Von ‚Wachstumszwängen‘ und anderen Glaubenssätzen.
Wir alle haben unsere Unschärfen und haben Gedanken(-muster) qua Erziehung, Erfahrungen, Sozialisation, Gesellschaft und Medien übernommen ohne sie zu hinterfragen1 – und diese sind als Glaubenssätze tief in unserem Hirn eingefräst. Das macht die so verankerten Dinge aber nicht notwendig wahr und richtig.
- Wachstum – ein Naturgesetz? Du kannst Dir eine Welt nicht ohne Wachstum vorstellen? Bedeutet das automatisch, dass Wachstum per se (immer) richtig ist?
- Und Kuchen ohne Eier geht nicht? Oops, Du bist nicht auf dem neuesten Stand. Das geht. Sehr gut.
- Du kannst ohne Fleisch nicht leben? Nur weil Du es seit Deiner Kindheit nicht anders kennst, ist es auch wahr? – Kann es sein, dass Du nur nicht über den Tellerrand Deiner Gewohnheiten schauen magst? Ist eine solche gedankliche Unflexibilität nicht eher ein bisschen peinlich?
- Ein Leben ohne Auto ist für Dich Städter*in nicht vorstellbar? Schau Dir die jungen Stadtbewohner*innen an – diese nehmen ein eigenes Auto oftmals eher als ‚Klotz am Bein‘ wahr. ‚Zugang statt Besitz‘ lautet die Formel – und schon ist man ein aufmerksamkeitsintensives Ding los, dass 23 Stunden ungenutzt vor der Tür steht (vgl. S. 296).
- Der Mensch ist im Grunde schlecht? Quatsch. Die überwältigende Mehrheit der Menschen muss ‚im Grunde gut‘ sein: Andernfalls wäre schlicht keine zivile Gesellschaft lebensfähig. Es gäbe keine.
Zwei Punkte – das negative Menschenbild und das Wachstumsdogma – möchte ich im Folgenden noch einmal gezielt herausgreifen und ‚unter die Lupe‘ nehmen:
Glaubenssatz ‚Der Mensch ist im Grunde schlecht‘
Diese Grundannahme über das Leben bzw. über den Menschen, d.h. unser negatives Menschenbild, ist m.E. gerade in Deutschland äußerst tief verankert.
Das führt im Zusammenhang mit der Klimakrise und dem sechsten Massenaussterben zu einem grundlegenden Problem:
- Ist man davon überzeugt, dass der Mensch unverrückbar selbstsüchtig und gierig ist, geht man mutmaßlich auch davon aus, dass HöherSchnellerWeiter, Turbokapitalismus, Umweltzerstörung unvermeidbar sind – und eine entsprechende Veränderung per se unmöglich ist.
Wäre der Glaubenssatz, der Mensch sei ‚im Grunde schlecht‘ allumfassend richtig, würde dies ein bedenkliches Licht auf die Möglichkeiten werfen, der Klimakrise und sechstes Massenaussterben mittels einer sozial-ökologischen Transformation zu begegnen.
Der niederländische Autor, Aktivist und Historiker Rutger Bregman hält zu diesem negativen Menschenbild fest:
- „Dass Menschen von Natur aus egoistisch, panisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos. Der Biologe Frans de Waal spricht … von einer ‚Fassadentheorie‘. Die Zivilisation wäre demnach eine dünne Fassade, die beim geringsten Anlass einstürzen würde.“ (Bregman 2020a, 21)
Im Folgenden ist daher die Stichhaltigkeit der Fassadentheorie bzw. des negativen Menschenbildes umfassend zu prüfen entlang der Ausführungen und Untersuchungen von Rutger Bregman (Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit, 2020),Sebastian Junger (Tribe – Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit, 2017), Hans Rosling (Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, 2018) sowie von Yuval Noah Harari (Eine kurze Geschichte der Menschheit, 2015) und Hartmut Rosa („Bedürfnis nach ‚Resonanz‘“, 2016).
1. Menschen sind im Grunde gut, neigen aber zu einem negativen Weltbild.
Bregman hinterfragt in seinem beindruckenden und überaus aufwändig recherchierten Buch Im Grunde gut (2020a) das weit verbreitete negative Menschenbild, in dem er die wesentlichen Studien der Nachkriegszeit der zu diesem Zeitpunkt noch sehr jungen wissenschaftlichen Disziplin der Sozialpsychologie untersucht. Diese prägten seither maßgeblich das Menschenbild der Menschen der westlichen Industrienationen. Subtext dieser damaligen Forschungen war stets die Fragestellung „Wie konnte es zu Auschwitz kommen?“ (vgl. 187). Bregman hat diese weit wirkenden Studien jetzt auf Basis der der nunmehr geöffneten Studien-Archive erneut analysiert und auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Tatsächlich kommt er für jede einzelne dieser Studien zu dem Schluss, dass diese entweder manipuliert waren (vgl. 174), eine Fälschung darstellen (vgl. 176) oder im Versuchsaufbau inadäquat gewesen sind – und daher gar nicht das maßen, was sie vorgaben zu messen (vgl. 200)1. Im Ergebnis folgt aus diesen Studien etwas ganz anderes, wie der Psychologe Don Mixon erklärt: „Menschen sind bereit, sehr weit zugehen und schwer zu leiden, um Gutes zu tun“ (196). Bregman fügt hinzu, dass das Böse „sich immer als das Gute tarnen“ (ebd.) muss, d.h. Täter*innen z.B. in Diktaturen sind – oftmals – „davon überzeugt, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte [stehen]“ (199).
Den allermeisten Menschen ist zudem eine „natürliche Abneigung gegen Gewalt“ (248) gemein. Würden heutige Menschen ihr tierisches Mittagessen persönlich schlachten müssen, die Welt wäre eine andere – und reich an Vegetarier*innen (vgl. 246). Auch Mobbing wohnt dem Menschen nicht per se inne und tritt i.d.R. nur unter durchaus vermeidbaren Vorbedingungen auf (vgl. 320). Des Weiteren hebt Bregman hervor, dass in Kriegen viele Soldaten gar nicht bzw. viel weniger schießen, als oberflächlich betrachtet zu erwarten wäre (vgl. 103, 106) und Kriegshandlungen oftmals nicht nüchtern ablaufen. Beispielsweise hatten „die Deutschen 1940 [vor dem Angriff auf Paris]… 35 Millionen Methamphetamin-Tabletten genommen… auch bekannt als Crystal Meth, eine Droge, die extrem aggressiv machen kann“ (247). Für eine im wahrsten Sinne gezielte Ausbildung zur Soldatin bzw. zum Soldaten bedarf es daher einer umfassenden Enthemmung, um auf Menschen zu schießen (vgl. 247).
Dass wir (tendenziell) ein negatives Menschenbild besitzen, hat viel damit zu tun, dass wir evolutionsbedingt „sensibler für das Böse als für das Gute“ (32) (sog. negativity bias) sind. Schlechte Erfahrungen bleiben i.d.R. länger und emotionaler in Erinnerung als gute. Das alte Journalisten-Bon-Mot Bad news are good news ist folglich wahr: Bad news sindmit mehr Gefühlen verknüpft, also aufregender und in diesem Sinne interessanter und führen potenziell zu mehr Zeitungsverkäufen.
- „Das Gute im Menschen findet in der Zwischenzeit keinen Platz in der Berichterstattung. Denn das Gute ist alltäglich“ (33).
Zeitungen und Nachrichten bilden folglich nicht einmal ansatzweise die Realität ab1. Während es um 1815 möglicherweise Wochen, Monate oder gar Jahre gedauert hat, bis man in einem Dorf im Hunsrück vom Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora2 gehört hat, obwohl die Hunsrücker Ernten im „Jahr ohne Sommer“ aufgrund der Vulkanasche- und Feinstaub-bedingten geringeren Sonneneinstrahlung miserabel waren (vgl. Die andere Heimat von Edgar Reitz, 2013), erfahren wir heute quasi in Echtzeit von den jeweils schlimmsten bzw. emotionalsten Nachrichten weltweit, die mit unseren eigenen Lebensumständen i.d.R. nicht das geringste zu tun haben, uns aber gleichwohl beschäftigen und prägen. Wir sind oft weit besser über Ereignisse in den USA informiert als über Neuigkeiten unseres eigenen Stadtteils.3 Wer sich also morgens als erstes ‚Die Zeitung‘ reinzieht, ist bereits vor dem Frühstück gewissermaßen mit einer Negativität aufgeladen, die realitätsfern ist.
Die Realität hingegen ist, dass in Notsituationen, wie z.B. zur Zeit des Hurricanes ‚Katrina‘ in New Orleans 2005 „das Beste im Menschen zum Vorschein [kommt]“ (23): „[E]gal wie viel geplündert wird… es verblasst immer im Vergleich zu dem weitverbreiteten Altruismus, der zu einem großzügigen und umfangreichen Geben und Teilen von Gütern und Diensten führt“ (ebd.). Und worüber berichten die Zeitungen? Genau. Und im Falle von New Orleans schrieben sie darüber hinaus über lauter grauenvolle Dinge, deren spätere Überprüfung ergab, dass sie allesamt Fake News1 waren (vgl. 22).
Journalist*innen hatten und haben bei der Auswahl bevorzugt negativer Nachrichten z.B. durch die (Nicht-)Berichterstattung direkten und dabei überaus anhaltenden Einfluss auf unser aller Menschenbild. Bregman führt aus:
- „Ich vertiefte mich in die akademische Literatur und stieß bald auf ein Muster: Wenn ein Wissenschaftler den Menschen als mordsüchtigen Affen darstellte, wurde diese Studie meist von Journalisten aufgegriffen. Aber wenn ein Kollege die Gewalttätigkeit des Menschen relativierte, fand das kaum Aufmerksamkeit“ (109).
Unser negatives Menschenbild prägt auch die Art, wie mit Straftäter*innen umgegangen wird – und sorgt dafür, dass es unserer Intuition widerspricht, Insass*innen von Gefängnissen sehr gute Lebensbedingungen zu bieten. Doch zeigt diese in Norwegen gelebte positive Praxis, dass es aufgrund einer ungleich niedrigeren Rückfallquote z.B. in Relation zu den USA ethisch, finanziell und gesamtgesellschaftlich viel Sinn macht, entsprechend vorzugehen (vgl. S. 360 u. Michael Moore, Doku Where To Invade Next, 2015).
Mit der Herausstellung, dass unser Weltbild viel zu negativ und daher realitätsfern ausfällt, schließt Bregman an die Studien von Hans Rosling (s.a. S. 613ff.) an, der in seinem Buch Factfulness – wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist (2018) nachweist, dass Menschen nicht nur ein immer wieder viel zu negatives Bild vom Weltgeschehen haben, sondern darüber hinaus sogar nach Beweis des Gegenteils an diesem Welt- und Menschenbild irrational-beharrlich festhalten:
- „Selbst unmittelbar nach meinen Präsentationen hörte ich, wie Leute Ansichten über Armut und Bevölkerungswachstum äußerten, die ich soeben mit Fakten wiederlegt hatte“ (2018, 22).
Das Erstaunen über den irrational-beharrenden Wesenszug des Menschen zieht sich durch Roslings gesamtes 400-seitiges Buch.
Zu alledem passt auch, dass die meisten Menschen nur schwerlich in der Lage sind, positive Utopien gedanklich zu entwickeln, während Dystopien das verkaufsfördernde Salz in der Suppe eines jeden Hollywood-Blockbusters vom Schlage Armageddon (1998, mit Bruce Willis) sind.
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa bemerkt dazu:
- „Das Erstaunlichste unserer modernen Gesellschaft ist, dass es uns viel leichter fällt, uns das Ende der Welt auszumalen als eine Alternative zu unserem herrschenden ökonomischen, politischen und kulturellen System“ (zit. in Opitz 2012, 253).
Zwischenfazit: Die das Menschenbild bis heute maßgeblich prägenden Studien der Nachkriegszeit haben keine Gültigkeit. Menschen wollen auf der guten Seite stehen, neigen aber dazu, die (Mit-)Welt negativer zu sehen als sie ist. Letzteres ist evolutionsgeschichtlich zu erklären.
Zur genaueren Beantwortung der Frage, ob der Mensch an sich eher gut oder schlecht ist, ist ein erweiterter Blick in eben jene Evolutionsgeschichte der Menschheit zu werfen:
2. Evolutionsgeschichte des Menschen: Survival of the friendliest
Der Mensch stammt bekanntermaßen vom Affen ab – was ihn von letzterem abhob, beschreibt der Autor, Journalist und Dokumentarfilmer Sebastian Junger in seinem 2017 veröffentlichten Buch Tribe. Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit:
- „Zwei der Verhaltensweisen, die nur den [verschiedenen] frühen Menschen eigen waren, sind das systematische Teilen von Nahrung und die altruistische Verteidigung der Gruppe. Andere Primaten verhielten sich kaum so, aber die Hominiden taten es, und dieses Verhalten half, sie auf einen evolutionären Weg zu bringen, der die moderne Welt schuf. Die frühste und grundlegende Definition von Gemeinschaft – von Stamm – wäre damit: die Gruppe Menschen, die zu ernähren und zu verteidigen man helfen würde“ (142).
Bregman arbeitet ergänzend heraus, was den Homo Sapiens von (fast) allen Primaten sowie von den weiteren Vertretern der Gattung ‚Homo‘, darunter der Neandertaler (Homo neanderthalensis), unterscheidet: Weniger seine Hirnleistung o.ä. (vgl. 2020a, 75) – sondern: seine soziale Kompetenz.
- „Wir waren dümmer, aber besser miteinander vernetzt“ (Bregman 92).
Der Historiker Yuval Noah Harari fügt dem hinzu:
- „Wenn der Homo sapiens die Welt eroberte, dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache“ (2015, 31)1 –
die äußerst komplexe soziale Interaktionen ermöglicht.
Der russische Forscher und Genetiker Dmitri Beljajew geht über die grundlegende Abstammung von Affen hinausgehend davon aus, dass
- „wir domestizierte Affen sind. Mit anderen Worten, er[, d.h. Beljajew] nahm an, dass die freundlichsten Menschen in Zehntausenden von Jahren die meisten Nachkommen gezeugt hatten: The survival of the friendliest“ (Bregman 2020a, 85).
Analog zur Haustierwerdung z.B. des Wolfes seien uns dabei Stresshormone und somit viel Aggressionspotenzial z.B. gegenüber unseresgleichen abhanden gekommen.
- „Ein Jahrhundert zuvor hatte Charles Darwin bereits festgestellt, dass domestizierte Tiere – Schweine, Kaninchen, Schafe – erstaunliche[, visuell erkennbare] Ähnlichkeiten aufweisen. Sie sind etwas kleiner als ihre wilden Vorfahren. Sie haben kleinere Gehirne und Zähne… Und vielleicht das Auffälligste: Sie behalten auch nach ihrer Kindheit ein jugendliches Aussehen“ (81).
- Außerdem geht man heute davon aus, dass domestizierte Tiere trotz kleinerer Gehirne intelligenter und klüger sind als ihre wilden Verwandten (vgl. 89).
Auf diese Weise – namentlich aufgrund seiner sozialen Intelligenz – konnte sich der Homo sapiens – Bregman nennt ihn nun folgerichtig „Homo puppy“ (vgl. 86f.) – mit eben diesen – vor allem kommunikativen – Eigenschaften durchsetzen gegen andere menschliche und tierische Spezies, woraus der Schluss zu ziehen ist:
- „Kampf und Konkurrenz spielen eine klare Rolle in der Entwicklung des Lebens, aber jeder Erstsemesterbiologe lernt heutzutage, dass Zusammenarbeit viel ausschlaggebender ist“ (94).
Schade, dass dies nicht – am besten gleich in der Orientierungseinheit – auch Studierenden der ökonomischen Fachrichtungen à la BWL beigebracht wird.
>> Zur u.a. auch von Michael Kopatz erhobenen Forderung, Studierende der Betriebswirtschaftslehre etc. auch mit Wirtschaftsmodellen und -theorien außerhalb der Wachstumslogik vertraut zu machen siehe Abschnitt Ideen für eine nachhaltige Zukunft, S. 499.
Die Wirtschaftswissenschaften stützen ihre stark von der Fassadentheorie geprägten Theorien auf die Annahme, der Mensch sei ein Homo oeconomicus. Es wurde – so Bregman – allerdings erst um das Jahr 2000
- „untersucht, ob es überhaupt einen ‚Homo oeconomicus‘ gab… Sie führten auf der Suche nach jemandem, der dem egoistischen Menschenbild entsprach, dem die Wirtschaftswissenschaftler seit Jahrzehnten anhängen, allerlei Tests mit Bauern, Nomaden, Jägern und Sammlern durch. Ohne Ergebnis. Immer wieder verhielten sich die Menschen sozial und grundgut… [Schließlich fand man das gesuchte Wesen doch:] Als Homo oeconomicus erwies sich nämlich der Schimpanse“ (35)1.
„Menschen [hingegen] tun ständig seltsame Dinge, die nicht ins behavioristische Menschenbild2 passen“ (296).
Man denke hier an Hobbys, Freiwilligenarbeit, Aktivismus, Zivilcourage oder körperliche Anstrengungen wie bspw. Bergsteigen.
Auch Richard David Precht hebt hervor, dass es keineswegs Teil der biologischen Natur des Menschen ist, „bei allem, was sie herstellen, stets das Ziel verfolgen, ihr Geld zu vermehren, … Wäre dies so, hätte die Menschheit bis in die Renaissance weitgehend gegen ihre eigene Natur gelebt und täte es in manchen Teilen der Welt, etwa im Ituri-Urwald, bei den Massai oder den Mangyan auf den Philippinen noch heute“ (2018, 19).
Der Mensch ist also aus einer Survival of the friendliest-Evolution1 hervorgegangen – und war längste Zeit seiner irdischen Existenz Jäger*in und Sammler*in. Schon der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ging davon aus, dass der Mensch als Wildbeuter ein bezogen auf Mitmenschen überaus friedliches Wesen aufwies und „wir von innen heraus gut seien“ (Bregman 2020a, 64), uns jedoch die Zivilisation, d.h. die sog. Landwirtschaftliche Revolution verdorben habe (vgl. ebd., s.a. Harari 2015, 101ff.).
In der Tat ist es äußerst zweifelhaft, ob sich der Mensch seinerzeit einen Gefallen damit getan hat, sesshaft zu werden:
- Bregman zeigt, dass die historisch ersten Kriege erst in dem Zeitraum zu verzeichnen sind, als Menschen ihr Dasein als Jäger*innen und Sammler*innen aufgaben und sesshaft wurden: „Zehntausende Jahre sind wir als Nomaden über die Erde gezogen und Konflikten aus dem Weg gegangen“ (226, vgl. 116). „Höhlenmaler begannen [im Unterschied zu vorher], Bilder von Bogenschützen zu zeichnen, die einander angriffen“ (124). „Mit dem Aufkommen der ersten großen Siedlungen begann sich das religiöse Leben radikal zu verändern. Zum ersten Mal glaubten die Menschen an mächtige und rachsüchtige Götter“ (130). Und: „Mit der Erfindung des Privateigentums und der Landwirtschaft ging die Zeit des Proto-Feminismus zu Ende… Das Patriachat war geboren“ (127-128) sowie allgemein profundere Herrschaftsstrukturen. Ergo: „Was wir heutzutage ‚Meilensteine der Zivilisation‘ nennen – die Erfindung von Geld, Schrift und Rechtsprechung –, waren ursprünglich Meilensteine der Unterdrückung“ (133).
Diese Beschreibungen legen nahe, dass wir Menschen mit den Folgen der landwirtschaftlichen Revolutionen nicht gut umgehen konnten und können. Gerne würden wir die Dinge dennoch positiv gestalten, weshalb wir in Gruppenprozessen – normalerweise – „die bescheidensten und freundlichsten Typen zum Anführer wählen“ (255).
Für solche Hierarchien sind wir Menschen jedoch nur bedingt geeignet, weshalb es passieren kann, dass, „sobald diese Führer an der Spitze stehen, … ihnen die Macht zu Kopfe steigt“ (ebd.).
Bregman hält dazu fest:
- „Machtgefühle [stören] einen mentalen Prozess…, den Wissenschaftler auch als ‚Spiegelung‘ bezeichnen, einen Prozess, der eine wichtige Rolle bei der Empathie spielt. Normalerweise ist der Mensch ein sich durch und durch spiegelndes Wesen. Wenn jemand lacht, lachen wir ebenfalls. Wenn jemand gähnt, gähnen wir mit. Aber die Mächtigen spiegeln seltener. Es ist, als wären sie nicht mehr mit anderen Menschen verbunden. Als wäre der Stecker gezogen“ (253-254).
Daneben gibt es die elite panic, die „entsteht, weil die Machthaber die Menschheit für ihr eigenes Ebenbild halten“ (Rebecca Solnit zit. in Bregman 2020a, 24).
Macht ist nichts, was dem Menschen ureigen ist, denn eigentlich möchte er Teil der Gemeinschaft sein.
Macht vereinzelt, isoliert – und entmenschlicht daher. So stellte bereits Astrid Lindgren äußerst treffend fest:
- „Macht zu haben und sie nicht zu missbrauchen, ist wohl das Schwerste, was es im Leben gibt“ (zit. in Deggerich 2002).
Umgekehrt üben Macht, Berühmtheit und Geld auf manche Menschen eine merkwürdige Anziehungskraft aus.
Ernsthaft. Bitte gebt dem nicht nach.
Wer auf großem Fuß lebt, tritt mit dem selbigen den Planeten in den Allerwertesten.
Es bedarf hier eines radikalen Aufmerksamkeitsentzugs – und evtl. eines Überdenkens der eigenen psychischen Befindlichkeit…
Könnten wir bitte aufhören, Menschen für ihr Vielfliegertum, Managergehabe und für ihre Protzerei zu bewundern?1
Zwischenfazit: Der Mensch ist Mensch geworden, weil er sich vernetzt, für seine Gruppe einsteht1 und auch Dinge macht, die ihm keinen unmittelbaren persönlichen Vorteil erbringen. Als er sesshaft wurde, nahmen Konflikte in allen Bereichen zu, weil er nun ein Leben führte, für das er qua Evolution nicht vorgesehen war: Vermehrt kamen Besitz, Macht, Hierarchie, Ungleichheit, Patriachat, Abgrenzung und Egoismus ins Spiel. Und damit vermehrt auch der abwärtsgerichtete soziale Vergleich, wie der Kognitionspsychologe Christian Stöcker feststellt: „Der ganze Kapitalismus von heute funktioniert nur, weil abwärtsgerichteter sozialer Vergleich – mein Erfolg, dein Misserfolg – ein so effektiver Motivator ist“ (2016).2
3. Menschen sind soziale Wesen – und wollen vor allem eines: Sinnstiftung.
Wenn man die Fassadentheorie unter dem Aspekt ‚angeblicher Egoismus des Menschen‘ betrachtet sowie die Punkte „Zusammenarbeit/Kooperation statt Konkurrenz“ und „in Notsituationen kommt das Beste zum Vorschein“ zusammennimmt, landet man unweigerlich erneut bei Sebastian Jungers Buch Tribe. Auf ganz andere Weise als Bronnie Wares 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen (2011)1 zeigt Junger auf, was Menschen eigentlich wichtig ist und was sie/er (abseits der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlaf, Sicherheit etc.) zum Wohlfühlen benötigt:
- Die „Theorie der Selbstdetermination… besagt, das der Mensch dreier grundlegender Voraussetzungen bedarf, um zufrieden zu sein: Er muss das Gefühl haben, seine Arbeit kompetent verrichten zu können, sein Leben muss ihm authentisch erscheinen, und er braucht das Empfinden, mit anderen Menschen in Verbindung zu stehen. Diese Werte gelten als ‚intrinsisch‘, was menschliches Glück betrifft, und wiegen weitaus schwerer als ‚extrinsische‘ Werte wie Schönheit, Geld oder Status“ (Junger 2017, 44).
Menschen fühlen sich intensiv mit anderen Menschen verbunden, wenn sie sich von ihnen ‚gesehen‘ fühlen – das ist Sinnstiftung pur: Menschen wollen gebraucht werden bzw. sich als nützlich empfinden, für andere Menschen da sein, d.h. für die Gemeinschaft. Dann wissen sie, wofür sie leben.2
>> vgl. Aspekt ‚Dana Meadows lehrte uns: ‚Menschen brauchen keine riesigen Autos; sie brauchen Respekt‘, S. 442 im Abschnitt Wir müssen ran an unser ökonomisches System, S. 438.
Doch die moderne Ellbogen-Leistungsgesellschaft steht dem diametral entgehen – und es gibt immer weniger Lebensbereiche, in denen Gemeinschaft im Vordergrund steht.
Sebastian Junger pointiert:
- „Die moderne Gesellschaft hat die Kunst perfektioniert, den Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben“ (Junger 2017, 19)1.
Mit entsprechenden Konsequenzen:
- „Wo Wohlstand und Urbanisierung einer Gesellschaft zunehmen, steigen Depressions- und Selbstmordraten in der Regel eher, als dass sie sinken“ (41).2
- „Laut einer Untersuchung durch die Weltgesundheitsorganisation WHO leiden die Menschen in reichen Ländern achtmal so oft an Depressionen wie die in ärmeren Ländern“ (42).
Entgegen unserem intuitiven Gefühl kann in Krisen- und Kriegszeiten die Anzahl der psychischen Erkrankungen und Suizide sinken:
- „Vor dem [Zweiten Welt-]Krieg wurde [in Großbritannien] vier Millionen Menschen der psychische Zusammenbruch prognostiziert, aber obwohl der ‚Blitz‘ anhielt, registrierten die psychiatrischen Kliniken im ganzen Land sinkende Aufnahmezahlen. … Psychiater beobachteten irritiert, dass Langzeitpatienten erlebten, wie ihre Symptome während der Zeit starker Luftangriffe abklangen. Die Anzahl freiwilliger Selbsteinweisungen in die Psychiatrie nahm auffällig ab, und sogar Epileptiker berichteten, dass ihre Anfälle seltener wurden. ‚In Friedenszeiten chronisch neurotische Menschen fahren jetzt Krankenwagen‘, bemerkte ein Arzt“ (73-74).
- „‚Wenn Menschen sich aktiv für eine Sache engagieren, sehen sie mehr Sinn in ihrem Leben… und daraus resultiert die Besserung ihrer mentalen Gesundheit‘, schrieb [der irische Psychologe H.A.] Lyons 1979 im Journal of Psychosomatic Research“ (75)3.
- Doch steht und fällt diese Aussage eben mit dem ‚gefühlten Sinn‘ bzw. dem nicht gefühlten Sinn. Und zwischen ‚destruktiver Krise‘ und ‚das füreinander Einstehen in einer Krise‘ liegt ein schmaler Grad. Bezogen auf die Folgen der derzeitigen Corona-Krise hält die Psychologin Tanja Michael in der SZ fest: „Von früheren Krisen wie der Deepwater-Horizon-Ölkatastrophe wissen wir aber: Viele Menschen werden danach sehr erschöpft sein, weil sie jetzt bis an ihre Grenzen und darüber hinaus gearbeitet haben. Viele Menschen werden in dieser Zeit häusliche Gewalt erlebt haben. Und es werden mehr Menschen an psychischen Störungen erkrankt sein.“
Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet das Urbedürfnis des Menschen, welches Junger in Tribe beschreibt, als das Bedürfnis nach ‚Resonanz‘: Auch er sieht Konsum, dem immer etwas Passives anhaftet, als bequemes und psychologisch letztlich nicht ausreichendes Surrogat für das aktive, sinnstiftende In-der-Welt-sein, bzw. Mit-der-Welt-Verbundensein: „Der Massenkonsum war das Heilsversprechen der nivellierten Mittelstandsgesellschaft und später einer globalisierten Klasse von Käufern. Was wirklich fehle zum Glück, so Rosa, sei eine antwortende Welt. Resonanzerfahrungen macht der Mensch beim Essen, beim Lachen, beim Lieben“ (Kern 2019): „‚Wenn Beschleunigung das Problem ist, ist Resonanz vielleicht die Lösung‘“ (ebd.), konstatiert Rosa.
Umweltpsychologe Gerhard Reese weist in diesem Zusammenhang auf eine mögliche Sicht auf die Welt:
- „Es gibt einen Ansatz, der nennt sich … ‚Globale Identität‘ oder ‚Identifikation mit der gesamten Menschheit‘ – und der Ansatz geht davon aus, dass, wenn wir es schaffen uns quasi mit der gesamten Menschheit als Gruppe zu sehen und mit dieser Gruppe zu identifizieren und dann durch diese Identifikation erleben, dass alle Menschen die gleichen Rechte, die gleichen Pflichten, den gleichen Wert haben, dass diese Identifikation uns motiviert uns eher klimaschützend zu verhalten“ (2020).
Junger ergänzt:
- „Katastrophen… bringen eine ‚Leidensgemeinschaft‘ hervor, welche den Individuen ermöglicht, eine ungeheuer beruhigende Verbindung zu anderen zu erfahren. Wenn Menschen angesichts einer existenziellen Bedrohung zusammenkommen, verwischen sich… zeitweilig die Klassenunterschiede…, Einkommensunterschiede … [und] Rassenzugehörigkeit spielt keine Rolle. Individuen werden allein danach eingeschätzt, was sie für die Gruppe zu tun bereit sind“ (Junger 2017, 80).
In abgespeckter Form kann diesen inneren Prozess jede*r erleben durch ein plötzliches Abweichen von der alltäglichen Routine, etwa durch ein schweres Gewitter, das man mit bislang unbekannten Menschen z.B. unter einem Hausvordach erlebt. Umgehend entsteht eine Verbundenheit, Gemeinschaft und Verbindlichkeit, die sich unter alltäglichen Umständen unter diesen zusammengewürfelten Menschen mutmaßlich nie entwickelt hätte. Und schon ist das Leben gefühlt: sinnvoll.
>> Zu einem sinnstiftenden Leben s.a. mein Webportal LebeLieberLangsam.de.
In Alltagszeiten der Stabilität einer modernen Leistungsgesellschaft hingegen suchen viele Menschen im Außen, was sie nach übereinstimmender Auffassung von Psycholog*innen, Philosoph*innen etc. nur im Innen finden können. Um diesem Gefühl der erschöpften Nutzlosigkeit zu entgehen, um sich selbst in der Vereinzelung dennoch zu spüren, lässt sich der Mensch (meist) unbewusst eine Menge einfallen: Materialismus1, Konsum, Reisen, Challenges, die Sucht nach Ruhm und Geld… aber eigentlich sind das nur Surrogate.
Anselm Grün:
„Wer nur um sich und seine Bedürfnisse kreist, der ist nicht zufrieden. Aber er sieht den Grund seiner Unzufriedenheit nicht in sich selbst, sondern in den äußeren Umständen“ (2019, 42).
Surrogate für Gemeinschaft… Junger bringt hier ein prägnantes historisches Beispiel ein: Er weist darauf hin, dass bei der erobernden Besiedlung Nordamerikas durch Europäer*innen das Leben der dortigen indigenen Völker offenbar eine ungeheure Anziehungskraft auf viele US-Einwander*innen besaß:
- „‚Tausende Europäer leben bei den Indianern, und es gibt nicht ein einziges Beispiel für einen Ureinwohner, der freiwillig Europäer geworden ist‘, beklagte ein französischer Emigrant namens Hector de Crèvecoeur im Jahr 1782. ‚Der soziale Zusammenhalt der Indianer muss etwas einzigartig Faszinierendes gehabt haben, das bei Weitem alles übertraf, dessen wir uns rühmen können‘“ (31).
- „Schon 1612 wurde von spanischen Behörden mit Verblüffung festgestellt, dass vierzig oder fünfzig Einwohner Virginias in Indianerstämme eingeheiratet hatten und selbst englische Frauen sich unverhohlen mit Ureinwohnern abgaben. Zu diesem Zeitpunkt lebten Weiße erst seit wenigen Jahren in Virginia, und viele von denen die sich den Indianern anschlossen, waren wohl in England geboren und aufgewachsen…: Es handelte sich um Söhne und Töchter Europas“ (32).
Soldat*innen in Krisengebieten und Kriegen widerfahren neben schlimmen Erlebnissen auch außergewöhnliche Sinnerfahrungen bezogen auf die Gemeinschaft unter den Mitkämpfer*innen.
- „Soldaten erleben dieses [dem Menschen evolutionsgeschichtlich eigene] stammesspezifische Denken1 im Krieg, aber wenn sie nach Hause kommen, merken sie, dass der wahre Stamm, für den sie gekämpft haben, nicht ihr Land war, sondern ihre Einheit [und vermissen den Krieg, wenn er vorüber ist (vgl. 121)]. Es ergibt absolut keinen Sinn, Opfer für eine Gruppe zu bringen, die selbst nicht willens ist, etwas zu opfern“ (142).2
Womit kriegsbedingte Posttraumata nicht ausschließlich auf unmittelbare Kampfhandlungserfahrungen o.ä. zurückzuführen sind, sondern eben auch auf das nachfolgende Nicht-Zugehörigkeitsgefühl in der Zivilgesellschaft (vgl. 120f.).
Zwischenfazit: Menschen suchen Sinnstiftung und finden sie evolutionär gesehen bei ihren Mitmenschen in der Gemeinschaft. Wo diese nicht funktioniert erfolgt der Griff zu Surrogaten z.B. in Form von Materiellem/Konsum, was aber einen unzureichenden Ersatz darstellt und deshalb nur vorübergehend Zufriedenheit schafft.
All diese Aspekte von Punkt 1 bis 3 zusammenfassend folgt, dass der Mensch
- im Grunde gut ist,
- eine natürliche Abneigung gegen Gewalt hat,
- sich in Krisensituationen i.d.R. grundgut verhält,
- aufgrund des negativity bias dazu neigt, die Welt zu düsterer zu sehen als sie ist, sich deshalb durch negative Zeitungsschlagzeilen bestätigt fühlt und sich leichter in Dystopien als in Utopien hineindenkt,
- ein tiefsoziales Wesen ist, das auf Vernetzung, Kommunikation und Gemeinschaft angewiesen ist,
- die Erteilung von Macht ihn mental tendenziell von seinen eigenen Bedürfnissen als tiefsozialem Wesen entfremdet,
- das Gefühl des Gebrauchtwerdens als sinnstiftend erlebt,
- Materielles eher als einen Ersatz für die eigentlichen Bedürfnisse nutzt, weshalb Materielles/Konsum i.d.R. nur kurzfristig Zufriedenheit schafft.
Und jetzt kommt die ‚bittere Pille‘, denn nach Bregman ist davon auszugehen, dass „[u]nser negatives Menschenbild … ein Nocebo“ (27) ist:
- „Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grunde nicht gut [und nicht sozial sind] sind, werden wir uns gegenseitig auch dementsprechend behandeln“ (ebd.).
In anderen Worten: Weil wir Menschen (tendenziell) dieses negative Menschenbild haben, erwarten wir (tendenziell) nichts anderes von Mitmenschen und Gesellschaft – und handeln in dieser Erwartungshaltung (tendenziell und) prophylaktisch negativer als es notwendig wäre. Womit unsere Gesellschaft entsprechend geprägt wird.
Aber das bedeutet auch:
- „Sobald wir glauben, dass die meisten Menschen gut sind, ändert sich … alles“ (Bregman 415).
„Ich gehe wie Rutger Bregman davon aus, dass Menschen einen guten Kern haben. Die Frage ist: Können wir den ausleben oder wird er permanent von außen attackiert?“ (Armin Steuernagel in Fuchs 2022)
Schlussgedanken:
- Es gibt immer den einen Deppen. Es ist sehr wertvoll, sich klarzumachen, dass es allzu oft diesen Einen gibt, aber er eben nur der Eine ist, der sich daneben benimmt. Dass wir von den Vielen, die sich angemessen verhalten eben deshalb kaum etwas mitbekommen. Das befreit uns von dem Gedanken, dass die Welt voll ‚Schlechtigkeit‘ ist.
- Wenn also ein negatives Menschenbild gemeinhin als realistisch gilt, wird das Gegenteil als unrealistisch – und provokant – angesehen: Wer ein positives Menschenbild vermittelt, betritt vermintes Terrain – und wird umgehend als naiv und als Gutmensch (vgl. Handbuch S. 215)1 verunglimpft. „Für jedes menschenfeindliche Argument, das man für ungültig erklärt, kriegt man zwei zurück … Wer sich für den Menschen einsetzt, tritt auch gegen die Mächtigen der Erde an“ (Bregman 2020a, 37).
Ergo: Was haben die vorangegangen Ausführungen mit der Biodiversitäts- und Klimakrise zu tun?
Eine Menge.
Weil auf Basis eines positiven Menschenbildes inkl. der Erkenntnis, dass der Mensch ein zutiefst soziales Wesen mit dem Bedürfnis nach Sinnstiftung und Gemeinschaft statt nach Ellbogen und Materialismus ist, Veränderungen wesentlich leichter möglich sind.
Anders ausgedrückt:
Zurückkommend auf die Ausgangsüberlegung
„Wäre die Fassadentheorie allumfassend korrekt und der Glaubenssatz, der Mensch sei ‚im Grunde schlecht‘ insgesamt richtig, würde dies ein bedenkliches Licht auf die Möglichkeiten, der Klimakrise und sechstes Massenaussterben mittels einer sozial-ökologischen Transformation zu begegnen werfen.“
ist festzuhalten, dass der Befund, dass der Mensch ‚im Grunde gut‘ ist die Umsetzung einer sozial-ökologischen Transformation nicht nur grundsätzlich leichter und realistischer erscheinen lässt, sondern darüber hinaus dazu beitragen könnte, dass mehr Menschen das Leben als sinnstiftend erleben und umgekehrt weniger bspw. materielle Surrogate vonnöten sind, was hinsichtlich Ressourcenverbrauch, Klimaschutz und Klimagerechtigkeit eine verdammt gute Nachricht ist.
Aber kommen wir noch einmal konkret zum wahrscheinlich stärksten Glaubenssatz1 unserer Zeit, d.h. zur
‚Mär vom unabdingbaren Wachstumszwang‘
Hört man hochrangigen Managern in Florian Opitz‘ Doku ‚System Error – Wie endet der Kapitalismus?‘ von 2018 zu,
Markus Kerber, Hauptgeschäftsführer BDI 2011-2017:
- „Ich halte das [=Wachstum] für ähnlich unabänderbar wie die Schwerkraft“ (ca. Min 6)
Andreas Gruber, der „120-Milliarden-Mann“1, Allianz:
- „Ich möchte mir eine Welt ohne Wachstum nicht vorstellen.“ (Min 30)
Tarek Mashhour, Leiter Produktionsstrategie Audi:
- „Wachstum ist ein Naturgesetz – und dem Naturgesetz können wir uns nicht verschließen.“ (Min 68)
Anthony Scaramucci, Ex-Berater des 2020 amtierenden US-amerikanischen Präsidenten:
- „Es gibt heute diese Vorstellung in diesen elitären Akademikerkreisen, dass wir nicht weiter wachsen werden. Das ist einfach falsch. 5.500 Jahre Menschheitsgeschichte zeigen doch, dass wir Menschen enorm wissbegierig und erfindungsreich sind… Wir werden Asteroiden aus dem All holen, die voller Platin sind… (ab Min 86).
bekommt man einen profunden Eindruck, wie tief der Glaube an das ‚ewige‘ Wachstum gerade auch bei Menschen, die sich quasi täglich mit selbigem beschäftigen, verankert ist – es trägt religiöse Züge.
Harald Welzer:
- Man „braucht gar nicht eigens zu begründen, wofür Wachstum ausgerechnet im Angesicht umfassender Knappheit taugen soll – es ist eben längst zu einer fraglosen Glaubenstatsache geworfen, das Wachstum, und Gläubige argumentieren nicht“ (2016, 58).
Graeme Maxton:
- „Die Wirtschaftslehre ist keine Naturwissenschaft, auch wenn manche Experten sich das wünschen würden. Sie ist ein Glaubenssystem, eher wie eine Religion, aber ohne die philosophischen Grundpfeiler. … Doch so, wie die meisten Menschen früher alles glaubten, was in der Bibel stand, glauben die meisten Menschen heute an viele Ideen der modernen Wirtschaftslehre“ (2020, 54).
Spannend ist, dass – „[s]o wichtig Wachstum heute daherkommt[, es a]ls ökonomisches Konzept historisch verblüffend neu [ist]. Zum ersten Mal prominent wird es in der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise in den 1930er“ (Welzer 2016, 59).
Harald Welzer schlägt vor, die Vokabel durch die Umschreibung „gesteigerter Verbrauch“ zu ersetzen:
- „Man stelle sich nur mal vor, der Koalitionsvertrag, den wir bald sehen werden, beginnt mit der Aussage: ‚Wir werden für gesteigerten Verbrauch sorgen.‘ Klingt gleich ganz anders, oder? Dann wäre bestimmt ein anderes Bewusstsein dafür da, was diese wohlklingenden Wachstumsbeschwörungen in Wahrheit immer bedeuten. Vor allem für die Umwelt“ (2021).
Interessanterweise entlarven Kinder ‚ewiges Wachstum‘ meistens sofort als ‚Quatsch mit Soße‘ – Erwachsene brauchen da i.d.R. sehr viel länger, dabei hat es der US-amerikanische Ökonom Kenneth E. Boulding schon vor Jahrzehnten auf den Punkt gebracht:
„Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum kann andauernd weitergehen in einer endlichen Welt, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“
Kenneth E. Boulding (1910-1993), US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler („Anyone who believes exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist.”)
Moderner – und beeindruckend einfach – drückt sich hier der Club of Rome aus:
„Dass die Wirtschaft ein Subsystem der Ökosphäre ist, scheint zu offensichtlich, um es extra zu betonen.“ (Weizsäcker et al. 2017, 110)
Tim Jackson:
- „Es herrscht fast so etwas wie eine kollektive Schizophrenie. Einerseits starrt uns das Offensichtliche quasi ins Gesicht. Das ist etwas, dass sogar meine Kinder oder Schulkinder verstehen können: Man kann in einem begrenzten Raum nicht ewig weiterwachsen. Die einzigen natürlichen oder biologischen Systeme, die das tun, bringen am Ende ihren Wirt um“ (zit. in Opitz 2018, ab Min 82).
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung jedenfalls – unverdächtig, linke Parolen auszugeben – hat schon 2006 in Nachlese des Stern-Reports (vgl. S. 161) klargemacht, dass das Medium FAZ weder ‚verrückt‘ noch ‚Ökonom‘ ist:
- „Entscheidungsträger, die jetzt noch Wachstum als das oberste Ziel vorgeben, sollten als Selbstmordattentäter betrachtet werden“ (Paoli 2006).
Dabei ist es durchaus korrekt, dass es – wie sich der Massachusetts Institute of Technology-Ökonom Andrew McAfee ausdrückt – die Menschen (vornehmlich in den Industrienationen) vermehrt gelingt „mit weniger Ressourcen mehr Wohlstand zu schaffen“ (Heuser/Pletter 2020, 21)1. Aber wir belassen es eben nicht bei den weniger Ressourcen, weshalb es eben nur eine relative, aber keine absolute Entkopplung gibt, vgl. auch Aspekt Rebound-Effekt, S. 257.
- Hinzu kommt, dass die (zu) vielen derzeit verbrauchten Ressourcen von sehr wenigen Menschen verbraucht werden.
- Doch genau dieses Weniger einer absoluten Entkopplung benötigen wir, wenn es weitergehen soll für uns auf diesem schönen Planeten. Weil wir absolut zu viele Ressourcen verbrauchen.
Fassen wir das Thema ‚ewiges weltweites Wachstum‘ doch mal in einen Dreisatz:
- Wir haben endliche Ressourcen auf der Welt, die sich nur über lange Zeiträume langsam – und nur teilweise – regenerieren.
- Wachstum basiert auf Ressourcen. Nicht nur auf physischen Ressourcen, aber definitiv zu einem guten Teil auf physischen Ressourcen.
- Daher ist ein weitgehend, dauerhaft und global von Ressourcen absolut entkoppeltes Wachstum – auch wenn Herr Lindner das anders sieht – aufs Ganze gesehen nicht möglich.
Doch die Betriebswirtschaftlehre – „souveräne[r] Verächter des Wirklichen“ (Welzer 2016, 51) – geht genau davon grundlegend aus.
Der Redaktionsleiter von Bloomberg News London, Simon Kennedy, erklärt explizit:
- „Den [ökonomischen] Lehrbüchern nach gibt es keine Grenzen des Wachstums“ (zit. in Opitz 2018, Min 44).
Franz Alt hält nicht so viel vom althergebrachten Curriculum der Betriebswirtschaftslehre:
- „Gegenüber dieser Irrsinns-Ökonomie ist die Theologie beinahe eine exakte Wissenschaft“ (2020, 99) und schließt noch ein Zitat von Hans Joachim Schellnhuber an: „Wenn ich mit einem Ökonomen spreche, das ist für eine Physiker die Höchststrafe…“ (ebd.).
Luisa Neubauer und Philip Repenning stellen fest:
- „Je höher das BIP [Bruttoinlandsprodukt], desto mehr Treibhausgase emittiert es, statistisch betrachtet. … Auch wenn es immer mehr Ländern gelingt, das Wachstum ihres BIPs vom Wachstum der Emissionen relativ [!] zu entkoppeln – der globale Trend ist eindeutig: Je höher der materielle Wohlstand und damit das BIP, desto größer ist dessen CO2-Fußabdruck“ (2019, 169).
Maja Göpel pointiert:
- „Wirtschaftwachstum in seiner heutigen Form heißt Klimawandel. Und mehr Wirtschaftswachstum heißt noch mehr Klimawandel“ (2020, 76-77).
Manfred Folkers:
- Gewissermaßen „sind Vermehrung, Gewinn und Maximierung Illusionen, die ausblenden, dass diese Phänomene an anderer Stelle gleichzeitig zu Verminderung, Verlust und Dezimierung führen“ (Folkers/Paech 2020, 94).
Naomi Klein bemerkt dazu:
- „[D]as Klima der Erde so zu verändern, dass chaotische, katastrophale Zustände eintreten, ist leichter zu akzeptieren als die Aussicht, die fundamentale, wachstumsgestützte, profitorientierte Logik des Kapitalismus aufzugeben“ (2015, 114).
Was in diesem Wachstums-Gedankenuniversum aus dem Blick geraten ist und vollkommen verdrängt wurde:
Wirtschaft, Kapital und Besitz unterliegen der Sozialbindung. Geld hat eine dienende Funktion.
Schaut man jedoch auf die ‚Kollateralschäden‘ des unhinterfragten Wachstumsdogmas (vgl. das gesamte Handbuch), drängt sich der Eindruck auf, es handele sich um einen Selbstzweck, um ein Wachstum um des Wachstums willen.
Dabei ist hervorzuheben, dass Wachstum per se erst einmal nichts Schlechtes ist. Wir brauchen es sogar:
Im Sinne der Klimagerechtigkeit (‚Climate Justice‘) ist noch in vielen Regionen des Globalen Südens Wachstum notwendig, damit die dort lebenden Menschen (endlich!) ein menschenwürdiges Leben erlangen können.
Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes:
- „[I]n in der ganzen Welt [gibt es] Menschen, deren Einkommen und damit auch die Konsumkraft noch steigen sollten. Das gilt ganz besonders für die Ärmeren im globalen Süden, die mit weniger als drei Dollar am Tag auskommen müssen. Wachstum komplett zu stoppen geht nicht“ (2020, 33).
„Ich habe nie gesagt, dass wir kein Wirtschaftswachstum haben können. Ich habe nur kritisiert, dass sich die Machthaber darauf und auf Geld konzentrieren, anstatt über das menschliche Leben und das Ökosystem zu sprechen.“
Greta Thunberg (zit. in Urisman Otto 2019, 9)
Tim Jackson:
- „[E]s ist wichtig zu betonen, dass einige Gesellschaften es auch heute noch brauchen. Sie brauchen dieses Wachstum, brauchen Nahrung, Kleidung, Wohnraum. Länder, in denen arme und unterernährte Menschen täglich von Weniger leben, als wir für einen Cappuccino ausgeben. Da ist Wachstum sinnvoll“ (zit. in Opitz 2018, Min 9).
Aber hier in Deutschland? Noch mehr Wachstum? Immer, immer weiter? Dann müssen wir noch mehr Überfluss leben, noch mehr Überflüssiges kaufen, damit der Konsummotor brummt.
Wollten wir nicht weniger…?
Der Club of Rome folgert im Jahr 2017:
- „Die Menschheit steht vor nichts anderem als der Schaffung eines neuen Denken und einer neuen Philosophie, da die alte Wachstumsphilosophie nachweislich falsch ist.1
- Es müssen zwei unterschiedliche Entkopplungsaufgaben verfolgt werden: Entkopplung der Produktion von Naturverbrauch… und Entkopplung der Zufriedenheit der menschlichen Bedürfnisse vom Imperativ zu immer mehr Konsum.“
(Weizsäcker et al. 2017, 121) (bezieht sich auf Maja Göpel (2016): The Great Mindshift. Berlin: Springer, 20-21)
‚Weniger ist mehr‘ in dieser ‚Welt des Zuviels‘:
- Individuell:
- Mal ernsthaft, was brauchen wir wirklich, um ein gutes Leben zu führen?
- Wie viel brauchen wir von dem Mist der in unseren Wohnungen und Kellern vor sich hinvegetiert?
- Wie viele Dinge schaffen wir an, weil andere sie haben, weil es zum guten Ton gehört, weil wir mithalten wollen?
- Was sind diese Dinge am Ende – am Ende Deines Lebens – wert?
- Gesellschaftlich:
- Denken wir den Bauboom,
- den Flächenverbrauch durch Neubausiedlungen,
- die Trinkwasserverseuchung durch Export-orientierte Massentierhaltung, die immer noch zunehmenden Autozulassungen pro Jahr –
- den vermeintlichen ‚Wachstumszwang‘ mal zu Ende – und zwar konsequent:
Dann wäre Deutschland irgendwann eine einzige zersiedelte versiegelte zuasphaltierte Stadt im Dauerstau, die unendlichen Häuserzeilen nur unterbrochen von Massentierställen.
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass es für Konsumismus eigentlich keine wirkliche innere Obergrenze, kein definitives ‚Genug‘ gibt, sondern es eher den Charakter einer Immer-mehr-Spirale hat? Deshalb spricht Welzer von „chronischer Bedürfnisinkontinenz“ (2016, 39). Der griechische Philosoph Epikur von Samos formulierte es so: „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug“ (zit. in Grün 2019, 34). Anselm Grün: „Die Weisen aller Religionen und Kulturen sprechen davon, dass wir mit Wenigem zufrieden sein sollen. Darin besteht die Kunst des Lebens… Ich bin vielmehr zufrieden, weil ich vieles nicht brauche. Die Zufriedenheit ist also ein Kennzeichen innerer Freiheit“ (2019, 23). Schon der chinesische Philosoph Lao Tse stellte fest: „Wenn Du erkennst, dass es dir an nichts fehlt, gehört die die ganze Welt“ (zit. in Grün 2019, 30), frei übersetzt ins Deutsche in Form des Sprichwortes „Froh zu sein bedarf es wenig und wer froh ist, ist ein König“.
Noch einmal zum Thema ‚Wachstum und Climate Justice‘:
- Dem Globalen Süden und „Afrika Entwicklungschancen einzuräumen heißt, dass sich die Industrie- und Schwellenländer noch viel mehr um Ressourcensparsamkeit kümmern müssen“ (Demograf Reiner Klingholz in: Schmundt 2019, 113).
Anders ausgedrückt:
Die Industrieländer müssen sich viel mehr als bisher und viel mehr als bislang absehbar um ihre CO₂-Einsparungen kümmern, um dem Globalen Süden Chancen zu eröffnen und Wachstum zu ermöglichen – in eigenem Interesse.
Im Namen der Freiheit brauchen wir: Grenzen.
Kinder brauchen Grenzen. | Erwachsene ‚Kinder‘ brauchen Grenzen. | Erwachsene brauchen Grenzen. | Gesellschaften brauchen Grenzen. | Wirtschaft braucht Grenzen. | Die Natur setzt Grenzen. | Die wir ignorieren können, bis zu einem gewissen Grad. | Doch irgendwann meldet sich die Natur lauter und lauter. | Und irgendwann wird sie ggf. die sich schlecht benehmenden ‚Gäste des Planeten‘ einfach rausschmeißen.
>> vgl. Abschnitt Wir sind Erde, S. 46f. u. S. 699.
Das Schlusswort dieses Abschnitts überlasse ich dem Club of Rome:
- „Im Angesicht der grausigen Gefahren ist es einfach nicht akzeptabel, dass Selbstsucht und Gier weiterhin positive soziale Wertschätzung als angebliche Triebkräfte des Fortschritts genießen. Fortschritt kann sehr wohl auch in einer Zivilisation gedeihen, die Solidarität, Demut und Respekt für Mutter Erde und künftige Generationen verlangt“ (Weizsäcker et al. 2017, 132).
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