Klimaschäden vor Gericht: Gerichtsprozesse als Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise

Der Klimawandel ist längst auch zur juristischen Frage geworden: Während bislang Konzerne durch Nutzung der Allmende (=Gemeingut) ‚Umwelt‘ bzw. ‚Atmosphäre‘ als Müllhalde ihre Gewinne maximieren, die Schäden bzw. Kosten aber auf die Allgemeinheit abladen, gibt es auf der anderen Seite bereits jetzt eine Vielzahl von Menschen, deren Leben, Arbeit, Firma, Bauernhof, Ertrag geschmälert, bedroht oder gar unmöglich gemacht wird.

>> vgl. auch die vorigen Abschnitte Klimagerechtigkeit (‚Climate Justice‘) – und der ‚Globale Süden‘, S. 637, u. Konfliktpotenziale der Klimakrise: Zuerst trifft es immer die Armen, S. 625; zur Allmende siehe Fußnote auf S. 637.


In einigen Fällen – wie z.B. beim größten deutschen Stromkonzern, RWE, – ist der Anteil an den jährlichen weltweiten CO₂-Emissionen nicht nur berechenbar, sondern in der Tat global relevant (vgl. S. 658), sodass in solchen Fällen – theoretisch (und hoffentlich bald auch praktisch) – die prozentuale Mittäterschaft bei der Verursachung der Klimakrise gerichtlich mittels eines Urteils festgestellt werden kann.


Gleichzeitig ist globales Umwelt- und Klimarecht weitgehend juristisches Neuland. Auf bestehende Gesetze und Normen kann hier nur bedingt zurückgegriffen werden. Doch vollkommen ‚mittellos‘ sind die Jurist*innen nicht – so gibt es mittlerweile rund

900 Klagen in 24 Ländern.

>> vgl. Ziegs 2019. Der Spiegel spricht von „mehr als 800 Klagen“, die weltweit im Jahre 2017 anhängig waren, s. Bethge 2018, 119; Liste von 884 anhängigen Klagen im Jahr 2017 s. Unep 2017; Überblick s. Greenpeace 2018 u. Children’s Trust 2018. Mit Stand 2017 gab es allein in den USA 654 Fälle (vgl. Unep 2017.). The Guardian berichtet 2019 von mehr als 1.300 Klagen seit 1990 (Laville 2019).


Jeder Mensch auf diesem Planeten hat ein Recht auf Klimaschutz. Das ergibt sich z.B. für Deutschland – auch wenn das Wort ‚Klima‘ nicht vorkommt – m.E. aus dem Grundgesetz

  • GG Art. 2 „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“
  • GG Art. 20a „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ (BMJV 2019)

und m.E. allgemein bzw. global aus der sog. Menschenrechtscharta („Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217A (III) der Vereinten Nationen (UN) vom 10.12.1948“), Artikel 3:

  • Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Meisen 2019).

>> siehe zu Grundgesetzverletzung auch Aspekt Einseitige Kündigung des Generationenvertrages, S. 230.


Bei Klagen gegen Staaten bzw. den eigenen Staat geht es vornehmlich darum, dass unterlassene bzw. unzureichende Klimapolitik Grundrechte gefährdet.

So simpel der Sachverhalt, so schwierig dessen ‚Justiziabilität‘: Wer ist befugt zu klagen (‚Aktivlegitimation‘)? Wen verklagen? Und wie kann dem Konzern, der Institution oder dem Staat nachgewiesen werden, dass er Verursacher/Verletzer ist und die Rechte Dritter verletzt? Und wie kann sichergestellt werden, dass ein Gerichtsurteil (z.B. gegen ein weltweit operierendes Unternehmen) auch umgesetzt wird?


Klimaklagen gegen Konzerne

Der Peruaner Saúl Luciano Lliuya verklagt RWE

Es ist eine Art Musterprozess gegen die Klimakrisen-Verursacher: Der peruanische Kleinbauer Saúl Luciano Lliuya verklagt mit Hilfe von Germanwatch und eines deutschen Anwaltteams um die Anwältin Roda Verheyen den Energieversorger RWE, weil RWE als CO₂-Emittent „0,47 Prozent der weltweiten Treibhausgase“ (Zeit 2017) ausstößt und somit rechnerisch Mitverursacher des Gletschertauens oberhalb seines Dorfes, dass sein Haus zu zerstören droht, ist. Das Oberlandesgericht Hamm sieht die Klage als zulässig und schlüssig begründet an – und hat deshalb die Beweisaufnahme eröffnet (vgl. ebd. und Bethge 2018, 119). Derzeit läuft selbige und dauert an, da ein Ortstermin in Huarez in Peru umgesetzt werden soll:

  • „Es gibt leider kein zwischenstaatliches Rechtshilfeabkommen zwischen Deutschland und Peru. Daher hat das OLG Hamm ein Ersuchen an den Staat Peru gestellt, die streitgegenständlichen Örtlichkeiten in Augenschein nehmen zu dürfen. Dieses wird [– so vor Covid-19 angenommen –] voraussichtlich eine Bearbeitungszeit von circa einem Jahr in Anspruch nehmen“ (Germanwatch 2019).
6-Minuten-Doku-Video „Der Fall Huarez: Saúl gegen RWE“ https://youtu.be/qx_3N7owNMk (Abrufdatum 7.4.2020)

>> siehe dazu 6-Minuten-Doku-Video „Der Fall Huarez: Saúl gegen RWE“ https://youtu.be/qx_3N7owNMk (Abrufdatum 7.4.2020)


Bei dieser Art von Klimaklagen können nunmehr die Forschungsergebnisse der jungen aber schon etablierten Wissenschaftsdisziplin ‚Attribution Science‘ (‚Zuordnungsforschung‘) – die errechnet, um wie viel wahrscheinlicher es ist, dass ein bestimmtes Klimaereignis unter den derzeitigen klimatischen Voraussetzungen eintritt als in einer vorindustriell geprägten Atmosphäre – die Vorwürfe der Kläger*innen untermauern.

>> siehe dazu auch Aspekt Die stets aufkeimende Diskussion nach jedem Extremwetter…, S. 245.


Derzeit sind hunderte solcher Klagen weltweit anhängig, die klären sollen, inwieweit die Verursacher der Klimakrise zur Verantwortung gezogen werden können. Damit haben wir die interessante Situation, dass Großkonzerne auf klimabedingte politische Entscheidungen, die Einschränkungen ihres Betriebes zur Folge haben, mit Schadensersatzklage bzw. Investitionsschutzklage reagieren – und umgekehrt selbige vor den Kadi gezogen werden, weil sie dem Klima schaden (vgl. Klein 2015, 85ff.).

>> Siehe dazu Abschnitt Freihandelsabkommen gefährden Klima, Klimaschutz und Transformation, S. 407

  • Problem: Wir haben zu wenig Zeit, um das Klima auf dem zweifellos langwierigen juristischen Weg zu retten. Gleichwohl ist es selbstredend richtig, auch diesen Weg zu begehen, erhöht er doch auf jeden Fall den politischen, gesellschaftlichen bzw. juristischen Druck auf Staaten, Großkonzerne und Finanzmärkte – und schafft die Aufmerksamkeit, die wir so dringend brauchen.


Anleger*innen vs. ExxonMobile

ExxonMobile wurde von den eigenen Anleger*innen verklagt, weil die Entscheider*innen des Konzerns bereits 1982 (vgl. Hahn 2019, siehe Handbuch S. 160) genau wussten, dass ExxonMobiles Geschäftsmodell und Konzernpolitik zerstörerisch ist. Konkret geht es darum, ob den Anleger*innen wichtige Tatsachen für deren wirtschaftlichen Entscheidungen vorenthalten wurden. Nachdem nun Exxon erwiesenermaßen die Öffentlichkeit täuschte (vgl. S. 160f. u. 403), kommt das New Yorker Gericht zu der m.E. erstaunlichen Entscheidung, dass „für den Aktienkurs relevante Informationen … nicht vorenthalten worden“ (Spiegel 2019a) seien. „Richter Ostrager sprach den Konzern jedoch nicht von einer Verantwortung als Verursacher von Treibhausgasen frei. Bei dem Fall sei es aber um das Wertpapiergesetz gegangen“ (ebd.).

Im gleichen Artikel wird dann darauf hingewiesen, dass Kalifornien ExxonMobile aufgrund der Klimaschäden verklagt hat: „Mehrere Städte wollen zudem die Kosten für ihre Küstenschutzmaßnahmen auf ExxonMobil und andere Ölfirmen abwälzen. Die Begründung: Die Konzerne sollen für den steigenden Meeresspiegel verantwortlich sein“ (ebd.)

Gewissermaßen geht es hier um das typisch US-amerikanische ‚Nachsorgeprinzip‘: „Beim Nachsorgeprinzip sind die Hürden, um ein Produkt auf den Markt zu bringen, sehr niedrig und es darf solange verkauft werden, bis wissenschaftlich bewiesen ist, dass es schädlich ist. Hohe Schadensersatzsummen für Betroffene sind dabei üblich“ (Ziegler/Stürzenhofecker).

Hier trifft jedoch dieses Nachsorgeprinzip auf die planetaren Grenzen und sprengt diese. Womit eine Nachsorge unmöglich ist.


Gleichwohl eine Nachsorge vollumfänglich unmöglich ist, ist dennoch nicht einzusehen, dass Unternehmen wie ExxonMobile weiterhin als Geldmaschinen (vgl. Taylor/Ambrose 2020) auf Kosten der globalen Menschheit agieren. Während der großen Transformation gehört m.E. jeder Dollar, der mit fossilen Brennstoffen bis zur Beendigung der großen Abhängigkeit generiert wird, in die nachhaltige Umgestaltung des Energiesektors gesteckt.


>> vgl. auch Abschnitt Forschungs-Historie Klimawandel, S. 158f.


Klimaklagen gegen Staaten (und Staats-ähnliche Institutionen wie z.B. die Europäische Union)

>> Quelle Zitat und Video: n.n. (2019b): „Was ist eine Klimaklage? – Anwältin Roda Verheyen
erklärt“. in: Greenpeace Deutschland,
19.1.2019, online unter www.youtube.com/watch?v=ecKBlfInhL0
(Abrufdatum 4.7.2019)

Die auf dem Rechtsgebiet ‚Klimaklagen‘ Pionierarbeit leistende Anwältin Roda Verheyen erklärt, was eine Klimaklage ist:

  • „Wir sind aus der Zeit hinaus, in der Klimaschutz eine diplomatische oder politische Ermessensentscheidung ist. Es geht hier um Menschenrechtsschutz und den muss man aus meiner Sicht auch einklagen können.“

Roda Verheyen ist Mitbegründerin des 2002 ins Leben gerufenen Netzwerkes Climate Justice Program (CJK) – einer NGO bestehend aus Anwält*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, die eine Art juristisches Handwerkszeug für Anwält*innen in der ganzen Welt entwickelt haben, das es ermöglicht, Klimaklagen im Sinne der ‚Climate Justice‘ vor Gericht zu bringen.


Der ‚People’s Climate Case‘

  • Zehn (zumeist) in Europa lebende Familien verklagen die EU

„Mit der Klimaklage ‚People’s Climate Case‘ haben zehn Familien aus Portugal, Deutschland, Frankreich, Italien, Rumänien, Kenia und Fidschi sowie der samische Jugendverband der Sáminuorra, ein Gerichtsverfahren angesichts des Klimawandels und seiner bedrohlichen Folgen angestrengt. Ihr Zuhause, ihre Lebensgrundlagen, ihre traditionelle Familienarbeit und ihre Kultur sind vom Klimawandel betroffen. Deshalb verklagen diese Menschen die EU-Institutionen: um ihre Grundrechte zu schützen und um den gefährlichen Klimawandel zu verhindern“ (Gohr 2019).

>> Video-Kurzporträts einiger Kläger*innen: https://www.protect-the-planet.de/video/uebersicht/ (Abrufdatum 10.7.2019, jeweils ca. Min 3)


Die ‚Greenpeace-Klimaklage‘ bzw. die Greenpeace-Verfassungsbeschwerde

  • Drei deutsche Biobauern-Familien verklagen die deutsche Regierung vor dem Berliner Verwaltungsgericht. (Vollzugsklage eingereicht im Oktober 2018; im Juni 2019 ist nach verlängerter Frist die Erwiderung der Bundesregierung eingegangen.)


Deutschland verfehlt deutlich das Klimaschutzziel des Aktionsplanes Klimaschutz 2020
, demzufolge die CO₂-Emissionen um 40% gegenüber 1990 zurückzufahren waren (vgl. Günther et al. 2018, 9)1. Dieses Scheitern war Gegenstand der sog. Greenpeace-Klimaklage, in der Greenpeace den Standpunkt vertrat, dass der Aktionsplan Klimaschutz 2020 verbindlichist und daher nicht einfach – wie geschehen – in den Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2018 quasi per Nebensatz vom Tisch gefegt werden kann.

Details: Erläuterungen zu (1)

Davon hatte man bis Covid-19 definitiv auszugehen – und m.E. kann dieser Faktor auch nicht in die Rechnung eingehen.

>> s.a. Abschnitt Klimakrise in Zahlen: CO₂-Emissionen in Deutschland, S. 76.


Konkret klagte Greenpeace gemeinsam mit drei Familien, die allesamt in der Bio-/Öko-Landwirtschaft tätig sind auf der Insel Pellworm (Bio), im Alten Land (an der Elbe bei Hamburg, Bio-Obst) und in Brandenburg (Öko) – sowie mit 213 Bürger*innen und Bürger als Antragsteller*innen auf Beiladung zur Klage (die aus 4.500 Interessierten ausgewählt wurden) (vgl. Greenpeace 2019b).

>> Video-Kurzporträts der Kläger-Familien: youtu.be/B9SNZxf5KHk | www.youtube.com/watch?v=l8w6ToNrCOo | www.youtube.com/watch?v=9V1NfFeCIr4/ (Abrufdatum 9.7.2019, jeweils ca. 4 min)


Rechtsanwältin Roda Verheyen:

  • Verklagt wird hier die „die Bundesregierung als Teil der Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland… Verwaltungsgerichte sind dazu da, die Handlungen oder auch das Unterlassen von Verwaltungsorganen zu überprüfen. Das Ungewöhnliche an dem Fall ist, dass wir auf die Einhaltung einer Norm klagen, die nicht als Gesetz verabschiedet ist… Im Kern hängt der Erfolg der Klage davon ab, ob das Gericht uns folgt, dass es sich bei dem Klimaschutzziel 2020 um einen justiziablen Rechtsakt handelt“ (Weiland 2018).


Transparenz durch Offenlegung: Der Autor des Handbuch Klimakrise hat im Januar 2019 einen 23-seitigen Antrag auf Beiladung zur Greenpeace-Klimaklage gestellt. Begründung: Nicht nur (Öko-)Bäuerinnen bzw. (Öko-)Bauern oder Menschen in besonderen geologisch vulnerablen (verletzlichen) Gegenden sind bereits gegenwärtig und in absehbarer Zukunft persönlich, unmittelbar und evtl. sogar existenziell von den Folgen der Klimakrise betroffen, sondern auch ich als im Jahrgang 1971 geborener Bürger der Stadt Hamburg. Und wenn ein Durchschnittsbürger wie ich in dieser eindeutigen Weise betroffen ist, dann ist quasi jede*r Bürger*in Deutschlands in gleichartiger Weise betroffen. Diese Betroffenheit wird nachfolgend ausführlich erörtert und zeichnet auf Basis des den fünften Sachstandsbericht des IPCC ergänzenden, auf Deutschland heruntergebrochenen Berichts Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven von Brasseur, Guy et al. (Hg.) (2017) ein fundiertes Bild, welche klimatisch bedingten Folgen uns in Deutschland gemäß derzeitigem Forschungsstand im Jahre 2050 und 2100 erwachsen.

>> Siehe LebeLieberLangsam-Beitrag Antrag auf Beiladung zur Greenpeace-Klimaklage gegen die Bundesregierung, https://blog.lebelieberlangsam.de/klage


Update 1.11.2019:
Obige Klage wurde nunmehr am 31.10.2019 vor dem Verwaltungsgericht Berlin verhandelt und abschlägig beschieden; man sehe die Klagenden nicht in ihren Grundrechten gefährdet – und der Kabinettsbeschluss zum Aktionsplan Klimaschutz 2020 sei nicht bindend, sondern eine politische Absichtserklärung. Doch die Richter wiesen darüber hinaus „explizit darauf hin, dass der Staat geeignete ‚Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte‘ treffen müsse. Damit bauten sie eine Brücke zwischen Grundrechten und Klimawandel, deren Tragfähigkeit Kläger künftig austesten können…“ (Bauchmüller 2019). Die Berufung wurde zugelassen (vgl. Spiegel 2019b). Roda Verheyen zieht daher das Fazit, dass „erstmals ein deutsches Gericht festgestellt [habe], dass Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern durch die Erderhitzung verletzt sein könnten“ (Greenpeace 2020a, 9).


Update 24.3.2020 „Klimaklage wird zu Verfassungsbeschwerde“ (vgl. Germanwatch 2020):

Die Kläger*innen und Greenpeace sind nicht in Berufung gegangen (vgl. Greenpeace 2020) und wählen stattdessen den Weg einer neuen Klage – diesmal klagen die sieben Kinder der o.g. Familien, der Langeooger Lueke Recktenwald, Mitkläger der EU-Klimaklage „People’s Climate Case“ sowie Luisa Neubauer von Fridays For Future als altersbedingt besonders Betroffene der Klimakrise – vor dem Verfassungsgericht in Form einer Verfassungsbeschwerde. „Sie sind der Ansicht, dass die Bundesregierung mit dem am 15. November 2019 verabschiedeten Klimaschutzgesetz weiterhin nicht genug gegen die Klimakrise tut, also ihrem im Grundgesetz verankerten Schutzauftrag nicht nachkommt“ (Greenpeace 2020b).

Hierzu ist in der Zusammenfassung der durch die Verbandskläger Greenpeace und Germanwatch unterstützten Verfassungsbeschwerde zu lesen:

  • „Die Beschwerdeführer machen geltend, dass einzelne Regelungen des Bundesklimaschutzgesetzes, insbesondere das mit konkreten Emissionsmengen pro Sektor unterlegte Reduktionsziel bis 2030 (55% gegenüber 1990) und die Möglichkeit, sogar selbst diese (unzureichenden) Reduktionen im Ausland erfüllen zu können, sowie das tatsächliche gesetzgeberische Unterlassen (Maßnahmen, die ein ausreichendes Schutzniveau erreichen) mit der herausragenden Schutzfunktion, die insbesondere das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) gegenüber zivilisatorischen Risiken lebensbedrohender Artend zahlenmäßig nicht abschätzbaren Umfangs gewährleistet, nicht vereinbar und deshalb verfassungswidrig ist. Auch die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG ist tangiert weil der Generation der Beschwerdeführer jegliche Handlungsoptionen genommen werden, um sich zu schützen“ (Greenpeace 2020c).

>> vgl. Aspekt Jeder Mensch auf diesem Planeten hat ein Recht auf Klimaschutz, S. 657.


Weitere klimabezogene Verfassungsbeschwerden in Deutschland

Die Deutsche Umwelthilfe reichte zeitgleich zwei weitere Verfassungsbeschwerden ein. Beide haben das gleiche Ziel, wurden jedoch im Namen zweier verschiedener Kläger*innen-Gruppen eingereicht (vgl. DUH 2020a):

  • Die erste Klage reicht die DUH gemeinsam mit zehn Kindern und Jugendlichen aus Deutschland ein und macht geltend, dass das im Herbst 2019 verabschiedete Bundes-Klimaschutzgesetz nicht als Schutzmaßnahme für künftige Generationen geeignet bzw. ausreichend ist (vgl. DUH 2020b).
  • Die zweite Klage stammt von fünfzehn Betroffenen aus Bangladesh und Nepal, die sich ebenfalls gegen „das andauernde Unterlassen des Bundesgesetzgebers und der Bundesregierung, geeignete und prognostisch genügende Maßnahmen zur Einhaltung des verbleibenden nationalen und nach Bevölkerungsanteilen bemessenen CO2-Budgets (3,465 Gigatonnen CO2 ab dem Jahr 2020) zu ergreifen“ (DUH 2020c) richtet.

Womit nunmehr also insgesamt vier Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe liegen, denn die bereits 2018 eingereichte Verfassungsbeschwerde vom BUND und vom Solarenergie-Förderverein Deutschland (SFV) ist ebenfalls noch anhängig. Im August 2019 forderte das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung, den Bundestag und den Bundesrat auf bis November 2019 – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik im Zusammenhang mit einer Klage für mehr – Stellung zu nehmen (vgl. BUND 2020).


Greenpeace-Klage in Österreich

Im August 2019 haben auch in Österreich Betroffene der Klimakrise gemeinsam mit Greenpeace eine Klimaklage beim Verfassungsgericht eingereicht. Im Fokus stehen offensichtlich klimaschädliche Gesetze (vgl. OE24 2019).


Die Urgenda-Klage in den Niederlanden

  • 900 Niederländer verklagen ihren Staat auf ihre Grundrechte

Im April 2015 gingen ca. 900 Niederländer mit Hilfe der Umweltschutzgruppe Urgenda vor Gericht, um die niederländische Regierung auf Basis der Fürsorgepflicht zu relevantem Klimaschutz zu verpflichten – und setzten sich sowohl in der ersten Instanz, vor dem Berufungsgericht als auch endgültig, im Dezember 2019, vor dem Obersten Gerichtshof durch (vgl. Hecking 2019).

  • „Der Klimawandel stelle eine konkrete Bedrohung dar, sagte die Vorsitzende Richterin Marie Anne Tan-de Sonnaville. ‚Der Staat ist verpflichtet, dagegen Schutz zu bieten.‘ Das Gericht skizzierte die hohen Risiken für die Niederlande wie Überflutungen, Krankheiten, Dürre, Waldbrände, Mangel an Trinkwasser und Schäden des Ökosystems“ (FAZ 2018).

Nunmehr haben die Niederlande bis 2020 die CO₂-Emissionen um 25% gegenüber dem Wert von 1990 zu senken. Zudem wurde im Mai 2019 ein Klimagesetz verabschiedet, dass vom GroenLinks-Chef Jesse Klaver als „das ehrgeizigste Klimagesetz der Welt“ (WWU 2019) bezeichnet wird. Wobei festzuhalten ist, dass die Niederlande weniger die Musterschülerin der EU als vielmehr eines der Schlusslichter ist, dass nunmehr aufholen möchte(n muss) (vgl. Schweighöfer 2019).

  • Die wichtige Botschaft lautet hier: Ja, man kann seinen Staat auf juristischem Weg zu mehr Klimaschutz zwingen.
  • Interessant auch, dass das Oberste Gericht sich bei seiner Entscheidung auf die von mehr als 40 Staaten unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention stützt (vgl. Hecking 2019).

Auch das im November 2019 in den Niederlanden beschlossene Tempolimit steht im Zusammenhang mit der Urgenda-Klage.

>> vgl. Aspekt Tempolimit S. 315 in Abschnitt Verkehr & Mobilität: Eine Klima-notwendige Mobilitätswende und Aspekt staatliches Ausstiegsprogramm aus der Schweinehaltung, S. 552


Weitere Beispiele für Klimaklagen gegen Staaten

  • In Massachusetts hat die Organisation Our Children’s Trust 2016 erfolgreich die Regierung des Bundesstaats verklagt, sodass die Umweltbehörde mehr für den Klimaschutz zu unternehmen hat. Gleiches wurde im Staat Washington und auch in Oregon erreicht (vgl. Klimareporter 2016).
  • In der Schweiz hängt derzeit eine Verfassungsbeschwerde der KlimaSeniorinnen vor dem Bundesgericht in Lausanne an, nachdem zuvor das Schweizer Bundesverwaltungsgericht die Klage abschlägig beschieden hatte (vgl. KlimaSeniorinnen 2020). Sie machen für sich geltend, dass „alles, was uns lieb ist, auf dem Spiel steht“ (ebd.), dass ältere Personen in besonders starkem Maße von Hitzewellen etc. betroffen seien und es zudem Hinweise gebe, denen zufolge Frauen von der Klimakrise stärker betroffen seien als Männer (vgl. ebd., s.a. in diesem Buch den Aspekt Frauen sind von der Biodiversitäts-/Klimakrise stärker betroffen als Männer, S. 423).
  • In Pakistan hat sich bereits 2015 ein Bauer namens Asghar Leghari gegen die Regierung von Pakistan durchgesetzt, „claiming it was violating his human rights by failing to tackle the impacts of climate change“ (Laville 2019). Pakistan hat bereits seit 2012 ein „Klimawandelgesetz“ (Klimareporter 2015). „Das Hohe Gericht in Lahore ordnete Mitte September [2015] die Schaffung eines ‚Klimabeirates‘ an, um den Staat Pakistan dazu zu bringen, seine Verpflichtungen auf diesem Gebiet einzuhalten“ (Bouissou 2015). Der Richter wurde sehr konkret und „stattete … die Kommission mit Befugnissen und ernannte 21 Mitglieder“ (Greenpeace 2018). Greenpeace hält dazu fest, dass der Fall „sehr interessant [sei], weil ein Urteil zur verstärkten Klimaschutzpolitik in einem Land gefällt wurde, das nicht als Verursacher, sondern bisher als Opfer des Klimawandels gilt“ (ebd.). Derzeit läuft eine weitere Klage in Pakistan, bei der der siebenjährige Rabab Ali vor dem obersten Gerichtshof Pakistans gegen „Genehmigung[en] zur Eröffnung von Kohlfördergebieten“ (ebd.) steht.
  • Elf flämische Prominente haben unter dem Namen ‚Klimaatzaak‘ (‚L’Affaire Climat‘/‚Climate Case Belgium‘) in Belgien gleich vier belgische Regierungen verklagt, d.h. die Regierung des Königreiches sowie die Regionalregierungen von Wallonien, Flandern und Brüssel (vgl. VRT 2014). Der Fall wurde drei Jahre lang durch Zuständigkeitsstreitigkeiten sowie der Diskussion darum, in welcher Sprache der Prozess stattfinden sollte, verzögert (vgl. Greenpeace 2018). „In the meantime, the number of named plaintiffs in the case has grown via an online petition mechanism from 11 to over 35,000“ (Our Children’s Trust 2018).
  • Naomi Klein schildert den juristischen Kampf der First Nations insbesondere in den USA und Kanada, die sich durchaus mit Erfolg gegen die Ausbeutung der Ressourcen ihrer Territorien und der von ihnen aufgrund historischer Rechte beanspruchten Gebiete zur Wehr setzen: „Viele Nicht-Ureinwohner erkennen allmählich, dass indigene Rechte, wenn sie aggressive durch juristische Klagen, Protestkundgebungen und Massenbewegungen unterstützt werden, die ihre Einhaltung fordern – heute [in den USA und in Kanada] die wirksamste Barriere darstellen könnten, die uns alle vor dem Klimachaos schützt“ (2015, 456).
    • Derweil könnten Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, mangelnde Infrastruktur und zahllose Versprechungen der fossilen Industrie, hier ‚Abhilfe‘ zu schaffen und so von Fall zu Fall auch das Gegenteil bewirken (vgl. ebd., 469): Die ‚Abhilfe besteht dann aus ‚Almosen‘ aus der Portokasse der fossilen Unternehmen: „Hier: Wir bauen Euch ‘ne neue Schule und spenden ein neues Klettergerüst für den Spielplatz – und ihr chillt mal ein bisschen…“

Menschenrechtsbeschwerde beim UN-Kinderrechtsausschuss gegen fünf Staaten

Bei der New Yorker Klimakonferenz im September 2019 wurde bekannt, dass 16 Kinder und Jugendliche – darunter auch Greta Thunberg – aus 12 Ländern mit Unterstützung der Umweltorganisation Earth Justice eine Beschwerde bei der UN, genauer beim UN-Kinderrechtsausschuss, gegen fünf Länder der G20 eingereicht haben. Konkret richtet sich die Beschwerde gegen Argentinien, Brasilien, Deutschland, Frankreich und die Türkei:

  • „Alle fünf Staaten [generieren hohe CO2-Emissionen und] haben das Pariser Klimaabkommen [sowie das dritte Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, welches Individualbeschwerden ermöglicht] unterzeichnet. Doch ihre Maßnahmen um die globale Erhitzung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, bleiben weit unter den Empfehlungen der Wissenschaftler, so die Beschwerde. Damit verletzen die Industrie- und Schwellenländer die UN-Kinderrechtskonvention – insbesondere das Recht auf Leben (Artikel 6) und das Recht auf Gesundheit (Artikel 24)“ (Jeppesen 2019).

Rudi Tarneden, der Sprecher von Unicef Deutschland, merkt dazu an, dass dies ist ein einmaliger Vorgang sei, bei dem „man auch völkerrechtlich Neuland, denn es ist eine [Art] Sammelklage, die sich gleichzeitig gegen mehrere Staaten richtet“ (ebd.).

Ziel ist, dass „[d]er UN-Kinderrechtsausschuss … feststellen [soll], dass Argentinien, Brasilien, Deutschland, Frankreich und die Türkei für die Klimakrise mitverantwortlich sind. Wenn der UN-Ausschuss bestätigt, dass die fünf Länder tatsächlich eine Mitschuld tragen, verletzen sie zentrale Punkte der Kinderrechtskonvention. Und damit Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich die Länder verpflichtet haben“ (Kainz 2019).

Inzwischen wurde die Beschwerde von der UN anerkannt. Somit haben die angeklagten Länder nun Stellung zu nehmen.

  • „Die Staaten haben jetzt zwei Monate Zeit, zu erklären, warum die Beschwerde nicht zulässig sei. Anschließend sechs Monate, um zu beweisen, dass sie nicht gegen das Völkerrecht verstoßen haben, indem sie den Klimawandel mit verursachen und zu ihm beigetragen haben“ (ebd.).

Kommt das Verfahren zu einem Abschluss, ergeht eine rechtlich nicht bindende Empfehlung, die jedoch durchaus globale Signalwirkung haben könnte (vgl. Jeppesen 2019).

>> weitere Informationen zu ‚Gerichtsverfahren zum Klimawandel‘ siehe gleichnamigen Artikel bei wikipedia 
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerichtsverfahren_zum_Klimawandel (Abrufdatum 13.12.2019).

>> s.a. Infostelle Klimagerechtigkeit unter www.klimagerechtigkeit.de, eine Website der Nordkirche.

>> siehe auch Aspekt Klagen gegen Umweltschutzmaßnahmen: Kern diverser Freihandelsabkommen ist der sog. ‚Investitionsschutz‘ von Privatunternehmen, den sie vor Schiedsgerichten einklagen können. Daher gibt es auch umgekehrt zu den hier geschilderten Fallbeispielen diverse Klagen, die darauf hinauslaufen, Klimaschutz auszubremsen und/oder hohe Entschädigungssummen für die vermeintlich vorzeitige Schließung von fossilen Unternehmen zu generieren. Siehe dazu Abschnitt Freihandelsabkommen gefährden Klima, Klimaschutz und Transformation, S. 407


Vanuatu bereitet die Beantragung eines Rechtsgutachtens vom Internationalen Gerichtshof vor

Vanuatu ist laut der Universität der Vereinten Nationen das am meisten unter ‚Naturkatastrophen‘ leidende Land (vgl. Esswein/Zernack 2020a). Vanuatus Regierung arbeitet daher daran, die Klimafrage, die für den Inselstaat eine Überlebensfrage ist, in Den Haag vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen:

  • „Der kleine Inselstaat will vor der größten Rechtsinstanz der Welt zum ersten Mal die größten Umweltverschmutzer unter den Staaten zur Rechenschaft ziehen. Sollte der Vorstoß Erfolg haben, könnte das eine neue globale Klagewelle auslösen. Es wäre ein historischer Präzedenzfall, den Vanuatu da früher oder später schaffen könnte“ (Esswein/Zernack 2020b).
  • „Ein Rechtsgutachten ist eine Art Grundsatzentscheidung. Anders als ein Gesetz kann sie nicht mit Zwang durchgesetzt werden, hat aber symbolische Kraft. Ein Rechtsgutachten ist nicht mehr nur ein juristischer, sondern ein politischer Akt, sagt Hermann Ott von Client Earth. Der Internationale Gerichtshof hat bislang 28 solcher Gutachten erstellt – aber noch kein einziges zum Klimawandel“ (ebd.).

Die Hürden sind außerordentlich hoch – so wäre die Zustimmung der Mehrheit der 193 Mitgliedstaaten erforderlich, von denen sich ‚die üblichen Verdächtigen‘ aber stets dagegen wehren, für Klimaschäden in anderen Staaten aufzukommen. Des Weiteren wäre nachfolgend die individuelle Betroffenheit der Bewohner*innen von Vanuatu nachzuweisen (vgl. ebd.).

Vanuatu verklagt somit Länder, mit denen es Handel treibt – was durchaus riskant ist.

„Ein Risiko, das der Außenminister akzeptiert:

  • ‚Wenn wir Erfolg haben, dann könnte jedes einzelne Gericht in jedem Land, jeder Gerichtshof das als Vorlage nehmen. Es könnte die Basis für Übereinkommen zwischen Staaten, für multilaterale Entscheidungen, sogar für Handelsabkommen nach nationalem Recht werden. Das hätte weitreichende Folgen‘“ (Esswein/Zernack 2020a).

Hans-Otto Pörtner, leitender Klimaforscher am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und ranghöchster deutsche Vertreter im Weltklimarat IPCC kommt unabhängig von obigem Anliegen Vanuatus zu folgendem Schluss:

  • „Vielleicht sollte dies Hauptanliegen eines Internationalen Gerichtshofs werden: Wer den Klimawandel vorantreibt, verstößt gegen Menschenrechte. Wir haben hier ein Problem globaler Dimension. Da kann man durchaus sagen, dass die, die eine Lösung weiter verzögern, kriminell handeln. Das sind Dimensionen, wo Juristen mal ranmüssten“ (2019).


Update Juli 2020:

In ihrem offenen Brief an die EU und die globalen Staats- und Regierungschef*innen fordern Thunberg/Neubauer et al.: „EU member states must advocate to make ecocide an international crime at the International Criminal Court“ (2020); fordern also, dass Ökozid zum Straftatbestand des Völkerrechts wird und ähnlich wie Kriegsverbrechen in Den Haag vor Gericht gebracht werden kann.


Update September 2020:

Am 3.9. haben sechs 8- bis 21-jährige Jugendliche aus Portugal Klage beim Europäischen Gerichtshof (EGMR) in Straßburg eingereicht und verklagen 33 Staaten, darunter EU-27 sowie Großbritannien, Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und die Ukraine (vgl. ZDF 2020). „Begründung: Die Länder würden nicht genug für den Klimaschutz tun – und damit die Menschenrechte der jungen Kläger:innen verletzen“ (Schwarz 2020, 9).

Die Jüngste der Kläger*innen wäre im Jahr 2100 88 Jahre alt:

  • „Für Portugal werden zu diesem Zeitpunkt Hitzewellen mit Temperaturen von über 40 Grad erwartet, die länger als einen Monat anhalten könnten“ (ZDF 2020).

Quellen des Abschnitts Klimaschäden vor Gericht: Gerichtsprozesse als Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise



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