Die relevanten Fakten, Zahlen und Argumente zur großen Transformation. Letzte Änderung: 12.1.2021.
Vorwort. Intro/Einführung. Für kleine Bildschirme: Inhaltsverzeichnis als Liste.
News: Am 10. November 2020 ist das Handbuch gedruckt und als E-Book bei BoD, 700 Seiten, erschienen.
Alles hängt mit allem zusammen. Daher ist das eine ziemlich große Toolbox…

>> Visuelle Hervorhebungen in Zitaten stammen vom Autor dieses Webportals.
>> blaue Schrift = allgemeine Zwischengedanken sowie pointierte Kommentare, die explizit den Blickwinkel des Autors wiedergeben.

Am Dienstag, den 10. November 2020 erscheint das Handbuch Klimakrise
auch als Book on Demand (BoD), Din A4, 700 Seiten, 68.– EUR (Buch, in allen
Buchläden per Bestellung erhältlich), 19,99 EUR (E-Book, s. Amazon & Co)
Buch-ISBN 9783751985246 | E-Book-ISBN 9783752679670
Durch dieses Webportal handbuch-klimakrise.de liegt der komplette Inhalt für alle Bürger*innen frei verfügbar vor.
>> s.a. LebeLieberLangsam-Essay Handbuch Klimakrise | Ein Werkstattbericht
Intro.
Zehn wesentliche Aspekte der Klimakrise in Schlaglichtern:
– 10 –
Der Weltklimarat gibt uns noch etwa sieben Jahre, innerhalb derer die Menschheit massiv umzuschwenken hat.
7 Jahre = 2.555 Lebenstage = 1.300 politische Arbeitstage
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.
„Time is not on our side… The time for discussion is over. The time for action is now.“
Edward Burtynsky im Zusammenhang mit seiner im Herbst 2020 erscheinenden Film-Doku ‚Die Epoche des Menschen‘.
Bezogen auf Deutschland gilt:
- Für den nächsten Bundeswahlkampf hat die Zivilgesellschaft (gemeinsam mit Fridays for Future) dafür zu sorgen, „dass der Mindeststandard, den alle demokratischen Parteien im Angebot haben, kompatibel ist mit dem Pariser Abkommen. … Das ist die große Herausforderung fürs nächste Jahr.“ (Luisa Neubauer im Interview in der Süddeutschen Zeitung, 18.9.2020)
Denn:
Deutschland hat bis 2035 (Rahmstorf) bzw. 2037 (SRU) klimaneutral zu sein…
SRU = Sachverständigenrat für Umweltfragen, kurz: Umweltrat, wissenschaftliches Beratungsgremium der Bundesregierung
… um das völkerrechtlich verbindliche Abkommen von Paris mit dem Wortlaut „deutlich unter 2 Grad“ einzuhalten (vgl. Rahmstorf 2019a u. SRU 2019).
Die Bundesregierung verweist auf 2050 als Ziel – und zeichnet einen sog. Reduktionspfad, auf dem die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55% und 2040 um 70% (jeweils gegenüber 1990) gesenkt werden (sollen). Konkreter wird die Bundesregierung nicht.
Bedauerlicherweise ist unter den Regierenden nicht einmal die Bundesumweltministerin, Svenja Schulze (SPD), in der Lage oder willens, abseits von Prozentwerten die konkrete Menge des zu reduzierenden/vermeidenden CO2 zu benennen – und reagierte auf Nachfragen zum CO2-Budget Deutschlands im September 2019 mit dem Satz „Unter diesen ganzen Tonnen kann sich doch keiner was vorstellen!“
>> siehe TV-Magazin Kontraste, 30.9.2019 https://twitter.com/i/status/1178663685243490304 (Abrufdatum 21.7.2020)
Doch, kann man, sollte man – man muss es sogar, denn „genau auf ‚diese ganzen Tonnen‘ kommt es an“, wie der Klimaforscher Stefan Rahmstorf ausführt:
- „Wollen wir die Erderhitzung auf eine bestimmte Temperatur begrenzen, folgt daraus eine noch erlaubte Restmenge an CO2-Emissionen für die Menschheit: das Emissionsbudget“ (2019b).

>> Es gibt ein globales Restbudget an Treibhausgasemissionen. Und daraus ergeben sich Emissionsbudgets für Staaten, Städte und Individuen – und für jede*n Einzelne*n von uns.
>> siehe ausführlich Abschnitt Globales, nationales & individuelles CO₂-Budget.
Das globale Emissionsbudget kann jede*r Bürger*in innerhalb einer halben Minute problemfrei in einer Tabelle aus dem Sonderbericht 2018 des Weltklimarats ablesen und dann auf 83 Millionen Bundesbürger*innen herunterrechnen. Das sollte auch einer/einem Umweltminister*in möglich sein.
>> s. Tab. „The assessed remaining carbon budet and its uncertainties“ unter http://www.klima-retten.info/Bilder/Table2-2.PNG, s. ausführlich Abschnitt Globales, nationales & individuelles CO₂-Budget, S. 56ff.)
Warum also sind Svenja Schulze & Co so zurückhaltend, wenn es darum geht, die einfache, grundlegende Zahl des verbleibenden Budgets für Deutschland zu nennen?
Den ersten Grund erklärt ein Zitat von Niko Paech:
- „Gerechtigkeit [markiert] … ein zweistufiges Unterfangen: Zunächst wäre eine plünderungsfreie Verteilungsmasse festzulegen. Erst darauf basierend, kann im zweiten Schritt ein daraus zu generierender, definitiv limitierter – Wohlstand verteilt werden“ (Folkers/Paech 2020, 174).
Hier geht es also um Verbindlichkeit und darum, dass es die Bundesregierung nicht wagt, den Bürger*innen die Realität und daraus resultierende Konsequenzen zuzumuten.
Der zweite Grund besteht darin, dass die Bundesregierung offensichtlich gar nicht vorhat sich an ein solches Budget zu halten:
- „Von welchem Emissionsbudget geht die Bundesregierung also [im Zusammenhang mit dem ‚Klimapaket‘] für Deutschland aus? Frau Schulze wollte es nicht verraten. Doch aus den deutschen Klimazielen lässt es sich leicht ableiten. Selbst wenn die Bundesregierung ihre Ziele für 2030 (55% unter 1990) und 2040 (70% unter 1990) konsequent einhält und Deutschland 2050 komplett klimaneutral wird, werden wir von Anfang 2019 bis zur Klimaneutralität insgesamt auf rund 13 Milliarden Tonnen CO2-Ausstoß kommen“ (Rahmstorf 2019b).
>> Auch der Green Deal der EU sieht im Frühherbst 2020 bis 2030 nunmehr eine CO2-Reduktion von 55% gegenüber 1990 vor – zuvor hatte die Latte bei nur 40% gelegen (vgl. Spiegel 2020).
Das tatsächliche CO2-Budget Deutschlands beträgt gemäß Anteil an der Weltbevölkerung 6,6 Milliarden Tonnen CO2 (vgl. SRU 2019), d.h. die Bundesregierung genehmigt sich im Namen der Bundesbürger*innen stillschweigend die doppelte Menge an CO2-Emissionen.
>> Rechnung vgl. Abschnitt Nationales CO2-Budget (Deutschland), S. 64f.
Das bedeutet:
- Die Bundesregierung legt ein 54 Mrd Euro schweres ‚Paket‘ auf und nennt den Bürger*innen nicht einmal die allergrundlegendste Zahl, auf dem dieses Vorhaben fußt.
- Kaum jemand stört sich daran.
>> Der Abschnitt Kohlekompromiss und ‚Klimapaket‘ enthält Hinweise, wie diese 54 Mrd Euro einzuordnen sind, s. Seite 66f.
Das sog. ‚Klimapaket ist folglich schon im Grundansatz nicht geeignet, um das Pariser Abkommen einzuhalten. (vgl. S. 66 u. Kontraste 2019)
Im Mai 2020 stellt der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) noch einmal pointiert fest:
- „Die Ziele des Klimaschutzgesetzes seien ‚nicht wissenschaftlich hergeleitet und basieren nicht auf einem entsprechenden Transformationspfad bis 2050‘“ (Pötter 2020a, 9).
Das laut ‚Paris‘ über die Formel „deutlich unter 2 Grad“ hinaus anzustrebende Ziel, Anstrengungen zur Einhaltung von 1,5 °C zu unternehmen und vom Weltklimarat im Herbst 2018 nochmal untermauerte Forderung, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, gibt die Bundesregierung mit diesem „Klimapaketchen“ – auch „Klientelschutzpaket“ genannt – faktisch auf.
>> Klimapaketchen = Klimaforscher Hartmut Graßl auf der Hamburger Klimawoche 2019 (zit. in Weiß/Bayer 2019);
>> Klientelschutzpaket = SZ-Autor Andreas Zielcke (2019,11)
Welcher Staat auf diesem Planeten sollte sich berufen fühlen, seine Klimaziele einzuhalten, wenn es das reiche Deutschland nicht tut?
Sowohl Klimapäckchen als auch Kohlekompromiss/Kohleausstiegsgesetz sind weder national noch hinsichtlich ihrer Strahlkraft international geeignet, eine Wende einzuleiten.
Der Klimatologe Mojib Latif, der eigentlich für seine Besonnenheit bekannt ist, zog im Herbst 2019 bei der Eröffnungskonferenz der Hamburger Klimawoche daher das Fazit:
„Mit diesen Maßnahmen leisten wir dem Klima viel eher Sterbehilfe.“ (Welt 2019)
>> siehe dazu Aspekt Nationales CO₂-Budget (Deutschland), S. 56f.
>> Klimapäckchen = Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter, zit. in der Tagesschau vom 26.9.2019
Bei einem Budget von 6,6 Mrd Tonnen CO2 ab Anfang 2020 ergibt sich laut Stefan Rahmstorf bei einer linearen Emissionsreduktion ein Reduktionspfad von 6%, infolgedessen Deutschland bis Ende 2035 klimaneutral zu sein hat (vgl. 2019a).
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) kommt zu einem in der Dimension ähnlichen Schluss:
- „Bei fortdauernden Emissionen auf heutigem Niveau wäre dieses Budget in weniger als 9 Jahren (2028) verbraucht, bei einer linearen Reduktion nach etwas mehr als 17 Jahren (2037)… [bis] zur Treibhausgasneutralität…“ (SRU 2019).
Das bedeutet: ‚2050‘ ist eine rein politische Zahl, die mit der wissenschaftlichen Wirklichkeit und realen Erfordernissen nichts zu tun hat.
Es ist des Weiteren keineswegs egal, wann wir CO2 einsparen: Was in der Atmosphäre angekommen ist, wirkt. Wird es zeitlich früher emittiert, wirkt es früher: Dann sind zu einem früheren Zeitpunkt mehr Treibhausgase in der Luft, die ‚aufheizend‘ wirken.
Es gilt zudem: Die Ernte von Low Hanging Fruits – zum Beispiel durch rasche Abschaltung von Braunkohlekraftwerken – kann hinsichtlich der Fristsetzung von Rahmstorf und SRU durchaus fristverlängernd wirken.
>> Low Hanging Fruits = Maßnahmen, die relativ leicht umzusetzen sind und dabei von Fall zu Fall sogar besonders wirksam sind. Eine Low Hanging Fruit in Deutschland wäre z.B. die umgehende Abschaltung von einigen Braunkohlekraftwerken.
Zu berücksichtigen ist auch Folgendes:
- „Jedes Auto mit Verbrennungsmotor, das heute neu auf die Straßen kommt, stößt noch die nächsten 15 Jahre klimaschädliches CO2 aus“ (Müller-Görnert 2019, 2).
Jede konventionelle Heizung, jedes herkömmlich gebaute Haus, jeder Euro, der heute in die falsche Richtung investiert wird, schafft Fakten und hat i.d.R. jahrzehntelange Wirkungen – die wir später zusätzlich zu beseitigen und zu bezahlen haben. Jeder fossil-konventionell ausgegebene Euro macht es wahrscheinlicher, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen, klimaneutral zu werden.
Fazit: Deutschland hat noch rund 15 Jahre bis zur Klimaneutralität.
Der Klimatologe Anders Levermann hält fest: „Wir müssen die gesamte Wirtschaft umbauen“ – und führt dann aus, was Klimaneutralität faktisch und konkret bedeutet:
„Wir brauchen nicht weniger Emissionen, wir brauchen null Emissionen. Null! Das ist etwas anderes als Emissionen verringern. Etwas fundamental anderes, wenn sie mit Wirtschaftsvertretern sprechen. Verringern bedeutet, ich mache etwas weniger, und das wollen Wirtschaftsvertreter nicht. Null Emissionen heißt, ich mache etwas anders. Die Rolle der Politik ist, diesen Antrieb zu entfesseln.“ (2020)
>> Was netto-Null bezogen auf Deutschland bedeutet, siehe Aspekt natürliche Senken in Deutschland, S. 64.
Und: ‚Klimaneutralität 2035 bzw. 2037‘ ist eine ganz andere Hausnummer als ‚Klimaneutralität bis 2050‘.
Es ist angemessen und dringend erforderlich, das wir Bürger*innen von der Bundesregierung zu den grundlegenden Fakten zur Klimakrise aus freien Stücken umfassend, transparent und ohne Beschönigung in Kenntnis gesetzt werden. Ich rufe hiermit einen Wettbewerb aus:
Welche*r Politiker*in schenkt den Bürger*innen hinsichtlich der Klimakrise und des Artensterbens als erstes ‚reinen Wein‘ ein? (Irgendwann wird es jemand tun – besser ist es also, die/der Erste zu sein.)
Teilnahmebedingungen: Sie sind Kanzler*in, bekleiden ein bundespolitisches Amt, in dem der Begriff „Präsident“ vorkommt oder sind Ministerpräsident*in eines Bundeslandes. Mitglieder*innen der Grünen und der Partei Die Linke sind von der Teilnahme ausgeschlossen. Der/dem Gewinner*in winkt ‚das Heft des Handelns‘ und ein hohes Maß an Authentizität als Gewinn.
Wer keinen reinen Wein einschenkt, kann auch nicht erwarten, umfangreiche Maßnahmen durchsetzen zu können, deren Notwendigkeit kaum jemand versteht, weil sie/er keinen reinen Wein eingeschenkt bekommt.
Latent weiß ohnehin jede*r Bundesbürger*in, dass es nicht mehr weitergeht wie bisher. Wozu noch Schweigen?
- Wird der ‚reine Wein‘ mit einer Zukunftsperspektive verbunden eingeschenkt, könnte damit auch die Zeit der Orientierungslosigkeit und Lethargie, die Deutschland nach wie vor in weiten Teilen so fest im Griff hat, beendet sein: Patient*innen (hier: Bürger*innen) sind gewöhnlich froh, wenn sie nach Zeiten der Ungewissheit eine eindeutige Diagnose erhalten und somit endlich Klarheit haben. Die Dynamik, die die sich aus der eindeutigen Klimadiagnose entfalten könnte – sowie das verbreitete Gefühl in der Gesellschaft, dass es endlich wieder eine Idee gibt, wie die Zukunft aussehen könnte, könnte eine konstruktive Aufbruchsstimmung in Gang setzen, die der Demokratie in Deutschland gut zu Gesicht stehen würde (vgl. Prinzler/Ulrich 2018).
Vielleicht gehe ich jedoch zu Unrecht davon aus, dass die Bundesregierung verstanden hat, welche Tragweite, Dimension und Dringlichkeit die Klimakrise besitzt?
Das kann auf Angela Merkel eigentlich nicht zutreffen:
Was wird man sich eines Tages über Angela Merkel erzählen?
Wir hatten mal eine promovierte Naturwissenschaftlerin als Kanzlerin, die hat wider besseres Wissen erheblich und massiv dazu beigetragen, den Planeten an die Wand zu fahren?
– 9 –
Grundlage: Was genau macht der Weltklimarat der UNO?
>> Weltklimarat der UNO = IPCC = Intergovernmental Panel On Climate Change.
Der IPCC forscht nicht selbst – vielmehr tragen dessen Wissenschaftler*innen die Forschungsergebnisse der globalen Klimaforschung zusammen, ordnen und bewerten diese in einem sich etwa fünf Jahre lang hinziehenden Prozess inkl. des sog. Peer Review-Verfahrens.
>> Erläuterung Peer Review-Verfahren:
„Unabhängige Gutachter*innen aus demselben Fachgebiet prüfen eine Studie, bevor deren Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Publikation erscheinen“ (Otto 2019, 17) – In der Regel in Form eines Doppelblindgutachtens – soll heißen weder Gutachter*in noch Forscher*in erfahren den Namen der anderen Person.
Hinzuzufügen ist, dass Wissenschaft nichts dauerhaft Feststehendes, sondern eine Debatte ist, bei der sich Wissenschaftler*innen ständig gegenseitig abchecken und sich darüber abstimmen, was als gesichert gelten darf – und was nicht.
Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf wies schon 2013 zu Recht darauf hin, dass das
- „Konsensverfahren des IPCC, bei dem sich viele Forscher auf gemeinsame Formulierungen einigen müssen, im Gegenteil zu einer Art kleinstem gemeinsamen Nenner“ führt. „Die IPCC-Berichte untertreiben also eher, als dass sie übertreiben.“
Im Ergebnis haben sich Klimaforscher*innen im Regelfall, wenn sie sich mal zu korrigieren haben, immer in die gleiche Richtung nachzubessern: Es ist i.d.R. dramatischer und die Veränderungen geschehen schneller als zuvor per Konsensverfahren angenommen.
– 8 –
Eine gute, eine dramatische und eine spannende Nachricht:
- Die gute Nachricht:
Wir haben es noch in der Hand1, einen katastrophalen Klimawandel2 zu verhindern.
- Die dramatische Nachricht:
Der Point of no Return ist nahe. Wir haben sofort mit einer umfassenden globalen Transformation zu beginnen – es ist die größte Herausforderung, vor der die Menschheit je gestanden hat.
- Die spannende Nachricht:
Wir erhalten durch die Klimakrise prinzipiell die Chance, die Welt neu zu denken, den überdrehten Finanzialismus-Shareholder-Value-Turbokapitalismus einzudämmen und den Menschen bzw. das Leben – und nicht das (zerstörerische) Geld – in den Mittelpunkt unseres Daseins zu stellen.
Womit nicht gesagt sein soll, dass es leicht wird, diese Chance zu nutzen… aber im Ernst: Die Natur setzt uns die Pistole an die Schläfe. Kommt es zur großen Katastrophe, ist sie final und die Zivilisation Geschichte.
This Is The End Of The World As We Know It (frei nach R.E.M.) –
Das alles bedeutet aber auch:
Es kann endlich anders weitergehen, weil es anders weitergehen muss, wenn es weitergehen soll.
Ich persönlich halte die Umsetzung des Gedankens, dass uns die Klimakrise gewissermaßen eine Chance bietet, die wir sonst nicht gehabt hätten, für nicht besonders wahrscheinlich – aber definitiv für wesentlich wahrscheinlicher als die Erfolgsaussichten des ‚Der-letzte-Strohhalm‘-Gedankens „Die erfinden da noch was“.
Hm, und wenn „die“ doch nichts erfinden sollten?
Und, nebenbei:
Die Zeit für „Die erfinden da noch was“ ist bereits abgelaufen.
Innerhalb der nächsten sieben Jahre = 2.555 Lebenstage = 1.300 politischen Arbeitstage wird definitiv kein technisches Wunder zu erwarten sein: Wir haben unsere Maßnahmen auf Basis der derzeitigen Gegebenheiten auf den Weg zu bringen.
Nur Technologie, die unmittelbar verfügbar ist, kann bei der Planung von Maßnahmen etc. Berücksichtigung finden.
Konzentrieren wir uns auf die Chance, die Klimakrise unter Bewahrung der wesentlichen Lebensgrundlagen der Menschheit weitgehend zu bewältigen und dabei gesellschaftlich sogar voranzukommen:
Denn: Gesetze/Leitplanken/Gewohnheiten sind ohne technische Erfindungen veränderbar.
Da die Natur uns unmissverständlich mitteilt, dass es nicht mehr so weitergehen wird – haben wir nur genau diese eine Möglichkeit und diese eine Chance, denn das bisherige post-/neokoloniale, Ressourcen-verschwendende, materialistische neoliberale Überfluss-Ausbeutungsmodell führt ins: Aus.
Ergo: Wir haben die Chance, wir haben die Möglichkeit, aber wir haben: keine Wahl.
Radikal ist, so weiterzumachen wie bisher.
– 7 –
Nicht-Veränderung wäre Ihnen recht?
- Fragen Sie mal einen Menschen des Globalen Südens (= sog. ‚Dritte Welt‘), der täglich 14 Stunden in einem Sweatshop arbeitet, wie sie/er die Sache sieht. Sie/er ist übrigens faktisch Ihr Sklave. Das finden Sie übertrieben?
Die BWL-Professorin Evi Hartmann meint dazu:
- „Wie soll ich das sonst nennen, wenn jemand für 50 Cent am Tag, 14 Stunden lang bei einer Bullenhitze von 60 Grad, ein günstiges T-Shirt für mich näht? Wir alle halten Sklaven – ich eingeschlossen.“ (Utopia 2016)
>> s.a. in Abschnitt Ideen für eine nachhaltige Zukunft den Aspekt freiwillige Selbstdeprivilegierung, S. 508f. u. in Abschnitt Klimagerechtigkeit den Aspekt Der ‚globale Impact‘ eines Smartphones, S. 644ff.
– 6 –
DIE universelle Kurve…
…für das HöherSchnellerWeiter-Leben des Anthropozäns1 und vor allem des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart:

mit dem markanten Knick nach dem Zweiten Weltkrieg
Rechts sieht man – vereinfacht und stark vergröbert – die prinzipiell für alles passende Kurve bzw. Grafik zur Entwicklung der Folgen der industriellen Revolution und des HöherSchnellerWeiter-Lebens: Eine zunächst langsam und nach einem deutlichen Bruch nach dem Zweiten Weltkrieg immer dramatischer ansteigende exponentielle Kurve.2
>> Die Kurve mancher Aspekte – wie z.B. eine Datenreihe der technisch ermöglichten Kommunikation liegt natürlich bis ins 20. Jahrhundert bei null, aber dann folgt die Kurve ebenfalls der exponentiellen Kurve.
Anders ausgedrückt: Man kann sämtliche Kurven u.a. zu den Themen
Treibhausgasemissionen | Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre | Erderhitzung | Bevölkerungsentwicklung3 | globales Wachstum | städtische Bevölkerung | Transport/Mobilität | technisch ermöglichte Kommunikation | Tourismus | Düngemittelverbrauch | Trinkwasserverbrauch | Ressourcenausbeutung | Massenaussterben/Biodiversitätsverlust | Versauerung der Meere | Verlust an tropischem Wald
übereinanderlegen.4 Sie sind weitgehend: deckungsgleich.
- „Zwischen 1980 und 2010 hat sich der jährliche globale Verbrauch von Biomasse, mineralischen Rohstoffen und fossilen Brennstoffen von unter 40 auf 80 Milliarden Tonnen verdoppelt. Längst ist nicht mehr die Rede von ‚Peak Oil‘, jenem Zeitpunkt also, ab dem die Ölfördermengen abnehmen werden, sondern vom ‚Peak Everything‘“ (Hartmann 2018, 16-17).
- Hervorzuheben ist, dass es erst mit der Etablierung des ‚neoliberalen Turbokapitalismus‘ seit Mitte/Ende der 1980er Jahr ‚so richtig losging‘, vgl. Aspekt Wir müssen ran an unser Wirtschaftssystem, S. 438f.
- Wachstum, Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen, z.B. gemessen an den 8 wichtigsten Sektoren, gehen „ziemlich strikt mit[einander] … einher“ (Weizsäcker 2019), Wachstum als Grundantwort kann daher nicht die Antwort sein (vgl. ebd.). Am Ende gilt immer noch: Mehr BIP = Mehr CO2.
- Die Menschen der Industrieländer haben „in der Lebensspanne zweier Generationen den Planeten] an den Rand des Kollapses gebracht“ (Göpel 2020, 17).
>> vgl. Aspekt Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang, S. 391f.
Der Klimaforscher Mojib Latif konstatiert daher zu den bisherigen globalen politischen Anstrengungen:
- Aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es [bislang] überhaupt keinen Klimaschutz, denn solange die weltweiten Emissionen von Treibhausgasen immer weiter steigen, kann man nicht von Klimaschutz sprechen“ (2019b).
>> Zahlen zu den weiterhin weltweit steigenden Emissionen siehe Abschnitt Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum: Klimakrise in Zahlen, global gesehen.
Mehr als dramatisch:
– 5 –
„Etwa die Hälfte des Kohlenstoffdioxids, das die Menschheit jemals in die Atmosphäre geblasen hat, wurde in den vergangenen dreißig Jahren ausgestoßen.“ (Kolb 2019)1
Das bedeutet (vereinfacht ausgedrückt), dass
- es mit den globalen CO₂-Emissionen erst so richtig schlimm wurde nach den ersten Klimakonferenzen (die ab 1988 regelmäßig stattfanden2),
- „[d]ie Menschheit … dem Planeten in diesem Zeitraum wissentlich größeren Schaden zugefügt [hat] als unwissentlich in den vorangegangen Jahrtausenden“ (Neubauer/Repenning 2019, 58),
- wir „uns bald fünfzig Jahre in einer Scheinrealität eingerichtet [haben,] in der wir statt physikalischen und biologischen Indikatoren lieber den monetären gefolgt sind“ (Göpel 2020, 35-36),
- wir dramatisch viel Zeit verschleudert haben, d.h. wir uns jetzt viel schneller und heftiger umzustellen haben, als wenn wir zu angemessener Zeit damit begonnen hätten und
- wir derzeit so gar nicht auf dem richtigen Weg sind.
Mehr noch, es bedeutet, dass der Mitte der 1980er Jahre einsetzende Neoliberalismus3
- mitsamt deregulierten Finanzmärkten (‚Finanzialismus‘),
- übersteigertem Extraktivismus (=übermäßiger Ressourcenabbau),
- der massiven, neokolonial geprägten Globalisierung,
- der Produktionsverlagerungen in den Globalen Süden und
- der HöherSchnellerWeiter-Konsumismus
eine ganz schlechte Idee mit verheerenden Konsequenzen gewesen ist.
Obgleich wir so gar nicht auf dem richtigen Weg sind, lautet das Rezept der meisten Etablierten und derjenigen, die in diesem ‚Spiel‘ etwas zu verlieren haben: Mehr vom Gleichen.
Das ähnelt psychologisch der Situation am Roulette-Tisch, wenn der Verlierende nicht mehr aufhören kann, zu spielen…
Albert Einstein (1879-1955) wird das in diesem Zusammenhang passende Zitat zugeschrieben:
„Die Probleme, die es in der Welt gibt, können nicht mit den gleichen Denkweisen gelöst werden, die sie erzeugt haben.“
Die Scientists for Future-Mitbegründerin, Politökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel hält dazu fest:
- Unsere heutige Welt unterscheidet sich fundamental von der Welt vor zweihundertfünfzig Jahren, als die industrielle Revolution begann. Und doch suchen wir heute vorwiegend mit der damaligen Sichtweise auf die Welt nach Lösungen“ (2020, 15).
Die Taktik ‚Mehr vom gleichen‘ kann keine Lösung sein.
Denken wir diese Taktik doch mal zu Ende, treiben wir es auf die Spitze:
- Mehr Ressourcenverbrauch?
- Mehr fossile Energien?
- Mehr Konsumismus?1
- Mehr Wachstum?
- Mehr Neoliberalismus?
- Mehr Fliegen?
- Mehr Fleisch?
- Mehr Autos in Deutschland?
- Mehr Abholzung des Regenwaldes?
- Mehr Überfischung?
Klingt doch eher unheimlich.
Aber: Nichts anderes wollen seit Jahrzehnten die Parteien der sog. Mitte, namentlich der SPD, Union und der FDP, wenn ihre Politiker*innen sich in ihrem Wachstums-Credo gedanklich verhaken.
In der Geschichte der Menschheit ist es gemäß dem Autoren Jared Diamond wiederholt vorgekommen, dass große Gemeinschaften ihre vormals blühenden Kulturen in Krisenzeiten an die Wand gefahren haben, weil Gesellschaften im Krisenfalle dazu neigen, die „Strategien zu intensivieren… mit denen man bislang erfolgreich gewesen war“ (Welzer 2016, 14). Diamonds Grundantwort in seinem Buch Kollaps von 2005 lautet, dass mehr von dem, was in die Krise geführt hat, nicht Teil der Lösung sein kann – und: Wer an seinem eigenen Ast sägt, wird irgendwann hinunterfallen.
- Am eigenen Ast gesägt haben auch die Bürger*innen der in Ozeanien isoliert gelegenen Insel Nauru, deren reiche Phosphorvorkommen zunächst jahrzehntelang durch die Kolonialmächte Großbritannien, Australien und Neuseeland ausgebeutet wurden. Nach der Unabhängigkeit ging der Extraktivismus in Eigenregie weiter, sodass das Land für kurze Zeit zu einem der reichsten Staaten der Welt wurde. Naomi Klein spricht hier von einem „obszönen Reichtum“ und zitiert eine Bewohnerin mit den Worten: „Als ich jung war… gingen wir oft auf Partys, wo die Leute den Babys tausende Dollar hinwarfen…“ (Klein 2015, 201). Doch das System kippte, „Alkohol am Steuer war [nunmehr] die Haupttodesursache auf der Insel, die Lebenserwartung deprimierend gering, und Nauru erhielt… den zweifelhaften Titel, das ‚fettleibigste Land der Erde‘ zu sein“ (ebd., 203). In Stichwörtern lässt sich die weitere Geschichte skizzieren: „Oase für Geldwäsche“, „doppelter Bankrott“, „größtenteils Mondlandschaft“, zur finanziellen Entschuldung: „Internierungslager für die australische Regierung für Migrant*innen“ und in diesem Zusammenhang: ‚Menschenrechtsverletzungen‘ (vgl. 204f. u. Neubauer/Repenning 2019, 42f.).
- „Die Geschichte Naurus gleicht einer tragischen Parabel über die Folgen menschlicher Gier und Kurzsichtigkeit im kapitalistischen Wirtschaftssystem“ (Neubauer/Repenning 2019, 44).
Es geht zum Glück auch anders:
- Ein positives Beispiel in der Menschheitsgeschichte bildet hingegen die „Gesellschaft von Tikopia, einer winzigen tropischen Insel im Südwestpazifik. Die Bewohner des Eilands waren große Freunde des Schweinefleischs. Doch als die Tiere über ihre Felder herfielen, keulten sie die Bestände. Den Wiederaufschwung schafften sie, indem sie ihren Speisezettel umstellten und ihren Ressourcen anpassten“ (Willmann 2005).
– 4 –
Der Realitäts-Schock.
Der YouTuber Rezo brachte die Klimakrisen-Situation vor den Europawahlen im Mai 2019 mit seinem ‚Realitäts-Schock‘-Video auf den Punkt:
- „Mir war vorher nicht bewusst wie krass diese Parteien vorbei an Expertenmeinungen Politik machen. Man kann daher sagen, dass der aktuelle Kurs von CDU und SPD unser Leben und unsere Zukunft zerstören werden. Und das ist keine übertriebene wütende Parole, sondern der Konsens von tausenden Experten, die sich auf unzählige wissenschaftliche Untersuchungen stützen.“
Rezo wissenschaftlich geprüft, VÖ 24.5.2019
https://youtu.be/tNZXy6hfvhM (Abrufdatum 26.11.2019)
>> siehe: „Die Zerstörung der CDU“, 18.5.2019, Aussagen zur Klimakrise ab Min 5, ca. 20 min, www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ/ (Abrufdatum 24.6.2019)
Aus meiner Sicht trifft jede Aussage des Klimakrisen- und des Fridays for Future-Parts (am Ende des Videos) messerscharf den Punkt. Auch die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat Rezo wissenschaftlich überprüft und hatte nichts Relevantes zu beanstanden.
>> siehe: „Rezo wissenschaftlich geprüft“, 24.5.2019, https://youtu.be/tNZXy6hfvhM/ (Abrufdatum 26.11.2019)
Und die oben von Rezo beschriebene Zukunft hat bereits begonnen:
„warming stripes“ by Ed Hawkins:
Durchschnittliche jährliche globale Temperaturen 1850-2017


Diese von Ed Hawkins so anschaulich gestaltete Grafik ‚Warming Stripes‘ bildet mittels eines farblichen Streifens pro Jahr die globalen Durchschnittstemperaturen seit 1850 ab. Vielleicht hätten sich die 709 Parlamentarier*innen des Bundestages im Vorfeld der Verabschiedung des ‚Klimapakets‘ mal diese Grafik anschauen sollen, die trotzdem nur eine Andeutung dessen sein kann, was Ernst Ulrich von Weizsäcker so formuliert:
„[D]ie Welt steht in Flammen.“ (HNA 2019)
Der vormalige Präsident des Club of Rome meint das gleichermaßen metaphorisch und wörtlich und nimmt nachfolgend Bezug auf die globalen verheerenden Waldbrände, die durch hohe Temperaturen und klimabedingte Dürren begünstigt in Kalifornien, im Amazonasbecken, in Schweden, in Russland, im gesamten Polarkreis wüteten und wüten – und die seit Oktober 2019, deutlich vor der eigentlichen Sommersaison, Australien verwüsteten. Und das alles bei ‚nur‘ +1,1 °C.
Wir befinden uns derzeit auf einem 3-bis-4-Grad-Pfad:
- Diese Brände sind ein lauter Aufschrei und ein extrem deutliches Warnsignal der Erde, adressiert an die Menschheit, endlich ins aktive Handeln zu kommen – wenn sie, die Menschen, weiterhin ein Leben inkl. Zivilisation führen möchten – und die Chance für ihre Kinder und Kindeskinder „auf eine für das menschliche Leben sinnvolle Zukunft“ (Maxton 2018, 8) bewahren möchten.
>> Details und Nachweis zu ‚3-4-Grad-Pfad‘ siehe Abschnitt Konkrete politische Ziele, S. 448.
– 3 –
Ein ‚Weiter so‘ führt ins ‚Aus‘. ‚Business as usual = Death‘
>> Letzteres stand auf einem Plakat von Extinction Rebellion zu lesen, als im Oktober 2019 der Betrieb der Londoner U-Bahn lahmgelegt wurde (vgl. Snaith 2019).
Es bedarf daher einer grundlegenden Änderung unseres Lebensstils und unseres Wirtschaftens.
Wir alle, sowohl als Gesellschaft als auch als Individuen, werden uns und unser Verhalten stark zu ändern haben – der Zeit-Journalist Bernd Ulrich hält dazu treffend fest:
„Wenn es einen Weg gäbe, die Klimawende auch ohne grundlegende Veränderungen bei Produktion, Konsum und Mobilität zu bewerkstelligen, dann hätte die GroKo ihn sicher schon gefunden.“ (2019)
>> siehe dazu Aspekt Was ist politisch zu tun, S. 436, in Abschnitt Politik für Enkel*innen, S. 372.
Im Übrigen ist es angebracht, einen Unterschied zwischen Überfluss- und Wohlstandsgesellschaft zu machen.
Es braucht immer ein*n Mutige*n, die/der die Wahrheit ausspricht – das bin jetzt mal zur Abwechslung ich selbst. Für Deutschland auf den Punkt gebracht:
Wir haben den Überfluss, der uns nie zustand, loszulassen, um die Chance zu wahren, einen grundlegenden Wohlstand zu erhalten.
>> siehe dazu Abschnitt Was kann ich tun, S. 163 und dort Aspekt Unhaltbarer Lebensstil in Deutschland, S. 164.
Und genau das ist die Botschaft, die von einer/m (nicht grünen/linken) führenden Politiker*in des Bundestages den deutschen Bürger*innen mitgeteilt zu werden hat – bislang hat sich keine*r getraut.
- Und: Mit ‚weniger Konsumieren, weniger Reisen, weniger Fleisch‘ ist es nicht getan. Unser wachstumsbasiertes Wirtschaftssystem ‚funktioniert‘ nur dann, wenn wir ein HöherSchnellerWeiter-Leben im Überfluss führen, d.h. mehr konsumieren als notwendig, also: Überflüssiges kaufen, das nach zwei Wochen in der Ecke steht. Und weil das in diesem System notwendig ist, lobt der Staat auch umgehend ‚Abwrackprämien‘ u.ä. aus, um die Nachfrage künstlich hochzuhalten – und Menschen kaufen dann Autos, die sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht benötigen.
Wenn also unsere Wirtschaft nur ‚brummt‘, wenn Überfluss gelebt wird – und wenn wir diesen Überfluss loszulassen haben, um die Chance auf einen grundlegenden Wohlstand zu erhalten, folgt daraus logisch, dass wir unser derzeitiges Wirtschaftssystem hin zu einem künftig weniger wachstumsorientierten Modell umzubauen haben.
Auch hierüber erfahren wir nichts von deutschen Politiker*innen. Wenn diese – insbesondere die Vertreter*innen der Union und der FDP – hervorheben, es liege an den Bürger*innen selbst im Interesse des Klimaschutzes Vernunft walten zu lassen und weniger zu konsumieren, dann ist das schlicht eine Lüge, weil genau diese geforderte ‚Vernunft‘ im derzeitigen wachstumsorientierten Turbokapitalismus in die Rezession führen würde. Dieses Dilemma hat schnellstmöglich aufgelöst zu werden.
>> Ich nehme an dieser Stelle Anton Hofreiter, Fraktionschef der Grünen, von diesem Vorwurf aus. Aber er ist ja an der Teilnahme des eingangs von mir ausgerufenen Wettbewerbs ohnehin ausgeschlossen, vgl. S. 27.
Daraus ergibt sich – hier in den Worten des Sozialpsychologen Harald Welzer – eine Forderung an uns, an die Erwachsenen- und Entscheider*innen-Generationen:
- „Die größte Aufgabe meiner Generation ist, unser Erfolgsmodell der liberalen rechtsstaatlichen Demokratie auf die Basis eines völlig neuen Naturverhältnisses zu stellen. Das heißt Aufhören mit der expansiven Form des Wirtschaftens, die alle Bedingungen für unser Überleben langfristig zerstört“ (2019).
>> Ausführlich dazu siehe Aspekt Wir müssen ran an unser Wirtschaftssystem, S. 436, in Abschnitt Politik für Enkel*innen, S. 372.
– 2 –
Status quo und Perspektive
Das Thema ‚Klimakrise/sechstes Massenaussterben‘ ist so groß, drängend und erschlagend, dass viele Menschen allein schon deshalb den ‚Kopf in den Sand‘ stecken.
Hinzu kommt, dass die Menschheit bei diesem Thema bislang nur langsam vorankommt, was so Manchen verständlicherweise nicht eben übermäßig zuversichtlich stimmt.
Aber:
Im Herbst 2018 hätte niemand erwartet, dass wir jetzt dort stehen, wo wir stehen.
- Fridays for Future (FFF) und Extinction Rebellion (XR) geben – neben anderen Gruppen und NGOs (Non Governmental Organizations) wie z.B. Ende Gelände sowie die ‚Klassiker‘ à la Greenpeace und B.U.N.D. – derzeit erfolgreich den Pfad vor:
- Wir Bürger*innen finden mittlerweile eine funktionierende Protestkultur und -infrastruktur vor – wir brauchen uns als Individuen dort nur ein wenig anzuhängen – und schon ist jede*r von uns auf dem Weg.
Und, ganz wichtig ist die Erkenntnis:
Für die Durchsetzung einer politischen Agenda benötigt man nicht unbedingt die aktive Mehrheit der Bevölkerung,
sondern eine Art ‚Katalysator‘, d.h. Multiplikator*innen, die vorangehen:
- „Es müssen drei bis fünf Prozent der Unternehmer und Vorstände sein, die sich in diese Geschichte [eines neuen Narratives, wie es weitergehen soll] einschreiben, drei bis fünf Prozent der Unterhändler auf den internationalen Klimaverhandlungen, drei bis fünf Prozent der Staatschefs, drei bis fünf Prozent der Professorenschaft, der Lehrer, der Polizistinnen, der Anwälte, der Journalisten, der Schauspielerinnen, der Hausmeister, der Arbeitslosen usw. Dann potenzieren sich die Kräfte, weil das, was die einen tun, von den anderen begleitet und gefördert werden kann“ (Welzer 2016, 285).
Und:
- „Der Weg in eine nachhaltige Moderne… wird nur unter der Voraussetzung wirkungsmächtig werden, … [wenn] in jedem gesellschaftlichen Segment, in jeder Schicht, in jedem Beruf, in jeder Funktion ein paar Prozent der Beteiligten beginnen, die Dinge anders zu machen“ (ebd., 285).
- Welzers Aussage zur Entstehung wirkungsmächtiger Gruppendynamik wird bestätigt durch die Forscherinnen Erica Chenoweth and Maria J. Stephan, die umfassend belegen, dass
- friedlicher Protest etwa doppelt so effektiv ist wie Gewalt-beinhaltener Protest – und dass
- die Aktivierung von 3,5% der Bevölkerung ausreicht, um relevante politische Veränderungen herbeizuführen (vgl. Robson 2019).
>> Anmerkung: 3,5% = 2,87 Mio Bundesbürger*innen – bei Fridays for Future waren am 20.9.2019 laut Veranstalter immerhin rund 1,4 Mio Menschen bundesweit auf den Straßen, also rund die Hälfte der erforderlichen ‚kritischen Masse‘ (Wenderoth/Koch 2019).
Eine wirklich gute Nachricht ist im Welzer’schen Sinne daher:
Tausende weltweit aktive Aktivist*innen von Fridays for Future haben (basierend auf Greta Thunbergs Schulstreik und sozusagen gemeinsam mit dem meteorologisch unheimlich anmutenden Sommer 2018) international, aber insbesondere in Deutschland das Thema ‚Klimakrise‘ nunmehr in die Mitte der Gesellschaft getragen.
>> siehe ausführlich dazu Aspekt Konkrete politische Ziele, S. 446, in Abschnitt Was ist politisch zu tun?, S. 446.
– 1 –
Ein letztes Schlaglicht dieser Einführung:
Ein sehr wichtiger Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Erderhitzung ist die mehrdimensionale ‚Klimagerechtigkeit‘, international als ‚Climate Justice‘ bekannt:
Hier geht es um Generationengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, globale Kohlenstoffgerechtigkeit bzw. um Gerechtigkeit bei der künftigen Nutzung von Ressourcen.
Und:
- Die Klimakrise ist weit mehr als ein ‚Umweltproblem‘. Hier geht es um Menschen, um Menschenleben – und hier wiederum um das Leben von den ärmeren Menschen, um die Menschen des Globalen Südens, die am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben und am meisten von dieser Krise betroffen sind und künftig (vorläufig) am meisten darunter leiden werden.
- Auch finanziell, denn die letztlich durch die CO2-Emittenten verursachten Schäden müssen ja irgendwie beseitigt werden:
- „Perverserweise sind Menschen in Armut nur für einen Bruchteil der weltweiten Emissionen verantwortlich, aber sie werden die Hauptlast[, d.h. u.a. die finanziellen Kosten] des Klimawandels tragen und die wenigsten [u.a. finanziellen] Fähigkeiten haben, sich davor zu schützen“, so der UNO-Sonderberichterstatter Philip Alston. (Die Presse 2019, vgl. Abschnitt Klimagerechtigkeit S. 625ff.).
Rahmstorf und Schellnhuber bringen die für ‚Climate Justice‘ notwendige Konsequenz mit folgenden Worten auf den Punkt:

„[L]etztlich gibt es doch nur eine robuste und moralisch vertretbare Antwort: Jede Erdenbürgerin und jeder Erdenbürger hat exakt den gleichen Anspruch auf die Belastung der Atmosphäre, die zu den wenigen ‚globalen Allmenden‘ zählt.“ (2018)
Ohne umfassende Klimagerechtigkeit inkl.Technologie-, Wissens- und Know-how-Transfers hat der Globale Süden, haben dessen Regierungen, haben dessen Bewohner*innen keinen Grund, bei der Bewältigung der Klimakrise und bei einer Abmilderung des sechsten Massenaussterbens mitzuziehen.
Schon dieser eine Aspekt für sich genommen bedeutet, dass unser bisheriges Weltwirtschaftssystem, dass auf Ausbeutung des Globalen Südens basiert, definitiv ausgedient hat.
>> siehe ausführlich dazu Abschnitt Klimagerechtigkeit (‚Climate Justice‘) – und der Globale Süden‘.
Zeit, den Kopf aus dem Sand zu ziehen:
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Zero. Ignition. Go!
Vielleicht ist die Menschheit eines Tages – rückblickend – für diese tiefe Krise dankbar, weil sie uns die Augen geöffnet und geholfen hat, den neoliberalen Turbokapitalismus, das HöherSchnellerWeiter, den Neokolonialismus, den Materialismus, den Finanzialismus sowie die Ausbeutung des Globalen Südens etc. pp. zu überwinden.
Utopisch? Ja. Und gleichzeitig doch wahrscheinlicher und chancenreicher denn je.
Denn: So lange der Neoliberalismus ‚funktionierte‘, gab es keinerlei Möglichkeiten bzw. wurden keine Gelegenheiten (‚Windows of Opportunity‘) genutzt, um das System abzukühlen, es per Betonung der Sozialen Marktwirtschaft zu zähmen oder den erst in den 1980er Jahren entschlüpften neoliberalen Geist wieder in die Flasche zu stecken.
Das erscheint mir das neue Narrativ zu sein:
Die Doppelkrise Klimakrise/Massenaussterben bietet – trotz der bedrohlichen Kulisse – eine Chance. Sie ist die Chance, die wir bislang nie hatten. Sie kann uns von unserem selbstzerstörerischen Trip befreien, das Leben freier machen und für globale Gerechtigkeit sorgen – nutzen wir sie.
Die Chance ist nicht groß. Aber es ist unsere einzige Chance.
Ein Schlussgedanke:
Der Geologe Anthony Leiserowitz, der sich in Yale mit dem Yale Program on Climate Change Communication mit einem ganzen Team um die Frage der gelungenen Klimakommunikation kümmert, bringt die entscheidende, konstruktive ‚Klimabotschaft‘ auf die folgende „Climate Change in 10 Words“-Kurzformel:
„It’s real, it’s us, it’s bad; experts agree, there’s hope!“
>> siehe 30-Sekunden-Video von Leiserowitz: https://youtu.be/TbtVXWNrN9o , 2017 (Abrufdatum 2.2.2020)
„Der Klimawandel ist erwiesen und menschengemacht, hat gravierende Risiken, CO2 ist die Ursache, wir können etwas tun!“ (Übersetzung: Michael Brüggemann, 2019)
Legen wir also los.
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