Schlussbetrachtung

Externalisierung, Ausbeutung, Geldsystem, sozial-ökologische Transformation

Fassen wir alle Kapitel des Handbuchs unter dem Aspekt ‚Externalisierung und Ausbeutung‘ – das sind zwei Seiten einer vor Dreck strotzenden Münze (!) – einmal zusammen:

Unser Leben basiert vollständig auf der Externalisierung von Kosten, d.h. unser komplettes Leben fußt auf „Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt mit dem Ziel maximaler Gewinnerzielung“ (Jung/Schießl 2020), genauer der Ausbeutung

  • von Menschen namentlich des Globalen Südens, die trotz lebenslanger harter Arbeit keine Chance haben relevant aus der Armut herauszukommen, die die Arbeit für uns mit z.B. umweltbedingten Krankheiten, sozialen Verwerfungen, Trennung von der Familie, Rechtsunsicherheit, Gewalt, Unterdrückung und u.U. vorzeitigem Tod bezahlen und die darüber hinaus teilweise unsere faktischen Sklaven sind;
  • von Kindern in Form von täglich 218-millionenfacher Kinderarbeit auf Plantagen, Untertage und in Fabriken für Kakao, Palm, Bananen, Kaffee, seltene Erden, Bekleidung sowie auf Müllhalden etc. pp. – das ist systemisch – und Nachhaltigkeitssiegel sind mehrheitlich Ablassgeschäfte – d.h., insgesamt sind also Menschenrechtsverletzungen mannigfach und Teil des Systems;
    (Unicef geht 2020 „von weltweit 218 Millionen arbeitenden Kindern zwischen 5 und 17 Jahren aus. Fast die Hälfte sind jünger als zwölf Jahre“ (Johnson 2020, 5).)
  • der Staaten des Globalen Südens, die über internationale Institutionen und ebensolche Verträge sowie einer fehlgeleiteten ‚Entwicklungshilfe‘ im (neo-)kolonialen System gefangen gehalten werden, sodass von einem Imperialismus der Industrienationen zu sprechen ist;
  • von Menschen, deren Leben aufgrund der klimatischen Verwerfungen, für die weitgehend jede*r von uns mitverantwortlich ist, von Flucht, Tod, Elend, Hunger, Gewalt und Krieg bestimmt ist und immer mehr davon bestimmt sein wird;
  • von Ressourcen, die unseren Nachfahren gehören bzw. die im Boden bleiben müssen, damit unsere Nachfahren nicht gegrillt werden;
  • der Natur, der Biosphäre, der Tier- und Pflanzenwelt, der Nutztiere, der Ozeane, der Atmosphäre – auch durch Vermüllung, Zerstörung, durch Inkaufnahme des Massenaussterbens;
  • des Bodens, der seine Fruchtbarkeit zusehends verliert und damit seine Fähigkeit uns künftig zu ernähren;
  • durch Privatisierung/Monetarisierung von Dingen, die Naturrecht bzw. Menschenrecht sind, allen voran: Trinkwasser.

Der Mensch ist begnadet darin, die Augen zuzumachen. Doch auch abseits sämtlicher moralischer Erwägungen gilt: Man kann Kosten nicht dauerhaft externalisieren. Die Rechnung kommt. Definitiv. Und sie wird jeden Tag größer.


Nein, das sind keine, wirklich keine Einzelfälle.


Es ist systemisch – und hat deshalb auch systemisch gelöst zu werden.


Ein systemisches Problem erfordert eine systemische Lösung.
Ein systemisches Problem kann nicht mit Einzelmaßnahmen gelöst werden.
Nicht statthaft ist die Herausstellung einer Problematik als systemisch, um von individueller Verantwortung abzulenken.

Gegenbeispiele zu systemischen Problemen, dass sog. exemplarische Argumentieren, ist wenig hilfreich, weil man immer ein Gegenbeispiel finden wird. Exemplarische Argumentation widerspricht der Empirie. Es handelt sich um einen inadäquaten Ebenenwechsel vom Gesamtbild zum Einzelfall: Exemplarische Argumentation macht bei systemischen Problemen keinen Sinn, weil man erst die Grundfragen, die Grundrichtung zu klären hat und dann nachfolgend das Modell mittels Einzelfragen überprüfen und ggf. Härtefallregeln hinzufügen kann.


Welchen der hier im Handbuch aufgeführten Aspekte wir auch herausgreifen – es läuft immer auf das gleiche Grundproblem hinaus. Am Ende des Nachdenkens gleichwelchem hier im Buch behandelten Hauptaspekt steht das immer gleiche Analyseergebnis: Alle Ausbeutung, alle Problematiken, alle Zerstörungen und Ungerechtigkeiten haben letztlich die gleichen grundlegenden Ursachen. Dürfte man nur genau eine Ursache benennen, also die Weltprobleme auf das Hauptproblem schlechthin herunter brechen, landet man bei der (u.a. Zins-bedingten Wachstums-)Steigerungslogik des HöherSchnellerWeiter, die alles in allem wiederum auf der Art wie unser Geld bzw. das Finanzsystem heutzutage funktioniert basiert.

Wir müssen ran an unser globales Geldsystem.

Es bedarf der Einhaltung der planetaren Grenzen. Jede Mensch hat ein CO2-Budget und einen noch zu bestimmenden ökologischen Fußabdruck, der ihm zusteht. Mehr geht nicht.

Noch einmal: Wir haben das Thema ‚Klimakrise/Massenaussterben/globale anthropogene Umwelt-katastrophe‘ im Sinne des Vorsorgeprinzips rückblickend, per Backcasting1, vom erforderlichen Resultat her zu denken. Alle Lösungsvorschläge und Pläne haben sich am Notwendigen zu orientieren:

‚Wir haben uns am wissenschaftlich Erforderlichen zu orientieren, nicht am  vorgeblich politisch Machbaren‘ – Dies kann ein Leitfaden sein, an den wir uns selbst und vor allem die Politik immer und ständig erinnern sollten.

Details: Erläuterungen zu (1) 'Backcasting'

Backcasting = Planungsmethode, bei der zunächst das erforderliche Ziel definiert und nachfolgend die zur Erreichung dieses Ergebnisses erforderlichen Schritte festgelegt werden. Z.B. in Dänemark Standard, in der deutschen Politik weitgehend Terra    incognita. vgl. wikipedia.org: „Backcasting is a planning method that starts with defining a desirable future and then works backwards to identify policies and programs that will connect that specified future to the present“ (2020); vgl. Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland, Aspekt Vorsorgeprinzip, S. 78f. 


Neben einer Umwälzung der Politik klassischer Politikfelder wie Energie, Mobilität und Landwirtschaft bedarf es in Deutschland eine umfassende sozial-ökologische Transformation (SÖT), die vorschlagsweise entlang folgender Stichpunkte zu skizzieren wäre:

Klimaneutrales Wirtschaften, d.h. komplette Dekarbonisierung bis allerspätestens 2035 (Rahmstorf)/2037 (SRU). Bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert z.B. durch Ressourcen-/CO2-Steuer (Prinzip: Das Unerwünschte wird besteuert – also nicht Arbeit). Gerechte Verteilung der verbleibenden (nicht zu besteuernden) Arbeit. Systemrelevanz von Berufen als Bemessungsgrundlage für Bezahlung. Ein Mindestlohn. Ein Maximallohn. Ein Maximalvermögen. Annäherung der Lebensverhältnisse via progressivem Wohlstandsbegriff. CO2-basierte Reisebeschränkung, damit soziale Gerechtigkeit gewahrt bleibt. Parität. Generationengerechtigkeit. Komplette Steuertransparenz. Steuerliche Unterscheidung zwischen Lebens- und Nahrungsmitteln. Re-Regulierung der Finanzmärkte. Ein Derivat kann nur erwerben, wer das Grundgeschäft getätigt hat. EU-weite Finanztransaktionssteuer. EU-CO2-Grenzsteuer. Kostenwahrheit. Verursacherprinzip. Transparente Lieferketten. Vorsorgeprinzip. Ethikräte statt Lobbyismus. Konsistenz. Suffizienz. Nachhaltigkeit. Resilienz. Politiker*innen agieren maximal transparent. Backcasting als Grundprinzip von Politik. Politik hat evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen auf Basis z.B. des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WGBU) oder des Umweltbundesamtes (UBA). Starke Einbindung der Zivilgesellschaft. Umfangreiche Bürger*innenteilhabe. Dritte Kammer mit gelosten Bürgerparlamentarier*innen. Ausweitung des Genossenschaftsmodells auf weite Teile der Wirtschaft. Kein Shareholder Value. Gemeinwohlbilanz, Wellbeing Economy o.ä. statt BIP. Priorität ÖPNV/Bahn. Autoarme und Lebenswerte Stadt. Keine Patente auf Leben. Keine Privatisierung systemrelevanter/lebenswichtiger Güter/Branchen. Angleichung der Rechtslage im Digitalbereich an die rechtliche Situation des realen, analogen Lebens. Niedrigschwelliger Zugang des Globalen Südens zu Technologie, Know-how, Medikamenten und Verhütungsmitteln.  Wissens- und Technologietransfer in den Globalen Süden. Re-Regionalisierung der Agrarkultur. Bodenbewahrende Agrarkultur. Tierische Nahrungsmittel (in den Industrienationen) als Ausnahme von der Regel.


Es bedarf einer ‚Kultur des Genug‘ – sie kommt den von Bregman/Junger geschilderte Bedürfnissen des Menschen viel näher als das HöherSchnellerWeiter. Manfred Folkers:

  • „Qualitativ enthält eine ‚Kultur des Genug‘ … [ein M]ehr [an] Zusammengehörigkeit, Würde, Wohlwollen, Vertrauen, Toleranz, Stille, Sorgfalt, Präsenz, Natürlichkeit, Leichtigkeit, Integrität, Humor, Großzügigkeit, Dankbarkeit und Achtsamkeit“ (Folkers/Paech 2020, 240-241).

Konkreter ausgedrückt bedarf es z.B. die Bürger*innen Deutschlands betreffend der Rückkehr zu einem Leben in den Maßstäben der 1970er und frühen 1980er Jahre, angereichert mit dem ‚best of both worlds‘, d.h. dem geringeren Leistungsdruck von damals, der offenen Gesellschaft von heute und die nachhaltige Nutzung der Technologien von heute.

Und das ist eine m.E. durchaus vielversprechende Perspektive.


Quellen der Schlussbetrachtung

Johnson, Dominic (2020): „Coronafolgen werden Millionen weiterer Kinder zur Arbeit zwingen“. in: tageszeitung, 12.6.2020, S. 5, online unter https://taz.de/Internationaler-Tag-gegen-Kinderarbeit/!5688044/ (Abrufdatum 14.7.2021) 



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