Von der ‚autogerechten Stadt‘ zur ‚lebenswerten Stadt‘, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt.
- Der IST-Zustand: (Auto-)Verkehr ist mehr als der tägliche Stau
- Thema ‚Flächenverbrauch‘
- Thema ‚Verkehrsopfer inkl. Aspekt ‚Luftverschmutzung“
- Thema ‚Immer mehr Autos auf den Straßen in Deutschland‘
- Thema ‚Immer größere Autos auf den Straßen in Deutschland‘
- Thema ‚Pendler*innen‘
- Thema ‚Tempolimit‘
- Thema ‚Rechtsabbieger-Unfälle‘
- Thema ‚Autoindustrie‘
- Thema ‚Autoindustrie und die E-Mobilität‘
- Fazit: ‚Verkehr & Mobilität: Der IST-Zustand des MIV‘
- Der IST-Zustand:
- Der SOLL-Zustand:
- Nachhaltige Mobilität: Grundlegendes
- Ländliche Gebiete in modernen Verkehrskonzepten mitdenken
- Lernen von Vorbildern: Wie hat man es in Kopenhagen & Co gemacht?
- Thema ‚365-Euro-Ticket/Kostenloser Nahverkehr‘
- Thema ‚City-Maut‘ und Innenstädte
- Fahrräder, Diensträder, Lastenräder, E-Bikes etc.
- ‚Bike Sharing‘: Mietfahrräder & Co
- ‚Lebenswerte Stadt‘: Wem gehört eigentlich die Stadt?
- Weitere Vorschläge und Anregungen für eine nachhaltige und klimagerechte Verkehrswende
Verkehrssektor =
- „etwa 24% der energiebedingten globalen CO₂-Emissionen… 95% davon stammen aus dem Straßenverkehr“ (Rammler 2017, 70-71).
- „In Deutschland liegt der Anteil des Verkehrs bei fast 20 Prozent der Emissionen [Europa fast 30%]. Rund 95 Prozent davon verursachen Pkw und Lkw“ (Zimmer 2019).
- „Ein Drittel aller EU-Klimagase entsteht beim Transport, mehr als in allen anderen Wirtschaftsbereichen“ (Groll/Primova 2019).
- Der Verkehrssektor ist der einzige Bereich, in dem Deutschland in Sachen Minderung von Treibhausgasen keinen einzigen Schritt vorangekommen ist – im Unterschied zu den Sektoren Energie -38%, Industrie -34%, GHD -50%, Haushalte -31%, vgl. Aspekt CO₂-Emissionen in Deutschland, aufgegliedert nach Sektoren, S. 79.
- Der Verkehrssektor ist der Bereich, in den die meisten umweltschädlichen Subventionen, konkret die Hälfte aller umweltschädlichen Subventionen von 28,641 Mio Euro (von insgesamt 57,079 Mio Euro) fließen; aufgesplittet in folgende Subbereiche:
Energiesteuervergünstigung für Dieselkraftstoff = 7.353 Mio | Entfernungspauschale = 5.100 | Energiesteuerbefreiung des Kerosins = 7.083 | Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge = 4.763 | Energiesteuerbefreiung der Binnenschifffahrt = 170 | Energiesteuerbegünstigung von Arbeitsmaschinen und Fahrzeugen, die ausschließlich dem Güterumschlag in Seehäfen dienen = 25 | Pauschale Besteuerung privat genutzter Dienstwagen min. 3.100 | Biokraftstoffe = 1.047
(Zahlen von 2016, UBA 2016; teilweise neue Zahlen präsentiert Wüpper 2018, 124: Dieselprivileg = rund 8,2 Mrd. Euro, Dienstwagenprivileg = mind. 3,5 Mrd. Euro vgl. Handbuch S. 340)
Nicht verwunderlich angesichts dieser Zahlen und der bisherigen Politik des deutschen Verkehrsministeriums stellt das Umweltbundesamt (UBA)1 eine „enorme Klimaschutzlücke für den Verkehr“ (Tartler 2019) fest – und fordert, weit über das ‚Klimapaket‘ hinausgehend, dass „[a]lle Privilegien etwa für Dienstwagen und Dieselkraftstoffe … wegfallen [müssten]“ (Bauchmüller 2019) – an gleicher Stelle heißt es, dass auch die Pendlerpauschale abgeschafft werden müsse.2 Und: „Außerdem müsste die Maut für Lkw stark steigen… [und] auf Autobahnen rasch ein [CO2-reduzierendes] Tempolimit von 120 Stundenkilometern eingeführt werden“ (Handelsblatt 2019).
- „‚Nach unseren Abschätzungen bleibt eine Klimaschutzlücke von 20 bis 30 Millionen Tonnen Treibhausgasen‘, sagt Behördenchefin Maria Krautzberger. Das Verkehrsministerium tue häufig so, als sei es unmodern und rückwärtsgewandt, ökologische Folgen in Preisen auszudrücken, kritisierte Krautzberger. ‚In Wirklichkeit scheut es sich, diese unpopulären Maßnahmen einzuführen‘“ (ebd. 2019).
Es steht Maria Krautzberger nicht zu, in diesem Zusammenhang Thema ‚Lobbyismus‘ einzubringen. Das wurde hiermit nachgeholt.
Vorweg:
Alle folgenden Ausführungen beziehen sich vorrangig auf städtische Straßenverkehre unter Einbezug der Tatsache, dass der ÖPNV und die Fernbahn – wie sie aktuell aufgestellt sind – meistens zu wenig dazu beitragen können, um den Besitz eines Pkw in ländlicher Umgebung vermeiden zu können. Aber das kann man ja ändern.
>> s.a. Abschnitt Ländliche Gebiete in modernen Verkehrskonzepten mitdenken, S. 344.
Wir sind Bewegungstiere – keine Sitztiere.
Der IST-Zustand
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Flächenverbrauch‘
Derzeitige Aufteilung des ‚ruhenden‘ öffentlichen Raums nach Rammler (2017, 60):
- 2% = Radabstellflächen | 3% = ruhender öffentlicher Verkehr (Haltestellen u. Bahnhöfe) |
3% = ruhender Fußgängerverkehr (Straßencafés, Parkbänke etc.) >> Summe: 8%
- 92% = Parkplätze für Autos (1 parkendes Auto benötigt etwa 12 qm Fläche)
und:
- Autos stehen 23 Stunden still – oftmals im öffentlichen Raum.
- Pro Tag benötigen Autofahrer*innen 2-5 Stellplätze. (bis hier Rammler 2017, 60)
- „[V]iele Millionen Kfz-Stellplätze werden vorgehalten, weil das Fahrzeug immer irgendwo parken muss“ (Kopatz 2019, 78).
- „[D]ie Pkw-Dichte [ist] in Deutschland allein im vergangenen Jahrzehnt um 13 Prozent gestiegen… Auf tausend Einwohner kommen 575 Autos“ (Pinzler 2020, 2).
- Man geht davon aus, „dass über 30 Prozent des innerstädtischen Straßenverkehrs durch Parksuchverkehre verursacht wird“ (Rammler 2017, 60)1x. „Durchschnittlich 62 Stunden im Jahr suchen Berliner Autofahrer nach einem Parkplatz“ (Pinzler 2020, 2).
- „Bezogen auf die EU-152 werden hinsichtlich des Parkens im öffentlichen Raum „nur 23 Prozent der Kosten durch die Benutzer ausgeglichen …, während die verbleibenden 77 Prozent der Kosten von der öffentlichen Hand getragen werden… Alle Stadtbewohner, ob Autobesitzer oder nicht, zahlen für das Privileg des Parkens im öffentlichen Raum“ (ebd., 62).
- Katja Täubert fügt letzterem hinzu, dass die 12 qm des abendlichen Parkplatzes als Wohnraum monatlich 147 Euro kosten würden, ein Anwohnerparkschein in Berlin jedoch lediglich 10,40 Euro3 zu Buche schlägt – den Rest zahlen auch diejenigen, die nie einen Parkplatz benötigen (vgl. Täubert 2019, 25). Bernhard Pötter weist derweil darauf hin, dass „das Recht, sein Auto ein Jahr lang vor der Tür [bei der ‚Laternengarage“4] abzustellen, [in Stockholm] … 827 Euro [kostet]“ (2020, 3)5.
Allgemein gilt, dass in Deutschland jede*r Bürger*in – ob nun Autofahrer*in oder nicht – die externen Kosten für Automobilität mit über 2.000 Euro subventioniert:
- „[F]ive countries [incl. Germany] have at least 2.000 € uncovered costs for every one of their registered cars“ (Becker et al. 2012, 37).
Da bleibt letztlich nur eine Folgerung, wie sie z.B. der Verkehrsplaner Georg Dunkel formuliert:
„Wir müssen den öffentlichen Raum neu denken.“ (Bartsch et al. 2019, 15)
Hier kommt der Begriff der Flächengerechtigkeit ins Spiel, illustriert am Beispiel von Amsterdam:
„Platzbedarf von Verkehrsmitteln … in Bewegung, in Quadratmetern pro Person“:
> Auto in Betrieb mit einer Person bei 50 km/h = 140 Quadratmeter
> Straßenbahn mit 50 Passagieren = 7 Quadratmeter
> Rad mit 15 km/h = 5 Quadratmeter
> Fußgänger*in laufend = 2 Quadratmeter (Drewes 2019, 12)
- In Berlin nehmen parkende Autos 19%, fahrende Autos 39% und Fahrräder 3% der Verkehrsflächen ein.
- Der Anteil an zurückgelegten Wegen beträgt aber 30% bzw. 13%.
- „Wäre die Straßengestaltung ‚flächengerecht‘, müssten die Radwegflächen mehr als vervierfacht werden“ (ebd., 13).
Und das wäre sinnvoll, denn die Zahl der Unfälle zwischen Fahrradfahrer*innen nimmt zu:
2011 = 2837 | 2018 = 5648 >> +47% (vgl. Spiegel 2019)
„‚Ein Grund dafür dürfte sein, dass das vorhandene Radwegenetz dem veränderten Radverkehrsaufkommen [inkl. E-Bikes und E-Scootern] nicht mehr gewachsen ist‘, sagt Unfallforscher Jörg Kubitzki vom Allianz Zentrum für Technik“ (ebd.).
- „Wäre die Straßengestaltung ‚flächengerecht‘, müssten die Radwegflächen mehr als vervierfacht werden“ (ebd., 13).
Sabine Crook, Vorsitzende des VCD Darmstadt-Dieburg:
„Wie pervers ist das eigentlich: Ein kleiner Kerl sitzt in einem Riesending und kurvt durch die Straßen, um einen Parkplatz zu finden. Überall in der Stadt stehen diese großen Autos rum und behindern Radfahrer und Fußgänger“ (Lange 2020, 35).
Seit 1945 wurden weltweit 120 Millionen Menschen durch Autos getötet. Und dazu soll es keine Alternative geben?“
Franz Alt (2020, 16)
Thema ‚Verkehrsopfer inkl. Luftverschmutzung‘
Direkte Opfer des Motorisierten Individualverkehrs (MIV)
- Etwa 3.000 Menschen sterben in Deutschland jährlich im Straßenverkehr (vgl. Rammler 2017, 25)1 = ca. alle 3 Stunden 1 Mensch.
- 2019 = 3.046 | 2017 = 3.180 Menschen, davon etwa 60 Kinder (vgl. Kühne 2020, 5; Reek 2019; Täubert 2019, 46)
- Täglich kommt mindestens ein(e) Fahrradfahrer*in ums Leben (vgl. Kopatz 2019, 81)
- 2019 = 445 tödlich verunglückte Fahrradfahrer*innen, davon 118 (mehrheitlich ältere) Pedelec-Fahrer*innen (vgl. Zeit 2020; s.a. Schwarzer 2020)
Dass es 1970 (keine Gurtpflicht, andere Promillegrenzen etc.) noch 21.332 Verkehrstote waren, macht die Sache nicht besser (vgl. Reek 2019), eine Relativierung ist m.E. nicht zulässig:
Jede*r tote Verkehrsteilnehmer*in ist eine*r zu viel.
Und das ist keine nur so eine dahingesagte, leere Formel:
Vision Zero ist kein bloßer Wunsch, sondern angesichts der heutigen Machbarkeit ein Anspruch und eine Forderung, hinter dem/der wir nicht zurückbleiben sollten.
Stattdessen sieht es derzeit so aus:
- 2019 = 384.000 | 2018 = 395.798Verletzte auf Deutschlands Straßen. (vgl. Kühne 2020, 5 u. Täubert 2019, 47).
- „In den Medien wird hauptsächlich die Zahl der Verkehrstoten diskutiert.
- Das große Leid der direkt Betroffenen wird vernachlässigt.
- Viele Schwerverletzte, die oft nur dank der verbesserten Notfallmedizin überleben, sind für ihr Leben lang gehandicapt“ (Täubert 2019, 47).
- „In den Städten werden pro Jahr rund 250.000 Personen verletzt, davon35.000 schwer;
- zwei Drittel der Unfälle werden mit einem Pkw verursacht.
- Besonders betroffen ist dort, wer zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist“ (Müller-Görnert 2019, 29).
- „Waren Autofahrerinnen oder -fahrer an einem Radunfall mit Personenschaden beteiligt, trugen die Radfahrenden nur in 23,4 Prozent der Fälle die Hauptschuld. Bei Radunfällen mit Güterkraftfahrzeugen lag der Anteil noch darunter: Nur zu 18,8 Prozent wurde die Hauptschuld bei der Radlerin oder dem Radler gesehen“ (Zeit 2020).
- „70 Prozent der Menschen, die [in Europa] im Stadtgebiet bei Unfällen sterben, sind Radfahrer, Motorradfahrer und Fußgänger“ (Baldwin 2020).
- „18 Prozent aller Unfälle, bei denen Radfahrer oder Fußgänger verletzt werden, [hängen] mit parkenden Autos zusammen“ (Kühne 2020, 5).
- „Laut statistischem Bundesamt waren im vergangen Jahr [2018] gut 50.000 Radfahrer in Unfälle mit Autos verwickelt. Nach Hochrechnungen der Unfallforschung der Versicherer (UDV) für unsere Redaktion auf Basis ihrer eigenen Unfalldatenbank gingen davon rund 3.500 Unfälle auf plötzlich geöffnete Autotüren zurück, das sogenannte ‚Dooring‘. Dabei gab es rund 700 Schwerverletzte. Zahlen zu [Dooring-bedingten] Todesopfern gibt es nicht, aber immer wieder Berichte darüber“ (Schulte 2019, 22).
- Dooring wäre leicht zu vermeiden: per ‚Holländergriff‘. Wird sämtlichen niederländischen Fahrschüler*innen beigebracht: Die Fahrertür wird grundsätzlich mit der rechten Hand geöffnet, sodass man sich automatisch zur Fahrbahn umdreht und sieht was Sache ist. (Entsprechendes gilt für die Beifahrertür etc.).
- 2017: „Im Durchschnitt wurde 2017 in Deutschland alle 18 Minuten ein Kind unter 15 Jahren im Straßenverkehr verletzt oder getötet“ (Täubert 2019, 46).
- „Der Journalist Roland Stimpel, der sich mit der Sprache des Verkehrs beschäftigt hat …, meint, dass sich in den Meldungen der Polizei das Denken der Allgemeinheit spiegele: Wenn jemand mal wieder ‚nicht auf den Verkehr achtet‘, dann sei damit unterstellt, der Autoverkehr sei der einzige, den es gebe. Fußgänger störten da nur. Wenn jemand schreibe, ‚eine Auto haben einen Fußgänger ‚erfasst‘ und ‚touchiert‘ statt ‚gerammt‘ oder ‚überfahren‘, dann verniedliche das den Unfall. Victim Blaming nennt man das im angelsächsischen Raum, wenn das Opfer für die Tat verantwortlich gemacht wird. In Hannover wurde kürzlich gemeldet, ein Radfahrer sei von einem überholenden Auto gerammt und schwer verletzt worden, und gleich zweimal wurde erwähnt, dass der Radfahrer keinen Helm getragen habe“ (Pinzler 2020, 3).
- Jeder zehnte Verkehrsunfall geschieht unter Handy-/Smartphone-Einfluss.
- „Damit wäre die Ablenkung für mehr tödliche Unfälle verantwortlich als Fahrten unter Alkoholeinfluss“ – so der Sprecher des ADAC-Landesverbandes Hamburg gegenüber dem Hamburger Abendblatt (2019, 8).
Das bedeutet zugespitzt, dass sehr vielen Menschen eine depperte sms oder eine Wo-bist-Du-Whats-app wichtiger ist als das Leben der anderen Verkehrsteilnehmer*innen.
Die Hamburger Polizei hat 2017 in einer Plakataktion herausgestellt:
1 Toter = 113 Opfer
- „Wenn ein Mensch bei einem Verkehrsunfall stirbt, sind [zusätzlich zum tödlich Verunglückten] durchschnittlich 11 Familienangehörige, 4 enge Freunde, 56 Freunde und Bekannte nachhaltig betroffen sowie 42 Einsatzkräfte wie Rettungssanitäter, Feuerwehrkräfte oder Polizisten mit diesem schweren Schicksal konfrontiert.“ (Plakattext, vgl. Truscheit 2017)
3180×113 = 359.340 Betroffene
>> zzgl. der in dieser Statistik nicht auftauchenden Schwerverletzten, die versehrt bleiben, vielleicht sogar berufsunfähig sind, und deren Familienangehörige, Freunde etc. pp.:
Unfallchirurg Christopher Spering:
„Sich allein auf die Todeszahlen zu fokussieren, reicht … nicht aus. Menschen sollen Unfälle auf Autobahnen nicht nur überleben, sondern anschließend wieder ein lebenswertes Leben führen.“ (2020)
Das sind eine Menge Schicksale und viele, viele Betroffene.
- Ist in Deutschland ein anderer Lebensbereich denkbar, in dem derart viele Bürger*innen angesichts solcher Zahlen gleichfalls mit den Schultern zucken würden?
Michael Kopatz hat zu solchen Zahlen eine klare Auffassung:
- „Es ist mehr als berechtigt, [bezugnehmend auf GG Art. 2 (2) ‚körperliche Unversehrtheit‘] von der Verfassungswidrigkeit des Automobils zu sprechen. Auf der Anklagebank [sic! – gemeint ist die ‚Klägerbank‘] säßen Jahr für Jahr mehr als 64.000 Schwerverletzte und die Angehörigen von 3.400 getöteten Menschen. Das ist wohl die umfassendste Verletzung unserer Grundrechte, die man sich vorstellen kann (2016, 214).
Im Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU der aktuellen Regierung Merkel steht, dass sich die Parteien „der ‚Vision Zero‘, also der mittelfristigen Senkung der Anzahl der Verkehrstoten auf null… verpflichtet“ (CDU 2018) sehen.
Ich für meinen Teil vermag hier bislang keinerlei Bewegung in der Koalition zu erkennen.
Es geht auch anders:
Anzahl getöteter Rad- und Fußgänger*innen in Helsinki und Oslo 2019: Null. Nada. Zero. (vgl. Geo 2020, 30)
- In ganz Norwegen kam 2019 „kein einziges Kind unter 16 Jahren bei einem Unfall ums Leben“ (Geo 2020, 30): „Im Umkreis von Grundschulen … dürfen gar keine Autos mehr fahren“ (ebd.).
Wie man der Vision Zero einen entscheidenden Schritt näher kommt, hält das Dutch Institute für Road Safety Research fest:
- „Humans make errors an dwillingly or unwillingly break rules. This is a given that cannot be changed. So roads and streets should be designed in such a way that this natural human behavior does not lead to crashed and injuries.“ (zit. in Bruntlett/Bruntlett 2018, 67)
Das Schlusswort dieses Abschnitts gebührt Marion Tiemann, Greenpeace-Verkehrsexpertin zum Radverkehr:
- „Wenn das umweltfreundlichste Verkehrsmittel gleichzeitig das gefährlichste ist, dann läuft in der Verkehrspolitik etwas grundfalsch.“ (zit. in Sonnenseite 2019)
„Jeder Mensch atmet täglich etwa 10.000 Liter [Luft] ein“ (Müller-Görnert 2019, 28).
Indirekte Opfer des motorisierten Individualverkehrs (MIV)
Von der Vision Zero sind wir derzeit weit weg – zumal zu den direkten Verkehrsopfern noch wesentlich mehr indirekte Verkehrsopfer hinzukommen:
- In Europa starben „2016rund 400.000 Menschen vorzeitig“ (Charisius 2019) aufgrund von Luftverschmutzung. In ‚verlorenen Lebensjahren‘ gerechnet bedeutet dass 4,2 Mio Lebensjahre wegen Feinstaub, 707.000 Lebensjahre wegen Stickstoffdioxid und aufgrund der Ozonbelastung 160.000 Lebensjahre.
- „Verkehr, Energieerzeugung und Landwirtschaft sowie die Industrie sind die wesentlichen Quellen des Drecks in der Luft. Wobei insbesondere die Belastung durch Verkehr und Landwirtschaft nahezu konstant geblieben ist, während sie in den anderen Bereichen zurückgegangen ist“ (ebd.).
- „Im Jahr 2016 trug … die Feinstaubbelastung zu über 44.800 frühzeitigen Todesfällen in der Bundesrepublik bei, 8.000 davon seien auf die Verbrennung von Kohle zurückzuführen.
Insgesamt habe die Luftverschmutzung 2016 weltweit zu 7 Millionen Todesfällen geführt, 2,9 Millionen davon habe Feinstaub verursacht“ (Zeit 2019).- Abweichende Zahl: 2017 geht man allein bei Feinstäuben von 74.300 Todesfällen pro Jahr in Deutschland aus (vgl. Drieschner 2017).
- „In Deutschland sind allein 13.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr auf Feinstaub und Ozon aus dem Verkehr zurückzuführen. Aufgrund von Stickoxidemissionen im Straßenverkehr sterben weitere rund 2.500 Menschen vorzeitig.“ (Müller-Görnert 2019, 28)
- „In Deutschland wurde … [die europäischen Grenzwerte für Feinstäube und Stickoxide] in 65 Städten überschritten. In Deutschland sterben pro Jahr rund 13.000 Menschen frühzeitig an Krankheiten und Beschwerden, verursacht durch Luftschadstoffe aus dem Verkehr … Damit hat Deutschland, hinter China, Indien und den USA, die weltweit vierthöchste Zahl an frühzeitigen Todesfällen durch verkehrsbedingte Luftverschmutzung“ (Täubert 2019, 41).
Angesichts dieser Zahlen erscheinen Durchfahrverbote m.E. absolut verhältnismäßig. Was man nicht sieht, existiert nicht? Stickstoffe? CO2? Klima? Massenaussterben? Mikroplastik? Albtraumhafte Arbeitsplätze auf Traumschiffen? Kinderarbeit? Faktische Sklaven? Nur weil diese Verkehrstoten nicht niedergestreckt auf der Straße liegen, gibt es diese Opfer trotzdem.
Und es trifft nicht nur die Erwachsenen:
- „In den Industrienationen erkrankt bereits jedes zehnte Kind an Asthma“ (Täubert 2019, 41).
- „Kinder zwischen sieben und zehn Jahren, die weniger als 100 Meter von einer Hauptverkehrsstraße entfernt leben, leiden fast drei Mal wahrscheinlicher an Asthma als Kinder, die mehr als 400 Meter weiter entfernt aufwachsen“ (zit. in Sonnenseite 2018, vgl. Studie „Lifetime Exposure to Ambient Pollution and Lung Function in Children“ von Rice et al. 2016).
Und die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, die seit 2014 Paris einer umfassenden Verkehrswende unterzieht und unlängst, nach einem überaus grün-visionären Wahlkampf (vgl. Thiele 2020), mitten in Covid-19-Zeiten im Juni 2020 in ihrem Amt bestätigt wurde, bemerkte 2016:
- „2.500 Menschen sterben jährlich in Paris an den Folgen der Luftverschmutzung. … Der Verkehr generiert zwei Drittel der CO₂-Emissionen und 56 Prozent der Belastungen durch Feinstaub“ (zit. in Simons 2016).
Hinter derartigen Todeszahlen stehen selbstredend ungleich höhere Erkrankungszahlen:
Axel Haverich, Herzspezialist, Leiter der Herzklinik der Medizinischen Hochschule der MHH:
- „Ich kann Herrn Scheuer gerne auf elektromikroskopischen Aufnahmen die Dieselpartikel zeigen, die wir in Arterienverkalkungen gefunden haben – und zwar bei der Hälfte der Arteriosklerose-Erkrankten, die wir untersucht haben“ (2019).
Der Pneumologe Christian Witt von der Berliner Charité wies bereits 2005 (!) darauf hin, dass
- „bundesweit 60.000 Bürger im Jahr früher sterben wegen erhöhter Schadstoffbelastung in der Luft“ (Welt 2005).
So mutet es nicht verwunderlich an, wenn Ärzte davon abraten, sich länger an großstädtische Hauptverkehrsstraßen aufzuhalten:
- „Viele Lungenfachärzte fragen ihre Patienten inzwischen, wo sie wohnen, und raten gegebenenfalls zu einem Umzug in eine weniger belastete Umgebung…“ (moz 2018)
äußert sich Witt, der zudem Patienten empfiehlt
- „längere Spaziergänge entlang mehrspuriger, vielbefahrener Straßen wie etwa der Frankfurter Allee in Berlin [zu] vermeiden“ (Maier 2017).
Auch komplett gesunden Menschen sollten sich in dieser Hinsicht nicht in Sicherheit wiegen:
- So findet sich ein Hinweis, dass mittlerweile sogar gesunde Menschen lieber nicht mehr in ihrer eigenen Stadt längere Zeit in der Nähe von großen Straßen ihre Lungen benutzen sollten, in einer britischen Studie, der zu Folge zweistündige Spaziergänge an Hauptverkehrsstraßen selbst bei gesunden Menschen erhebliche negative Effekte auf den Puls und die Lungenfunktion haben (vgl. Koch 2018).
- Die schlechte Luftqualität beeinträchtigt übrigens nicht nur Anwohner*innen, Fußgänger*innen und Radfahrer*innen, sondern auch „die Autofahrer selbst, die sich über ihre Belüftungsanlagen selbst vergiften…“ (Rammler 2017, 67).
Man kann sogar sagen, dass es insbesondere Autofahrer*innen durch Abgase beeinträchtigt werden:
- „In einem Test hat die Autobild-Redaktion [im Innenraum von Autos] Spitzenwerte von 500 Mikrogramm Stickstoffoxid pro Kubikmeter Luft gemessen. Die EU schreibt Grenzwerte von 40 Mikrogramm im Jahresmittel vor. Spitzenwerte dürfen höchstens 18-mal pro Jahr über 200 Mikrogramm steigen“ (Zepp 2018, 15).
- Diese „Grenzwerte der EU orientieren sich an den WHO-Empfehlungen, wobei diese teilweise noch niedriger liegen. Die EU-Grenzwerte sind also Mindeststandards“ (Albrecht 2018, 17).
In der Tat:
- „Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt seit 2005 höchstens zehn Mikrogramm pro Kubikmeter. Und sogar das scheint zu hoch, wie eine neue Beobachtungsstudie aus den USA zeigt: Selbst unterhalb der WHO-Empfehlung nimmt die Sterblichkeit mit der Dosis zu“ (Heißmann 2017).
Eine gute Nachricht für Menschen, die der Bequemlichkeitsfalle bereits entkommen sind – lautet:
- „Fährt man die gleiche Strecke mit dem Auto oder dem Rad, ist die Lungenfunktion bei Autofahrern schlechter. Der Trainingseffekt des Radfahrens überwiegt anscheinend den Negativeffekt der Luftbelastung um ein Mehrfaches“ (Heißmann 2017).
- Zu diesem Ergebnis trägt sicher bei, dass Spitzenwerte von 500 Mikrogramm Stickstoffoxid pro Kubikmeter Luft wohl vorrangig in Autoinnenräumen und nicht an der bewegten Außenluft entstehen.
>> Gleichwohl es dieses spannende Studienergebnis gibt, gebe ich zu bedenken, dass man ungleich tiefer einatmet als die/der Kreislauf-runtergefahrene Autofahrer*in. Für längere Radfahrten entlang der Neckartor- und Frankfurter-Max-Brauer-Landshuter-Allee-SUV-Einfallschneisen habe ich mir mittlerweile eine extra für Radfahrer*innen entwickelte Atemmaske mit Kohleaktivfilter besorgt. In der Hoffnung, sie bald nicht mehr zu benötigen.
Bei alledem wurden Krankheiten, die durch die Lärmbelastung durch Straßenverkehr entstehen können, (fast) noch gar nicht erwähnt:
- „Laut einer Umfrage des Umweltbundesamts fühlen sich in Deutschland drei Viertel aller Bürgerinnen und Bürger in ihrem Wohnumfeld durch den Straßenverkehrslärm belästigt. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Beschwerden bis hin zu Depressionen können Folgen dieser dauerhaften Belastung sein. Bei Kindern kann sie die Sprachentwicklung und die mentale Leistungsfähigkeit beeinträchtigen“ (Müller-Görnert 2019, 28).
- Laut der EU-Umweltagentur birgt Lärm die zweitgrößte Gesundheitsgefahr in der EU – nach Luftverschmutzung: Oben genannte Hör-Stressfaktoren führen „in der EU jährlich zu 12.000 vorzeitigen Todesfällen“ (Schwarz 2020, 8).
Vor 100 Jahren, zwischen 1906 und 1914, war man z.B. in Hamburg schon viel weiter, als heute:
- In dieser Zeit gab es „ein Verbot für benzingetriebene Pkw in Hamburgs Zentrum. Neben Fuhrwerken und elektrischen Straßenbahnen beherrschten zwischen 1906 und 1914 Elektrotaxis, die Hedag-Elektrodroschken, das Hamburger Straßenbild. … [D]ie Vorteile batteriebetriebener Fahrzeuge [mit einer Reichweite von 80 Kilometern und auswechselbaren Batterien lagen] damals für die meisten Beobachter auf der Hand. Autos mit Benzinmotoren galten als laut und dreckig, belasteten die Umwelt mit ihren Abgasen und wurden daher in der Hamburger Bürgerschaft als ‚Stinkbomben‘ beschimpft. [Indes]… hatten Elektroautos schon damals ein Imageproblem… [sie waren nahezu geräuschlos, entsprechend unauffällig] galten [daher] als nicht ‚mannhaft‘ genug“ (Bick 2019, 22-23). (Hedag = Hamburger Elektrische Droschken Automobil-Gesellschaft)
Oh, Mann.
Michael Kopatz‘ „Zehn Gebote zur Ökoerlösung: 6. Du sollst die Stadt nicht mit deinem Auto verstopfen.“1
Thema ‚Immer mehr Autos auf den Straßen in Deutschland‘
Ein Zwischengedanke:
„Wir richten uns ein mit dem täglichen Tod auf den Straßen, dem zermürbenden Lärm bei Tag und Nacht, der Zerstörung von Landschaft und Natur.“
Oberstadtdirektor Neuffer, Hannover, 1972, zitiert nach Rammler 2017, 21
Menschen sind nicht rational:
- „[E]twa achtzig Prozent der Bundesbürger [wünschen] sich weniger Autos, sauberere und leisere Städte… [G]leichzeitig [steigt] aber das PS-Niveau der Neuwagen und die Zulassungsquote von SUVs stetig [an]“ (Rammler 2017, 25).
Zu bedenken ist:
- „‚Frankfurt ist in den vergangenen zehn Jahren um 100.000 Menschen gewachsen – und die sind nicht alleine gekommen, sondern haben 50.000 Autos mitgebracht‘“ (Verkehrsdezernent Klaus Oesterling in Bartsch et al., 2019, 18).
Der Verkehrsplaner Georg Dunkel analysiert für München den stetigen Zuzug von Menschen und das Pendler*innenverhalten:
- „Wenn alle Verkehrsteilnehmer ihre Gewohnheiten beibehalten,… werde es in den Landeshauptstadt im Jahre 2030 keine Rushhour mehr geben, also keine ‚ausgeprägten Stauspitzen‘ am Morgen und am frühen Abend. [Georg] Dunkel hat dazu eine Grafik entworfen, statt Amplituden weist sie eine flache Linie aus, die ‚Dauer-Hauptverkehrszeit‘ mit nahezu 100-prozentiger Auslastung der Straßenkapazität von 6 Uhr bis 21 Uhr. Ein Verkehrsinfarkt“ (Bartsch et al. 2019, 15).
Non-Fun-Fact Staulänge in Deutschland:
2006 = 359.000 Kilometer | 2018 = 1.528.000 Kilometer
>> vgl. Fedrich 2020, 196-197. „Einmal von der Erde zum Mond zur Erde zum Mond und wieder zurück zur Erde – so lang wäre die Schlange, wenn die deutschen Staus eines Jahres [– von denen es täglich 2000 gibt –] aneinandergereiht würden“ (ebd., 197).
Ein Zwischengedanke von Franz Alt, 2019:
„Deutsche mit Auto verbringen mehr Zeit im Stau, als sie Zeit haben für Sex. Ist das Lebensqualität? Die 150 Stunden bedeuten jedes Jahr einen volkswirtschaftlichen Verlust von 250 Milliarden Euro. Die Automobilität macht immer mehr Menschen immobil.“
Das Platz- bzw. Stauproblem ist rechnerisch gesehen leicht zu lösen:
- „Um von zu Hause mit dem Auto in die Stadt zu fahren, nutzen 75 Menschen 50 Pkw.
Sie könnten auch alle mit einem Bus fahren“ (fairkehr 2018).
Dazu eine Zahl aus dem Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen in Hamburg, 2020:
- „Der Anteil des Wirtschaftsverkehrs am innerstädtischen Straßenverkehr (ohne Durchgangsverkehr) liegt in Hamburg bei ungefähr 32%. Dazu gehören nicht nur die kleinen, mittleren und großen Lkw (Güterwirtschaftsverkehr), sondern auch die Transporter sowie viele Pkws z.B. für Handwerker*innen oder Servicetechniker*innen (Dienstleistungsverkehr mit Waren)“ (111).
Der Wirtschaftsverkehr ist sicher optimierbar, etwa durch den Einsatz von Lastenrädern und die Vermeidung der sog. ‚letzten Meile‘ durch die individuelle Anlieferung von kleinen Paketen (vgl. S. 366), deren Empfänger*innen allzu oft nicht angetroffen werden. Doch bleibt, dass dieser Lieferverkehr nicht beliebig zurück stehen kann – und es somit Priorität hat, dass Bürger*innen auf dem Weg zum Arbeitsplatz etc. eher ohne Pkw unterwegs sind.
Exkurs.
Wenn wir in Deutschland vom typischen Autofahrer sprechen, meinen wir statistisch gesehen Männer:
Zurückgelegte Entfernung pro Tag, durchschnittlich:
Frauen = 33 Km | Männer = 46 km
- „Während Männer und Frauen etwa gleich viel den öffentlichen Verkehr nutzen, ist der Unterschied beim Auto frappierend. Am Steuer sitzen mehrheitlich Männer. Die Carsharing-Quote bei Männern liegt bei 62 Prozent. … Insgesamt dürfen Straßen mit viel Autoverkehr daher als männlich dominiert gelten“ (Krüger 2019, 41).
Kaum jemand denkt über diesen Gender-Aspekt nach – sollten wir aber, denn das bedeutet nicht weniger als:
- Es sind vorwiegend (ältere) Männer, die gegen ein Tempolimit sind.
(vgl. Aspekt Tempolimit, S. 316) - „Die autogerechte Stadt ist somit auch nicht gendergerecht. Eine Verkehrs- und Stadtpolitik ‚für alle‘ macht die Verkehrsmittel attraktiver, die vor allem von Frauen, Kindern und älteren Menschen genutzt werden. Ziel ist, dass sich alle auf den Fuß- und Radwegen sowie den Überwegen gefahrlos bewegen können. Der öffentliche Raum, die Straßen, die Plätze und die öffentlichen Verkehrsmittel müssen so gestaltet sein, dass sich dort nicht nur ‚die Starken‘ wohl und sicher fühlen“ (ebd.).
>> s.a. Ausführungen zum Gender-Aspekt beim Thema Tempolimit, S. 316.
Immer mehr Autos auf immer mehr Straßen… das ist gewissermaßen ein Nullsummenspiel: Mehr Straßen generieren mehr Autos generieren mehr Straßen: Der Satz „Wer Straßen sät wird Verkehr ernten“ (Goeudevert zit. in Schiesser 2010) hat inzwischen einen wissenschaftlichen Namen: Downs-Thomson-Paradoxon (vgl. Pinzler 2020, 2). Das beschriebene ‚Nullsummenspiel‘ wäre das perfektive Perpetuum Mobile (!), wären da nicht die diversen externen Kosten (bzw. die vielen fossilen Energien sowohl für Autobau, Autonutzung und Schaffung der Infrastruktur) – die das prinzipiell unmögliche Perpetuum Mobile am Laufen hielten.
In Zahlen ausgedrückt:
- Das bundesdeutsche Autobahnnetz umfasst 2019 eine Länge von 13.141 Km. Das sind 1626 Km mehr als im Jahr 2000 (vgl. Statista 2019). All diese ‚Stauumgehungsstraßen‘ haben nichts gebracht:
- 2019 = 708.500 Staus, Staulänge = ca. 1.423.000km = 33,5 Mal um die Erde, Stauzeit = 521.000 h = 59 Jahre (vgl. ADAC 2020) (und, wie schon erwähnt: Staulänge 2006 = 359.000 Kilometer | 2018 = 1.528.000 Kilometer (vgl. Fedrich 2020, 196-197)
- Die Staulänge hat sich zwischen 2000 und 2017 vervierfacht (vgl. Kopatz 2019, 63).
- In Hamburg „dauert eine durchschnittliche Fahrt 34 Prozent länger als eigentlich nötig. Für eine Strecke, die in 30 Minuten machbar wäre, bräuchte man also rund 40 Minuten. Abends im Berufsverkehr sind sogar 61 Prozent Zeitverlust normal – statt 30 wären das also fast 50 Minuten. Auf ein tägliches Stau-Niveau von ebenfalls mindestens 30 Prozent kommen Berlin, Wiesbaden, München, Nürnberg und Stuttgart“ (Götz 2020).
- Autofahrer*innen standen 2018 durchschnittlich 120 Stunden im Stau. Menschen ,die in Großstädten unterwegs sind, noch länger (Berlin = 154h, München = 140h, Hamburg = 139h) (vgl. Welt 2019).
- 120 h = 5 Tage à 24 h = etwa eine Woche im wachen Zustand im Stau stehen – hinzu kommt noch die Zeit, die man täglich (ohne Stau) von Haustür zu Haustür benötigt, um mit dem Auto zur Arbeit bzw. nach Hause zu fahren. Und evtl. noch die Zeit für die Parkplatzsuche? Berliner Autofahrer*innen suchen jährlich 62 Stunden lang einen Parkplatz… (vgl. S. 296).
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Immer größere Autos auf den Straßen in Deutschland‘
„Einfach mal zurücklehnen und die unfassbare Dämlichkeit des Wortes ‚Stadtgeländewagen‘ auf sich wirken lassen.“
Ardubancel Quazanga via twitter 23.5.2020
ARD–Tagesschau, 2. April 1998:
- „Umweltministerin Merkel vertraut bei der Senkung des deutschen CO₂-Ausstoßes auf die Einführung des 3-Liter-Autos und freiwillige Kooperation der Autohersteller. Die Firmen wüssten, dass sonst härtere Maßnahmen auf sie zukommen“ (Tagesschau 1998).
Da ist sie wieder, die ‚Merkel’sche Freiwillige Selbstverpflichtung‘ – m.E. ein anderes Wort für Bürger*innenberuhigungspille, damit ‚die Wirtschaft‘ nicht beim Geldeinsammeln gestört wird. Und wie wunderbar das funktioniert, sehen wir hier:
Im August 2000 meldete der Spiegel:
- „Alle Welt redet vom 3-Liter-Auto, doch Ingenieure verrenken Kopf und Schraubenschlüssel und pumpen kleine Autos mit immer mehr Leistung voll.“
Kommen wir zu dem finalen Ergebnis dieses Trends:
Da Geländewagen in Deutschland – außer für Förster*innen & Co – zweifellos genau so wie SUVs als „SuperUnnützesVehikel“ (Hartmann 2019) gelten dürfen, und Geländewagen in dieser Perspektive sozusagen SUVs+++ sind, sind die Segmente SUV und Geländewagen in den folgenden Graphen addiert:
>> Anmerkung: 2008/09 flachte der Zuwachs etwas ab: Die globale Finanzkrise hinterließ kurzfristig ihre Spuren, dann kam 2009 die fünf Milliarden Euro schwere sog. Umweltprämie, die eine Abwrackprämie war, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Umweltpr%C3%A4mie (Abrufdatum 7.11.2019)
>> Update Dezember 2019: „Schon im November [2019] wurde [erstmals] die [Millionen-]Marke mit 1,03 Millionen Fahrzeugen seit Jahresbeginn geknackt, wie aus Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) in Flensburg hervorgeht. Das sind 18 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum“ (Spiegel 2019). Damit haben SUV und Geländewagen zusammen einen Marktanteil von knapp 31% (vgl. ebd.).
- Derweil liegt der Anteil von SUVs/Geländewagen, die derzeit tatsächlich auf den Straßen in Deutschland unterwegs sind, bei etwa 12% – mit stark steigender Tendenz:
2003 = 1,7% | 2006 = 2,2% | 2009 = 2,9% | 2012 = 4,8% | 2015 = 7,2% | 2018 = 11,8%
>> jährliche Zuwachsrate etwa 8 bis 10% (wikipedia 2019b und KBA 2019)
Motorleistung von Neuzulassungen (Durchschnitt)
2008 = 96,4 kW | 2015 105,7 kW (vgl. Rammler 2017, 64).
- „Dies[e gestiegene Motorleistung von Neuzulassungen] führte zu einem Mehrverbrauch von 3,7 Milliarden Litern Kraftstoff und zu 9,3 Millionen Tonnen CO₂-Emissionen. … Der Mehrverbrauch geht dabei vor allem auf den Bereich der Sport Utility Vehicles (SUV) und Geländewagen zurück, dem Segment mit höchster Motorleistung und Verbrauch“ (ebd.).
>> Anmerkung: Rammler hebt zudem hervor, dass auch ‚normale‘ Diesel-Pkw zu einem Mehrverbrauch von Kraftstoff beigetragen haben, weil hier bei den Neuzulassungen ebenfalls besonders leistungsstarke Motoren beliebt sind. Der Mehrverbrauch wird auch durch den erhöhten Materialaufwand bzw. das Mehr an Gewicht auch bei eigentlich kleineren Autos erzeugt: „Ein VW Golf hat im Lauf seiner Bauzeit von 750 Kilogramm Gewicht auf 1,2 Tonne zugelegt“ (Welzer 2016, 24).
>> Analog dazu entwickeln sich die Pferdestärken: Durchschnitt bei Neuzulassungen 1995 = 95 PS | 2018 = 152 PS (vgl. Kopatz 2019, 46).
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Pendler*innen‘
München 2011>>2018 = +21% Pendler*innen || Frankfurt =+23% (vgl. Bartsch et al. 2019, 15)
- „Aus Hamburg fahren täglich 140.000 Menschen zur Arbeit heraus und 340.000 hinein“ (Bartsch et al., 2019, 15.)
- „Und selbst die, deren Arbeitsweg kürzer als drei Kilometer ist, fahren zu 40 Prozent mit dem eigenen Pkw“ (ebd.).
- „In den Jahren 2000-2013 hat sich die durchschnittliche Pendelstrecke um rund 2 Kilometer erhöht. Für jeden Einzelnen sind 2 Kilometer überschaubar – für die deutschen Verkehrswege bedeutet es jedoch rund 22 Milliarden zusätzliche Personenkilometer“ (Ehl 2017).
Man rechne das mal um in: Atemluft.
Ein großer Teil des städtischen Autoverkehrs wird durch Pendler*innen verursacht. Dazu stellt der Verkehrsexperte Philipp Kosok fest:
- „Die Menschen, die in den Innenstädten unter Stickoxiden leiden, sind selten die Verursacher der schmutzigen Luft. Es sind die Pendler, die täglich 20, 30 oder 50 Kilometer zur Arbeit in das Stadtzentrum fahren, denen man Alternativen zur Fahrt mit einem Auto anbieten muss“ (Kühne 2018, 19).
Und:
- „[A]llen… Fachleuten ist klar: Solange es preiswerter ist, das Auto in der Innenstadt zu parken, als den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bestreiten, fehlt der ökonomische Anreiz, aufs Auto zu verzichten“ (ebd., 18; vgl. Aspekt Thema ‚City Maut‘ & Innenstädte, S. 352f.).
Sie schütteln mit dem Kopf angesichts des Umgangs mit Waffen in den USA?1 Nun, so ergeht es den US-Amerikaner*innen mit den Deutschen beim
Thema ‚Tempolimit‘
Im Unterschied zu vielen anderen Maßnahmen rund um den Klimaschutz ist ein Tempolimit eine extrem einfache und schnelle Maßnahme quasi zum Nulltarif. Außer dem gesunden Menschenverstand des Verkehrsministers (vgl. Welt 2019a) spricht m.E. nichts gegen ein Tempolimit, aber eine Menge dafür:
Mehrheit der Bürger*innen | Unfall- und Todeszahlen | Versehrtenzahlen | Klimaschutz2
In Einzelnen:
- Eine knappe Mehrheit der Bundesbürger*innen ist für ein Tempolimit (vgl. Reek 2019).
- Eine im Dezember 2019 veröffentlichte Umfrage spricht in Bezug auf Autobahnen sogar von 2/3 aller Befragten als Befürworter*innen einer verbindlichen Höchstgeschwindigkeit (vgl. Spiegel 2019b).
- „Geschwindigkeit bewirkt zwei Dinge: Sie macht einen Unfall wahrscheinlicher und sie macht ihn schlimmer. Laut ETSC spielt zu hohes Tempo in einem Drittel der tödlichen Kollisionen eine Schlüsselrolle.“ (Matthew Baldwin, in der EU-Kommission zuständig für Verkehrssicherheit, 2020)
- „Die Anzahl der tödlich Verunglückten ist auf Strecken ohne Geschwindigkeitsbegrenzung zwischen 2011 und 2016 deutlich höher (2016: 283 versus 110)“ (Reek 2019).
- Auch erwähnenswert:
- „2019 wurden [in Deutschland] 963 Menschen wegen nicht angepassten Tempos getötet“ (Zeit 2020c).
- „Fast ein Drittel der Menschen, die 2019 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, ist bei einem sogenannten Geschwindigkeitsunfall gestorben“ (ebd.). (Für beide vorangegangene Zitate gilt: Das bedeutet nicht, dass die Höchstgeschwindigkeit überschritten wurde – falls es eine gab.)
>> vgl. dazu den umfassenden ‚Faktencheck Tempolimit‘ der SZ: Reek, Felix (2019): „Fakten zum Tempolimit“. in: Süddeutsche Zeitung, 8.11.2019, online unter https://www.sueddeutsche.de/auto/auf-der-autobahn-fakten-zum-tempolimit-1.4667211/ (Abrufdatum 12.11.2019)
Der Unfallchirurg Christopher Spering gibt im Zusammenhang mit seiner Forderung nach einem Tempolimit auf Autobahnen bzgl. der nach einem Unfall dauerhaft Versehrten zu bedenken, dass
- „unser Gesundheitssystem trägt maßgeblich dazu bei[trägt], höhere Todesraten [u.a. auf Autobahnen] zu verhindern… Sich allein auf die Todeszahlen zu fokussieren, reicht deshalb nicht aus. Menschen sollen Unfälle auf Autobahnen nicht nur überleben, sondern anschließend wieder ein lebenswertes Leben führen. Und das hängt stark von der Schwere des Unfalls ab, und die wiederum von der gefahrenen Geschwindigkeit. Ein Tempolimit ist aus medizinischer Sicht angebracht“ (Spering 2020).
„Eine Höchstgeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde würde … [gemäß einer neuen Studie des Umweltbundesamtes jährlich] 2,6 Millionen Tonnen CO₂ vermeiden, ein Tempolimit von 130 noch 1,9 Millionen Tonnen – ‚und zwar sofort und ohne Mehrkosten‘, wie UBA-Präsident Dirk Messner am Freitag sagte. 5,4 Millionen Tonnen CO₂ ließen sich sparen, wenn höchstens 100 Kilometer pro Stunde erlaubt wären.“
Darüber hinaus finde ich den Gedanken, dass wir Deutschen uns vielleicht auf diese Weise eine Scheibe vom tempolimitierten Verkehrs-Entspannungsland Nr. 1 – Dänemark – abschneiden können, um den Preis, dass die paar Schnellfahrer*innen nun künftig 20 Minuten später an ihrem Ziel ankommen, sehr interessant. Das täte uns: gut.
Kirsten Bialdiga, 2019:
„‚Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“ – dieses Zitat des Philosophen Immanuel Kant wird auch von Liberalen gern zitiert. Wer einmal einen Drängler auf der Autobahn hinter sich hatte, weiß, wovon die Rede ist.“
In den Niederlanden ist man wieder einmal – in diesem Fall allerdings gezwungenermaßen – weiter:
Die Regierung der Niederlande hat im November 2019 (auf Druck des niederländischen obersten Gerichtshofs) beschlossen, was in Deutschland bis vor kurzem vollkommen undenkbar erschien: Sie verschärft zur Vermeidung von Stickoxiden das ohnehin bestehende Tempolimit auf 100 km/h auf Autobahnen zwischen 6 und 19 Uhr; nachts bleibt es wie bisher bei 130 km/h (vgl. Spiegel 2019a).
Cem Özdemir (Grüne) dazu:
- „Es ist schon bemerkenswert, dass in den Niederlanden ausgerechnet die regierende Schwesterpartei der FDP nun ein Tempolimit 100 auf den Autobahnen eingeführt hat. Hierzulande kann man noch nicht einmal über eine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h sprechen, ohne dass die FDP Schnappatmung bekommt. Dabei wäre das nicht nur Klimaschutz zum Nulltarif, sondern würde auch unsere Straßen deutlich sicherer machen“ (Zeit 2019a).
>> vgl. dazu auch Niederlandes staatliches Ausstiegsprogramm für Schweinezüchter, S. 552.
Tempolimits für Autos auf Autobahnen in anderen Ländern:
Belgien = 120 km/h | Dänemark = 130 | Finnland = 120 | Frankreich = 130 | Großbritannien = 112 | Italien = 130 | Niederlande = 100 | Österreich = 130 | Portugal = 120 | Schweden = 120 | Schweiz = 120 | Spanien = 120 | Türkei = 120 (vgl. Kfz-Auskunft 2019)
>> Auf den Färöer-Inseln gibt es kein Tempolimit auf Autobahnen (vgl. ebd.).
- Deutschland: „70 Prozent des Autobahnnetzes ohne Tempolimit“ (Zeit 2019b)
„Deutschland ist das einzige Land, in dem man für fünf Minuten über 200 Sachen fahren kann – um anschließend zwei Stunden lang im Stau zu stehen.“ (unbekannter Franzose, zit. nach Klimaschutzbaustelle 2019)
„Schnell to Hell.“
Österreichische Straßen-Plakatwerbung fürs Leben (Stand 2022).
Doch es kommt allmählich Bewegung in die Sache, sicherlich auch hervorgerufen durch die eben beschriebene niederländische Initiative sowie durch davon inspirierte Vorstöße der Grünen und der SPD:
Unter der Überschrift „ADAC gibt ablehnende Haltung zu Tempolimit auf Autobahnen auf“ zitiert der Spiegel dessen Vizepräsidenten im Januar 2020 sinngemäß mit den Worten, dass die Diskussion auch unter ADAC-Mitglieder*innen mittlerweile polarisiere und der ADAC sich in dieser Frage aktuell nicht mehr festlege.
Der Mobilitätsforscher Andreas Knie rechnet im Januar 2020, vor Covid-19, noch 2020 mit einem Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen, „wahrscheinlich schon in den kommenden fünf Monaten“ (Gießler 2020, 6):
- „Wir schätzen, dass bundesweit bis zu 60 Prozent der Bevölkerung für ein Tempolimit sind, besonders Frauen und junge Menschen.
- Dieser Wunsch, sich zu profilieren und zu befreien, ist ein rein männliches Ding.
- Es gibt aktuell faktisch fast nur noch ältere Männer, die gegen ein Tempolimit sind.
- Und da viele von ihnen in leitenden Positionen bei Zeitungen sitzen und eine meinungsbildende Kraft haben, hat man den Eindruck, halb Deutschland sei für ‚freie Fahrt für freie Bürger‘“ (ebd.).
>> vgl. Exkurs zum Thema ‚Gender und Mobilität‘ S. 308
Update Mai 2020:
- Auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DRV) spricht sich für ein Tempolimit von 130 Km/h aus (vgl. Zeit 2020a).
Abseits der Autobahnen: weitere Tempo-Beschränkungen, Innerorts.
- „Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit möchte diese [bisherige] Entscheidungslogik umkehren. Die Kommunen sollen für sich bestimmen, auf welchen Straßen schneller gefahren werden darf, und zwar ohne Erlaubnis übergeordneter Behörden“ (Kopatz 2016, 211).
- Das bedeutet auch, dass eine via Bundesgesetz1 einzuführende Regelgeschwindigkeit 30 keineswegs flächendeckendes Tempo 30 zu Folge hätte, sondern lediglich Tempo 30 generell zum Normalen und Tempo 50 zur Ausnahme erklärt.
- Der Bremsweg bei Tempo 50 ist mehr als doppelt so lang wie bei Tempo 30. (vgl. VCD Bayern o.J.)
- „Wenn jemand von einem Auto mit 30 km/h angefahren wird, hat er oder sie eine 90-prozentige Überlebenschance. Bei einem Aufprall mit 60 km/h – und das ist die De-facto-Geschwindigkeit in vielen Städten – sinkt sie auf zehn Prozent“ (Baldwin 2020).
Unterschätzt aber wichtig: Verkehrslärm in der Stadt
- „Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Städten würde den Lärm um rund drei Dezibel reduzieren. Im Vergleich zu Tempo 50 nimmt dies das menschliche Ohr so wahr, als wäre nur die Hälfte des Verkehrs auf der Straße. Gleichzeitig sinkt die Emission von Schadstoffen“ (Müller-Görnert 2019).
- „[D]er Straßenverkehr [ist] in den vergangenen 30 Jahren in deutschen Städten um zwei bis drei Dezibel lauter geworden“ (Guski 2017) – „also um bis zu 25 Prozent“ (ebd.).
- „Ein Lkw ist bei Tempo 50 durchschnittlich so laut wie zwanzig Pkw“ (Schneider 2019).
- Bei Pkw tritt „ab 30 km/h der Reifenlärm in den Vordergrund“ (ebd.), was eben den Effekt hat, dass bei die gleiche Anzahl von Autos bei Tempo 50 vom Ohr wie ‚doppelt so viel Verkehr‘ wahrgenommen wird (s.o.).
Kaum ein Fakt wie der vorgenannte der innerstädtischen Lärmbelästigung macht deutlich, wie hoch der Preis ist, denn wir täglich zahlen – und wie leicht es wäre, eine extreme Lebensqualitätssteigerung durch die Veränderung einer einzelnen Regel der deutschen Straßenverkehrsordnung. Es gibt wenige Bereiche, in denen wir quasi zum Nulltarif so viel erreichen können.
Die Präsidentin des Umweltbundesamtes, Maria Krautzberger, ergänzt:
- „Tempo 30 bringt bessere Luft, flüssigeren Verkehr und weniger Unfälle – und man ist in der Regel genauso schnell unterwegs“ (2017).
Tempo 30 hätte zudem zur Folge, dass weniger Autos unterwegs sind – nicht wegen des geringeren Tempos, sondern weil die Menschen es bevorzugen, neben langsamen Autos Fahrrad zu fahren:
- „Die Zahl der Fahrradfahrer nimmt [bei einem solchen 30er-Tempolimit] zu – im britischen Bristol zum Beispiel um zwölf Prozent –, weil sich ihr Sicherheitsgefühl erhöht“ (Kopatz 2018, 55).
Die Liste der positiven Effekte ist noch länger:
- „Es gibt dann keinen Grund mehr, warum noch übermotorisierte Schwergewichtsfahrzeuge mit gewaltigen Antrieben gebaut werden sollten … Fahrzeuge mit eingebautem Tempolimit würden über einen leichteren und extrem sparsamen Motor verfügen“ (ebd., 54).
Was wäre das für ein ungeheurer Gewinn für alle gestressten Stadtbewohner*innen – und das, ohne auch nur ein Auto per Verbot von der Straße zu verbannen.
- Stuttgart „wird … [2020] als erste deutsche Großstadt neben Fahrverboten für Euro-5-Diesel auf vier einzelnen Straßenabschnitten auch ein flächendeckendes Tempolimit von 40 Stundenkilometern einführen. Es wird für den gesamten Talkessel [inkl. Bundesstraßen] gelten und ist Teil des von Land und Stadt beschlossenen neuen Luftreinhalteplans… Bislang waren die Reaktionen gelassen. Sogar der ADAC hat auf Protest verzichtet“ (Henzler 2019).2
- Es fragt sich, inwieweit das in Stuttgart neu eingeführte Tempolimit tagsüber wochentags überhaupt auffallen wird. So liegt in Berlin die Durchschnittsgeschwindigkeit mit Stand 2008 bei höchstens 24 Km/h (vgl. Kopatz 2019, 55).
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Rechtsabbieger-Unfälle‘
Unfälle von Menschen mit Fahrzeugen >3,5t (2018):
Fußgänger*innen: 242 leichtverletzt | 148 schwerverletzt | 54 getötet
Radfahrer*innen: 752 leichtverletzt | 286 schwerverletzt | 52 getötet
(Zahlen nach Unfallforschung der Versicherer, zitiert in Kunkel 2019)
Der VCD weist zudem auf die allgemein hohe Dunkelziffer bei Fahrradunfällen hin. (2020, 19)
Mögliche Maßnahmen zur Vermeidung von Unfällen durch Rechtsabbieger*innen:
- Eine schnelle, kostengünstige Übergangs- oder Teillösung des Problems: Das Anbringen von sog. Trixi-Spiegeln, die der/m Lkw-Fahrer*in Einsicht in den Straßenbereich ermöglichen, die sonst durch den toten Winkel bedingt nicht einsehbar sind.
- Eine einfache Lösung: Rückverlegung des Haltestreifens von Pkw/Lkw um einige (weitere) Meter, sodass Radfahrer*innen und auch Fußgänger*innen nicht mehr im ruhenden Verkehr im toten Winkel stehen, zumal sie durch eine entsprechende Ampelschaltung etwas früher grün bekommen könnten (und ja auch oftmals schon bekommen), sodass sie durch diesen Vorsprung besser im Sichtfeld der Lkw-Fahrer*innen sind.
- Eine gute und bewährte Lösung: Das niederländische Modell.
- Hier wird an Kreuzungen der Radweg bzw. die Fahrradspur an der Kreuzung um einige Meter nach rechts eingerückt und nach links hin ‚an der Ecke‘ mit einer kleinen Verkehrsinsel abgeschirmt. Das bedeutet, dass die/der Lkw-Fahrer*in zu einem späteren Zeitpunkt und vor allem in einem anderen Winkel auf den Fahrradverkehr ‚trifft‘ – soll heißen: Der tote Winkel spielt hier keine bzw. eine nur noch untergeordnete Rolle (vgl. Reidl 2020). „Die Menschen müssen sich in die Augen schauen können (ebd.) – nun sind die Autofahrer*innen schon fast aus der Kurve raus, wenn sie auf die weiteren Verkehrsteilnehmer*innen treffen: Eine kleine Erhebung der Rad- und Fußwege an Kreuzungen sind daher etwas erhöht, damit die Autofahrer*innen davon „abhalten [werden], gleich wieder Gas zu geben“ (ebd.).
>> siehe Graphik: https://img.zeit.de/mobilitaet/2020-02/schutzkreuzung-vogelperspektive/wide__660x371__desktop (Abrufdatum 29.6.2020)
- Eine weitere, technische, komplexe, teure und m.E. gleichwohl wünschenswerte Lösung: Abbiegeassistenten für Lkw. Hier hat das Verkehrsministerium 10 Mio Euro für Deutschland 750.000 in zugelassene Lkws bereitgestellt (vgl. Bartsch et al., 2019, 21) (= 13,33 Euro/Lkw).
- Ab „2024 müssen … alle [Lkw-]Neufahrzeuge über einen Abbiegeassistenten verfügen.“ (Kunkel 2019). Alle anderen: nicht.
- Prima: „In München „sind etwa 90 Prozent der 800 städtischen Lkw schon jetzt mit einem Assistenten ausgerüstet“ (Kunkel 2019).
- Offen bleibt die Frage, wie es um die vielen Lkw bestellt ist, die nicht in Deutschland zugelassen wurden/werden.
- Eine Trennung der Grünphasen von Autos und sonstigen Verkehrsarten kommt mehr und mehr in Betracht, je weniger Autos in den Städten unterwegs sein werden.
Immerhin, und das ist in der Tat ein wichtiger Schritt nach vorne:
- Lkw, d.h. Kraftfahrzeuge über 3,5 t, dürfen seit der 2020er Novelle der StVO beim Rechtsabbiegen „auf Straßen, wo mit Rad- oder Fußgängerverkehr gerechnet werden muss, nur noch Schrittgeschwindigkeit (7 bis 11 km/h) fahren. Verstöße kosten 70 Euro Bußgeld “ (ADAC 2020).
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Thema ‚Autoindustrie‘
Arbeitsplätze inkl. Zulieferern:
834.000 von 45.100.000 Erwerbstätigen in Deutschland = 1,85% = jeder 54. Job
(Stand 2018, laut Heinrich-Böll-Stiftung und VCD, vgl. Kefferpütz 2019, 1, weitere Zahlen: Kühne 2019, 26)
Wie schafft bzw. bewahrt man Arbeitsplätze?
In dem man sich Innovationen und der Zukunft verschließt oder in dem man die Innovation betreibt?
- David Kusek und Gerd Leonhard haben 2006 das Buch ‚Die Zukunft der Musikindustrie‘ verfasst, in dem sie der passiven, in zweistelliger prozentualer Höhe abstürzenden Musikindustrie, die sich inmitten der Digitalisierung in die Idee verrannt hatte, auch weiterhin Tonträger verkaufen zu können, vorhersagten, dass Musik bald ‚wie Wasser‘1 überall verfügbar sein werde:
- „Die erfolgreichsten Unternehmen [machen] nicht den Fehler, das Neue erstmal abzulehnen. … Sie finden heraus, wie man die neuen Entwicklungen am besten integrieren kann, bevor der Zug abgefahren ist. Man ist doch nicht der Eismann, der immer noch versucht, den Menschen Eisblöcke zu verkaufen, obwohl jeder bereits einen [elektrischen] Kühlschrank zu Hause hat.“2
Die Musikindustrie konnte seinerzeit noch einen gewissen Überraschungsfaktor für sich reklamieren – gehörte sie doch zu den ersten ‚Opfern‘ der Digitalisierung. Seit mehreren Jahren macht die Autoindustrie Anstalten, in die Fußstapfen der Musikindustrie zu treten.
- Interessanterweise wird die Mobilitätswende zumindest in Städten und Metropolregionen industrialisierter Staaten ein gewissermaßen ähnliches Ergebnis zeitigen wie in der Musikindustrie: Der multimodale Ansatz kann auch als ‚Verkehr wie Wasser‘ gelesen werden.
Der Verkehrsforscher Andreas Knie warnt:
- „Wenn jetzt nicht gehandelt wird und das Auto der Zukunft nur noch in anderen Ländern gebaut wird, dann stehen noch viel mehr von den 880.000 Arbeitsplätzen auf der Kippe“ (Schwarz 2017).
Anmerkungen zur Arbeitsplätze-Diskussion:
>> Eine Frage, die nur selten in die Autoindustrie-Arbeitsplatz-Diskussion einfließt, lautet, inwieweit ein Teil dieser Arbeitsplätze unabhängig vom Antriebswechsel künftig gefährdet ist aufgrund von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz (KI) , Robotik und Automatisierung (vgl. Kunde 2020), siehe dazu auch Daimlers im September 2020 in Betrieb genommene ‚Factory 56‘ in Stuttgart-Sindelfingen: Dort kommunizieren „[d]ie Maschinen … miteinander, planen und verteilen selbsttätig die Arbeit, fast ohne menschliches Zutun“ (Heuser 2018).
>> Damit ist auch an dieser Stelle angedeutet, dass hier eine Herausforderung entsteht, der sich keine Branche entziehen kann. Letztlich machen die zu erwartenden, erheblichen Arbeitsplatzverluste der Autoindustrie ein weiteres Mal exemplarisch deutlich, dass es auch angesichts der Klimakrise bzw. des Artensterbens einer umfassenden sog. sozialökologischen Transformation (SÖT) unter Einschluss eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) bedarf.
>> Die Umsätze der deutschen Automobilbranche sind in den letzten Jahren vor allem ‚gewachsen‘, weil die Fahrzeuge immer größer und damit auch teurer wurden. Auch die notwendige und kommende Korrektur der SUV-Strategie hin zu kleineren Fahrzeugen wird daher Arbeitsplätze kosten: weil die Wertschöpfung eines kleinen Autos i.d.R. geringer ausfällt als die eines Stadtpanzers. Das ist grundsätzlich ein hausgemachtes Problem, denn die SUV hätten aus der Perspektive der Vernunft in Zeiten der Forderungen des 3-Liter-Autos nie in Deutschland zugelassen werden dürfen.
Autoindustrie und der Skandal der seit 2015 aufgedeckten ‚Dieselskandale‘
- „Das UBA stellte schon in den Jahren 2005, 2006 und 2009 fest, dass Diesel-Pkw ‚alarmierend‘ hohe Stickoxidemissionen aufweisen“ (Bäumler 2019, 36).
Der eigentliche Skandal an den Dieselskandalen ist, dass sie nicht stärker skandalisiert wurden/werden1. Die Liste der Betrügereien ist zu lang, um sie hier aufzustellen: Es ist definitiv bedeutend leichter, die wenigen Firmen bzw. Automodelle und Aspekte des Themas zu benennen, bei denen nicht irgendwie mit Abschaltsoftwares, lächerlich kleinen AdBlue-Tanks, illegalen Branchenabsprachen, weltfremden Abgastests2 etc. pp. pp. in diversen nationalen Märkten jahrelang betrogen, gemauschelt und gechincht wurde. Und die zuständigen Behörden-Mitarbeiter*innen haben es nicht sehen wollen – oder geduldet.3
Dann ging es um die geschädigten Autokäufer*innen, die nun zu Recht befürchten, dass ihr Auto nicht mehr zu einem zuvor erwartbaren Preis wieder verkauft werden kann und dass ihre Autos möglicherweise aufgrund sog. innerstädtischer Fahrverbotszonen nicht ausreichend nutzbar sind.
Das ist alles richtig.
Aber:
- Zu aller erst betrifft der Dieselskandal unser aller Gesundheit, es geht um unsere Lungen – auch um die der Autofahrer*innen.
- Über unsere Lungen hat in der Bevölkerung und in den Medien quasi niemand geredet.
Das finde ich: bezeichnend und letztlich irre.
Lunge hat Vorfahrt.
Ausnahme von der Regel stellen die Bemühungen der Deutschen Umwelthilfe (DUH) dar, die u.a. 2017 zu dem Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts geführt haben
mit der Urteilsbegründung, dass
- ein Fahrverbot schon deshalb nicht unverhältnismäßig sein könne, weil „der Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit der von den Immissionen betroffenen Wohnbevölkerung höher zu gewichten ist als die dagegen abzuwägenden Rechtsgüter Eigentum und Handlungsfreiheit der von einem Verkehrsverbot betroffenen Kraftfahrzeugeigentümer“ (zit. in Drieschner 2019).
Dazu stellt Bäumer fest:
- „2015 wurden durch Grenzwertüberschreitungen 4,6 Millionen Tonnen Stickoxide zusätzlich ausgestoßen. Daraus lassen sich die Opferzahlen errechnen“ (2019, 37).
Also:
- Wie viele Tote und Erkrankte hat der Dieselskandal insgesamt verursacht? Und inwieweit kann man diese Zahlen auf einzelne Konzerne herunter brechen? Und wer trägt dafür die Verantwortung? Und warum wird diese Frage nur so selten gestellt?
Der Mobilitätsatlas hat diese Zahlen dankenswerter Weise errechnet. In Todeszahlen bedeutet der Dieselskandal allein für das Jahr 2015:
Brasilien 500 | China 10.600 | EU-28 = 11.500 | Indien 9.300 | Japan 500 | Russland 800 | USA 1.100
= 34.300 Dieselskandal-Tote allein im Jahr 2015 (vgl. Bäumer 2019, 37)
Hinzu kommen noch die vielen, vielen Menschen, die ‚nur‘ krank geworden sind.
>> Transparenz durch Offenlegung: Marc Pendzich ist Fördermitglied der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH).
In Totenzahlen bedeutet der Dieselskandal allein für das Jahr 2015:
Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Dienstwagen-Ranking: „Das Auto des Verkehrsministers ist das mit dem höchsten CO₂-Ausstoß“1
Autoindustrie und die E-Mobilität
Verbrennungsmotor = 2.500 Teile | Elektromotor = 250 Teile2
Keine Verbrennungsmotoren mehr zu bauen bzw. verkaufen zu können, kostet Arbeitsplätze, hier wird die Zahl 114.000 genannt bis 2035 bei einem 23%-igen Anteil von E-Autos (Kühne 2019, 28). Das ist ätzend. Diese drohenden Arbeitsplatzverluste können aber vor dem Hintergrund der drängenden Biodiversitäts- und Klimakrise sowie der lauernden internationalen Konkurrenz kein Argument sein für das Festhalten an der klimaschädlichen Technologie des Verbrennungsmotos. Sie können aber ein Argument sein, den politischen Boden für Innovationen der Mobilitätsbranche zu bereiten.
Es bleibt für Traditionsmarken nur die Flucht nach vorn Richtung Wasserstoff/Brennstoffzelle oder E-Auto, wenn sie weiterhin im globalen Geschäft mit der Mobilität mitspielen wollen. Und nur dann gehen nicht alle Arbeitsplätze in diesem Bereich verloren.
- Ein wesentlicher Grund für das langjährige Erstarren der deutschen Automobilindustrie liegt darin begründet, dass mit dem Umstieg auf Elektromotoren sehr viel exklusives Know-how verloren geht, sodass – wie mit Tesla und vielen kleinen neuen E-Mobil-Playern zu sehen – neue, von außen in den Markt stoßende Mitbewerber im Markt erscheinen.
- Zudem sind Elektromotoren äußerst wartungsarm (vgl. Kopatz 2019, 71), was mittel- und langfristig Beschäftigungsverluste im ‚After-Sales-Bereich‘, also bei Autoreparaturwerkstätten mit sich bringen wird.
(Hybridfahrzeuge und hier insbesondere Plug-in-Hybride hingegen gelten als komplex und in diesem Sinne als wartungsintensiv, vgl. Holzer 2019).
Derzeit zeichnet sich ab, dass die deutsche Autoindustrie ihre SUV-Strategie weiter verfolgt – nur eben mit E-Motoren.
Mit einem bloßen Antriebswechsel ist wäre exakt ein Problem, d.h. ein Problem von sehr vielen, bewältigt: Es gibt keinen luftverschmutzenden Auspuff mehr.
Alle anderen Probleme
Zu viel MIV (motorisierter Individualverkehr) | zu große Autos | Stau als Alltag | zu großer Ressourcen- und Flächenverbrauch | zu viel Feinstaub durch Reifenabrieb3 | soziale Mobilitätsungerechtigkeit | zu großer Energiebedarf | zu viele Unfälle | zu viele (i.d.R. mit Verbrennermotoren angetriebene) Lastwagen etc. pp.
würden uns allen erhalten bleiben.
Hinzu treten neue Herausforderungen, darunter
- die problematische Umstellung einer ganzen Industrie auf sich absehbar erschöpfende sog. seltene Erden, die Konfliktstoffe sind, deren Beschaffung derzeit langfristig nicht gesichert ist und deren Extraktion in den Produktionsländern mit enormen Umweltschäden verbunden ist.4
- der Aufbau eines landes- und weltweiten Stromzapfsäulennetzes.
Mit anderen Worten: Der Wechsel des Motorantriebs ist mit maximalem Aufwand und im Grunde genau lediglich genau einem positiven Effekt verbunden.
Es ist zudem hervorzuheben, dass die Akkus von E-Autos bzw. deren Rohmaterialien auch in ethischer Perspektive sowie auch bzgl. Umweltaspekten unter katastrophalen Bedingungen hergestellt werden.
>> vgl. dazu Abschnitt Ein Beispiel: Der ‚globale Impact‘ eines Smartphones, S. 644ff.
Ein Antriebswechsel, also ein 1:1-Austausch des Motors – und ‚weiter gehts‘ wird es nicht geben können. Hier gilt ähnliches wie für das Thema ‚Grünes Fliegen‘5: Es ist aufgrund des künftig knappen Gutes ‚Energie‘ – bis auf Weiteres – eine Illusion:
Peter Kasten, Forscher am Öko-Institut in den Bereichen Ressourcen und Mobilität, errechnet:
- „Um ein Prozent des heutigen Verbrauchs von fossilem Sprit im Verkehrssektor durch E-Fuels zu ersetzen, würden für dessen Herstellung in Deutschland 2.300 Onshore-Windräder benötigt“, sagt Kasten. Laut Bundesverband Windenergie gibt es aktuell rund 29.500 dieser Windenergieanlagen an Land. Um also auch nur ein Prozent der Autos mit E-Fuels zu betreiben, müssten zusätzlich zum ohnehin vorgesehenen Ausbau der Windkraft noch zahlreiche weitere Windräder gebaut werden“ (Ilg 2020).
Anders ausgedrückt: Um einen reinen Antriebswechsel Verbrenner>>Batterie vorzunehmen, bedürfte es nach dieser Rechnung 230.000 Onshore-Windräder.
Seit Herbst 2019 mehren sich positive Berichte, denen zufolge E-Mobilität nach x Kilometern einen geringeren ökologischen Rucksack aufweise als Verbrennermotoren (vgl. Fischer/Lüdemann 2019; VCD 2019c, 7; VCD 2020, 11, Spiegel 2020c).
Hier ist kritisch die Frage aufzuwerfen, inwieweit es sinnvoll ist eine umweltschädliche Technologie durch eine nur ein bisschen weniger umweltschädliche Technologie zu ersetzen – die Vorteile sind offensichtlich so gering, dass über ihre Existenz gestritten werden kann. Womit hier keineswegs dem Verbrenner das Wort geredet werden soll, sondern eben ein weiteres Mal darauf verwiesen wird, dass es nicht um einen 1:1 Austausch des Antriebs gehen kann.
Nicht jede dieser Studien beinhaltet den gesamten Lebenszyklus; bei der Berechnung des ökologischen Gesamtrucksacks inkl. der Umweltkosten nach Ressourcenentnahme bleiben bei allen genannten Studien m.E. wichtige Fragen offen, insbesondere die T&E-Studie (vgl. VCD 2020, 11) denkt hier m.E. reichlich positiv in eine mögliche Auto-reiche Zukunft, anstatt den Ist-Zustand insbesondere zu den Konfliktstoffen adäquat kritisch zu hinterfragen.
>> Einer 2020er Studie des ADAC zufolge verbrauchen (die vom ADAC getesteten) E-Autos mindestens 10% mehr Strom als der Bordcomputer angibt, was maßgeblich auf die i.d.R. nicht angezeigten Ladeverluste zurückzuführen sei (vgl. Spiegel 2020b).
>> Einen guten Überblick über den Status quo der E-Mobilität geben Anja Krüger und Susanne Schwarz in ihrem Artikel „Nur Elektro reicht nicht“: https://taz.de/Tesla-Fabrik-in-Brandenburg/!5703392/ (Abrufdatum 1.9.2020)
Die deutsche Autoindustrie wird hinsichtlich der Umstellung auf E-Mobilität ein Stück weit ‚zu ihrem Glück gezwungen‘:
- In vielen anderen wichtigen Automärkten gibt es bereits jetzt Deadlines zur Neuzulassung von Verbrennern: Norwegen 2025 | Dänemark, Island, Niederlande, Schweden, Slowenien, Israel 2030 | Taiwan und Kalifornien 2035 | Frankeich, Großbritannien, Kanada 2040 (vgl. Tagesschau 2019a u. Bauchmüller 2020)
- „Die EU hat die Flottengrenzwerte für den CO₂-Ausstoß verschärft. Das heißt, dass die Autos, die ein Hersteller verkauft, ab 2020 im Durchschnitt nur noch 95 Gramm CO₂ pro Kilometer ausstoßen dürfen…. Die nächste Grenzwert-Verschärfung steht fünf Jahre später an“ (Kühne 2019, 29).
>> vgl. Kopatz‘ Strategie der Anhebung von Standards, Abschnitt Standards setzen, um Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch zu entwickeln, S. 476.
In China gibt es seit Januar 2019 eine Pflichtquote für die Neuzulassung von E-Autos.
- „Während etwa Eigentümer von Wagen mit Verbrennungsmotoren in vielen Metropolen des Landes nur noch über Lotterien oder andere teure Verfahren eine Zulassung ergattern konnten, bekamen die Stromer oft sofort ihr Nummernschild. Zudem konnten sie vielerorts kostenlos parken und im Verkehrsdickicht Sonderfahrspuren nutzen. Ergebnis: 2018 wurden 1,26 Millionen E-Autos in der Volksrepublik abgesetzt, mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion“ (Hecking/Zand 2020).
- Aktuell, 2020, beträgt die Quote 12%, bis 2025 soll sie bei mindestens 20% liegen (vgl. ebd.). Demnach hat ein Konzern, der in China Autos verkauft dafür zu sorgen, dass jedes fünfte verkaufte Auto ein Elektro- oder ein Hybridauto ist. Nachdem die deutsche Autoindustrie den Trend viele Jahre verschlafen hat, kann China die Bedingungen noch leichter als ohnehin schon diktieren: Die Akkus der Autos haben verpflichtend von chinesischen Herstellern zu stammen (vgl. Tagesschau 2019b).
Aktuelle Zulassungsquote von E-Autos in Deutschland:
- Fossile Fahrzeuge machen „mehr als 95 Prozent der Modellpalette aus[]…“ (Kriener 2020, 8).
- „Gerade einmal 4.979 Elektroautos wurden im Oktober [2019] in Deutschland zugelassen, das sind nicht mal zwei Prozent der Gesamtzulassungen in diesem Monat. Zu wenige, um als Zulieferer alles auf diese Karte zu setzen“ (Laskus 2019).
- „Gebremst wird die Nachfrage nach E-Autos oft durch lange Lieferfristen mit Wartezeiten von bis zu einem Jahr“ (VCD 2019a, 3), was im Just in Time-Anspruchszeitalter irgendwie an die (damals noch ungleich längere) Wartezeit auf Trabis erinnert – auch eine Methode, eine Reform zu verschleppen.
Plug-in-Hybride
Neben reinen Elektroautos gibt es Autos mit sog. Hybrid-Antrieb. Hier ist zwischen zwei Hybridantrieben zu unterscheiden:
- Bereits 1997 brachte Toyota Autos auf den Markt, die neben dem Verbrenner zusätzlich auch eine Batterie hatten, die im Schubbetrieb immer wieder aufgeladen wird – die Bordelektronik des Autos entscheidet selbstständig, wann welches System das Auto antreibt (vgl. Mechnich 2012).
- Plug-in-Hybride (Plug-in Hybrid Electric Vehicles, PHEVs) haben ebenfalls sowohl einen Verbrenner-Motor als auch einen Elektromotor. Dessen Batterie hingegen wird von außen, per Steckdose, d.h. per plug-in, aufgeladen.
- „Der Gedanke hinter dem Konzept: Auf vielen, meist nicht sehr langen Alltagsstrecken, wie beispielsweise dem Arbeitsweg oder der Fahrt zum Supermarkt, fährt man elektrisch und damit lokal emissionsfrei“ (Frahm 20219).
Das klingt, wenn man sich auf den Gedanken einer Übergangstechnologie einlässt, soweit ganz gut.
Die Plug-in-Fahrzeuge gelten gemäß dem Energieausweis als vorbildlich. Fährt ein Plug-in-Hybrid mit einer elektrischen Reichweite von 50 Kilometern 75% der Strecken elektrisch, dann gibt „beispielsweise Mercedes für das 2,4 Tonnen schwere Hybrid-SUV GLE 350 de einen Normverbrauch von 1,1 Litern auf 100 Kilometer an“ (ebd.).
Nun ist es allerdings so, dass Plug-in-Hybride oft und bevorzugt als Firmenwagen erworben und den Mitarbeiter*innen zur Verfügung gestellt werden, da diese, „sofern sie eine elektrische Mindestreichweite von 40 Kilometern gemäß WLTP haben, unter die 0,5-Prozent-Regelung für die Dienstwagenbesteuerung fallen“ (ebd.) – und somit weniger kosten.
Dienstwagen sind Fahrzeuge, die oft für lange Strecken eingesetzt werden – ihre Batterien sind jedoch im Unterschied zu den Batterien reiner Elektrofahrzeuge für kurze Strecken (Mindestreichweite 40 Kilometer) ausgelegt. Befindet sich also eine Minibatterie an Bord, bekommt man hohe Kostenvergünstigungen, fährt aber auf den üblicherweise langen Dienststrecken faktisch einen Verbrenner.
Der Spiegel zitiert Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM):
- „Eine Studie hatte gezeigt, dass der tatsächliche Verbrauch von Dienstwagen mit Plug-in-Technologie im Durchschnitt um 143 Prozent über den Herstellerangaben liegt“ (Frahm 2019).
Und ebendiese Studie geht nach der Untersuchung von 15.000 Plug-in-Hybridfahrzeugen von einem Realverbrauch von mehr als sechs Litern pro 100 Kilometer aus, statt der Herstellerangaben von durchschnittlich 2l/100km, was damit zu tun hat, dass ein Plug-in-Hybrid-Motor schwerer ist als ein reiner Verbrennerantrieb (vgl. ebd.).
Becker/Kunkel zitieren eine Studie, nach der es sogar 7,6l/100km sind:
- „Mit leerer Batterie verbrauchen sie im Durchschnitt 7,6 Liter auf 100 Kilometer, haben Testreihen der englischen Prüforganisation Emissions Analytics ergeben. Statt weniger als 50 g/km CO₂ stoßen die ‚Ökoautos‘ dann rund das Vierfache aus – und werden trotzdem mit Subventionen belohnt.“ (2019)
>> weitere Studie siehe Nefzger, Emil: „Studie zu Plug-in-Hybriden: Die miese Klimabilanz der Hoffnungsträger“. in: Der Spiegel, 28.9.2020, online unter https://www.spiegel.de/auto/plug-in-hybride-verbrauchen-zwei-bis-viermal-so-viel-wie-angegeben-icct-studie-a-041deaa5-c8b7-435b-a978-23577915d868 (Abrufdatum 28.9.2020)
Die Diskrepanz zwischen Herstellerangaben und tatsächlichem Verbrauch hat damit zu tun, dass das Fahr- bzw. Ladeverhalten nicht den Herstellerannahmen – „Nur an zwölf Prozent der Fahrtage habe bei den Plug-in-Hybriden kein Ladevorgang stattgefunden“ (ebd.), so eine BMW-nahe Studie – entspricht:
- „Flottenmanager wissen daher von Fahrern zu berichten, die den Steuervorteil gerne mitnehmen, auch wenn sie wenig Interesse am regelmäßigen Laden zeigen“ (ebd.).
- „Der Grund für den mangelnden Ladewillen vieler Dienstwagenfahrer: Meist bekommen die Mitarbeiter von Firmen Tankkarten ausgestellt, mit denen der Kraftstoff für sie kostenlos ist. Das Nachladen mit Strom, beispielsweise zu Hause, müssten sie hingegen in vielen Fällen selbst zahlen. Die Folge: Die Fahrzeuge sind größtenteils im Verbrennermodus unterwegs“ (Frahm 2019).
- Der Chef der Beratungsfirma The Miles, Paul Hollick:
- „Die Ladekabel liegen cellophanverpackt im Kofferraum, während Firma und Angestellte an Tankstellen ein und aus gehen und den zusätzlichen Kraftstoff bezahlen“ (Spiegel 2020a).
- Hier fehlen offensichtlich eindeutige Regelungen:
- „Während er für seinen Verbrenner einfach per Tankkarte zahlt, wird es beim Laden an der heimischen Steckdose knifflig. Wie rechnet man aus, welche Stromkosten genau für das Dienstauto angefallen sind? Zwar weist der Bundesverband Lohnsteuerhilfevereine darauf hin, dass Arbeitgeber private Stromkosten für Dienstautos bis zu 50 Euro im Monat pauschal steuerfrei erstatten können – doch noch macht kaum ein Unternehmen davon Gebrauch. Zudem gelten die Pauschalen zunächst nur bis Jahresende [2020]“ (Kunkel/Reis 2020).
So einen fehlgeleiteten ökonomischen Anreiz sowie die Problematik einer Stromkostenabrechnung könnte man beheben. Könnte man seit Jahren behoben haben.
- Dieses Scheitern ist auch deshalb fast schon tragisch zu nennen, weil Firmenflotten ein wichtiger Hebel sein können, um das E-Auto in Deutschland relevant auf die Straße zu bringen.
- Die Niederlande und England (vgl. Frahm 2019) haben derweil „Subventionen für die Teilzeitstromer gestrichen“ (Becker/Kunkel 2019).
Statt dessen gibt es in Deutschland für die faktischen Sechs-Liter-Autos jetzt noch mehr Geld vom Staat: Die Förderung der Elektromobilität im Rahmen der Covid-19-Zuschüsse gilt in Deutschland auch für Plug-in-Hybride: Für Plug-in-Hybride unter 40.000 Euro erhält man jetzt zusätzlich zur o.g. Steuervergünstigung eine Förderung hin der Höhe von 6.750 Euro (reines E-Auto 9.000 Euro) (vgl. Diethelm 2020).
Plug-in-Hybride gelten in der Lesart Deutschlands bzw. der EU als E-Autos. Autohersteller haben zur Vermeidung von Strafzahlungen eine sog. ‚CO2-Flottenbilanz‘ zu erstellen, d.h. die Gesamtbilanz aller verkauften Autos eines Herstellers haben einem bestimmten statistischen Wert zu genügen. Plug-in-Hybride können über sog. Supercredits in die Rechnung eingehen: Sie werden doppelt abgerechnet (vgl. Janzing 2020, 9). Das bedeutet alles in allem, dass man mehr Autos allgemein und besonders auch mehr Luxus-SUV verkaufen kann, wenn man mehr Plug-in-Hybride verkauft: „So können sie[, die Autohersteller,] mit den Hybriden ihre Umweltbilanz frisieren“ (ebd.). Womit die Klima, Artenvielfalt, Umwelt und Menschen ein weiteres Mal Opfer eines politisch zu verantwortenden Bilanztricks werden.
Ergo:
- Egal ob rein elektrisch oder Hybrid: Bei einem 1:1-Austausch des Antriebssystems würden immer noch genau so viele (E-/Hybrid-)Autos im Stau stehen: Es bedarf einer Mobilitätswende, keiner Antriebswende.
- „Jedes Auto mit Verbrennungsmotor, das heute neu auf die Straßen kommt, stößt noch die nächsten 15 Jahre klimaschädliches CO2 aus“ (Müller-Görnert 2019, 2).
- „Mit jedem Autokauf wird schon heute eine Entscheidung darüber getroffen, wie wir in zehn Jahren leben. Wir müssen daher möglichst schnell die Rahmenbedingungen so setzen, dass eine klimafreundliche Welt möglich wird.“ (Robert Brandt, Geschäftsführer der Agentur für Erneuerbare Energien, zit. in Sonnenseite 2019).
- Und nach der Nutzungszeit der ersten zwei oder gar drei Besitzer*innen sind die Autos ja nicht endgültig von der Straße – sie werden nach Osteuropa verkauft oder in den Globalen Süden etc. verschifft und sorgen so weiterhin für Emissionen. Der o.g. Zeithorizont ist daher eher niedrig gewählt. (Ein in Polen im Jahr 2018 neu zugelassener Gebrauchtwagen ist im Schnitt 12 Jahre alt, vgl. Rebmann 2019).
- Sinnvoll wäre in diesem Sinne für die Kund*innen in Deutschland ein Planungssicherheit gebendes Ausstiegsdatum für Verbrennungsmotoren bei Neuwagen.
Jede konventionelle Heizung, jedes herkömmlich gebaute Haus, jeder Euro, der heute in die falsche Richtung investiert wird, schafft Fakten und hat i.d.R. jahrzehntelange Wirkungen – die wir später zusätzlich zu beseitigen und zu bezahlen haben. Jeder fossil-konventionell ausgegebene Euro macht es wahrscheinlicher, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen, klimaneutral zu werden.
- Update September 2020: Greenpeace fordert auf Basis einer neuen Studie den „Verkauf von Diesel- und Benzinfahrzeugen … bis zum Jahr 2028 [zu stoppen] Bis 2040 sollten zudem alle Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren von Europas Straßen verbannt werden“ (Zeit 2020).
Gegenüber der Brennstoffzelle hat der E-Antrieb derzeit die Nase vorn. Ob das so bleibt, darf als unsicher gelten. Denn sobald es um größere Reichweiten geht, sind die Vorteile der beiden Technologien nicht so klar verteilt, wie man meinen könnte. Toyota jedenfalls setzt weiterhin im Bereich Reichweiten-starke Autos auf die Brennstoffzelle: „Beide Technologien, erklärt … [Yoshikazu Tanaka, Chefingenieur für alternative Antriebe in der Toyota Motor Corporation], hätten ihre Berechtigung: der Batterieantrieb für kleine Autos und Kurzstrecken – die Brennstoffzelle für reisetaugliche Autos, Busse, Lastwagen und auch Schiffe“ (Wüst 2020).
Verkehr ist mehr als der tägliche Stau:
Fazit: ‚Verkehr & Mobilität: Der IST-Zustand des MIV‘
Machen wir uns die Darstellung des IST-Zustandes abschließend noch einmal konkret klar, wie hoch der Preis des motorisierten Individualverkehrs tatsächlich ist.
- Der IST-Zustand ist zutiefst unzufrieden stellend – allein die Zahl der Opfer lässt keine andere Analyse zu.
- Abseits emotionaler Beweggründe à la „Die Liebe der Deutschen zum Auto“ sind m.E. keine rationalen Gründe erkennen, die dafür sprechen das bisherige System weiter zu führen. Und mit Sentimentalismen kommen wir angesichts der drängenden Herausforderung der Klimakrise und des sechsten Artensterbens nicht weiter. Zeit, loszulassen.
Richten wir einmal den Blick auf das, auf was wir tatsächlich verzichten. Katja Täubert und Lisa Feitsch heben in diesem Sinnzusammenhang hervor:
- „Autoverkehr verdrängt menschliche Aktivitäten aus dem öffentlichen Raum und zerstört damit das Leben zwischen den Häusern – dort wo Begegnungen und Gemeinschaften entstehen sollten.
- Unserer Kindern wollen entdecken und stromern. Darauf müssen sie verzichten, weil die Straßen zu gefährlich sind.
- Wir verzichten auf frische Luft.
- Wir verzichten auf Gemeinschaft im Kiez, wir verzichten darauf, mit unseren Nachbar*innen draußen Schach zu spielen, weil es keinen Ort für ein öffentliches Schachbrett gibt.Wir verzichten auch darauf, Straßen, wo es uns beliebt, sicher queren zu können.Wir verzichten auf Ruhe und darauf, nachts bei offenem Fenster schlafen zu können.
- Wir verzichten darauf, gefahrlos und entspannt Fahrrad zu fahren.
- Wir verzichten darauf, uns in unseren Städten alltäglich ausreichend sportlich zu bewegen zu können. Wir verzichten auf Platz – zum Wohnen, zum Gärtnern, zum Spielen, zum Entspannen“ (2019, 19).
Merkwürdig, dass diese Art von Verzicht – m.E. äußerst heftigem Verzicht – nie und nirgends aufgegriffen oder beklagt wird, wenn die in Deutschland so emotional geführte Verzichtsdebatte mal wieder aufflammt.
Auch Harald Welzer insistiert, dass wir derzeit,
- „im Status quo[,] im großen Stil [verzichten] – zum Beispiel in völlig verstopften Großstädten auf Ruhe, Sicherheit, gute Luft, Platz. In autofreien Städten würden wir mehr Lebensqualität genießen. Mein Lieblingsbeispiel ist die Schweizer Bahn: Das Angebot ist so großartig, dass die Leute gern ihr Auto stehenlassen oder gleich ganz abschaffen“ (2020, 10).
Die Arbeitsplätze-Debatte im Zusammenhang mit der Autoindustrie läuft weitgehend ins Leere. Zahlen und Argumente dazu wurden bereits dargelegt (s. Aspekt Thema ‚Autoindustrie‘, S. 322f.).
Die Nicht-Zukunft der fossilen Autoindustrie wird i.d.R. als reine Verlustdebatte geführt.
Doch eine umfassende, klimagerechte, veritable Mobilitätswende bedeutet weit mehr als einen bloßen mit Arbeitsplätze-Abbau verbundenen Antriebswechsel – und kann, wenn man Mobilität als Dienstleistung und nicht als Besitz eines Stahlkastens versteht, sehr viele neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen.
Der VCD liefert eine Reihe von Zahlen zu zukunftsfähigen neuen Arbeitsplätzen:
- ÖPNV in Deutschland = 157.000 Arbeitsplätze (davon 40.000 im Fahrdienst, 20.000 im technischen Dienst, 14.000 im kaufmännischen Dienst). „Bis 2030 geht rund die Hälfte der Angestellten in Rente. Nur jede fünfte dieser Stellen kann durch Auszubildende wieder besetzt werden“.
- Fahrradbranche Deutschland = 30.000 Mitarbeiter*innen Handel/Werkstatt
- Lokomotiven etc. Produktion in Deutschland = 52.000 Menschen
- Die Bahn will in den nächsten Jahren 100.000 Menschen einstellen (vgl. Kühne 2019, 26-27).
- Aufbau der Ladestruktur Potenzial = 16.000 Arbeitsplätze (IAB-Studie)
- Batterieproduktion Potenzial = fast 35.000 Arbeitsplätze (Fraunhofer Institut)
- Digitalisierung/Vernetzung von Autos = Potenzial = 40.000 Arbeitsplätze (Fraunhofer Institut) (Grundannahme 23% E-Autoanteil) (vgl. Kühne 2019a, 26 u. Kühne 2019b, 28)
Greenpeace fügt hinzu:
- Wenn alle Metropolen Europas mit dem 26%-Fahrradanteil von „Kopenhagen gleichziehen… würden, könnten … im ökologischen Verkehrssektor [europaweit] 76.600 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen“ (2014).
>> Aufgrund der entfallenden Umweltbelastung und der Reduzierung von Unfällen würden auf diese Weise laut Greenpeace jährlich rund 10.000 Menschen gerettet (vgl. ebd.).
… und dann kann man noch Tesla erwähnen, die mit Stand 2020 in Brandenburg eine große Fabrik hochziehen.
Der IST-Zustand:
Kaputtgespart zugunsten der Straße: Die Bahn bzw. das Schienennetz
- „72 Prozent der Gütermenge wurden im Jahr 2017 mit dem Lkw transportiert,
- 17 Prozent mit der Bahn,
- acht Prozent mit dem Binnenschiff,
- durch die Luft waren es drei Prozent“ (Adler 2019, 30).
Bahngüterverkehr = 18g CO2/Km pro Warentonne | Lkw = Faktor 6 (vgl. VCD 2020, 10)
Allein diese wenigen Zahlen deuten an, dass mit relativ einfachen Mitteln auf einem vorhandenen Netz wesentlich mehr Güter zu ökologisch wesentlich besseren Bedingungen transportiert werden könnten. Doch jedes Mal, wenn diese jahrzehntealte Forderung aufgegriffen wurde, lief es genau in die gegenteilige Richtung.
Ein Blick in die Vergangenheit
Es gibt eine Menge Gründe, warum es bei der Bahn nicht so richtig läuft.
- „Für alle Experten jedoch ist unstrittig: Hauptursache für Störungen[, die Verspätungen generieren] ist das bundeseigene Schienennetz, das seit Jahrzehnten unterfinanziert, aber gleichzeitig immer stärker genutzt wird“ (Wüpper 2019, 31).
Laut Wüpper beginnt die Unterfinanzierung schon in den 1950er Jahren – durchaus logisch zeitgleich mit der spleenigen Idee einer Auto- statt Anwohner*innen-gerechten Stadt; die Bahn verliert also – sowohl in West als auch Ost aus jeweils unterschiedlichen Gründen – schon in den Nachkriegs- bzw. Wiederaufbaujahren den Anschluss. So „muss das [Bundesbahn-]Unternehmen den Wiederaufbau der kriegszerstörten Anlagen selbst finanzieren“ (ebd., 107). „Zwischen 1960 und 1992 fließen 230 Milliarden Euro in den Straßenbau, aber nur 29 Milliarden Euro in neue Bahnstrecken. In diesen 32 Jahren werden 150.000 Kilometer Verkehrswege für Pkw und Lkw errichtet und lediglich 700 Kilometer zusätzliche Gleise für Personen- und Güterzüge“ (106). Unterfinanzierung und Missmanagement äußern sich in Zahlen wie diesen: So fährt die Bundesbahn in den 1970er Jahren „vier Milliarden D-Mark Verlust pro Jahr ein, zeitweise sind die Personalkosten höher als die Betriebserlöse“ (109). In den Wiedervereinigungsjahren, zum 1. Januar 1994, werden die beiden maroden Staatskonzerne Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichbahn zusammengeführt zur Deutschen Bahn – und nachfolgend einer sog. Bahnreform unterzogen, welche die Privatisierung und Überführung in eine Aktiengesellschaft vorsieht.
- „Der Bund blieb zwar alleiniger Eigentümer der neuen Bahn AG, er sollte allerdings nur noch bei strategischen Entscheidungen mitreden dürfen… In einer zweiten Stufe wurden Anfang 1999 fünf eigenständige Aktiengesellschaften unter dem Dach der Holding Bahn AG gegründet. Aus dem Unternehmensbereich Personennahverkehr wurde beispielsweise die DB Regio AG oder aus der Güterverkehrssparte die DB Cargo AG.
Als Folge der zweiten Stufe der Bahnreform sollte nach dem Willen der Politik auch eine Teil-Privatisierung des Unternehmens erfolgen – gemeint ist der Börsengang der Bahn“ (Nürnberger 2019). Selbiger wurde vorangetrieben aber letztlich mangels Erfolgsaussicht im Oktober 2008 kurzfristig gestoppt – und zu den Akten gelegt. Die Roadmap zum Börsengang hat jedoch viel dazu beigetragen, dass die Bahn eben vor allem finanziell gesehen immer effizienter werden sollte, was den ganzheitlichen Blick auf Notwendigkeiten zu Gunsten einer umfassenden Mobilitätswende nicht beförderte.
Es ist vermutlich eine Frage der Zählweise, sodass die Angaben abweichen – aber die Botschaft ist klar:
- „Zwischen 1994 und 2019 wurden nach Angaben des Schienenlobbyvereins Allianz pro Schiene Bahnstrecken mit einer Gesamtlänge von 3.600 Kilometern stillgelegt, nahezu zehn Prozent des Netzes. Gleichzeitig seien jedoch auch 800 Kilometer für den Personen- und knapp 400 Kilometer für den Güterverkehr wieder in Betrieb genommen worden… 90 Prozent der stillgelegten Strecken liegen nach Branchenangaben in Ostdeutschland“ (Zeit 2019).
- „Mehr als 5.400 Kilometer hat die Deutsche Bahn seit der Bahnreform vor 25 Jahren stillgelegt. Damit wurden rund 16 Prozent des gesamten Netzes aufgegeben“ (Balser 2018).
- „1994 umfasste das Netz noch 44.600 Schienenkilometer, heute sind es gerade noch 33.400“ (Abrecht 2020, 15).
- „Die Länge der Bahnstrecken, die in Deutschland seit 1990 stillgelegt wurden, entspricht der Länge der aktiven Schienennetze Norwegens, Dänemarks und der Niederlande zusammen“ (Fedrich 2020, 176).
Absurd ist für mich Nicht-Betriebswirtschaftler die Idee, als Schienenverkehrsunternehmen massiv auf Lkw zu setzen:
Sicher macht es Sinn, als Deutsche Bahn auch den Frachttransport von der Schiene bis zum beliefernden Industrieunternehmen zu leisten und zu diesem Zweck eine Sparte namens DB Schenker aufzubauen. Doch tatsächlich ist DB Schenker schlicht eine riesiges Logistikunternehmen, das nicht etwa vorrangig die ‚letzte Meile‘ als Dienstleistung bedient, sondern voll umfänglich auf die Straße und damit auf Lkw setzt. Womit sich die Deutsche Bahn gewissermaßen selbst Konkurrenz macht.
>> Interessant an dieser Stelle:
In der DDR gab es ein Gesetz, dass festlegte, „dass der Gütertransport ab 50 Kilometern Entfernung auf der Schiene erfolgen muss, wenn Versender und Empfänger einen Gleisanschluss haben“ (Wüpper 2019, 105). Man stelle sich – unabhängig von der hiergenannten Kilometeranzahl – eine gleichartige Regelung für die unendliche Zahl an Lkw-Lebensmitteltransporten aus Südspanien vor.
Ein Blick in die Zukunft
Ein wesentliches Projekt der Bahn-Zukunft ist der schon seit 2008 vorgeschlagene sog. ‚Deutschlandtakt‘ nach dem Vorbild der Schweiz (und der Niederlande). Hierbei werden „deutschlandweit die integralen Taktfahrpläne von Nah- und … Fernverkehr aufeinander abgestimmt… Zusätzlich sollen mehr schnelle Züge zahlreiche abgehängte Städte und Regionen wieder an den Fernverkehr anbinden“ (Rochlitz 2020, 17).
Früher hat man sich in erster Linie für Hochgeschwindigkeitsstrecken interessiert und den Nahverkehr nachrangig behandelt.
- „Jetzt wird erst der gewünschte Zielfahrplan unabhängig von der aktuellen Infrastruktur geplant und dann analysiert, welche Strecken dafür aus- oder sogar neu gebaut werden müssen: Die Investitionen in die Schienen können so in Zukunft zielgerichtet und effizient erfolgen“ (Rochlitz 2020, 17)
Und, die Frage ist aufzuwerfen:
- „Welchen Sinn macht es, im ICE mit Tempo 250 und schneller unterwegs zu sein, und dann lange auf den Anschluss im Nahverkehrszug warten zu müssen?“ (ebd., 16).
Das Ziel des integralen Fahrplanes ist also die Optimierung von Anschlüssen und der Regelmäßigkeit von Verbindungen.
- „Es soll dazu führen, dass in zentralen Knotenbahnhöfen alle Züge mehr oder weniger gleichzeitig ankommen und wieder abfahren, und zwar im festen Rhythmus, in der Regel also einmal jede Stunde zur gleichen Minute. Idealtypisch wäre das um :00 oder um :30, auf wichtigen Linien sogar zu beiden Zeiten. Und die Bahnhöfe in der Umgebung der Knoten schicken ihre Züge jeweils so auf die Reise, dass sie bei Ankunft ins Metrum passen“ (Schrader 2019).
Es wird noch dauern bis zum Deutschland-Takt. Der Weg bis dahin ist mit vielen Unwägbarkeiten gepflastert (!): 2030 ist als Starttemin angesetzt, was aber infrastrukturell bedingt eben noch lange nicht die maximale Ausbaustufe sein wird. Auf der Website des Bundesverkehrsministeriums ist zu lesen, dass die Einführung des Deutschland-Taktes derzeit geprüft werde (vgl. 2020).
>> Mehr zum Deutschlandtakt siehe: Schrader, Christopher (2019): „Und jetzt alle im Takt“. in: Süddeutsche Zeitung, 15.11.2019, online unter https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/wissen/deutsche-bahn-und-jetzt-alle-im-takt-e551890/
(Abrufdatum 28.8.2020) [paywall]
Harald Welzer schwärmt derweil auf ganzen 2½ Seiten über
- „[d]ie Schweizer Bahn … [als] Lifestyleprodukt. Die Kultur des öffentlichen Transports ist in der Schweiz so schick wie andernorts der SUV… Die Schweizer Bahn zeigt, wie ein Land funktioniert, in dem der öffentliche Verkehr kein ungeliebtes Add-on zum Auto ist: angenehm, komfortabel, nachhaltig. Die Schweizer Bahn möchte übrigens auch nicht an die Börse. Was soll sie da auch? Ihre Aufgabe sieht sie in der möglichst zuverlässigen Bereitstellung von demokratischer Mobilität“ (2016, 276-277).
Die Zeit hält dazu fest:
- „Umgerechnet auf die Zahl der Einwohner befördert die Schweizer Bahn doppelt so viele Gäste wie die Deutsche Bahn“ (Grefe 2019).
- „Während Deutschland im Jahr 2018 pro Kopf rund 77 Euro in die Schienen-Infrastruktur investiert hat, gaben die Schweizer mit 365 Euro fast das Fünffache aus. Von vier bis fünf Milliarden Franken im Jahr fließen zwei Drittel in die Erhaltung der Strecken, 1,5 Milliarden Franken in den Ausbau des Netzes. Jüngst hat das Parlament bis 2035 einen neuen Ausbauschritt für 13 Milliarden Franken beschlossen“ (ebd.).
Update 19.5.2020:
Die Zeit meldet, dass die Deutsche Bahn 2019 insgesamt sechs Kilometer neue Bahnstrecke fertiggestellt hat. Derweil gibt es insgesamt von 61 neue zzgl. 38 ausgebauter Autobahnkilometer, sowie 122 zzgl. 12 Bundesstraßenkilometer (vgl. Zeit 2020).
>> Jährlich gibt es im Zusammenhang mit dem Straßenbau über 100 eingeleitete Enteignungsverfahren (vgl. Ismar 2020) – interessant in Zeiten der Klimakrise. Und interessant auch in dem Sinne, dass sich die hier federführende Union mit Verstaatlichungen in anderen Bereichen äußerst schwer tut: „Geht es dagegen um die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne, die ihre Marktmacht für Preistreiberei ausnutzen, heulen CDU und CSU laut auf“ meint der Grünen-Politiker Sven Christian Kindler (ebd.)
Update 25.5.2020:
Die taz meldet, dass der Bund der Bahn im Gegensatz zur Autoindustrie und Luftfahrt
- „nur helfen [will], wenn das Management gleichzeitig erheblich kürzt, was ohne Schmälerung von Angebot und Service nicht zu machen sein wird“ (Krüger 2020, 1).
Update 12.6.2020:
Die Bahn verkündet einen Strategiewechsel und möchte – auch im Lichte des Klimaschutzes – das Angebot im Güterverkehr ausbauen, konkret den Einzelwagenverkehr, dessen Buchungssystem so „einfach wie Online-Shopping“ (Sigrid Nikutta zit. in AA 2020) werden solle. „DB Cargo hatte im vergangenen Jahr 232 Millionen Tonnen Güter transportiert. Seit 2010, als es noch 415 Millionen Tonnen waren, geht die Menge zurück“ (ebd.).
Damit kommen wir zum SOLL-Zustand:
Der SOLL-Zustand
Nachhaltige Mobilität: Grundlegendes
Grundlegendes:
Die Externalisierung von Kosten verhindert die Mobilitätswende
- Der Verkehr[ssektor in Deutschland] verursacht hohe Folgekosten, die auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Dazu gehören Schäden durch die Veränderungen des Klimas, die Verschmutzung der Luft, Verkehrsunfälle und Lärm. Diese sogenannten externen Kosten stehen weder auf der Tankquittung noch auf dem Flugticket, und sie fallen je nach Verkehrsmittel unterschiedlich hoch aus. Die externen Kosten abzuwälzen widerspricht aber dem Verursacherprinzip: Danach kommt für die Schäden auf, wer sie verursacht hat. In Deutschland können diese Kosten auf fast 150 Milliarden Euro im Jahr 2017 kalkuliert werden. Den größten Block machen mit 61 Milliarden Euro Unfälle aus“ (Groll 2019, 30).
- „Wäre die Steuer [beim Diesel] so hoch wie beim Benzin, hätte das allein 2018 rund 8,2 Milliarden Euro Mehreinnahmen gebracht“ (Wüpper 2019, 124).
- „Mit weiteren mindestens 3,5 Milliarden Euro pro Jahr werden Dienstwagen steuerlich vom Staat und damit von der Allgemeinheit begünstigt. … Wer dieses Privileg besitzt, hat wenig Grund, auf die Bahn umzusteigen“ (ebd.).
Konsequenz:
- „Aus ökonomischer Sicht verhindert die Externalisierung von Kosten einen fairen Wettbewerb zwischen den Verkehrsmitteln“ (Groll 2019, 30).
Eine erforderliche Konsequenz zur Erreichung eines SOLL-Zustandes:
- Subventionsabbau von etwa 17 Milliarden Euro im Jahre 2017
>> vgl. Groll 2019, 31, Rechnung: 29 Mrd. Euro – 12 Mrd. Euro für Flugverkehr = 17 Mrd. Euro
Hinzu kommt:
Für den Betrieb von Güterzügen ist in Europa jeder befahrene Gleiskilometer zu zahlen.
- „Für Lkw wird zwar in einigen Ländern eine Maut gefordert, aber meist nur auf Autobahnen – alle anderen Straßen sind für sie frei“ (Bertram 2019, 32).
Auch hier ist für eine Schienen-freundliche Korrektur zu sorgen.
Allgemein ist laut einer internationalen Studie namens ‚Mobility Futures‘ festzuhalten, dass sich
- „‚Deutsche Städte … im internationalen Vergleich sehr langsam [verändern]‘… So sind in deutschen Städten kaum Großprojekte geplant oder sie gleichen nur einen Bedarf aus, der schon vor Jahren vorhanden war, wie zum Beispiel die zweite Stammstrecke der Münchener S-Bahn“ (Spiegel 2020).
Grundlegendes:
Ein Auto steht Tag für Tag i.d.R. 23 Stunden lang ungenutzt herum.
(vgl. S. 296)
… und sind in diesem Sinne weniger Fahrzeuge, sondern eher Stehzeuge (vgl. Kopatz 2016, 205)
- „Selbst in der Rush Hour, wenn alle unterwegs sind, bewegen sich nie mehr als neun Prozent der Autos gleichzeitig“ (Täubert 2019, 23).
- „Automobilität [ist] betriebs- wie volkswirtschaftlich unglaublich unrentabel… Oder kennen Sie Unternehmen, die ihre Produktionsanlagen 23 Stunden am Tag stillstehen lassen und sie dann auch noch äußerst ineffizient …[mit] einem durchschnittlichen Auslastungsgrad von 1,6 Personen pro Fahrzeug [nutzen?]“ (Rammler 2017, 16-17).
- „Auf jedem fahrenden Rad sitzt ein Radfahrer, in fast jedem fahrenden Auto nur ein Autofahrer. Mindestens 160 Millionen leere Autositze fahren durch die Republik“ (Kopatz 2019, 77-78, vgl. Stock 2018).
Warum wir uns mit Veränderungen gerade im Verkehrssektor so schwer tun – auch abseits der den Deutschen eigenen ‚Liebe zum Auto‘ liegt u.a. an Folgendem:
- „Ist … erst einmal ein stabiler Funktionsraum und ein neues kulturelles Leitbild entstanden, welche eine Technologie bevorzugen und in ihrer weiteren Entwicklung stabilisieren, so haben es Alternativen ab diesem Zeitpunkt sehr schwer, sich zu etablieren bzw. zu koexistieren“ (Rammler 2017, 41).
Andererseits lässt die Strahlkraft des Autos als Statussymbol – wenn wir mal den Viagra-in-Chrom1-Ego-Prothesen2-SUV-Hype beiseitelassen – in den letzten Jahren deutlich nach, namentlich bei den Jüngeren und hier wiederum vorwiegend bei den Stadtbewohner*innen:
- 18- bis 24-Jährige ohne Auto-Führerschein 2010 = 14,2% | 2018 = 20,8% (vgl. Kosok 2019, 15)
- Im Sinne unserer jüngeren Mitbürger*innen:
- Da geht doch in Zeiten der digitalen Vernetzung per Sharing und multimodalen Verkehrssystemen mehr, denke ich… da geht mehr nachhaltige Mobilität?
Grundlegendes:
Definition ‚Nachhaltige Mobilität‘
Der Verkehrsexperte Stephan Rammler definiert den Begriff wie folgt
- „[N]achhaltige Mobilität [lässt sich] definieren als die ökologisch verträgliche und sozial gerechte Gestaltung und Gewährleistung der Erreichbarkeit von Einrichtungen und Kommunikationszugängen auf der Grundlage nicht-fossiler energetischer Ressourcen“ (2017, 137).
>> zur Definition des Begriffs ‚Nachhaltigkeit‘ siehe S. 242.
In einfache Worte gefasst und als Ziel formuliert:
- Es geht um nichts weniger als „um die Neuerfindung der Mobilität als postfossiles, dekarbonisiertes, sicheres und widerstandsfähiges System nachhaltiger Praktiken der Raumüberwindung“ (Rammler 2017, 10).
Und da geht so viel. Gerade im Hinblick auf digital geprägte, multimodale Verkehrskonzepte ist die Zukunft mit den längst technologisch ausgereiften Alternativen geradezu atemberaubend faszinierend, dass es m.E. kaum begreifbar ist, wie das mittelfristige Loswerden eines teuren, stinkenden, anfälligen MIV-Stahlkastens als ‚Verzicht‘ verstanden werden kann. „Seid doch froh, dass Ihr diesen Klotz am Bein bald endlich loswerdet!“ möchte man zumindest den städtischen Verfechter*innen des IST-Zustandes zurufen.
Mir erscheint die Seelenlage (insbesondere der städtischen) Autofahrer*innen und Politiker*innen in erster Linie angstbesetzt und fantasielos. Woher kommt diese Angst? Woher kommt diese Undenkbarkeit einer Weiterentwicklung der Mobilität?
Stephan Rammler weist daneben auf den gern verdrängten aber doch engen Zusammenhang von Kriegen und fossilen Energieträgern hin:
- „Die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen um das Weltklima und den Weltfrieden [– Stichwort ‚Kriege ums Öl‘1 –] bemisst sich … an der Bereitschaft, etwas im Kern unserer privaten Lebensstile massiv zu verändern, einen ganzen Wirtschaftszweig mutig und radikal zu transformieren, ja, eine ganz Volkswirtschaft umzubauen. Die Neuerfindung … der Mobilität ist ein echtes Jahrhundertprojekt. Aber eines, um das es sich wirklich zu kämpfen lohnt, weil die segensreichen Wirkungen enorm sein werden“ (Rammler 2017, 20).
Es lohnt sich in der Tat für eine umfassende Mobilitätswende zu kämpfen, wie eine Modelsimulation für Lissabon der OECD2 geradezu bestürzend deutlich macht:
- „95% less space was required for public parking in our model city served by Shared Taxis and Taxi-Buses.
- The car fleet needed would be only 3% in size of the today’s fleet.
- Although each car would be running almost ten times more kilometres than currently, total vehicle-kilometres would be 37% less even during peak hours“ (IFT-OECD 2015, 8).3
Selbst wenn dieses Modell mutmaßlich und auch für das eng besiedelte Lissabon zu optimistisch gedacht sein sollte: Hier steckt offensichtlich ein gewaltiges Potenzial drin.
Nachhaltige Mobilität:
Ländliche Gebiete in modernen Verkehrskonzepten mitdenken
Wenn man über neue Mobilität nachdenkt, reicht es nicht, Großstädte und Städtefit fürs 21. Jahrhundert zu machen; es bedarf einer grundlegend neuen umfassenden ÖPNV-Versorgung insbesondere der ländlichen Gebiete:
Die Deutschen leben gemäß Machowecz (2019, 52) zu … in Orten mit … Einwohner*innen:
- 30% = > 100.000
- 70% = < 100.000
davon:
- 15% = < 5.000
- 27% = 5.000-20.000
Verkehrsforscher*innen sind sich gemäß der Zeit weitgehend einig, welche Maßnahmen notwendig sind, um auch den ländlichen Raum mit einer klimaschützenden Mobilität auszustatten und integrativ an die Metropolen anzuschließen:
- „Macht den öffentlichen Verkehr schnell und flexibel.
- Organisiert die Wege zu den Haltestellen.
- Schafft ein umfassendes Radwegenetz.
- Bringt Carsharing aufs Land.
- Baut kompakter und in der Nähe von Bahnstrecken.
- Lasst Autofahrer den wahren Preis zahlen.“ (Schwietering 2019)
Weitere Möglichkeiten erwähnt die Süddeutsche Zeitung: Bürgerbusse, Bürgerautos, ÖPNV on Demand und Mitfahrerbänke. Letzteres ist eine Bank am Straßenrand, ähnlich einer Bushaltestelle, auf die man sich setzen kann, nachdem man auf einer hölzernen Anzeige sein gewünschtes Fahrtziel eingestellt hat – eine Art Renaissance des Trampens (Reek 2020).
Doch selbst wenn man das beste ÖPNV-Netz Europas aufbauen und weitere kreative Lösungen umsetzen würde, gilt, dass es in ländlichen Gegenden bis auf Weiteres vielfach ganz ohne Auto nicht gehen wird:
- „Aber es scheint doch niemand gezwungen zu sein, ein [ein eigenes und zudem] besonders großes und leistungsstarkes Fahrzeug zu fahren…, um mobil zu sein“ (Rammler 2017, 73).
Nachhaltige Mobilität:
Lernen von Vorbildern: Wie hat man es in Kopenhagen & Co gemacht?
Manchmal ist das Leben ganz schön leicht.
Zwei Räder, ein Lenker und das reicht.
Max Raabe, Songtext „Fahrrad fahr’n“, 2018
- „Als erstes, so [der Verkehrsexperte Stephan] Rammler, ‚hat Kopenhagen die Parkplätze verknappt und verteuert, dann die Fahrspuren neu aufgeteilt‘. Und dann hätten sie alles verknüpft mit einem funktionierenden, gut abgestimmten und auch optisch attraktiven öffentlichen Nahverkehr. Fast jeder zweite benutzt auf dem Weg zur Arbeit oder zur Ausbildung das Rad“ (Bartsch et al. 2019, 16).
- „Schwarzparken auf einem Radweg, und sei es nur für fünf Minuten, ist hier [in Kopenhagen] kein Kavaliersdelikt, sondern eine sehr teure Angelegenheit. Durch die strikte Kontrolle beweist die kommunale Exekutive Respekt vor den eigenen Plänen und Konzepten und zeigt. Wir meinen es wirklich ernst“ (Rammler 2017, 127).
- „Die Radwege sind breit, die grüne Welle ist auf Fahrradgeschwindigkeit eingestellt, es gibt Radschnellwege und Fahrradbrücken“ (Drewes 2019, 13).
- In Kopenhagen werden im Winter zuerst die Fahrradwege von Schnee und Eis geräumt. Andernfalls würde umgehend ein Verkehrskollaps drohen – wenn plötzlich ein Großteil der Radfahrer*innen das Auto aus der Garage holen würde (vgl. Stengel 2010).
Und die Niederlande?
Wie läuft es im Traumland einer/eines jeden Fahrradliebhaberin/Fahrradliebhabers?
Seit Hape Kerkeling wissen wir, dass „[i]n Norwegen … auf jeden Norweger 75 Elche, 90 Murmeltiere und 100 Blockhäuser“ (Kerkeling 1988, 19) kommen.
- In den Niederlanden kommen auf 17 Millionen Einwohner 23 Millionen Fahrräder (vgl. Harms 2019, 4).
Finanzielle Ausgaben pro Einwohner*in für Fahrradinfrastruktur:
- Stuttgart derzeit 5 Euro, geplant langfristig: 40 Euro
- Darmstadt innerhalb von 4 Jahren jährlich 26 Euro
- Kassel = 15 Euro
- Kopenhagen = 36 Euro
- Amsterdam 11 Euro1
- Hamburg 2,90 Euro
- München 2,30 Euro
(vgl. Kühne 2019, 35 u. Kopatz 2019, 88)
Einer Greenpeace-Studie von 2018 zur Folge „gibt die Stadt Utrecht 130 Euro pro Einwohner für den Radverkehr aus, Berlin aber nur 4,50 Euro“ (Linnert/Albrecht 2019, 20-21).
Weitere Vorbilder für infrastrukturelle Innovationen:
Die Liste von Innovationsmöglichkeiten und Infrastrukturen ist lang – und die meisten solcher Projekte kosten wesentlich weniger als herkömmliche ‚autofreundliche‘ Strukturmaßnahmen:
- Große Fahrradparkhäuser – so steht in Utrecht nunmehr das größte Fahrradparkhaus für 12.500 Fahrräder (vgl. Spiegel 2019),
- „[e]in schwebender Radverkehrskreisel“ (Frommeyer 2019),
- „ein intelligentes System, das Radfahrern anzeigt, ob sie schneller oder langsamer fahren müssen, um an der nächsten Ampel grünes Licht zu erwischen“: Auf dem Display erscheint: „Hase = Tritt in die Pedale. Schildkröte = Mach mal langsam. Daumen hoch = Nichts verändern. Kuh = Egal was du tust, die Ampel wird rot sein“ (ebd.), –
das alles geht in den Niederlanden.
Anderswo ist ebenfalls eine ganze Menge möglich:
- In Trondheim in Norwegen gibt es zur Bewältigung von bis zu 18%igen Steigungen „den Fahrradlift Cyclo Cable… Das Zugseil verläuft in einem Spalt in der Fahrbahn. Einen Fuß stellen die Radfahrer auf eine Metalllippe, die daraus hervorschaut. Der andere Fuß bleibt auf der Pedale stehen“ (ebd.).
- Apropos Norwegen:
- „Ab 2025 werden alle norwegischen Innenstädte per Gesetz autofrei sein“ (Gonstalla 2019, 107 – vgl. Abschnitt Direkte Opfer des Motorisierten Individualverkehrs (MIV), Aspekt Oslo, S. 301).
- Apropos Norwegen:
- In Kolumbiens Hauptstadt Bogotá wird seit Mitte der 1970er Jahre „an jedem Sonntag – und außerdem an den Feiertagen – zwischen 7 und 14 Uhr jeweils eine Richtung der Hauptverkehrsstrecken für den motorisierten Verkehr gesperrt [– die sog. Ciclovía]. Radfahrer, Jogger, Inline-skater und Spaziergänger erobern dann auf 120 zusätzlichen Kilometern die Straßen der Hauptstadt“ (Haarbach 2018).
- Ein bemerkenswerter Kommentar des verantwortlichen Bürgermeisters Enrique Peñalosa dazu:
- „When I was elected mayor of Bogotá and got to city hall, I was handed a transportation study that said the most important thing the city could do was to build an elevated highway at a cost of $600 million. Instead, we installed a bus system that carries 700.000 people a day at a cost of $300 million. We created hundreds of pedestrian-only streets, parks, plazas, and bike paths, planted trees, and got rid of cluttering commercial signs. We constructed the longest pedestrian-only street in the world. … But we chose not to improve the streets for the sake of cars, but instead to have wonderful spaces for pedestrians. All this pedestrian infrastructure shows respect for human dignity. We’re telling people, ‚You are important – not because you’re rich or because you have a Ph.D. [d.h. einen Doktor-Titel], but because you are human.‘ If people are treated as special, as sacred even, they behave that way. This creates a different kind of society. … A city is successful not when it’s rich but when its people are happy. Public space is one way to lead us to a society that is not only more equal but also much happier“ (2004, 2-3).
- Ein bemerkenswerter Kommentar des verantwortlichen Bürgermeisters Enrique Peñalosa dazu:
- „In Ottawa werden von Mai bis September ebenfalls sonntags Autos von einigen Straßen verbannt, genauso wie in der eigentlich alles andere als fahrradfreundlichen Megametropole Mexiko-Stadt“ (Gonstalla 2019, 107).
- In Paris und im US-Staat Idaho ist es Fahrradfahrer*innen erlaubt, auch bei rot rechts abzubiegen (vgl. Hasselmann 2015)
- Ampeltrittbretter und Ampelgriffe an Straßenrändern unweit der Ampeln. Das gibt es bspw. in Münster und Kopenhagen: Das kostet fast nichts. Es kann so einfach sein (vgl. Gonstalla 2019, 107).
OMG, was man mit dem vielen Geld, das derzeit in die Asphaltisierung und Versiegelung Deutschlands gesteckt wird, machen könnte. Es mangelt hier m.E. bislang in vielerlei Hinsicht an Fantasie, Flexibilität und Pragmatik.
Nachhaltige Mobilität:
Thema ‚365-Euro-Ticket/Kostenloser Nahverkehr‘
Ein 365-Euro-Ticket bzw. kostenloser Nahverkehr würde bedeuten, dass die bisherigen Ticket-Einnahmen größtenteils bzw. komplett anderweitig aufzubringen wären. Um folgende Summen geht es:
- Einnahmen durch Ticketverkäufe des deutschlandweiten ÖPNV = ca. 13 Mrd. Euro pro Jahr
- 830 Mio Euro pro Jahr bzgl. des ÖPNV des HVV in der Metropolregion Hamburg (vgl. Tagesschau 2019)
Hinzu kommt das Geld, dass für ein umfangreicheres und besseres ÖPNV-Angebot aufzubringen ist.
Push- und Pull-Maßnahmen
Es gibt zwei grundlegende Argumentationsstränge und Strategien, um Veränderungen z.B. im Mobilitätsverhalten zu bewirken, wie auch das UBA feststellt:
- „Während Push-Maßnahmen [Ordnungsrecht] darauf abzielen, bestimmte Transportmodi relativ unattraktiver zu machen, soll mit Pull-Maßnahmen [Anreize] die relative Anziehungskraft bestimmter Modi erhöht werden.“ (UBA 2019b).
Das bedeutet:
- Push-Maßnahmen zielen auf autofreie Innenstädte, Fußgängerzonen, City-Mauts, Parkraumbewirtschaftung (d.h. Parkraumverknappung) u.ä. Strategien.
- Pull-Maßnahmen hingegen zielen auf Preis und/oder Angebot. (Sie funktionieren nur bei denen, die Geld haben.)
Der Vorstandschef der Hamburger Hochbahn AG, Henrik Falk, hält weder kostenlosen Nahverkehr noch das 365-Euro-Ticket für zielführend:
- „Das eigene Auto sei immer teurer als eine Monatskarte. ‚Die Marktforschung zeigt, dass der Preis nicht an oberster Stelle steht, sondern Qualität, Sicherheit, Bequemlichkeit, Pünktlichkeit.’… wie man aus Autofahrern Fahrgäste macht: das Angebot verbessern, das Streckennetz erweitern, die Taktfolge verkürzen“ (Bartsch et al. 2019, 20).
Falk ist sicher zuzustimmen, dass ein versiffter Umsonst-Bus nicht zum Umsteigen einlädt. Aber der Umkehrschluss, dass bei hinreichend „Qualität, Sicherheit, Bequemlichkeit, Pünktlichkeit“ der Preis eine untergeordnete Rolle spielen könnte, gilt eben auch nicht. Seit vielen Jahren setzt der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) regelmäßig die Preise hoch und gilt ohnehin schon als einer der teuersten Verkehrsverbünde Deutschlands (vgl. Welt 2019).
Gegenüber Henrik Falks Rückzug auf Ergebnisse der Marktforschung vertritt Michael Kopatz eine deutlich andere Position hinsichtlich eines bei ihm so vorgeschlagenen ‚Bürgertickets‘:
- „Vorbild kann die solidarische Umlagefinanzierung eines Semestertickets sein. Der Wechsel vom Auto in die Bahn verselbstständigt sich, weil die Kunden nicht permanent den Preis abwägen und Tarife ausloten. … Die steigende Nachfrage macht den Ausbau des Nahverkehrs erforderlich, er gewinnt an Attraktivität, eine positive Aufwärtsspirale wird in Gang gesetzt“ (2016, 233).
Der Blick auf vergleichbare bzw. ähnliche Konzepte zeichnet folgendes Bild:
- Reutlingen, Radolfzell, Amberg haben in Deutschland ein (nicht immer so benanntes) 365-Euro-Ticket, diverse Städte bzw. Verkehrsverbünde haben ein 365-Euro-Ticket für Auszubildende und/oder Schüler*innen eingeführt oder angekündigt (vgl. wikipedia 2020).
Der Blick in die Nachbarländer ergibt, dass z.B. in Wien und Vorarlberg das sog. ‚Wiener Modell‘, das 365-Jahresticket durchgesetzt ist (vgl. ebd.).
Angemerkt sei hier, dass die Schweiz und Österreich auch bei landesweiten Bahn-Pauschaltickets wesentlich progressiver sind als Deutschland:
- „Österreich bekommt 2021 ein Klimaticket [namens 1-2-3-Ticket. Es] wird die unbeschränkte Nutzung von Zügen und öffentlichen Verkehrsmitteln im gesamten Bundesgebiet für 3 Euro täglich [also für jährlich 1095 Euro] ermöglichen“ (Leonhard 2020a, 8). Für Senior*innen, Menschen mit Behinderung sowie Familien gibt es sozialverträgliche Konditionen. Wichtig: Das Ganze wird durchgezogen, obwohl auch Österreich Privatbahnen hat (vgl. Leonhard 2020b, 8).
- In der in Sachen Fernbahn und ÖPNV geradezu traumhaft erschlossenen Schweiz (in der das Einkommensniveau ein deutlich anderes ist als z.B. in Deutschland) kostet es jährlich 3.860 Schweizer Franken (etwa 3.540 Euro) für einen einzelnen Erwachsenen theoretisch sein Leben in den Zügen, Schiffen, Bussen zu verbringen, es gibt Vergünstigungen für Familien, Partner*innen, für Kinder, Rentner*innen, Behinderte und Hunde (vgl. SBB 2020).
Der entscheidende Punkt ist nun bei Kopatz m.E., dass das Ticket ohnehin da ist und nicht mehr bei jeder anstehenden Fahrt über Tarifstrukturen nachgedacht zu werden braucht, was die Hürden für viele Bürger*innen deutlich herabsetzt.
Auch der viele Menschen überfordernde Gang an den Ticketautomaten entfällt.
Meines Erachtens bedarf es einer raffinierten Kombination diverser Push&Pull-Maßnahmen, was auch bedeutet, dass es den einen Königsweg nicht gibt und somit in jeder Stadt angepasst an die örtlichen Gegebenheiten andere Kombinationen möglich sind.
Entscheidend ist m.E.
- der Convenience-/Bequemlichkeitsfaktor à la ‚Verkehr wie Wasser‘ sowie
- die Gesamtkostenrechnung inkl. finanzieller Aspekte, dem Zeitbudget und der emotionalen Kosten,
zusammengefasst geht es um die Niedrigschwelligkeit.
Denn genau mit dieser Niedrigschwelligkeit argumentieren stets Autofahrer*innen, wenn auch meist ohne diesen Begriff zu verwenden:
- Autofahrer*innen machen geltend, dass sie trotz eines passenden ÖPNV-Angebots regelmäßig dennoch in ihr Auto steigen, weil das Auto nun mal (grundsätzlich und zudem räumlich direkt) vor der Tür stehe, d.h. (für viel Geld) angeschafft wurde…
Das ist der als entscheidende Mehrwert eines eigenen Pkw: Er steht direkt vor der Tür. Um mal eben Brötchen zu holen… Das ist die Freiheit, von der in opulenten TV-„Mein Auto fahrt stets vollkommen allein durch Stadt- und Natur“-Werbungen stets die Rede ist… Es geht um die pure, u.U. nie genutzte Möglichkeit. Sobald dieser eine Mehrwert weg (und das Auto abgeschafft) ist, werden aus Autofahrer*innen umgehend Vorwiegend-Nicht-Autofahrer*innen – oder würden Sie zum Brötchen holen ein Carsharing-Auto mieten?
…und somit jegliche Nutzung des ÖPNV – fast egal, was das Ticket konkret koste – eine persönliche Zusatzausgabe darstelle. Was man besitzt, hat man auch zu benutzen.
Dies gilt m.E. solange, bis die finanziellen und vor allem die emotionalen Kosten z.B. durch Parkgebühren, City-Mauts und verknappten Parkraum relevant höher liegen als die eines preisgünstigen, zuverlässigen, umfassenden ÖPNV-Angebotes.
Daraus ergibt sich folgende Frage:
Wie hoch ist der Gesamtpreis, einen eigenen Pkw zu besitzen?
Machen wir uns daher an dieser Stelle einmal klar, was ein eigenes Auto in Deutschland durchschnittlich kostet:
- „Autofahrende geben in ihrem Leben durchschnittlich 332.000 Euro dafür aus1, um mit dem Auto mobil zu sein… Weitere Kosten sind die lebenslangen Spritkosten, die bei 78.900 Euro liegen sowie Versicherungen, Steuern, Pflege oder Wartung. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen der Deutschen von 22.652 Euro sind das mehr als 13 Jahre Arbeitszeit, die dafür aufgewendet werden“ (Täubert 2019, 35).
- Bei Infrastrukturen ohne relevanten ÖPNV kann daher durchaus von der Armutsfalle ‚Auto‘ gesprochen werden (vgl. Bruns 2018, 11).
- Heiko Bruns fragt in diesem Zusammenhang seine*n Leser*in:
- „Sie haben keine Zeit, zu Fuß zu gehen, Rad zu fahren oder den Bus zu nehmen? Wenn Sie in diese Überlegung die Zeit einrechnen, die Sie für den Kaufpreis und die Haltungskosten Ihres Autos arbeiten müssen, sieht der Vergleich ganz anders aus: Ausgehend von einem Mittelklassewagen wie dem VW Golf VII, betragen die monatlichen Kosten etwa 520 Euro. Bei einem fiktiven Nettogehalt von 2.000 Euro/Monat arbeitet man folglich ein Viertel der monatlichen Arbeitszeit nur für das Auto. Von durchschnittlich 21 Arbeitstagen werden damit etwa fünf Tage oder 40 Stunden für das Auto benötigt. Wird dieser Aufwand gleichmäßig auf die Arbeitstage verteilt, sind das fast zwei Stunden. Um diese Zeit verlängert sich sozusagen die Fahrt zur Arbeit. Autofahren spart am Ende also weder Zeit noch Geld“ (2018, 11).
- Was man sich viel zu selten klar macht:
- „[W]enn wir etwas kaufen, bezahlen wir nicht mit Geld. Wir bezahlen mit unserer Lebenszeit, die wir aufwenden mussten, um dieses Geld zu verdienen“ (Huffington Post 2015, s.a. Fußnote S. 351).
- Nach Täubert sparen Einzelpersonen „ohne Auto, die mit Bus, Bahn, Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sind [und – so erforderlich – sich jederzeit ein Auto leihen können], … monatlich circa 50 Prozent, … Familien circa 35 Prozent und Geschäftsleute 45 Prozent“ (Täubert 2019, 35).
Sie können also statistisch gesehen 13 Jahre Arbeitszeit ausschließlich für den Dauerbesitz jeweils eines Autos aufwenden, oder wie Täubert an gleicher Stelle feststellt, freitags zu Hause bleiben und für Familie und Freunde da sein.
Nachhaltige Mobilität:
Thema ‚City Maut‘ & Innenstädte
Eine Möglichkeit, die Innenstädte autoarm zu gestalten und Platz bzw. Ruhe für Fußgängerzonen zum Flanieren und für Outdoor-Café-Besuche zu schaffen, sind Konzepte, die die individuellen Kosten für den Innenstadtbesuch per Auto hochfahren bzw. nicht der Allgemeinheit überlassen:
City-Maut-Systeme gibt es bspw. in Madrid, Oslo, Chengdu, Paris, Athen, Brüssel, Mexico City und Vancouver (vgl. ebd.), Kopatz zählt 14 europäische Städte (vgl. 2016, 200) – Keine der genannten Städte ist dafür bekannt, dass deren Wirtschaft darunter gelitten hätte.
- „London beziffert den Effekt der [zwischen 7 und 18 Uhr ca. 13 Euro1 betragenen] City-Maut auf ein täglich um 20 Prozent oder 60.000 Fahrzeuge verringertes Verkehrsaufkommen im City-Gebiet, eine Beschleunigung des Verkehrsflusses um 37 Prozent und die Einsparung von 150.000 Tonnen CO₂ pro Jahr“ (Rammler 2017, 129, Höhe der Maut vgl. Bartsch et al. 2019).
Daneben gibt es im Sinne von Push & Pull (vgl. S. 349) z.B. Konzepte wie
- eine an Umweltnormen orientierte Parkraumbewirtschaftung, auch Parkraummanagement genannt,
- Anwohner*innenparken,
- schrittweise jährlich erfolgender, systematischer Rückbau von Parkplätzen,
- einer Abschaffung reiner P+R-Gebühren2 zugunsten eines günstigen P+R-ÖPNV-Kombitickets für P+R-Nutzer*innen sowie
- einer räumlich schrittweise auszudehnenden autoarmen Zone z.B. durch weitreichende Anlieger-Regelungen oder einer (ggf. in Abstimmung mit dem Bund einzuführenden) City-Maut.
>> vgl. zu diesem Absatz die Stellungnahme des Zukunftsrates Hamburg zur ersten Fortschreibung des Hamburger Klimaplans, zur Gesetzesvorlage zur Änderung der Verfassung und zum Neuerlass des Hamburgischen Klimaschutzgesetzes, S. 8, online unter https://www.zukunftsrat.de/wp-content/uploads/200106_Stellungnahme_zum_Hamburger_Klimaplan_und_zum_Entwurf_des_Klimaschutzgesetzes.pdf (Abrufdatum 21.06.2023)
Solche Maßnahmen schaffen Platz für Anderes und ermöglichen wie oben angedeutet z.B. den Ausbau von Fußgängerzonen.
Hier gibt es die seit Jahrzehnten bekannte Furcht von Einzelhändler*innen vor der Einrichtung von angeblich käufer*innenraubenden Fußgängerzonen.
Diese Befürchtungen sind inzwischen vielfach in Studien und in der Praxis widerlegt worden –
- „Wo viel Urbanität ist, wo viel Fahrradverkehr ist, wo wenig Blech ist, dort steigen die Umsätze“ (Knie 2020) –
sodass an dieser Stelle nur kurz der Verweis auf eine Studie erfolgt, die zeigt wie sehr Befürchtung und Realität auseinanderklaffen:
- So „meinten Händler*innen des Londoner Stadtbezirks Hackney… dass ihre Kund*innen zu 63 Prozent mit dem Auto anreisen. Tatsächlich waren es nur 22 Prozent. Sie vermuteten weiter, dass 49 Prozent ihrer Kund*innen zu Fuß kommen. In Wirklichkeit waren es 64 Prozent“ (Täubert 2019, 60).3
Nachdem es nun schon seit langem als evident gelten darf, dass Fußgängerzonen die Wirtschaft stützen, ist die Frage aufzuwerfen, was eigentlich für ein Menschenbild hinter dieser Glaubenssatz4-artigen intuitiven Befürchtung steht.
Offensichtlich werden Kund*innen unterschätzt, ihnen wird wenig zugetraut. Vielleicht verliert man tatsächlich die/den eine*n oder andere*n Kundin/Kunden. Wieso kommen so viele Menschen nicht auf die Idee, das man auch Kund*innen gewinnen könnte?
>> Dieser i.d.R. intuitive/spontane Angstimpuls erscheint mir vergleichbar mit den Kontroversen zum ‚Bedingungslosen Grundeinkommen‘ (BGE) zu sein (vgl. Aspekt Klimakrise als Chance, S. 458f.), siehe auch Aspekt ‚Glaubenssatz „Der Mensch ist im Grunde schlecht“‘, S. 380ff.)
Nebenbei:
Beim ersten innenstädtischen Vollsortiment-IKEA in Hamburg-Altona ist bis heute, sechs Jahre nach Eröffnung, das oberste Parkdeck und somit einen Großteil des Parkplatzangebotes mangels Auslastung nicht für Autofahrer*innen freigegeben…
Der zeitlich begrenzte Umsonstverleih mit Cargo-Bikes u.ä. klappt (aus eigener Erfahrung) hervorragend.
Sich von Fußgängerzonen ‚bedroht‘ gesehene Einzelhändler*innen könnte man die Frage stellen, inwieweit sie überhaupt Produkte verkaufen, die man nicht mit einem (Lasten-)Fahrrad transportieren kann…
Burn fat, not oil:
Fahrräder, Diensträder, Lastenräder, E-Bikes etc.
Vorweg eine Überlebens-Regel:
- Autofahrer*innen haben Innerorts immer und ausnahmslos 1,5 Meter Abstand von Fahrradfahrer*innen zu halten – selbst wenn das bedeutet, dass sie dann hinter der/dem Radfahrer*in wie hinter einem Landstraßen-Traktor ‚gefangen‘ sind. Außerorts gilt ein Sicherheitsabstand von 2 Metern.
In diesem Sinne liegt es nahe, beispielsweise alle fünf Jahre, eine Update- und Auffrisch-Veranstaltung für Führerscheinbesitzer*innen verpflichtend einzuführen – so wie es m.E. ebenfalls sinnvoll wäre, selbiges prinzipiell und allgemein für Erstehilfe-Kurse aufzulegen.
Allgemein gilt:
- „Untersuchungen [haben] ergeben, dass die Förderung des Radverkehrs zu mehr Sicherheit führt. Je mehr Radler unterwegs sind, desto seltener kommt es zu Unfällen, den Autofahrer achten dann eher auf den Fahrradverkehr. In Kopenhagen hat sich die Zahl der schwer verletzten Radfahrer halbiert, während die zurückgelegten Radkilometer um 20 Prozent ansteigen“ (Kopatz 2016, 188).
Eine funktionierende ausgebaute Fahrradinfrastruktur ist ökosozial.
Manfred Unfried im Magazin fairkehr des Ökologischen Verkehrsclub Deutschland (VCD):
- „Ich habe ein … Vermögen gespart, weil ich meine Alltag mit dem Rad erledige. Insofern ist eine aktive Fahrradpolitik, wie sie bei uns in den Niederlanden Standard ist, natürlich auch Sozialpolitik“ (2019, 46).
- „[D]ie staatlich verordnete Abhängigkeit vom Auto [ist] aufgrund fehlender Alternativen gerade für Leute mit bescheidenem Einkommen absolut unsozial. Denen frisst schon der Unterhalt die Haare vom Kopf.“ In Deutschland spielen viele Eltern Taxi, „weil es die Infrastruktur nicht zulässt, die Kinder sorgenfrei mit dem Rad fahren zu lassen. In diesem Sinne ist ökosoziale Radwirtschaft gerade im Interesse der weniger Begüterten… Immer wenn ich Senioren in elektrischen Rollstühlen auf unseren [in Holland] abgetrennten Radwegen in die Innenstadt fahren sehe, fällt mir auf, dass auch das in Deutschland in den meisten Orten nicht möglich ist. Die Fahrradstadt verhilft eben auch Menschen mit Behinderung zu einem selbstständigeren Leben. Dennoch wird so getan, als ob Radinfrastruktur irgendwie Luxus sei“ (ebd.).
- All diese Bemerkungen gelten letztlich auch für E-Bikes und auch Lastenräder, die in vielerlei Hinsicht sehr viel bewegen können.
Update September 2020:
Ein neues Positionspapier des UBA kommt zu dem Schluss, „dass das deutsche Verkehrssystem aktuell nicht nur unter ökologischen, sondern auch unter sozialen Gesichtspunkten dringend reformbedürftig ist.“ Dirk Messner, Präsident des UBA hält dazu fest: „Haushalte mit niedrigen Einkommen, Kinder, ältere Menschen, Frauen und Menschen ohne Auto, gerade in ländlichen Räumen, sind die Verlierer des heutigen Verkehrssystems. Mit einer Verkehrswende hin zu einer ökologischeren Mobilität schließen wir diese Gerechtigkeitslücke und schützen Umwelt und Klima“ (UBA 2020).
„Einmal Volltanken kostet 12 Cent.“
Dirk Fastabend, E-Bike-Händler, 2012
zit. in Klimaschutz Baustelle 2012
In Hinsicht auf Lastenräder ist hier festzuhalten, dass diese
- einerseits für Firmen zur Warenauslieferung in der lokalen Umgebung sehr hilfreich sind, in Relation zu Autos Low Budget-Investitionen darstellen, zurzeit ein Image-verbessernder Hingucker sind und allein das Auslassen der Parkplatzsuche enorme Zeitgewinne generiert.
- andererseits für Bürger*innen tendenziell zu teuer sind, um sich dauerhaft eines zuzulegen, sodass hier Sharing-Konzepte und Verleihservices Sinn machen.
Solche Verleihangebote im Sinne ‚Freie Lastenräder‘ – die kostenlos bzw. gegen eine freiwillige Spende ausgegeben werden – werden mittlerweile von „über 90 Initiativen in über 30 Städten [betrieben]“ (Reidl 2020b).
Hinsichtlich des Dienstwagenprivilegs ist festzuhalten, das der Gleichheitsgrundsatz in diesem Bereich inzwischen teilweise durchgesetzt worden ist: So
- „können Arbeitnehmer [in Deutschland] zumindest ein Dienstrad leasen, das seit 2012 einem Dienstwagen steuerlich gleichgestellt ist. Je nach Modell sparen sie bis zu 40 Prozent gegenüber dem Ladenpreis… Im Fahrradland Niederlande ist man überzeugt: Mitarbeiter, die mit dem Rad zur Arbeit kommen, sind in besserer Verfassung und weniger anfällig für Krankheiten. Außerdem können Kosten für Parkplätze gespart werden. Deshalb ermutigt die Regierung die Arbeitgeber, Duschen und überdachte Stellplätze für Fahrräder bereitzustellen.“ (Reidl 2020a).
Den hier genannten Gesundheitsaspekt der Eigenkraft-angetriebenen Mobilität sollte man definitiv nicht unterschätzen:
Katja Täubert weist darauf hin, dass
- „[d]er menschliche Körper darauf ausgerichtet [ist] 20 bis 25 Kilometer pro Tag zu gehen. Das sind fünf bis sechs Stunden Bewegung… Aufgrund von Bewegungsmangel sterben 600.000 Menschen in Europa frühzeitig“ (2019, 40) an den hier durch (mit-)verursachten typischen Zivilisationskrankheiten.
>> vgl. Aspekt Tote durch Luftverschmutzung in Abschnitt Indirekte Opfer des motorisierten Individualverkehrs (MIV), S. 302.
Das ist ein starkes Argument für die Mobilität per Fahrrad. Dann hat man das erforderliche Pensum an täglicher Bewegung schon auf dem Weg zur bzw. von der Arbeit erledigt. Selbst wenn der mit dem Fahrrad zurückgelegte Weg zur Arbeit etwas länger dauern sollte… die physische Zufriedenheit, die sich in uns breit macht sowie der zeitersparte Extra-Weg zum Fitness-Center, dessen Kosten wir durch Zeitverbrennung durch Herumsitzen auf dem Bürostuhl zu erarbeiten haben, wiegt das i.d.R. auf jeden Fall auf.
>> Das Maximum an täglicher Bewegungslosigkeit ergibt sich, wenn z.B. ein Manager in einem sog. Car Loft (gibt es wirklich!) wohnt, bei dem sein Auto von der Hauseinfahrt per Autolift vor die Tür seiner z.B. im dritten Stock gelegenen Eigentumswohnung des Mehrfamilien-Autoparkhauses transportiert wird. In diesem Fall ist denkbar, dass die Person lediglich die Schritte von der Bettkante zur Kaffeemaschine zum Auto zur Büro-Tiefgarage in den Lift zum Bürostuhl geht – und abends wieder zurück.
Michael Kopatz indes verteilt bei seinen Vorträgen einen kleinen Aufkleber, der den Unterschied zwischen Auto- und Fahrradfahren auf die kürzest mögliche Formel bringt:
Auto verbrennt Geld macht fett | Fahrrad verbrennt fett spart Geld |
E-Bikes können den Radius, innerhalb dem an die Arbeitsstätte gelangt ohne zu erschöpft oder zu verschwitzt zu sein, erheblich vergrößern. In Kombination mit Radschnellwegen haben E-Bikes m.E. ein hohes Potenzial im künftigen Modal Split, d.h. beim Verkehrsartenmix der Zukunft, eine wichtige Rolle zu spielen.
Nachhaltige Mobilität:
Bike Sharing: Mietfahrräder & Co
In vielen Städten Deutschlands gibt es mittlerweile und stetig weiter ausgebaut Services wie ‚Call a Bike‘ oder ‚Stadtrad‘. Ist man hier Mitglied bzw. Kund*in, kann man teilweise sogar auch in anderen Städten (ggf. zu anderen Konditionen) die dortigen Leihräder nutzen.
Seit einiger Zeit spielt das niederländische Startup Swapfiets mit um die Gunst der Fahrradkund*innen in Deutschland:
- Swapfiets – das sind die Räder mit dem blauen Vorderreifen – bietet für ca. 18 bis 20 Euro ein dauergeliehenes Fahrrad an. Wird das ‚Fiets‘ (Fahrrad) beschädigt, ’swap’t (tauscht) oder repariert die Firma das Fahrrad innerhalb von 24 Stunden. Ein gestohlenes Rad wird für eine Gebühr von 60 Euro ersetzt (vgl. Mast 2019).
Steven Uitentuis, Mitbegründer des Unternehmens, das mit Stand Frühjahr 2020 180.000 Kund*innen hat, „40.000 davon allein in Amsterdam“ (VCD 2020, 26):
- „Wenn es dein Fahrrad ist, ist es dein Problem. Bei uns hat der Kunde sein eigenes Fahrrad, die Probleme aber haben wir.“
Nachhaltige Mobilität:
‚Lebenswerte Stadt‘: Wem gehört eigentlich die Stadt?
Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther:
- „Das Rezept der vergangenen 70 Jahre hieß: Wir orientieren unsere Verkehrs- und Stadtplanung am Auto. Der Rest nimmt, was übrig bleibt … So wird es nicht weitergehen. Das findet keine Akzeptanz mehr in der Gesellschaft“ (zit. in Balser/Heidtmann 2020).
„Lebensqualität bleibt in Städten… dort erhalten, wo Menschen zu Fuß gehen oder auf Plätzen sitzen können, um Passanten zu beobachten. Dieser öffentliche Raum, urteilt [der Verkehrswissenschaftler Tilman] Bracher, wurde systematisch vernichtet“ (Bartsch et al. 2019, 20).
Wem gehört eigentlich die Stadt?
Die Antwort hat vom Menschen auszugehen.
Die Stadt gehört
- der Bürgerin/Anwohnerin, die das Recht hat gesund zu leben, vgl. Luftqualität, Lärm und Unfallgefahr,
- dem Fußgänger,
- der Radfahrerin, dem Lastenradfahrer, der E-Bikerin, dem Rollstuhlfahrer, der Rollator-Nutzerin,
- dem ÖPNV-Nutzer in S- und U-Bahn, Straßenbahn, Bus und Nahverkehrszug – allesamt möglichst emissionsfrei betrieben,
- der Handwerkerin, die ohne Auto oftmals nicht tätig sein kann,
- dem täglich zeitlich begrenzten Liefer- und Warenverkehr,
- dem Carsharer und (Sammel-)Taxifahrer,
- der emissionsfrei Verkehrsteilnehmerin via E-Vespa, Batterie oder Brennstoffzelle,
- dem fossilen Kraftradfahrer inkl. Vespas & Co und
- der Autofahrerin, ggf. gestaffelt nach Antrieb, Autotyp und Schadstoffklasse.
Und nur weil die Reihenfolge/Prioritätensetzung in den letzten Jahrzehnten mehrheitlich anders gesehen wurde bzw. wird, bedeutet das noch lange nicht, dass das jemals richtig war/heute noch richtig ist.
Worum geht es?
Es geht darum, eine Lebenswerte Stadt zu befördern, in der Bürger*innen ohne vermeidbare Luftverschmutzung, Lärm und Unfallgefahr leben können – und Platz für Muße und Freizeitaktivitäten haben.
Es geht um die „Rekultivierung des öffentlichen Raumes“ (Welzer 2016, 157).
„First we shape the cities and then they shape us.“ Stadtplaner Jan Gehl zitiert in Täubert/Feitsch 2019, 17.
Der Schlüssel für eine Lebenswerte Stadt ist folgendes Bild:
Die Stadt ist unser gemeinsames öffentliches Wohnzimmer.
(vgl. Täubert/Feitsch 2019, 17)
Und wie es mit einem Wohnzimmer so ist – es hat von uns aktiv designed, eingerichtet und gestaltet werden, damit wir uns darin wohl fühlen.
Und eine solche Gestaltung ist unabdingbar für die weitere Zukunft, denn das Konzept ‚Stadt‘ ist der immer maßgeblichere Lebensraum für Menschen:
- Den Vereinten Nationen (UN) zufolge leben derzeit global „über 55 Prozent in Städten. 1,7 Milliarden Menschen (also mehr als Fünftel) leben in Städten, die mehr als eine Million Einwohner haben“ (Borries 2019, 41).
- „Bis 2050, schätzt die UN, soll diese Zahl auf 68 Prozent steigen. Die Stadt wird Lebensraum für immer mehr Menschen“ (Täubert/Feitsch 2019, 17). Wohlgemerkt: 68% bezieht sich auf die 2050 lebende Anzahl von Menschen.
Wir Bewohner*innen der Städte haben uns unsere Städte „als unser aller gemeinsames, öffentliches Wohnzimmer vorstellen. Ein Ort, an dem wir gerne andere Menschen treffen, an dem wir flanieren, entspannen, Neues entdecken. Ein Ort für Gemeinschaft, Erledigungen, Abenteuer und Bewegung“ (ebd.).
- Der Autor und Journalist Charles Montgomery „kommt zu dem Schluss, dass Menschen sich in ihrer Stadt wohlfühlen, wenn sie das Gefühl haben, in einer Gemeinschaft zu leben und wenn sie sich ihren Nachbar*innen und Fremden gegenüber sicher fühlen“ (ebd.).
- Schon in den späten 1960er Jahren fand der Stadtforscher Donald Appleyard heraus, dass Bewohner*innen weniger befahrener Straßen drei Mal so viele Freund*innen und doppelt so viele Sozialkontakte haben wie Bewohner*innen einer viel befahrenen Straße. Er stellte fest:
- „[T]he residents on Heavy [Traffic] Street had less friends and acquaintances precisely because there was less home territory (exchange space) in which to interact socially“ (Jacobs/Marcus 2008).
- Nochmals in anderen Worten hervorgehoben:
Anwohner*innen an viel befahrenen Straßen betrachten ihr Zuhause weniger als ihr Zuhause, d.h. das Identifikationspotenzial mit der eigenen Lebensumgebung ist niedriger.
Dazu passt dann das folgende Zitat:
„Jane Jacobs, die berühmte Gegnerin der autogerechten Stadt… sagt: ‚The trust of a city is formed over time from many, many little public sidewalk contacts‘“ (Täubert/Feitsch 2019, 17).
- Nochmals in anderen Worten hervorgehoben:
- „[T]he residents on Heavy [Traffic] Street had less friends and acquaintances precisely because there was less home territory (exchange space) in which to interact socially“ (Jacobs/Marcus 2008).
- Täubert hält dazu fest: „Die Aktivitäten im Freien, die es in historischen Städten allein dadurch gab, dass Menschen zu Fuß unterwegs waren und dabei Kontakt mit ihrer Gemeinschaft unterhielten, wurden durch lange Autofahrten ersetzt“ (2019, 19).
Tiefpunkt sind dann demzufolge die sog. Schlafstädte, bei denen Kommunikation qua Definition auf null gesetzt ist.
- Friedrich von Borries:
- „[K]ar ist, dass die Stadt der Zukunft mehr Grün- und Freiraum braucht, weil dieser die Luft reinigt und Emissionen reduziert, Wasser speichert und den Folgen sowohl von Überschwemmungen als auch von Dürrephasen entgegenwirkt. … Straßen, die man nicht mehr für Autos braucht, könnten Parks werden, die Dächer grüne Plattformen für Menschen und Tiere und begrünte Fassaden würden zu einem besseren Stadtklima beitragen. Die Stadt würde nicht mehr aus Gebäuden und Straßen bestehen, in denen Grünräume vereinzelte, voneinander abgeschnittene Inseln sind, sondern würde zusätzlich, wie durch eine zweite Haut, von einem dreidimensionalen Netz grüner Räume umspannt“ (2019, 42).
Was hier ein wenig träumerisch daherkommt, gewinnt auf die Kernthese eingedampft, Städte künftig in 3D, also dreidimensional zu denken und nicht länger in 2D, schnell an Bodenständigkeit.
Man mache sich klar:
- Im Grunde könnte der Grünflächenverlust relativ gering gehalten werden einer Stadt. Im Idealfall sähe eine Stadt mit seinen Dachgärten und teilbegrünten Solar-Dachflächen von oben aus wie Rasen auf verschiedenen Ebenen – dazwischen ein Strichmuster von Straßen.
Der Präsident des Umweltbundesamts, Dirk Messner:
- „Das Wohlbefinden der Menschen hängt stark davon ab, wie ihre Lebensräume gestaltet sind. In den Fünfziger- bis Siebziger Jahren haben wir die Autostadt gebaut… Die Forschung zeigt, in unwirtlichen Städten verlassen viele Leute ihre Häuser nur noch, um zum Einkaufen oder zur Arbeit zu gehen – aber immer weniger, um Nachbarn zu treffen. Eine Stadt muss grün sein, sicher, gesund und Begegnungen ermöglichen. Dann entsteht mit der Lebensqualität die Grundlage einer demokratischen Bürgergesellschaft“ (2020, 33).
Und letztere brauchen wir dringend durch Umsetzung einer umfassenden sozial-ökologischen Transformation, vgl. Schlussbetrachtung, S. 680.
In Barcelona gibt es sog. Superblocks (‚Superilles‘), d.h. Wohnquartiere, innerhalb denen kein Durchgangsverkehr zugelassen ist.
>> s. bspw. Roberts, David (2019): „Nachhaltige Städteplanung: Die Superblocks von Barcelona“. in: enorm, 4.9.2019, online unter https://enorm-magazin.de/gesellschaft/urbanisierung/superblocks-von-barcelona (Abrufdatum 31.8.2020)
- „Autos sind hier [unter Wahrung von 10 km/h] nur noch zulässig, wenn es sich um Anwohner handelt, oder beispielsweise um Lieferverkehr. Um diese 2 x 2 oder 3 x 3 Blocks fließt der übliche Verkehr wie gewohnt weiter, innerhalb des Superblocks werden die Straßen hingegen zurückgebaut“ (Drees 2019) – Platz für Sportplätze, Grünanlagen, Begegnungen – mit Ruhe und guter Luft. Und Platz für Kinder.
>> Siehe YouTube-Video „Superblocks: How Barcelona is taking city streets back from cars“ (Abrufdatum 19.6.2020)
Interessanterweise gilt der o.g. Mangel an Sozialkontakten in verkehrsreichen Straßen laut einer Studie aus der Schweiz von Marco Hüttenmoser auch für Kinder:
- „Fünfjährige Kinder in der Stadt haben in ‚guten‘ [=verkehrsarmen] Umgebungen im Schnitt 8,8 Spielkameraden in der Nachbarschaft. Ist die Umgebung ‚schlecht‘, das heisst [das unbegleitete Spielen und zu Schule gehen] einschränkend, so sind es noch durchschnittlich 2,4. Ganz ähnlich auf dem Land, wo es allgemein weniger Kinder hat. Hier sinkt die durchschnittliche Zahl an Spielkameraden von 5,5 auf 2,4“ (2004, 8).
Zu alledem passt Täuberts folgende Feststellung:
- „Spielplätze wurden erst erfunden, als das Auto die Straße übernahm“ (2019, 16).
Knie konstatiert dazu:
- „Statt Flächen für geteilte Autos, Radwege, Spielplätze oder Fußgänger zu nutzen, überlassen wir sie den privaten Autofahrern“ (Knie 2015).
Zurück zum Gedanken des Gemeinsamen Wohnzimmers:
- Zurzeit „ist der Raum zwischen den Häusern kaum mehr als eine Fahrbahn für Autos und ein riesiger Parkplatz. Unser Wohnzimmer ist so gestaltet, als würde zu wenig und zu unbequeme Stühle an der Wand stehen, kein Tisch, kein Teppich, kein Licht, und in der Mitte rasen Autos mit 50 km/h durch“ (Täubert/Feitsch 2019, 19).
Und, das sollten wir nicht vergessen in diesem Bild:
- „Und immer mal erwischt es einen von uns, wenn er zur anderen Seite des Raumes will“ (ebd.).
Einladung zum Träumen:
Sie stehen in einer autogerechten Straße. Schließen Sie nun die Augen und stellen sich en détail vor, wie es hier aussehen, riechen und klingen würde, wäre es ein autofreier Weg…
…und, bevor Sie wieder aufwachen:
Machen Sie sich klar, wie unglaublich viel Platz eigentlich da wäre, wenn hier keine Parkplätze wären.
Lebenswerte Stadt Paris: Ein Traum, den man nicht mal zu träumen gewagt hat, könnte wahr werden.
In Paris ist 2020 die Bürgermeisterin Anne Hidalgo wiederwählt worden, obwohl sie „die französische Hauptstadt so radikal verändert wie wenige ihrer Vorgänger“ (Sandberg 2020) – und u.a. die Stadtautobahn an der Seine zur Fußgängerpromenade umgestalten ließ (vgl. ORF 2020). „Niemand, auch keine der Gegenkandidatinnen im Wahlkampf, wollte das wieder rückgängig machen“ (Sandberg 2020).
Für ihre zweite Amtszeit hat sie sich viel vorgenommen: „60.000 Parkplätze sollen verschwinden, 170.000 neue Bäume gepflanzt werden“ (ORF 2020). Herzstück aber ist das Konzept ‚La ville du quart d’heure‘ (‚Die Stadt der Viertelstunde‘):
- „Es geht davon aus, alle notwendigen Bereiche des Lebens in einer Stadt so zusammenzuführen, dass vom Wohnort in einer Viertelstunde möglichst viel erreichbar ist: Lebensmittelgeschäfte und Märkte, die Schule der Kinder, deren Sport, Musik- und Theaterunterricht. Und im Idealfall auch die Arbeit“ (Sandberg 2020).
Teil des Konzeptes ist außerdem, Viertel und Häuser sozial durchmischt zu bauen und – so drückt sich Hidalgos Mitstreiter Jean-Louis Missika aus – bis zu „zehn verschiedene Nutzungen in ein und demselben Haus unter[zu]bringen. Weil wir Leben in der Stadt haben wollen und keine Reichengettos“ (ebd.).
Und die Klimawandel-bedingten steigenden Stadttemperaturen hat man auch auf der Reihe – und beabsichtigt umfangreiche Begrünungsmaßnahmen, die auch die Champs-Elysées, den Place de la Concorde und den Place Charles de Gaulle am Arc de Triomphe erfassen könnten (vgl. ebd.).
„Wir müssen aufhören, uns in Stahl zu transportieren.“
(Luisa Neubauer zit. in Meyer-Wellmann 2019)
Weitere Vorschläge und Anregungen für eine nachhaltige und klimagerechte Mobilitätswende
…in loser Folge:
- Nachtzugverbindungen reaktivieren und massiv als europäisches Nachtzugnetz ausbauen. Zudem wäre es sinnvoll, den Komfort von Nachtzügen dem 21. Jahrhundert anzupassen.
- Die Deutsche Bahn will auch Ende 2019 nicht zurück zu Nachtzügen, obwohl die Nachfrage perspektivisch steigen wird – und die in Deutschland verkehrenden Züge der ‚Österreichischen Bundesbahnen‘ (‚ÖBB‘), die vor drei Jahren eine Reihe von Nachtzuglinien von der DB übernommen haben, sind rentabel (vgl. Zeit 2019). Ab Dezember 2020 verbindet die ÖBB Wien und Innsbruck wieder mit Amsterdam, ein Jahr später folgt die Strecke Zürich, Basel, Frankfurt, Amsterdam mit weiteren Zwischenhalten (vgl. Zumach 2020, 9).
- Ab 4.7.2020 startet der private Bahn-Anbieter RDC die zwei Mal wöchentlich bediente Strecke Husum, Hamburg, Frankfurt, München und Prien am Chiemsee als ‚Alpen-Sylt-Nachtexpress‘. 399 EUR kostet die Einzelfahrt für das ganze Abteil, d.h. für bis zu sechs Personen inkl. Bettwäsche (vgl. Balser 2020). Nun, ein Anfang – es traut sich jemand. Und vor dem Hintergrund steigender Flugpreise und ‚Flugscham‘ (vgl. S. 278) bzw. ‚Zugstolz‘ könnte sich die Sache entwickeln.
- Update Juli 2020:
Spätestens ab August 2022 wird es nach dem Willen der schwedischen Regierung (!)wieder eine Nachtzug zwischen Stockholm und Hamburg geben sowie eine nächtliche Verbindung zwischen Malmö, Kopenhagen, Köln und Brüssel (vgl. Wolff 2020, 8).
- Wiederbelebung von stillgelegten Regionalstrecken und darüber hinaus Anschluss von weiteren Gemeinden an das Bahnnetz.
- 288 ehemalige Bahnstrecken könnten vergleichsweise unaufwändig reaktiviert werden, sodass nach Berechnungen von mehreren Verkehrsverbänden „291 Städte und Gemeinden wieder ans Netz angeschlossen werden [können]“ (Spiegel 2020) und „insgesamt mehr als drei Millionen Menschen wieder einen direkten Zugang zum Bahnnetz erhalten. Um mehr als 4.000 Kilometer würde das Schienennetz wachsen“ (Völklein 2020).
- Förderung grenzüberschreitender Regionalbahnverbindungen.
- Einführung von Normen, die genau vorschreiben, wie groß, breit, hoch, tief, schwer und mit welcher PS-Stärke ein privates, gewerbliches oder als Dienstauto genutztes Nicht-Nutzfahrzeug sein darf, um in Deutschland zugelassen zu werden unter Einschluss des Wohn- und Steuerortes der Fahrzeughalterin bzw. des Fahrzeughalters. D.h. es geht um die faktische Einstellung der Produktion von SUV/Geländewagen für den deutschen Markt für alle Nicht-Förster*innen (etc.) unabhängig vom Antriebstyp des Wagens. Unnötiger Ressourcenverbrauch bei Bau und Betrieb in Zeiten der Biodiversitäts- und Klimakrise, Platzverbrauch in der Öffentlichkeit insbesondere in den Städten und grundsätzlich auch die Verletzungsgefahr für andere Verkehrsteilnehmer*innen sind hinreichende Gründe für eine solche Maßnahme.
- Schrittweise Einkassierung des sog. ‚Dieselprivilegs‘: „Durch die aktuelle Subventionierung des Dieselkraftstoffs verzichtet der Fiskus jedes Jahr auf etwa 3,5 Mrd. Euro Steuereinnahmen“ (Rammler 2017,147).
- Gleiches gilt für das abzuschaffende sog. Dienstwagenprivileg.
- „[D]ie steuerliche Begünstigung von Dienstwagen … verleitet zu wenig achtsamem Verbrauch [vgl. vgl. Aspekt Plug-in-Hybride, S. 329f.] und entzieht den öffentlichen Haushalten Steuermittel, die für ökologisch sinnvolle Maßnahmen verwendet werden könnten. Der Halter eines von der Firma bereitgestellten Dienstwagens zahlt deshalb für einen VW Passat lediglich 1.500 Euro im Jahr – alles inklusive. Als Privatperson würde ihn derselbe Wagen jährlich mindestens 7.500 Euro kosten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass fast zwei Drittel aller Pkw in Deutschland als Dienst- beziehungsweise Firmenwagen in den Verkehr kommen“ (Kopatz 2016, 181) – mit steigender Tendenz (vgl. Kopatz 2019, 46).
- Die Entfernungspauschale begünstigt höhere Einkommen, verstärkt die Ungleichheit, und bevorzugt „Umlandbewohner gegenüber Städtern… Deren deutlich höhere Mieten werden schließlich nicht subventioniert“ (Kopatz 2019, 64).
Eine Studie des UBA regt hier an, die Entfernungspauschale zu streichen und für eine starke Subventionierung des ÖPNV einzusetzen (vgl. UBA 2016, 121).
Das funktioniert sicher – aber nur, wenn der Abbau des Steuerprivilegs und ein massiver ÖPNV-Ausbau Hand in Hand gehen.
- Greenpeace fordert „eine Zulassungssteuer für CO2-intensive Neuwagen und die Umgestaltung der Kfz-Steuer nach Gewicht und CO2-Ausstoß“ (2020, 14). Der Ist-Zustand seit 2008 ist, dass Auto-Emissionen relativ zu Gewicht gesehen werden – ähnlich wie bei Kühlschränken u.ä. – mit dem interessanten Ergebnis, dass die Einteilung in CO2-Effizienzklassen bedeuten kann, dass ein SUV in einer besseren Kategorie landet als ein Kleinwagen. „Große und schwere Fahrzeuge mit einem hohen Verbrauch (wie Porsche Cayenne oder Audi Q7) würden bevorzugt, leichte, sparsame Fahrzeuge (wie Citroën C1, Peugeot C1 oder Toyota Aygo) würden hingegen benachteiligt“ (Tagesspiegel o.J.). Der VW-Golf 1.4 und der Panzer Leopard 2 gehören so gesehen beide der Effizienzklasse E an, sind also oberflächlich betrachtet gleich umweltfreundlich (vgl. ebd.).
- In Singapur gibt es eine begrenzte Anzahl von Zertifikaten für Zulassungen von Autos. Erst nach erwiesener Verschrottung des Pkws ist das Zertifikat wieder verfügbar (vgl. Kopatz 2019, 48).
- Quartiersboxen, in denen Lieferungen postal zugestellt werden können, z.B. für Einzelhandelslieferungen oder auch aus dem Online-Handel (vgl. München) reduzieren Lieferverkehre.
- Keine Hauslieferungen mehr von Paketen unter einem Gewicht von x Kilogramm, stattdessen Ausbau der Auslieferung an den in Nachbarschaft befindlichen Kiosk u.ä. (vgl. Aspekt Rücksendungen S. 495).
- Folge: weniger Lieferverkehr für die ‚letzte Meile‘ von diversen, konkurrierenden Unternehmen, die oftmals niemanden antreffen und – u.U., nach mehreren Zustellungsversuchen – dann das Paket ohnehin irgendwo an einen Kiosk o.ä. liefern.
- In diesem Sinne: Ist eine tägliche Postauslieferung an den eigenen Briefkasten noch zeitgemäß? Wäre es nicht an der Zeit, amtliche Online-Briefkästen einzurichten und/oder Briefe (außer Sendungen, deren persönliche Empfangsbestätigung erforderlich ist, das bliebe dann einer Art ‚Telegrammboten‘ überlassen) z.B. an den nächstgelegenen Kiosk auszuliefern? Wie viele ‚echte‘ Briefe erhalten Sie noch pro Monat? (vgl. Kanada, Dänemark).
- Wer sagt eigentlich, dass ländliche Busse nur Passagiere befördern sollen/dürfen/können?
„Der ‚KombiBus‘ in Brandenburg zum Beispiel befördert auch Fracht nach Fahrplan und stellt so für den Betreiber eine weitere Einnahmequelle da“ (Herget 2019, 20).
- Zersiedelung deckeln: Vermeidung des fortgesetzten ‚Ausfransens‘ der Stadtrandregionen.
- „Derzeit werden pro Tag jedoch knapp 60 Hektar als Siedlungs- und Verkehrsflächen neu ausgewiesen – häufig für Einfamilienhaussiedlungen am Rande wachsender Ballungsräume. Solche Flächen kann der ÖPNV schlecht erschließen. So wird der motorisierte Individualverkehr oft noch zusätzlich angekurbelt“ (Herget 2019, 21).
- Eine regionale Mobilitätsgarantie wie in der Schweiz sowie eine Pflichtanbindung neuer Siedlungen an den ÖPNV sind anzustreben (vgl. ebd.)
- Zersiedelung fördert Pendler*innenverkehr zum Haus auf der grünen Wiese, dass man im Winterhalbjahr nicht bei Tageslicht sieht, und wo man ggf. hoffentlich rechtzeitig ankommt, um den Kindern gerade noch ‚Gute Nacht‘ sagen zu können.
- Multimodale Mobilität bzw. Multimodalität fördern: Entwicklung eines ‚MobilPasses‘, einer Plattform auf denen Reisen komplett, unabhängig vom Anbieter und Verkehrsverbund, geplant und gebucht werden können. In Finnland gibt es hier schon eine entsprechende App namens ‚Whim‘ (vgl. Spiegel 2019, 27).
- Radschnellwege1, Fahrradstraßen, Radfahrstreifen und Schutzstreifen2 sind m.E. insgesamt betrachtet gute Entwicklungen. Eine durchgehende, farbliche Absetzung dieser Straßen ist sinnvoll, wird aber leider bislang nicht in allen Städten so gehandhabt. An großen Straßen wird man m.E. jedoch künftig aus Sicherheitsgründen nicht um sog. ‚Protected Bike Lanes‘ herumkommen – d.h. es bedarf in autoverkehrsreichen Straßenzügen von Fall zu Fall der klaren Neuaufteilung von Flächen, in dem man den Fahrradweg klar und physisch abgrenzt von der Fahrstraße der Autos.
- Die Verkehrsinfrastruktur hat stets so gestaltet zu werden, dass sie inklusiv wirkt und bzgl. des Straßenverkehrs allen Verkehrsteilnehmer*innen gerecht wird und hinreichend sicher ist.
- Kinder und Jugendliche sind in Deutschland ab 10 Jahren gesetzlich verpflichtet, den Radweg zu benutzen. Das bedeutet, dass Menschen dieses Alters – so der Radweg auf die Straße in Form von Schutzstreifen verlegt wurde – selbige zu benutzen haben.3
- Daraus ist m.E. zu folgern, dass die Fahrradwegeinfrastruktur so zu beschaffen sein hat, dass sich bereits zehnjährige Kinder dort, d.h. auf Radfahrstreifen – sicher fortbewegen können. Dies ist offenkundig nicht der Fall.
Würden Sie Ihr zehnjähriges Kind bspw. in der Hamburger Innenstadt auf dem Radfahrstreifen fahren lassen? Zwischen der Tür eines parkenden Autos und einem Container-LKW?
Wenn also StVO und Realität derart hart aufeinanderprallen: Warum regt sich darüber kaum jemand auf?
- Zur Stadt-, Verkehrs- und Infrastrukturplanung inkl. Bahn und ÖPNV hat es künftig noch wesentlich mehr als bisher dazu zu gehören, Inklusion auch insbesondere ohne (eigenes/spezielles) Auto mitzudenken und mitzuplanen. Das wird heute zwar durchaus gemacht, ist aber definitiv ausbaufähig. Daher schlage ich vor, dass jedes Konzept von einer/einem Inklusionsbeauftragten durchgesehen wird. Mehr noch: In entsprechenden Architektur-/Städtebau-/Ingenieur-Studiengängen können Rollstuhlexkursionen etc. Teil des Lehrplans sein. Bei städtischen Infrastrukturmaßnahmen können die Verantwortlichen/Ausführenden das Bauergebnis gemeinsam so früh wie möglich sowie im Nachgang abschließend bei einem Ortstermin per Kinderwagen, (persönlich, selbst sitzend im) Rollstuhl etc. abgehen. Die Lernkurve für künftige Projekte wird m.E. sehr hoch sein.
- Laut Mobilitätsatlas 2019 ist in London „jedes lizensierte Taxi rollstuhlgerecht und mit Hilfsmitteln ausgestattet, etwa mit anleg- oder ausklappbaren Rampen für den Ein- und Ausstieg und mit großen Handgriffen“ (Krüger 2019, 40-41).
- „Wenn die Stadtgesellschaft sich [in Sachen progressive Verkehrspolitik und Flächengerechtigkeit] keine großen Schritte traut, kann sie mit Modellprojekten arbeiten. Das bedeutet dann: Wir sperren ein paar Monate lang diese Straße und schauen, was passiert. Wenn es wirklich so schlimm ist, wie manche befürchten, dann machen wir die Maßnahme wieder rückgängig. Wenn es aber doch ein paar positive Effekte hat, dann können wir es verstetigen. Die Angst vor sich verhärtendem Widerstand lässt sich dadurch abmildern“ (Mau 2019).
- In diesen Sinnzusammenhang sind auch die aktuell öfter ins Leben gerufenen ‚Pop-up Radwege‘ einzuordnen.
- Der Bußgeldkatalog der bundesdeutschen Straßenverkehrsordnung sollte ausschließlich dreistellige Bußgelder aufführen, und zwar insbesondere dort, wo verschiedene Mobilitätstypen aufeinandertreffen.
- Baurecht bundesweit an das Konzept der ‚Lebenswerten Stadt‘ anpassen, davon ausgehen, das künftig auch in privaten Mehrfamilienhäusern weniger Autostellplätze benötigt werden und von daher Bauherren flexibler agieren lassen, und zulassen, dass sie einen Teil der bislang nachzuweisenden Autostellplätze als Fahrradstellplätze umsetzen – eine potenzielle Kostenersparnis (vgl. Kopatz 2016, 193f.)
- „In Städten, wo Tiefgaragen oft vorgeschrieben sind, geht es um richtig viel Geld. So können 20 Stellplätze in einem Wohnblock eine halbe Million Euro kosten. Mit dieser Summe können für ein autofreies Wohnprojekt viel andere Dinge [wie z.B. die Umsetzung höherer Energiestandards und die Verwendung unbedenklicher Baumaterialien] verwirklicht und angeschafft werden.“ (Bruns 2018, 33).
- In Berlin gibt es im Frühjahr 2020 eine Umfrage namens „Der Berliner Straßencheck“, die sich insbesondere auch an Bürger*innen wendet, die bislang in der Stadt nicht per Fahrrad unterwegs sein mögen – und forscht nach den Gründen.
- Teilnehmer*innen werden „anhand von 3D-Visualisierungen verschiedene Typen an Radinfrastruktur [ge]zeigt. Anhand der Bilder sollen die Menschen per Mausklick entscheiden, auf welcher Art von Radwegen sie sich am sichersten fühlen“ (VCD 2020, 21).
- Ebenfalls in Berlin gibt es nun mit ‚SimRa – Sicherheit im Radverkehr‘ eine App, mit der man Beinahe-Unfälle melden kann. Mit-Initiator David Bermbach:
- „Wir haben eine App programmiert, die merkt, wenn der Radfahrer oder die Radfahrerin sich ruckartig bewegt, also etwa scharf bremst oder den Lenker herumreißt. Nach Ende der Fahrt wird er oder sie dann gefragt, was an der Stelle passiert ist, und man kann dann auch noch Beinahe-Unfälle einzeichnen, die die App nicht erfasst hat, zum Beispiel wenn man knapp überholt wurde“ (2020).
- Man kann eine Menge Taxi fahren, bis man die finanziellen Ausgaben für einen eigenen Pkw verfahren hat.
- Ökologisch deutlich besser ist allerdings, am Car Sharing teilzunehmen, weil Taxis oftmals, gerade in ländlichen Gegenden, wieder ohne Kund*in zum Ausgangspunkt zurückzukehren haben.
- Wer das Auto abschafft, kann umgehend auch den Dauerauftrag für das Fitnesscenter kündigen.
Diesen Abschnitt abschließend rege ich an, mal ein Buch über die Geschichte des internationalen Autolobbyismus zu schreiben – das wäre ein sagenhafter Stoff.
>> Zur Inspiration: In den USA kauften zwischen ca. 1930 und 1960 Autokonzerne systematisch Straßenbahnen auf, um sie stillzulegen, vgl. Doku Bikes vs. Cars, 2015 und z.B. auf wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Amerikanischer_Stra%C3%9Fenbahnskandal (Abrufdatum 11.5.2020)
Mobilität: Situation im globalen Süden
Einige kurze Stichpunkte zu globalen Aspekten des Themas IST-Zustand des Sektors Verkehr/Mobilität:
Jährlich sterben weltweit 1,35 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen (vgl. Handelsblatt 2018)
- „[M]ehr als die Hälfte davon waren Fußgänger, Radfahrer oder Motorradfahrer. Bei Kindern und jungen Erwachsenen im Alter von 5 bis 29 Jahren sind Verletzungen im Straßenverkehr mittlerweile die häufigste Todesursache.
- Weltweit für alle Altersgruppen sind Verkehrsunfälle die achthäufigste Todesursache, noch vor Durchfallerkrankungen, Tuberkulose und HIV/Aids“ (Atlas der Globalisierung 2019, 87).
Die Luftverschmutzung, hervorgerufen insbesondere durch Energiegewinnung und Autoverkehr, hat in den großen Städten des Globalen Südens und Chinas, teilweise lebensverachtende Ausmaße angenommen.
Für diese Luftverschmutzung gibt abseits des Verkehrssektors weitere Gründe, darunter das heimische offene Feuer zum Heizen und Kochen, aber Fakt ist, dass laut WHO jährlich
- 4,2 Millionen Menschen aufgrund von Luftverschmutzung sterben (vgl. WHO 2019).
Allein in den Städten Indiens, die weltweit die Top 20 der Städte mit der meisten Luftverschmutzung maßgeblich prägen, gibt es aufgrund von hochgradiger Luftverschmutzung „mehr als eine Millionen vorzeitige Todesfälle pro Jahr“ (Spiegel 2019).
In Neu-Dehli wurde im November 2019 für mindestens zwei Wochen der Gesundheitsnotstand ausgerufen:
- „Private Autos dürfen nur an wechselnden Tagen auf den Straßen fahren, je nachdem, ob sie Nummernschilder mit geraden und ungeraden Zifferkombinationen haben. Schulen bleiben geschlossen, Baustellen wurden stillgelegt“ (Spiegel 2019).
- „In Deutschland gilt [für Feinstaubpartikel der Partikelgröße PM 2,51 ein durchschnittlicher Grenzwert von 20 Mikrogramm. Bei einer Überschreitung von 50 Mikrogramm werden in einigen Großstädten Fahrverbote verhängt“ (ebd.).
- Neu-Dehli im November 2019 = 900 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft (vgl. ebd.)
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