Propan) als zukunftssicherer Ersatz für HFKW-Kältemittel“ (Dein Heizungsbauer 2020). Zu Teilhalogenierten Fluorkohlenwasserstoffen ‚HFWK‘ vgl. Abschnitt Die Physik des Klimawandels: Treibhausgase, S. 145f.

(3) Geothermik nutzt Erdwärme in Form von Erdwärmesonden (vgl. Wärmepumpen), Erdwärmekollektoren oder durch flache Grundwasserbrunnen (vgl. Island). Es „existieren auch Erdwärmesonden mit mehreren hundert Metern [Tiefe] und sogar bis zu einigen tausend Metern“ (Erdwerk 2020). Geologe Matthias Franz: „In Norddeutschland sind die Bedingungen für die Tiefengeothermie besonders günstig“ (Römer 2020). „[I]m großen Maßstab, also für Kommunen, wird die Sache erst interessant, wenn es bis zu 5.000 Meter hinuntergeht. In den Wasserreservoiren, im Boden verteilten Blasen, herrschen Temperaturen von teils über 100 Grad. Mit derart warmem Wasser kann nach dem Heizen sogar noch Strom gewonnen werden“ (ebd.).

(4) Ein Verzeichnis sämtlicher technisch ausgereifter, nicht-fossiler Energiegewinnung bzw. -umwandlung siehe Project Drawdown https://drawdown.org/solutions (Abrufdatum 23.6.2020, click ‚Electricity‘; s.a. Inhaltverzeichnis bzw. tabellarische Auflistung im ‚Buch der Synergie‘ von Achmed Khammas http://www.buch-der-synergie.de/c_neu_html/inhalt_c.htm (Abrufdatum 16.6.2020).

  • Das bedeutet, dass unter der Annahme eines gleichbleibenden Brutto-Endenergiebedarfs die Versorgungslücke von etwa 83% künftig mehrheitlich durch Windkraft (onshore/offshore) und Photovoltaik gedeckt zu werden hat.
    • Denkbar wäre, vermehrt erneuerbare Energien aus anderen Ländern der EU zu beziehen z.B. aufgrund der höheren Sonneneinstrahlung im Süden Europas. Hierzu gibt es nichts Spruchreifes, weshalb diese Alternative bzw. diese ergänzende Maßnahme hiermit einmal genannt sei und im Folgenden aus den Überlegungen ausgeklammert wird.
  • Strom aus Windkraft und Photovoltaik hat nur dann einen Wirkungsgrad von 100%, wenn er unverzüglich direkt eingespeist wird.
    • Die Versorgungssicherheit zur Vermeidung des Zusammenbruches des Stromnetzes (‚Blackout‘) sowie Nutzungsspitzen sind in den Bedarf an Anlagen einzukalkulieren.
    • Einzukalkulieren sind umgekehrt auch Produktionsspitzen. Der hier erzeugte Strom hat zwischengespeichert zu werden.
  • Mit dem Power-to-Gas-Verfahren (Power to Fuel/Power-to-liquid/Power-to-x) stellt man aus Strom aus erneuerbaren Energien her, in dem man Wasser (H2O) mit der Energie des Stromes per Wasserelektrolyse in (Bio-)Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O2) zerlegt.

    Dieser Wasserstoff kann nun unter Nutzung (i.d.R.) der Luft entnommenen CO2 methanisiert – und als Methan – d.h. als Biogas – z.B. zur Wärmegewinnung genutzt werden – gerade für zwischenzuspeichernde Überkapazitäten ist das eine Möglichkeit, erzeugten Strom nicht komplett verloren gehen zu lassen. Bei der Verbrennung dieses Biogases entsteht lediglich die Menge an CO2, die zuvor aus der Luft entnommen wurde. Es ist prinzipiell also ein klimaneutrales Nullsummenspiel. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der dazugehörige Strom, die Industrieanlagen zur Erzeugung und Weiterverarbeitung des Stromes allesamt ressourcenintensiv entwickelt, gebaut, unterhalten und irgendwann ersetzt zu werden haben.
  • Wird Strom per Wasserelektrolyse in Wasserstoff umgewandelt, ergibt sich ein maximaler Wirkungsgrad von 83%, der Median liegt bei 80% (vgl. Milanzi et al. 2018, 9).
  • Wird der Strom als Wasserstoff zwischengespeichert via Wasserelektrolyse, um dann wiederum als Strom ins Netz eingespeist zu werden, geschieht dies mit einem Wirkungsgrad von „40% oder sogar tiefer“ (Energie-Lexikon 2020a).
  • Benutzt man Batterien – die es so noch nicht im industriellen Maßstab für eine Massenproduktion gibt, liegt der Wirkungsgrad höher, bei Lithium-Ionen-Batterien etwa bei 85% (Öko-Institut 2018, 27).

>> Lithium-Ionen-Batterien: Diese Art Akkus werden i.d.R. sowohl in E-Autos als auch in Smartphones, Tablets, Laptops etc. eingebaut, vgl. Abschnitt Der ‚globale Impact‘ eines Smartphones, S. 644ff.

>> Nicht berücksichtigt in dieser Rechnung: Die seltene Erde (!) Lithium und weitere Stoffe haben entdeckt, gefördert, transportiert, weiterverarbeitet, transportiert, zusammengesetzt zu werden. Die gesamte Infrastruktur dafür hat entwickelt, hergestellt, transportiert, zusammengesetzt, gewartet, repariert und ersetzt zu werden. Das alles kostet Energie.

  • „‚Um synthetischen Sprit für eine Strecke von 100 Kilometern herzustellen, brauchen wir die gleiche Menge Strom, die für 700 Kilometer in einem batterieelektrischen Auto reicht‘, sagt Fischedick“ (Ilg 2020), so Manfred Fischedick, Professor am Institut für Klima, Umwelt, Energie an der Universität Wuppertal.
  • Wird der Strom aus erneuerbaren Energien via Wasserelektrolyse in Wasserstoff und dann weiter in synthetische Kraftstoffe, d.h. in sog. strombasierte Kraftstoffe oder E-Fuels à la Power-to-Liquid für Lkw oder in E-Kerosin für Flugzeuge umgewandelt, haben wir „durch die doppelte chemische Umwandlung“ (Agora Verkehrswende 2018,11) „[i]n günstigen Fällen … [einen] Wirkungsgrad in der Größenordnung von 50 %; darin nicht enthalten sind natürlich Energieverluste bei der späteren Nutzung der Brennstoffe oder Kraftstoffe z. B. in Verbrennungsmotoren [z.B. in Lkws] oder Flugzeugturbinen“ (Energie-Lexikon 2020b).
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Betreibt man einen Auto-Verbrennungsmotor mit einem per Strom per Wasserelektrolyse erzeugten E-Fuel, haben wir einen Gesamtwirkungsgrad von 13% (vgl. Agora Verkehrswende 2018,11). Das E-Fuel mit niedrigem Wirkungsgrad treibt einen Verbrennungsmotor an, der seinerseits einen mageren Wirkungsgrad hat: „Das mühsam gewonnene Elektrobenzin landet dann in einem Motor, der zwei Drittel der enthaltenen Energie verpuffen lässt“ (Wüst 2018). Von der ursprünglich durch erneuerbare Energien generierten Energie bleibt als gerade mal rund 1/8 übrig. Für den Bereich ‚Pkw‘ ist das also keine Option.

  • Für Power-to-Liquid (PtL), d.h. z.B. für E-Kerosin bzw. synthetisches Kerosin ergibt sich auch nach Alexander Tremel, der für Siemens in diesem Feld forscht, ein Wirkungsgrad von ca. 50%: „Die Effizienz ließe sich zwar steigern, allerdings zu sehr hohen Kosten“ (zit. in Wüst 2018).
  • Auf Schiffen ist Platz für große Methan-Flüssigtanks, sodass der per Wasserelektrolyse erzeugte Wasserstoff nach Methanisierung als Methan (aus dem auch Erdgas besteht) als Biobrennstoff eingesetzt werden kann. Hier ist in der Praxis von einem Wirkungsgrad von 80% auszugehen (Energie Lexikon 2020c), was bei einem Wirkungsgrad von 70% für die Wasserelektrolyse einen kulminierten Wirkungsgrad von 56% ergibt (vgl. Öko-Institut 2014, 10). 
  • Der Hinweis auf eine mögliche zukünftige Effizienzsteigerung findet sich immer wieder in der Literatur – jedoch ist es: Zukunftsmusik. Wir haben bei aller Zuversicht hinsichtlich der zu ergreifenden Klimaschutzmaßnahmen mit dem zu rechnen, was wir haben.
  • Wie sehr man hier noch am Anfang steht, deutet das EU-Projekt namens Sun-to-liquid an, mit dem in der 100-Kilowatt-Pilotanlage bei Madrid mit Hilfe von eingefangener Sonnenwärme ein Liter synthetisches Kerosin pro Tag mit einem Wirkungsgrad von 5 bis 6% generiert wird (vgl. Grotelüschen 2019).

Zu berücksichtigen ist weiterhin:

  • Energiebilanzen enden (wie auch CO2-Bilanzen) i.d.R. an den Staatsgrenzen. Schiffe und Flugzeuge – ob nun für Urlaubsreisen oder hinsichtlich des Transportwesens – brauchen aber auch dann noch Energie, wenn sie die deutsche Bucht verlassen haben – und um den Globus fahren/ fliegen. Auch diese Energie hat künftig von Erneuerbaren Energien zu kommen.
  • I.d.R. wird üblicherweise des Weiteren davon ausgegangen, dass z.B. China weiterhin viele energieintensive Produkte nach Deutschland exportiert und der Welthandel etwa so weiter geartet wie bislang. Das ist bei einem Zeithorizont von 30 Jahren kein Selbstgänger, sodass sich der Energiebedarf aus diesem Grund ggf. noch weiter erhöhen könnte.


Zu berücksichtigen sind selbstredend auch künftige Effizienzgewinne:

  • So gehen Wissenschaftler*innen von diversen Einsparungen durch Effizienzmaßnahmen aus: „Es ist unfasslich, wie viel Kraft in so einer Kilowattstunde steckt“ (Weizsäcker 2011). Es braucht ja nicht gleich der Faktor Fünf zu sein, wie Ernst Ulrich von Weizsäcker und mit ihm der Club of Rome je nach Lesart visionär oder plakativ sein Ziel der Energieeffizenz proklamiert (vgl. ebd.).
  • Die Bundesregierung sieht ebenfalls Energieeffizienz und Energiesparen als wesentliche Faktoren für die Umsetzung der Energiewende: So will man auf Basis der sog. Energieeffizienzstrategie 2050 eine Minderung des Primärenergiebedarfes um 50% gegenüber der Zahlen des Jahres 2008 erreichen (BMWI 2019, 6).
  • Der WWF geht für 2050 hingegen von einer Zunahme des Energiebedarfs in Deutschland um 30% aus (vgl. WWF 2018, 61).

Sicher ist hier nur die Unsicherheit.

Selbstverständlich gibt es grundsätzlich ein erhebliches Energieeffizienz-Potenzial. Doch schon das Wort ‚Potenzial‘ deutet an, dass dieses nicht unmittelbar und verlässlich verfügbar ist, sondern vor allem in der Zukunft angesiedelt ist. Die genaue Höhe ist ebenfalls mehr als ungewiss. Daher kann der Aspekt ‚Effizienzsteigerung‘ nur begrenzt und nicht quantifiziert in diese Überlegungen eingehen.


Exkurs:

Hinzu kommt der Fachkräftemangel in Deutschland, der u.a. in den Bereichen ‚Energie‘ und ‚energetische Gebäudesanierungen‘ ein hochrelevanter Problemfaktor ist:

Maßnahmen zur Effizienzsteigerung sind stets mit Investitionen verbunden. Für all diese Maßnahmen werden Menschen benötigt, die die erforderlichen Maßnahmen mit ihrer Arbeitskraft umsetzen. Doch herrscht ein eklatanter Fachkräftemangel in Deutschland, der nicht ohne weiteres beseitigt werden kann.

  • Im Bereich ‚Gebäudesanierung‘, die maßgeblich zu den Effizienzmaßnahmen gehört, ist der Fachkräftemangel derart hoch, dass bei einer Sanierungsquote von 0,6% gemäß Senatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) (vgl. NDR 2020a) in Hamburg sämtliche Auftragsbücher voll sind, sodass es nebulös bleibt, wie die zur Erreichung der Klimaziele erforderliche Sanierungsquote von 2% erreicht werden kann, selbst wenn genug Geld da ist. Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt – und sogar wenn hier nachhaltig Abhilfe geschaffen werden sollte durch einen Attraktivitätsgewinn dieser Berufsstände wird es Jahre dauern, bis einer Mehr-als-Verdreifachung der Handwerker*innen Hamburgs umgesetzt ist. Ohne die erforderliche Sanierungsquote gibt es keinen ausreichenden Effizienzgewinn.
  • Das ist selbstredend nicht nur in Hamburg so: Schon der Fachkräftemangel-bedingte Sanierungsstau für sich genommen gefährdet die Einhaltung des Pariser Abkommens durch Deutschland.

Erforderlich ist eine komplette Neufassung der Arbeit in Deutschland:Entlang der Klimaschutz-Bedarfe ist zu eruieren, welche Berufe in Zukunft nach derzeitiger Einschätzung vornehmlich gebraucht werden – und diese Berufe sind in Berufsbild und Gehalt entsprechend attraktiv zu gestalten. Der Umkehrschluss gilt auch – gewissermaßen hat sich die Attraktivität von Berufen an der Systemrelevanz auszurichten.Das wird spannend, wenn z.B. ein*e Handwerker*in zu Recht mehr Geld erhält als ein*e Geldanlageberater*in: Wir brauchen vermehrt Menschen, die Häuser energetisch sanieren, Moore vernässen, Wälder pflanzen, Renaturieren, klimaerforderliches Stadtgrün pflegen sowie Humusaufbau betreiben.

So ist auch die Frage aufzuwerfen, inwieweit für o.g. Tätigkeiten tatsächlich stets und immer ein akademisches Studium sinnvoll ist – oder nicht doch eher eine Art ganzheitliche Ausbildung als Global Climate Worker?

Vielleicht ist es an der Zeit, die Universität wieder zum Ort der Grundlagenforschung und Lebensbildung zu machen.

Helikopter-Eltern kann ich persönlich nicht empfehlen, ihre Kinder auf die 2000er Überflieger-Leistungsgesellschaft vorzubereiten… Ich denke, symbolisch gesprochen, die Helikopter werden am Boden bleiben. Wer seinen Kindern einen Gefallen tun möchte, sollte sie m.E. nicht noch mal eben schnell zum sterbenden Barrier-Reef katapultieren, sondern sie zur Genügsamkeit, Resilienz und Flexibilität erziehen – ich rege an, die lokale Pfadfindergruppe bspw. einem Früherziehungs-Chinesisch-Kurs vorziehen.

>> s.a. Aspekt Künstliche Intelligenz, Digitale Gesellschaft und Arbeitsplätze, S. 457


Also: Effizienzgewinne sind ein ‚ungedeckter Scheck‘ und sollten daher m.E. nicht zu optimistisch in die Kalkulation einbezogen werden.

Zudem sind Rebound-Effekte zu befürchten, auch die zunehmende Digitalisierung legt zunehmenden Strom- und Energiebedarf nahe – und das bis auf Weiteres anzunehmende ‚Wachstum‘ frisst Einspareffekte ebenfalls oftmals auf.

Das größte und allein schon deshalb m.E. unumgängliche Energie-Einsparpotenzial besitzt derweil die Aufgabe des HöherSchnellerWeiter-Lebensstils sowie des Wachstumsdogmas.

Künftiger Zubau von Photovoltaik und Windenergie

  • Es ist nicht seriös zu ermitteln, wie viele Windenergie- und Photovoltaikanlagen benötigt würden, um den Energiebedarf eines klimaneutralen Deutschlands zu decken. Zur Erinnerung: Derzeit sorgen 29.456 Onshore-Windenergieanlagen und 1,7 Mio Solaranlagen gemeinsam mit weiteren Offshore-Windenergieanlagen für 6,6 Prozent und gemeinsam mit den weiteren EE für 17,1% des derzeitigen Endenergiebedarfs (vgl. S. 522).
  • Da die Installation einer massiven Zahl von Windenergieanlagen tatsächlich alternativlos ist, wird auch genug Platz vorhanden sein – das ist eine Frage der Erfordernis, nicht der Ästhetik oder der persönlichen Befindlichkeit.
  • Alle diese Windenergie- und Photovoltaik-Anlagen benötigen Ressourcen. Die Anlagen haben geplant, genehmigt, hergestellt, transportiert, aufgebaut und ihr Strom per zu installierendem Netzanschluss eingespeist zu werden, sie benötigen – vor allem Windenergieanlagen – Wartung und sie haben eine begrenzte Betriebsdauer, sodass sie irgendwann durch eine Neuanlage ersetzt sowie abgebaut und ressourcengenerierend recycelt zu werden haben. Positiv ausgedrückt schafft das alles: langfristige Arbeitsplätze. Weniger positiv ausgedrückt bedeutet das einen ungeheuren Aufwand, dem wir uns besser heute als morgen stellen.
  • Dieser zu tätigende (Energie-)Aufwand schmälert die sowieso stark ausgeschöpften CO2-Budgets Deutschlands und aller Industrieländer, was einmal mehr bedeutet, dass keine Zeit zu verlieren ist.


Fazit: Was bleibt?

  • E-Fuels & Co sind derzeit deshalb so populär, weil sie als Chance gesehen werden, das Leben einigermaßen auf dem Komfort-Standard von heute weiterleben zu können.
    • Ich denke, in diesem Abschnitt ist sichtbar geworden, dass die derzeitigen E-Fuels- und Wasserstoff-Offensive-Visionen bei näherer Betrachtung keineswegs die Perspektive eines bequemen ‚Weiter so‘ offerieren. Sie sind gleichwohl die beste Option, die wir haben.
  • Es ist heute nicht seriös davon auszugehen, dass Grüner Wasserstoff, synthetisches Kerosin und allgemein E-Fuels künftig ein Massentourismus-Reiseverhalten möglich macht, das dem heutigen auch nur entfernt ähnelt.
    • Angesichts der Herausforderungen, die vor uns stehen, hat das auch keine Priorität.
  • Diesen Abschnitt inhaltlich mit dem Abschnitt Grünes Fliegen? Vielleicht. Irgendwann. Bis auf weiteres: Eine Illusion‘ verbindend bleibt m.E. nur eine Folgerung: Flughafen in bisheriger Größe, Flugzeugindustrie (sorry, Finkenwerder), Massen-Luftfahrttourismus und Klimaschutz gemäß dem Pariser Abkommen schließen sich gemäß aktuellem Stand definitiv aus. Das ist für viele Menschen eine bittere Wahrheit, aber angesichts der Energiebedarfe ist das zurzeit und mittelfristig nicht anders realistisch umsetzbar.
  • Zitate wie das Folgende sind dann – so berühmt sie auch sein mögen – eher theoretischer Natur und somit nur bedingt hilfreich:
    • „Die Sonnenstrahlung, die die Erde in einem Jahr erreicht, könnte 10.000 Jahre lang den Energiebedarf der gesamten Menschheit decken“ (Knauer 2009).


Den Schlussgedanken eröffnet hier Graeme Maxton mit den Worten:

  • „Wollen wir unser verbleibendes CO2-Kontingent, das wir an anderer Stelle für kniffeligere Aufgaben brauchen werden, mit ineffizienter Braunkohle verplempern?“ (2020, 165).


Dieser Punkt kann gar nicht stark genug betont werden:

Der globale Infrastruktur-Umbau zur Klimaneutralität wird selbst alles andere als klimaneutral verlaufen.

Man mache sich klar, wie viel Öl/Kohle/Gas noch dafür eingesetzt werden wird, um sowohl die Industrienationen als auch den Globalen Süden auf eine klimaneutrale EE-Infrastruktur umzustellen.

Und das ist ein wichtiges Argument dafür,

  • sofort, jetzt, heute mit der Umstellung zu starten, um das Budget nicht allein schon durch die Sozial-ökologische Transformation inkl. der Energie-, Mobilitäts- und Agrarwenden zu sprengen sowie
  • allgemein im großen Stil Suffizienz zu betreiben, denn sie allein wirkt konkret unmittelbar klimaeffektiv.


Suffizienz bedeutet „die Reduktion von Rohstoff- und Energieverbrauch durch Reduktion von Konsum- oder Komfortansprüchen“ (Paschotta 2019). Ein ‚Weniger‘ ist im Unterschied zu sämtlichen Reformbemühungen und technischen Lösungen sofort umsetzbar und zeitigt umgehend Ergebnisse.


Erdgas, LNG und die ‚Wasserstoffstrategie‘

Erdgas = Methan

1kg Methan (CH4) verbrennt zu 2,74 kg CO2 sowie zu Wasser (vgl. Energie-Lexikon 2010)


CO2-Emissionen verschiedener fossiler Brennstoffe
Naturgas = 0,2 kg CO2/kWh | Heizöl = 0,28 | Steinkohle = 0,34 | Braunkohle = 0,36
(vgl. Quaschning 2015)


Erdgas gilt als die am wenigsten schlimme Form der fossilen Energieträger.

  • Obige Tabelle bestätigt das zunächst, weil sie ausschließlich den Energieumwandlungsprozess und die damit verbundenen Emissionen betrachtet. Und nur dies interessiert für die offizielle/ formale Klimabilanz von Kraftwerken bzw. von Deutschland.
  • Doch die Reduktionen, die durch die mit Millionengeldern geförderten Umbauten von Kohle- zu Gaskraftwerken in Deutschland entstehen (werden), sehen nur und ausschließlich auf dem Papier gut aus:

    Denn:
    • Bei der Förderung von Erdgas – also von Methan – entweicht eine relevante Menge Gas in die Atmosphäre: Das sog. Methanschlupfloch.
    • Dies trägt deutlich zu den Methanemissionen bei, erscheinen jedoch nicht in den Klimabilanzen Deutschlands. Aber sie sind da. Und es geht nicht um papierende Rechenkünste, sondern um Physik.
    • Greenpeace Energy geht von einer nicht eingerechneten Vorkettenemission von 25% der Gesamtemission aus (2020, 3), was u.a. am erst unlängst erkannten „Umfang von Flaring (Abfackeln von Erdgas) und [an den] Methanemissionen bei der Erdgasförderung [liegt]“ (ebd., 36).
      • Flaring setzt rund 300 Mio t CO2 frei = ca. 1% der globalen CO2-Emissionen und darüber hinaus Methan, maßgeblich befördert durch Öl-Fracking, bei dem auch das eingeschlossene Gas freigesetzt wird.

Hinzu kommen Fahrlässigkeit und Unfälle.

  • Der Spiegel erwähnt dazu, dass „an der Quelle [in Ohio] innerhalb von 20 Tagen ungefähr 120 Tonnen Methan pro Stunde ausgetreten [seien. Bei einem anderen Leck wurden i]nnerhalb von 112 Tagen … in Kalifornien rund 100.000 Tonnen Methan freigesetzt“ (2019f.).
    • Um das Problem im Griff zu bekommen, hat der 2020 amtierende US-amerikanische Präsident „jüngst angekündigt, für Frackingunternehmen in seinem Land die Regeln zum Methanschlupf zu lockern“ (Fischer et al. 2020) – damit kann ab sofort die bislang zwei Mal jährlich erfolgende Untersuchung auf Umweltgefahren und undichte Stellen nunmehr unterbleiben (vgl. Kriener 2020, 8).


Doch es bedarf keiner Unfälle, damit Erdgasförderung zum Problem wird, der Routinefall selbst ist bereits das Problem:

  • In den USA sind Bohrlöcher oftmals 4.000 Meter tief, die nur schwer abzudichten sind.

    Uwe Dannwolf, Chef der Beratungsgesellschaft RiskCom erklärt: „‚Die Zementierung gelingt häufig nicht gut‘… [a]uch weil die Löcher aus Kostengründen oft zu klein gebohrt werden, kann sich der Zement rund um die Förderrohre nicht gut verteilen“ (Fischer et al. 2020).
    Gemeint ist, dass auf diese 4 km Länge/Tiefe bezogen der Zement durch den eher knapp kalkulierten Abstand zwischen Förderrohr und Lochwand schlicht ungleichmäßig und nicht verlässlich luftabschließend nach unten durchrutscht, sodass sich in der Folge Hohlräume bilden können.

    Laut Fischer et al. zeigen Satellitenmessungen, dass die Methanbelastung bspw. in Turkmenistan, einem Land, das viel Erdgas produziert, „sehr groß ist“ (ebd.).

    Und dann ist da noch das Problem mit den Methanschlupflöchern von verlassenen, vorschriftsmäßig und damit vermeintlich ‚sicher verschlossenen‘ Förderstellen:
    • „Einmal geöffnet, kann das Gas hier jahrzehntelang entweichen und somit ein Vielfaches der Emissionen verursachen, die während der Förderung selbst anfallen. So zu beobachten etwa im venezolanischen Maracaibo-See. Die Gegend war eine der ersten großen Ölförderregionen des Landes. ‚Heute blubbert es hier überall im See‘, erzählt Matthias Reich, Professor für Bohrtechnik an der Bergakademie in Freiberg“ (Fischer et al. 2020).
    • Auch aus einem Teil der mehr als 15.000 alten Bohrlöcher der Nordsee „treten erhebliche Mengen des Treibhausgases Methan aus… [E]ine neue Studie des Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel[, die] knapp 1.700 … Bohrlöcher[] auf einer Fläche von der Größe Sachsen-Anhalts [untersuchte,] ergab…, dass in diesem Bereich 900 bis 3700 Tonnen Methan austreten können“ (SZ 2020).
      • Das Entscheidende hier ist, dass „das Gas aus flachen Gastaschen [stammt], die weniger als 1.000 Meter tief im Meeresboden liegen und gar nicht Ziel der ursprünglichen Bohrungen gewesen waren“ (ebd.).

>> vgl. Aspekt Flaming, S. 517 und Fußnote zum Thema Pipeline- und Gasleitungslecks auf der gleichen Seite.


Gefracktes LNG ist letztlich Teil der America-First-Taktik des amtierenden US-Präsidenten, der im Bereich ‚Fossile‘ ‚Jobs, Jobs, Jobs‘ schaffen wollte. Und ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung mit ihrem LNG-Terminal-Ausbau den gegen die Pipeline ‚Nord Stream 2‘ plärrenden US-Präsidenten bei Laune halten möchte.


Erdgas ist alles in allem Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Denn im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Erdgas neu als Brückentechnologie zu etablieren kann nicht sinnvoll sein: Deutschland hat 2035/37, der Planet spätestens 2050 klimaneutral zu sein, sodass die entsprechenden Infrastrukturen lange vor ihrem Laufzeitende (und damit gegen den Willen der Betreiber) wieder stillgelegt werden müssen – die Menschheit schafft sich hier vor allem ein: zusätzliches Problem.

  • „‚Es ist ein Irrglaube, Erdgas wäre die Lösung‘, sagt Niklas Höhne vom Kölner New Climate Institute. Die globalen CO2-Emissionen – also auch die aus der Verbrennung von Erdgas – müssten bis 2050 auf null sinken“ (Spiegel 2019).


Brückentechnologien sind Problemverlagerungen und Zwischenlösungen, für die wir keine Zeit haben.

Für Brückentechnologien fließen unglaublich viel Geld, Zeit, Energie und Know-how in die falsche Richtung.

Brückentechnologien sind meist additiv: Sie bilden eine weitere Infrastruktur neben der Vergangenheits- und der Zukunftstechnologie – was sie besonders kritisch macht hinsichtlich der Reboundeffekte.

Brückentechnologien sind Altmaier’sche Tricks, um weiterhin Geld zu verdienen, um das eigentliche Problem nicht anpacken zu müssen und um zu suggerieren, man würde aktiv. Sie lenken von der eigentlichen Ursache ab: Wir haben von der Idee, es könne weiter so gehen bzw. HöherSchnellerWeiter könne noch irgendwie Bestand haben, endlich loszukommen.


Nebenbei: Nord Stream 2 ist auf eine Betriebsdauer von „mindestens 50 Jahren ausgelegt.“ (Rehmsmeier 2019)


Derzeit gibt es dennoch – global und vor allem auch in Deutschland – Bestrebungen, Erdgas stärker (vgl. ‚Nord Stream 2‘(1), ‚Hamburger Klimaplan‘) und im Falle des LNG (liquefied natural gas, vgl. geplante LNG-Terminalanlage im Hamburger Hafen(2)) neu und verstärkt zu etablieren.

Details: Erläuterungen zu (1) und (2)

(1) ‚Nord Stream 2‘ ist eine international politisch und ökologisch hochumstrittene, noch im Bau befindliche Pipeline in der Ostsee, die ab 2021 Erdgas von Wyborg in Russland zur deutschen Küste bei Greifswald transportieren soll (vgl. Dornblüth et al. 2020). Diese Pipeline wird mittels erheblichem politischen Druck vonseiten der derzeitigen US-Administration bekämpft, möchte man doch das eigene LNG möglichst konkurrenzlos über den Atlantik verschiffen (vgl. Stephanowitz 2019).

(2) Die German LNG Terminal GmbH plant den „Bau, Besitz und Betrieb eines Import-Terminals für verflüssigtes Erdgas in Norddeutschland (Eigendarstellung: German LNG 2018), mutmaßlich mit dem Standort in Brunsbüttel. Ein weiterer zusätzlicher Standort könnte mit Stade ebenfalls in der Umgebung von Hamburg liegen (vgl. Spiegel 2019e). Entsprechende Terminals entstehen derzeit „für Dutzende von Milliarden Dollar … an der US-Küste“ (Wettengel 2020, 9) – und diese werden gespeist durch das Keystone-XL-Pipeline-System, vgl. Fußnote S. 519.

Aus Erdgas bzw. LNG wird heute vielfach Wasserstoff hergestellt.

  • Grauer Wasserstoff nennt man den heute i.d.R. verwendeten Wasserstoff, der aus Erdgas unter Emission großer Mengen CO2 hergestellt wird (vgl. Greenpeace Energy 2020, 5).
  • Als ‚blau‘ wird Wasserstoff bezeichnet, wenn das bei der Herstellung von grauem Wasserstoff entstehende CO2 zum größeren Teil über das (selbst große Mengen an Energie verbrauchende) Carbon Capture und Storage (CSS) genannte derzeit nicht ausgereifte Geoengineering-Verfahren abgeschieden und unterirdisch eingelagert wird (vgl. ebd.).
  • Grüner Wasserstoff entsteht bei der Wasserelektrolyse und ist, so der Strom mit erneuerbaren Energien produziert wurde, emissionsfrei (vgl. Abschnitt Energiewende in Deutschland, S. 524).


Nun soll also in Deutschland gemäß ‚Nationaler Wasserstoffstrategie‘ vornehmlich grüner Wasserstoff die Energiewende weiter befördern und auf ein neues Niveau zu heben.

  • „Ob der erste grüne Wasserstoff in Deutschland im Industriemaßstab schon vor 2030 produziert werden könne, bezweifelte [Stefan] Kaufmann[, der gerade ins Amt gekommene Innovationsbeauftragte für den Förderschwerpunkt ‚grüner Wasserstoff‘]. Das gesamte Projekt ‚Wasserstoffrepublik‘ sei eher auf einen Zeitraum von zwanzig Jahren ausgelegt“ (Ronzheimer 2020, 18).

Ein Großteil des Wasserstoffs soll dabei aus diversen afrikanischen Staaten importiert werden – die Machbarkeit solcher Projekte würde gerade für 31 afrikanische Staaten geprüft (vgl. ebd.).

Bauchmüller et al. stellen dazu fest:

  • „Als die Bundesregierung kürzlich ihre „nationale Wasserstoffstrategie“ verabschiedete, taxierte sie den Bedarf auf 90 bis 110 Terawattstunden. Doch nur für 14 Terawattstunden sah sie Potenzial im Inland. Der Rest müsste aus dem Ausland kommen. Und auch im jüngsten Konjunkturpaket findet sich der Wasserstoff-Import wieder. Zwei Milliarden Euro verbuchte die Koalition für ‚außenwirtschaftliche Partnerschaften‘“ (2020).
  • „Doch in der Region [Congos], in der das Kraftwerk entstehen soll, macht das neue Engagement aus Deutschland eher Sorgen. Bis zu 37 000 Dorfbewohner könnten hier, 256 Kilometer westlich der Hauptstadt Kinshasa, ihr Zuhause verlieren“ (ebd.).
  • „Unsere Unfähigkeit, den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen, darf nicht dazu führen, dass im Kongo ein Riesenstaudamm ganz Dörfer und Ökosysteme zerstört, um Wasserstoff für den deutschen Markt zu produzieren“ (Averbeck/Graichen 2020, 25) (Die Autorinnen wurden von der Bundesregierung in den nationalen Wasserstoffrat berufen“ (ebd.)).
  • Und: Wollten wir nicht unabhängiger werden von Energie aus Drittstaaten?


Zurück zum LNG. Fassen wir hier noch einmal zusammen:

Gefracktes LNG ist unkonventionelles Erdgas, dass unter erheblichen Umweltschäden und Methan-emittierend produziert, unter gewaltigen Energieverlusten mit einer noch aufzubauenden gigantischen Infrastruktur um die halbe Welt geschifft wird, um dann (unter erheblichen Energieverlusten) in Wasserstoff umgewandelt zu werden und im Jahre 15 bzw. 17 vor erforderlicher Klimaneutralität Deutschlands (vgl. S. 23):

  • von Altmaier & Co als zukunftsfähige Brückentechnologie gehyped wird.

Das alles sind Investitionen, Knowhow und Aufmerksamkeit, die eigentlich einer anderen Branche auf das äußerste fokussiert gebühren: den erneuerbaren Energien.


Noch eine abschließende Randbemerkung:

Im Großen wie im Kleinen gilt: Eine Heizung, die jetzt und in den nächsten Jahren verbaut wird, läuft auch 2050 noch.


Nach der Darstellung der von der aktuellen Koalition und namentlich insbesondere der Union geförderten ‚Zukunftsbrückentechnologien‘, kommen wir nun zu den von der aktuellen Koalition und namentlich insbesondere der Union eher zurückgedrängten erneuerbaren Energien – und hier stellvertretend insbesondere auf die:


„Das Thema Klimaschutz ist für mich ein Herzensanliegen.“ Peter Altmaier, 2012, zit. in SZ, 31.5.2012

Windkraft

  • 30.000 Windkrafträder gibt es in Deutschland ‚an Land‘ (vgl. Witsch 2019).
  • „Bis 2030 will die Bundesregierung den Anteil erneuerbarer Energien am Strommix von derzeit 38 Prozent auf 65 Prozent erhöhen. Den Großteil davon soll Windenergie schultern“ (Witsch 2019).

Aber:

  • „Die durchschnittliche Dauer von Genehmigungsverfahren hat sich nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Für jedes Vorhaben fordern die Behörden eine Flut von Gutachten ein, um sich gegen mögliche Klagen abzusichern. Und geklagt wird mittlerweile so gut wie jedes Projekt, von betroffenen Bürgern oder Umweltverbänden“ (Bruhns et al. 2020).
  • Beispielsweise wurden 2019 „deutschlandweit 325 Windturbinen mit [insgesamt] mehr als 1.000 Megawatt (MW) Leistung beklagt“ (Fachagentur Windenergie an Land 2019) – was nach Angaben des Spiegel „der Leistung von drei kleineren Kohlekraftwerken entspricht“ (Bruhns et al. 2020) – oder eben dem 2020 ans Netz gegangenen Steinkohlekraftwerk Datteln IV mit seinen 1.000 Megawatt (vgl. Handbuch S. 68).
  • „Kaum mehr ein Windpark wird gebaut, ohne beklagt zu werden. Über 1.000 Bürgerinitiativen in ganz Deutschland engagieren sich mittlerweile gegen den Bau neuer Anlagen – auch vor Gericht“ (Witsch 2019).
  • Doch ist es so:
    • „Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstitut forsa im Auftrag der Fachagentur Wind ergab…: Selbst unter den Bürgern, die in der Nachbarschaft ein Windrad haben, sind drei Viertel damit einverstanden“ (Pinzler 2019).
    • Die von Altmaier und Seehofer am 20.9.2019 im ‚Eckpunkte-Papier für das Klimaschutzprogramm 2030‘ (vgl. Bundesregierung 2019) angekündigte und vom ‚Klimakabinett‘ so beschlossene bundesweite Abstandsregel von 1.000 Metern zu (Kleinst-)Siedlungen (‚Splittersiedlungen‘) würde nach Ansicht des Greenpeace-Chefs Martin Kaiser die Energiewendebeerdigen.
      • Auch der Fraktionschef der Grünen, Anton Hofreiter, bemüht das friedhöfliche Bild und konstatiert, „[d]er Entwurf sei ‚ein weiterer Sargnagel für die Windkraft‘“.
      • „‚Mit diesem Gesetz wird die Axt an den Grundpfeiler des Klimaschutzes gelegt‘, sagte WWF-Klimaexperte Michael Schäfer. Zumal die Regeln nicht nur neue, sondern auch bestehende Anlagen träfen. In den nächsten Jahren erreichen Tausende Windräder ihre Altersgrenze. Da viele ältere Anlagen im 1.000-Meter-Radius liegen, wäre ihr Ersatz [– das sog. Repowering –] unmöglich“ (Bauchmüller 2019).
      • Sturm gegen die Abstandsregel formiert sich auch von Seiten des Deutschen Gewerkschaftsbundes DBG, des Energieverbandes BDEW, des Windenergieverbandes BWE, des Verbandes Kommunaler Unternehmen VKU, des Maschinenbauverbandes VDMA – und sogar und insbesondere auch von Seiten des Industrieverbandes BDI. Sie alle unterschrieben einen Brandbrief, in dem es u.a. heißt:
        „‚Die geplanten Einschränkungen der Windenergie an Land‘ stellten ‚die Realisierbarkeit sämtlicher energie- und klimapolitischer Ziele der Bundesregierung infrage‘“ (zit. in Spiegel 2019a).
    • „Das Umweltbundesamt fürchtet, dass eine Anwendung des Mindestabstands von 1.000 Metern die Fläche, auf der nach jetzigem Stand Windräder gebaut werden dürfen, um 20 bis 50 Prozent verkleinert. ‚Ein Zubau an Windenergiekapazität gegenüber dem Status quo ist auf der verbleibenden Fläche faktisch nicht möglich‘, heißt es in einer Untersuchung des Umweltbundesamts“ (Spiegel 2019b).
  • Im November 2019 beschließt die GroKo, die umstrittene Abstandsregel sowie weitere zu regelnde Aspekte des Ausbaus der erneuerbaren Energien aus dem ansonsten weitgehend fertiggestellten Kohleausstiegsgesetz herauszulösen und zu einem späteren Zeitpunkt in einem eigenen Gesetz zu verankern (vgl. Spiegel 2019c).
  • Im Mai 2020 – also etwa acht Monate nach den ersten Ankündigungen – haben sich die Koalitionspartner darauf verständigt, „man werde ‚den Ländern die Möglichkeit einräumen, einen Mindestabstand von bis zu 1.000 Metern festzulegen‘… Die Union hat damit zumindest auf dem Papier einen Mindestabstand eingeführt“ (Kreutzfeldt 2020, 8). Was als relevante Siedlung, von der der Abstand zu wahren ist, eingeordnet wird, ist entgegen voriger Gesetzesentwürfe nunmehr doch ebenfalls unbestimmt und somit Ländersache (vgl. ebd.).
  • Der Schaden, den dieses nunmehr teilweise verpuffte Gesetzesvorhaben angerichtet hat, ist immens. Das Bundeswirtschaftministerium, welches auch für Energie und – daran sei hier kurz erinnert – damit auch für erneuerbare Energien zuständig ist, hat, wie seinerzeit durch das Rumspielen am EEG (vgl. Fußnote S. 522), durch Festlegung eines deinvestierend wirkenden (im Juni 2020 doch noch abgesagten) Solardeckels(1) sowie jetzt mit der vielmonatig angekündigten ebenfalls deinivestierend wirkenden Abstandsregel in der EE-Branche Fakten geschaffen, den Industriestandort Deutschland geschwächt, die Energiewende massiv beschädigt, verzögert und weiter verschleppt, die Zukunftsfähigkeit verringert und jede Menge Arbeitsplätze vernichtet.
  • Es ist explizit festzuhalten, dass ja ausschließlich das faktische Verbot des Neubaus von Windkraftwerken vom Tisch ist. Für die Branche wurde nichts getan.

Spielen Sie mal gedanklich die gleiche Politik mit anderen, alteingesessenen Industriebranchen durch, z.B. der Autoindustrie. Dieses Gedankenspiel ist: undenkbar.

Erläuterungen zu (1) 'Solardeckel'

Der sog. ‚Solardeckel‘ wurde bei der Novelle des EEG 2012 eingeführt und besagte, „dass die Förderung neuer PV-Anlagen endet, sobald die Summe der nach §19 EEG installierten, geförderten Photovoltaik-Anlagen in Deutschland eine gemeinsame Leistung von 52 Gigawatt überschreitet. Prognosen zufolge wäre dieser Solardeckel im Herbst 2020 erreicht worden. Anlagen bis 750 kWp (Kilowatt-Peak), die nach dem Erreichen dieser Grenze in Betrieb gehen, hätten dann keine garantierte Einspeisevergütung für den Solarstrom erhalten, der in das öffentliche Stromnetz eingespeist wird“ (EON 2020).

… 100% durch umfassenden Faktencheck belegt. | https://youtu.be/yduqBkbroL4 (Abrufdatum 2.12.2020)

Ein Blick in die Statistik zum Zubau von Windkraft:

2015 = 3.700 Megawatt Windleistung neu installiert
2016 = 4.600 Megawatt | 2017 = 5.300 Megawatt | 2018 = 514 Megawatt (Balser et al. 2019)


2014 = 1.766 Windräder | 2015 = 1.368 | 2016 = 1.624 | 2017 = 1.792 | 2018 = 743

2019, erstes Halbjahr = 86 neu aufgestellt (laut taz: Kreutzfeldt/Pötter 2019)
2019, erstes Halbjahr = 35 „unterm Strich … in Betrieb genommen“ (laut Pinzler et al. 2019, 3)


2018: 8 installierte Windkraftwerke in Bayern (vgl. Dohmen et al. 2019, 17)

>> Wie absurd es in Deutschland in Sachen ‚Windkraft‘ zugeht, zeigt das Beispiel von dreißig Windrädern in Bayern, die genehmigt sind und trotzdem nicht oder bis auf weiteres nicht gebaut werden: Diese Windkrafträder wurden genehmigt, bevor das sog. 10-H-Gesetz (auch 10H-Regel genannt) in Bayern in Kraft gesetzt war.


Warum wird der Zubau weniger statt mehr, wie angesichts einer umfassenden Energiewende zu erwarten wäre?

  • „2017 [wurde] das System der Vergütungen verändert: Statt fester Zahlungen für jede gelieferte Kilowattstunde sollten Windpark-Projekte nun in Konkurrenz treten. Wer also eine Förderung für sein Windrad wollte, musste bei einer Ausschreibung mitbieten. … [Dieses als kostensenkend beworbene] neue System hatte Nebenwirkungen. Zum einen löste es ein [sog.] Dezemberfieber in der Branche aus, weil möglichst viele noch zu den alten Konditionen bauen wollten – so kam es zu den enormen Zuwächsen der Jahre 2016 und 2017. Die wiederum riefen Windkraft-Gegner auf den Plan – und mit ihnen unzählige Klagen gegen neue Windparks“ (Balser et al. 2019).

>> Ebenfalls nicht zielführend ist, dass der Anschluss von Windkraftanlagen gesondert, d.h. extra und einzeln genehmigt werden muss. „Windparkbetrieb und Netzanschluss befinden sich in Deutschland in verschiedenen Händen… Schon der Anschluss eines normalen Solarparks kann zu Geduldspiel werden. In Spanien wird mit der Baugenehmigung zugleich die Netzverbindung garantiert“ (Dohmen et al. 2019, 17). Alles andere macht m.E. auch keinen Sinn.


Windkraft: Gegner*innen

Nein, es ist nicht ideal, eine Windenergieanlage vor das Dorf gestellt zu bekommen.

Hm, andere Dörfer – ganze Landschaften – wurden der Braunkohle geopfert. Manche Menschen leben seit Jahren mit der Ungewissheit, ob ihr Dorf quasi als letzte Zuckung der Braunkohleförderung nicht noch geräumt werden wird. Andere Menschen wiederum wohnen in unmittelbarer Nähe eines Atomkraftwerks und haben auffällig viele Leukämiefälle in der Gegend. Manche Menschen müssen mit einem Zwischen- oder Endlager für Atommüll in der Nachbarschaft ‚leben‘. Andere wiederum finden es wenig lustig, dass die Wände in ihrem Haus tiefe Risse bekommen, weil unter ihrem Haus alte Steinkohle-Stollen zusammensacken. Die Liste könnte weiter fortgesetzt werden mit neuen Flughafenstartbahnen, die quasi an die eigene Grundstücksgrenze stoßen, mit Einflugschneisen-Lärmbelastung, mit stinkenden Klärgruben oder Megaställen, Autobahnen-Lärm und -Abgasen, ICE-Trassen etc. pp.

Aber ein Windrad? Versehen mit einer reichlich üppigen Abstandsregel? (Es müssen ja nicht gleich 1.000 Meter zu Splittersiedlungen sein, wie es im Herbst 2019 der Altmaier’sche Gesetzentwurf vorsah.)

  • Windkraft-Verweigerung im Kontext der existenziellen Klimakrise?
  • Vor dem Hintergrund, dass uns der Planet ohne massive Energiewende Feuer unterm Hintern macht?
  • Ist ein Windrad vor den Toren des Dorfes ein zu großes Opfer für die Kinder und Enkel*innen?

Wohl (hoffentlich) nicht. Also:

Worum geht es hier eigentlich?


Gängige Argumente gegen Windkraftwerke sind:

Windkraftwerke – eine Todesfalle für Tiere?

  • Michael Diestel, Windkraftbefürworter, hat hier eine deutliche Meinung:
    • „Man verweist immer wieder auf das Sterben der Vögel. Aber wenn es hier wirklich um Artenschutz ginge, müssten wir alle Straßen schließen“ (Witsch 2019).
  • Kopatz fügt hinzu:
    • „Tatsächlich kommen jährlich zwischen 10.000 und 100.000 Vögel um … die Zahl relativiert sich, wenn man bedenkt, dass pro Jahr schätzungsweise 18 Millionen Vögel an Glasscheiben zu Tode kommen. Hohe Verlustzahlen entstehen auch an Freileitungen und beim Vogelschlag an Straßen und Bahnstrecken…“ (2019, 178-179).
  • Benjamin Fredrich beruft sich auf Nabu-Zahlen, wenn er in seinem Katapult-Buch 102 grüne Karten zur Rettung der Welt schreibt:
    • „[B]ei Windkraftanlagen sterben die meisten Vögel, weil sie gegen den Mast prallen, und nicht, weil sie vom Rotor getroffen werden. Wenn Windkraftanlagen farbig gestrichen werden, fliegen deutlich weniger Vögel dagegen“ (2020, 34).

Vögel kommen in Deutschland zu Tode durch:

Windenergieanlagen (maximal 0,1 Mio) | Jäger*innen (maximal 1,2 Mio) | Stromleitungen (maximal 2,8 Mio) | Autos und Züge (maximal 70 Mio) | Hauskatzen (maximal 100 Mio) | Glasscheiben (maximal 115 Mio) (vgl. ebd., 34-35)


Windkraftwerke erzeugen Infraschall?

Ein Argument gegen Windkraftwerke ist tiefenfrequenter Schall <20Hz, der sog. Infraschall. So berichtet das ZDF, dass „sich aus der Wissenschaft und Medizin die Hinweise [mehren], dass Infraschall die Gesundheit beeinträchtigen kann“ (Hermes 2018). Wer allerdings jemals auch nur eine Nacht in einem Einfamilienhaus unweit einer Hauptverkehrsstraße verbracht hat, weiß, dass auch vorüberdonnernde Lastwagen genau diesen tiefen Schall, den man teilweise ausschließlich körperlich spürt, verursachen. So gesehen kann man sagen: Ja, das ist nicht schön, betrifft aber unglaublich viel mehr Menschen, als Nachbar*innen von Windenergieanlagen.

  • Das Ärzteblatt kommentiert: „Windparks erzeugen Infraschall – Meeresrauschen auch.“ (Lenzen-Schulte et al. 2019)
  • Im September 2020 kommt eine neue Studie zu dem Schluss: „[W]er Infraschall vermeiden will, müsste künftig aufs Autofahren verzichten“ (Wille 2020).

>> Und weiter: „Eine dreieinhalbstündige Autofahrt beschert den Insassen genauso viel Infraschall-Energie wie 27 Jahre Aufenthalt in 300 Metern Abstand zu einem Windrad“ (Wille 2020).

Tatsächlich belegen „Studien mit Placebo-Infraschall die durch negative Erwartungshaltung beeinflussten Symptome … Nocebo-Effekte“ (ebd.): Ein typischer Nocebo-Effekt tritt ein, wenn man bei einem neuen Medikament den Beipackzettel liest und daraufhin meint, die dort beschriebenen Nebenwirkungen zu spüren. Das hier zitierte Ärzteblatt bestätigt auch obige Feststellung des ZDF, weist aber darüber hinaus darauf hin, dass auch Beschäftige im Umfeld von landwirtschaftlichen Maschinen und Flugzeugen betroffen sind und schließt mit der Feststellung, dass „es dringend epidemiologischer Studien [bedarf], die das [Thema] genauer untersuchen“ (ebd.; zu ‚Nocebo‘ s.a. auch Abschnitt Glaubenssätze dechiffriert: Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen, S. 390).

Mir persönlich drängt sich der Eindruck auf, dass Infraschall eigentlich ein Sachverhalt ist, der in unserer immer weiter anthropogen gestalteten Welt bislang überwiegend städtisch wohnende Bundesbürger*innen und nun auch vermehrt Menschen auf dem Land – z.B. durch Windenergieanlagen – betrifft.

Update 2022:

Die Diskussion rund um Infrasschall wäre also selbst bei Richtigkeit des Sachverhaltes müßig und überflüssig. Doch sind sogar die der Diskussion zugrundliegendenen Zahlen falsch, was die Diskussion endgültig zur Nicht-Diskussion macht: Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) veröffentlichte 2005 eine Studie, in der ein einziger, im Ergebnis jedoch massiver Rechenfehler vorlag und der dafür sorgte, dass die Infraschallberechnung um Potenzen zu groß geriet. Und gleichwohl diente genau diese Studie über den Zeitraum von etwa 15 Jahren als ‚Diskussionsgrundlage‘.
Als der Fehler endlich entdeckt wurde, wehrte man sich mit Händen und Füßen und drohte mit der Rechtsabteilung – eine gute Fehlerkultur sieht anders aus.

  • „Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier von der CDU hat sich jedenfalls inzwischen ausdrücklich für die Arbeit der Bundesanstalt entschuldigt, die ihm unterstellt ist: ‚Es tut mir sehr leid, dass falsche Zahlen über einen langen Zeitraum im Raum standen‘, sagte er. Die Akzeptanz von Windanlagen an Land habe ‚ein Stück weit‘ unter den falschen Zahlen gelitten.“ (Storch 2021, vgl. Spiegel 2021)

Was für eine Untertreibung.


Windenergieanlagen – ziehen das Grundwasser in Mitleidenschaft?

Ein weiteres Argument von Windkraftgegnern ist, Schmieröle könnten ins Grundwasser gelangen oder gar Chrom.1

  • Dazu ist hier festzuhalten, dass eine Recherche mit den Suchwörtern ‚Windkraft‘ und ‚Grundwasser‘ ergibt, dass weder der Spiegel, die Zeit noch die Süddeutsche Zeitung sich dieses Argument in den letzten zehn Jahren zu eigen gemacht haben2.
  • Umgekehrt ist es so, dass der Nichtausbau der Windenergie bedeutet, dass „der [Braunkohle-] Tagebau Sulfat und Chlorid [entlässt], ins Oberflächenwasser Eisen, was die Flüsse ‚verockert‘ und, so das Umweltbundesamt, ‚aquatische Lebensgemeinschaften‘ stört“ (Stöcker 2019).


Wenn die Besorgnis ums Grundwasser doch immer so groß wäre, wären wir wohl alle mindestens wenig-Fleisch-essende Flexitarier, denn die größte und überaus reale Bedrohung für unser Grundwasser geht von der Massentierhaltung aus. 


>> vgl. Aspekt Zu viele Tiere auf zu wenig Raum >> Trinkwasserschädigung durch Nitrat, S. 591


Keines dieser Argumente ist m.E. stichhaltig.

Da stellt sich nochmals und dringender die Frage:

Worum geht es eigentlich? Um Bevormundung? Um Gerechtigkeit?
Um ein „Warum ausgerechnet wir?“

„Nimby“ – „But not in my backyard.“

Ist nicht die Frage, wie ich darauf reagiere, wenn mich eine Veränderung direkt betrifft, der ‚Lackmustest‘ (Gradmesser/Prüfstein), wofür ich wirklich stehe im Leben?


Wäre es nicht sinnvoller, dafür zu protestieren, dass das Windrad durch entsprechende Stromtrassen und Zwischenspeicher angemessen in das deutsche Stromnetz eingebunden wird – statt dagegen zu sein, dass es gebaut wird?

Details: Erläuterungen zu (1) und (2)

(1) Beliebt ist auch die Befürchtung, das Windkraftwerk könne umfallen. „Wie klein die Gefahr sei, sagt Geschäftsführer [Wolfram] Axthelm[ vom Bundesverband Windenergie], zeige schon die Versicherungsprämie für Haftpflicht. Ein Windrad sei in dieser Hinsicht kaum teurer als ein Moped“ (Dohmen 2019, 20).

(2) Anmerkung: Die SZ ist die einzige der drei Zeitungen, die diesen Aspekt zumindest erwähnt, in dem sie im Zusammenhang mit einem lokalen Streit um den Aufbau von Windkrafträdern im Jahr 2016 darauf hinweist, dass ein Gutachten im geschilderten Fall diese Problematik nicht gänzlich ausschließen konnte, weil in diesem Fall der Grundwasserspiegel möglicherweise so hoch sei, dass das Grundwasser an die Fundamente der betreffenden geplanten Windkrafträder heranreiche, vgl. Bögel, Wieland (2016): „Naturschutz: Wasser gegen Wind“. in: Süddeutsche Zeitung, 12.7.2016, online unter https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ebersberg/naturschutz-wasser-gegen-wind-1.3075436/ (Abrufdatum 10.12.2019).


Sind nun all diese Bürger*innen generell gegen Windkraft und damit letztlich auch gegen Klimaschutz? Geht es wirklich (ausschließlich) um das Thema Not in my Backyard?

In meiner Wahrnehmung sind diese Aspekte ‚Vogelschutz‘, ‚Infraschall‘, ‚Grundwasser‘ lediglich Hilfsargumente von Bürger*innen, die weniger etwas gegen Windenergieanlagen, sondern in erster Linie etwas gegen Fremdbestimmung haben.


Solche Konflikte, wie sie derzeit rund um das Thema ‚Windkraft‘ in Deutschland toben, sind m.E. eigentlich leicht vermeidbar.

  • „Preben Maegard, ehemalige Präsidentin der World Wind Energy Association, hat es einmal so formuliert:
    • ‚Wenn Menschen vor Ort die Eigentümer der Windparks sind und davon profitieren, dann werden sie sie auch unterstützen. Es wird nicht heißen: ‚Bitte nicht vor meiner Haustür‘, sondern: ‚Bitte auf unserem Land‘“ (Klein 2015, 166).

Nun, das war ja bei der ursprünglichen Form des EEG im Jahre 2000 auch durchaus der Gedanke, der dem Gesetz zugrunde lag: die Bürgerenergiewende (vgl. Fußnote auf S. 522).


So wie sich das EEG und die weiteren Rahmenbedingungen heute darstellen, laufen Bürger*innen dagegen Sturm:

Und tatsächlich,

  • wer hat schon Lust auf einen großen, von außen durchaus zu Recht als Eindringling wahrzunehmenden Großinvestor, der an den Dorfrand einen riesige Stahlbeton-Pfeiler, deren Auftriebsläufer bei einer gängigen 3 MW-Anlage 200 Meter Höhe aufweisen, installiert, von dem man selbst in keiner Weise profitiert und lediglich Nachteile in Form von Baulärm und eine Einschränkung des Panorama-Genusses hat?

Das ist trivial.


Und damit ist die folgende Frage aufzuwerfen:

  • Warum amputier(t)en Altmaier und seine Vorgänger die Bürgerenergiewende und entfachen ein gesellschaftliches Feuer gegen eine Energiewende? Die kommen muss und für deren Verzögerung gesamtwirtschaftlich und -gesellschaftlich kein Interesse bestehen kann?


Offensichtlich werden andere Interessen im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie höher gewichtet.


Und damit kommen wir einmal mehr zum ‚good old‘ Thema ‚Arbeitsplätze‘, konkret zum Thema


Weitere Aspekte der Energiewende: Arbeitsplätze, Stromtrassen, Kostenwahrheit

Thema ‚Arbeitsplätze und Erneuerbare Energien‘

  • Was z.B. für die Autoindustrie aber auch für die Braunkohle immer und stets hervorgehoben wird und
  • was im Bereich der Erneuerbaren Energien i.d.R. unter den Tisch fällt sei hier klar und deutlich formuliert:

Die Windkraft-Verweigerung der Politiker*innen und Bürger*innen kostet tausende gerade neu entstandene, zukunftsfähige Arbeitsplätze.

  • Allein das Unternehmen Enercon kündigt im Herbst 2019 an „wegen der schlechten Marktlage bis zu 3.000 Stellen abzubauen … Neben Enercon hat auch die Siemens-Tochter Gamesa den Abbau Tausender Arbeitsplätze angekündigt, der Windanlagenbauer Senvion meldete im April Insolvenz an“ (Zeit 2019).

… und die Kohlekumpel werden in Watte gehüllt(1). Der Aufschrei um Arbeitsplatzverluste ist in den Bereichen Kohle und Auto deutlich lauter als bei Sonnen- und Windenergie.

Warum? Besonders im Zusammenhang mit der Autoindustrie wird gern hervorgehoben, dass das besonders ‚wertvolle‘ Arbeitsplätze seien, weil sie sozialversicherungspflichtig seien und besonders hoch qualifizierte Arbeit böten und dementsprechend dotiert seien. Ja, das wird richtig sein. Das ändert aber nichts daran, dass Arbeitsplätze rund um Erneuerbare Energien Zukunftsjobs sind. Und wenn diese nicht so toll bezahlt werden, sich die Firmen weniger durch Personalräte auszeichnen, die Jobs weniger sozialversicherungspflichtig sind, mag das angehen – aber es sind zukunftsfähige Arbeitsplätze. Neue Super-Arbeitsplätze à la ‚alte Bundesrepublik‘ wird es ohnehin (und zwar branchenunabhängig!) kaum noch geben, denn generell und branchenübergreifend entstehen auch Dank der Agenda 2010 i.d.R. nur noch solche ‚leichtgewichtigen‘ Jobs. Damit haben wir – bis auf Weiteres und vorbehaltlich einer besseren Politik – bedauerlicherweise zu leben.

Selbstverständlich sollten wir um jeden einzelnen Arbeitsplatz kämpfen. Aber eben um wirklich jeden, und: branchenunabhängig.

Um folgende Arbeitsplätze geht es:

>> 20.336 Arbeitsplätze in der Braunkohle – 2/3 der Beschäftigen geht bis 2030 in Rente (vgl. Statista 2020 u. UBA 2018).

>> 338.600 Arbeitsplätze im Bereich erneuerbare Energien inkl. Zulieferern, davon 160.200 in der Windenergie, Stand 2016, also vor dem Altmaier’schen Windkraftdesaster (vgl. BMWI 2018).

>> 26.000 Stellen wurden 2017 in der Windkraftbranche abgebaut (vgl. Wetzel 2019) – hier gibt es also in einem Jahr höhere Arbeitsplatzverluste als in der Braunkohle überhaupt noch existieren und noch über viele Jahre gepäppelt werden.

>> In den letzten drei Jahren sind im Bereich EE insgesamt mindestens 40.000 Arbeitsplätze verloren gegangen (vgl. NDR 2020b). Da nun der Markt darniederliegt, wird es bei diesen Zahlen wohl nicht bleiben.

>> Zuvor war schon die Solarwirtschaft zusammengebrochen, „wo [nach 2011] die Beschäftigung innerhalb von fünf Jahren um mehr als 110.000 Personen sank“ (UBA 2020b, 10).

Anmerkung zu (1)

Ich finde es weniger schlimm, dass Kohlekumpel in Watte gehüllt werden, als dass Arbeitnehmer*innen zukunftsfähiger Arbeitsplätze einzelner Branchen nicht in Watte gehüllt werden.


Die Energiewende benötigt: Stromtrassen

Kurz ist das (ebenfalls allzu oft vor Gericht landende) Thema ‚Stromtrassen als Grundlage für eine Energiewende in Deutschland‘ anzureißen.

Die riesigen, der künftigen Gesamtenergieversorgung dienenden Strommengen haben über Stromtrassen quer durch Deutschland transportiert zu werden:

  • „[R]und 7700 Kilometer werden mittlerweile als notwendig erachtet. Davon existieren bis jetzt 950 Kilometer. 2017 wurden bundesweit 30 Kilometer fertiggestellt“ (Dohmen et al. 2019, 15).

Michael Kopatz zieht dazu einen spannenden Vergleich zum Straßenbau:

  • „Neue Trassen für Strom werden als politisch heikel empfunden. Neue Trassen für Kraftfahrzeuge müssen aber einfach sein. Überflüssig zu erwähnen, dass eine Überlandleitung nicht annähernd mit der Eingriffstiefe einer neuen Straße zu vergleichen ist. Sie zerschneiden keine Landschaften emittieren weder Schadstoffe noch Klimagase und sind geräuschlos“ (2016, 217-218).

Der Befund lautet dennoch:

  • „2011 brachte die Regierung ein sogenanntes Netzausbau-Beschleunigungsgesetz auf den Weg, um das Großprojekt anzutreiben. Das Resultat: Neun Jahre später[, d.h. 2020,] sind von den geplanten rund 5.900 Kilometern erst rund 800 Kilometer gebaut“ (Bruhns et al. 2020).

Ein Blick in einen Teilaspekt der Zukunft:

Weitere Potenziale erneuerbarer Energien

Abschließend und allgemein ist festzuhalten, dass das Thema ‚Erneuerbare Energien‘ mit Blick in die Zukunft noch viele Möglichkeiten offeriert.

  • Pragmatisch gesehen:
    • Wärmepumpen haben eine Menge bis lang nicht ausgeschöpftes Potenzial.
    • Derzeit gibt es mindestens 35 Projekte an Offshore-Windenergieanlagen, die nicht im Meeresboden verankert sind, sondern schwimmende Konstruktionen vorsehen. Das macht vorbehaltlich des Ressourcenverbrauches Sinn, um auch in tieferen Gewässern (50m und tiefer) vor Steilküsten – nicht alle Meeresküsten sind so aufgebaut wie die Ostsee – Windenergieanlagen betreiben zu können – und auch der spätere Entsorgungsvorgang ist potenziell leichter zu bewerkstelligen (vgl. Janzing 2020, 8).
  • Mit Zukunftsblick:
    • Wenn man sich das online gestellte, über 6.000-seitige ‚Buch der Synergie‘ von Achmed Khammas anschaut, über das ich unumwunden zugebe, dass es mich im Theoriebereich vollkommen überfordert, das mich aber wiederum hinsichtlich der Akribie, mit der einzelne Energieumformungen bzw. -gewinnungstechniken beschrieben sind, begeistert, dann scheint es so zu sein, als gäbe es derart viele Möglichkeiten, die schier unendliche Energie, die uns letztlich in verschiedenster Form zur Verfügung steht, auszuschöpfen und zu nutzen, dass es geradezu grotesk ist, dass wir Menschen jemals dem Pakt mit dem Teufel ‚Öl‘ eingegangen sind. Hier geht augenscheinlich wesentlich mehr als gemeinhin angenommen.

>> siehe Liste http://www.buch-der-synergie.de/c_neu_html/inhalt_c.htm und allgemein http://www.buch-der-synergie.de/ (Abrufdatum jeweils 9.6.2020)


Energieversorgung & Kostenwahrheit

Redet man über verschiedene Arten, Energie zu erzeugen, werden die Bau- und Rückbaukosten sowie sonstige Folgekosten i.d.R. nicht eingerechnet.

Würden diese Kosten eingerechnet werden – und was sollte dagegen sprechen, es geht ja um die Gesamtkosten und den Gesamtenergiebedarf, alles andere macht keinen Sinn – dann würde keine Regierung der Welt auf die Idee kommen, ein AKW auch nur zu planen.

  • Die Baukosten des AKW Stade, 2003 vom Netz gegangen, lagen bei 150 Mio Euro. Bei den Rückbaukosten geht man mit Stand 2017 von 1 Mrd. Euro aus (NDR 2017). Die gleiche Zahl wird auch für den bald beginnenden Rückbau von Brunsbüttel genannt (vgl. HA 2019) – insgesamt sind rund 30 AKWs in Deutschland zurückzubauen (vgl. Atom aktuell 2014).

Dadurch, dass diese eine Milliarde Euro Rückbaukosten pro Kraftwerk nicht (bzw. nicht angemessen) in den Strompreis eingerechnet wurde/wird, haben sich also frühere Generationen in einem m.E. unangemessenen Maß auf Kosten der aktuellen/künftigen Generationen bereichert, die die Rückbaukosten tragen.

Von der Kosten und der Sicherung der Endlagerung sowie den Gefahren und mannigfachen Kosten eines möglichen GAUs ist dann noch gar nicht gesprochen worden.


Fazit zum Thema ‚Energie & Zukunft‘

Es kann nicht sein, dass die Umsetzung der Energiewende, an der u.a. die Mobilitätswende hängt und damit insgesamt die Einhaltung des Pariser Abkommens, von einzelnen Bürgerinitiativen und einzelnen Kläger*innen torpediert werden. Menschenrecht schlägt Einzelinteressen.

  • Derweil könnte man – wie Harald Welzer vorschlägt – „fast 13.000 Kilometer deutscher Autobahnen in der nachhaltigen Moderne für die Platzierung von Windrädern genutzt werden, die dann nicht mehr andernorts die Landschaft verspargeln müssten“ (2016, 214)… Manfred Unfried wünscht sich derweil eine „Windmühlen-Allee an der A7 von Flensburg bis Füssen“ (2020, 46).


Jeremy Rifkin weist indessen darauf hin, dass der Staat die neue Energie-Infrastruktur zu „bauen [hat], schnell und entschlossen“ (Heuser 2019, 24).

  • Käme es so, „könnten die fossilen Brennstoffe schon deshalb ihre Bedeutung verlieren. ‚Gas‘, sagt Rifkin trocken, ‚lohnt sich bald nicht mehr‘“.

Für diese Annahme spricht, dass Solarstrom eigentlich günstiger ist, als fossiler Strom je sein kann

Erläuterung

Das ist vollkommen plausibel, wenn man Abbau der erforderlichen Ressourcen, den Auf- und Abbau der Produktionsinfrastruktur sowie die Transportwege für die zu verbrennenden Energieträger in die Kostenrechnung einbezieht. Wenn man die weiteren Umweltkosten einrechnet, wird es geradezu absurd, dass über all das überhaupt eine Diskussion entbrennen (!) kann. Im Spiegel ist zu lesen, dass die Preise für Photovoltaik seit 2010 um mehr als 75% gefallen sind, die „für Windkraft um bis zu 35 Prozent. In weiten Teilen der Welt sind die Erneuerbaren schon jetzt die billigste Energiequelle“ (Evers 2019, 110). „Für die effizientesten Solarparks berechnen die Forscher einen Preis von durchschnittlich 3,71 Cent bis 11,54 Cent pro Kilowattstunde. Zum Vergleich: Elektrizität aus konventionellen Kraftwerken kommt der Studie zufolge auf Herstellungskosten bis zu 21,94 Cent pro Kilowattstunde“ (Witsch 2018). „Technische Fortschritte bei der Photovoltaik hätten zu starken Kostensenkungen geführt, ‚so dass sie unter allen Kraftwerkstypen im Mittel die kostengünstigste Technologie in Deutschland ist‘, begründet das [Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme] ISE die Energiewende-Sensation“ (Sorge 2018).


2018 kam eine von der Technischen Universität Lappeenranta (LUT University) und der Energy Watch Group erarbeitete Studie heraus, die errechnete, dass „100% Erneuerbare Energie in ganz Europa [machbar bis 2050 ist und zudem] kostengünstiger [ist,] als das derzeitige Energiesystem“ (Energywatchgroup 2018).

Im Juni 2020 erwähnt der Carbon Tracker-Analyst Kingsmill Bond, dass „Erneuerbare Energien … inzwischen in 85 Prozent der Märkte billiger [seien] als fossile“ (Pötter 2020, 9).

  • „Überlässt man dagegen alles dem Markt, kommt die Wende zu spät oder wird durch Monopolfirmen ausgebeutet“ (ebd.).


Solarenergie und Windkraft als Spielball politischer Bremsprozesse: Wir haben für so etwas keine Zeit mehr.


>> An dieser Stelle ist möglicherweise das Anschauen der positiven Videobotschaft ‚Imagine the Future‘ der Klimaaktivistin Xiye Bastida eine gute Idee? – siehe: https://youtu.be/GBeU6UZyPjY (Abrufdatum 1.7.2020)


Quellen des Abschnitts Energie und Zukunft


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